Jede Menge Licht: Der Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann wird 75

Adolf Winkelmann vor dem „Dortmunder U“, auf dem seine Film-Installationen laufen. (Foto: Roland Gorecki / Dortmund Agentur)

Sagen wir mal so: Adolf Winkelmann war so klug und weitsichtig, praktisch zeitlebens in Dortmund zu bleiben. In Städten wie Berlin oder Hamburg hätte er sich anfangs wohl gegen viele durchsetzen müssen, hier aber ist er sozusagen gleich singulär hervorgetreten und hat zeitig etwas gegolten. Von hier aus, in der „unaufgeregtesten Großstadt der Republik“ (wie die „Zeit“ mal schrieb), konnte er nach und nach bundesweit bekannt werden. Noch dazu dürfte sein Hiersein stets eine Herzensangelegenheit gewesen sein.

Von nichts kommt nichts: Der Mann, der an diesem Samstag (10. April) 75 Jahre alt wird, verfügt – ganz gleich, an welchem Ort – natürlich über technische und kreative Begabungen, die längst reiche Früchte getragen haben und zu großen Verdiensten angewachsen sind. Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann würdigt ihn so: „Adolf Winkelmann ist ein herausragender Filmemacher, Ausbilder und als Künstler ein Glücksfall für Dortmund“, kurzum: „einer unserer wichtigsten Kulturbotschafter“. Wohl wahr. Wer, wenn nicht er? Wo doch andere große Söhne der Stadt – Peter Rühmkorf, Martin Kippenberger, Norbert Tadeusz usw. – anderswo ihren Weg gemacht haben.

Mit „Die Abfahrer“ (1978) und „Jede Menge Kohle“ (1981) hat Adolf Winkelmann sozusagen d i e authentischen Ruhrgebietsfilme jener Jahre gedreht, gleichermaßen komödiantisch wie präzise und zeitgemäß in der sozialen Beschreibungskraft. Gewiss keine Glorifizierung der Gegend, aber doch Liebe zur Region und ihren Menschen mitsamt allen Brüchen und Verwerfungen. Auch heute noch, beim Wiedersehen, haben diese frühen Filme Bestand. Das Kultpotenzial ist unverwüstlich, legendär zudem das Repertoire an schnoddrig-coolen Haltungen und Sprüchen Marke Revier, allen voran der Klassiker: „Es kommt der Tag, da will die Säge sägen.“

Es folgten kaum minder prägnante Streifen wie „Super“ (1984), „Peng! Du bist tot!“ (1987), „Der Leibwächter“ (1989) und das um den Revierfußball kreisende Werk „Nordkurve“ (1993). 2016 reichte Winkelmann mit der Romanverfilmung „Junges Licht“ (Vorlage von Ralf Rothmann) einen weiteren, alsbald ebenfalls preisgekrönten Ruhrgebietsfilm nach, der im Dortmund der 1960er Jahre spielt und höchst eindringlich die Kinder- und Jugendjahre eines Bergarbeitersohnes schildert. Wenn man so will, ist es eine Vorgeschichte zu den „Abfahrern“ und zu „Jede Menge Kohle“. Und es ist ein grandioser Heimatfilm der ganz anderen Art, der sich einfach „richtig“ anfühlt. Zwischendurch kam – neben etlichen anderen Produktionen – die bewegende und bestürzende Pharma-Skandalchronik „Contergan“ (ARD-Zweiteiler, 2007) heraus.

Mehrfach erhielt der Regisseur den Deutschen Filmpreis, auch der Grimmepreis blieb kein Einzelstück. Aber wir wollen nicht alle Trophäen aufzählen und nur noch kurz erwähnen, dass er 2003 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Filmakademie gehörte.

Wenn man sich noch einmal vor Augen führt, welche Darsteller(innen) in Winkelmanns Filmen zu sehen waren, so weiß man, dass er mit seinem soliden Können und seinen Stoffen einige der Besten überzeugt hat. Die Skala reicht – um nur wenige Beispiele zu nennen – von Hermann Lause und Martin Lüttge über Günter Lamprecht und Gottfried John bis zu Matthias Brandt, August Zirner und Peter Fitz. Sogar in Nebenrollen (!) traten Größen wie Hannelore Hoger und Ulrich Wildgruber auf. Und selbstverständlich hatte die unvergessene Tana Schanzara mehrmals einen Ehrenplatz im Winkelmann-Kosmos.

Über alle Kinofilme hinaus, hat Winkelmann in Dortmund ein weithin sichtbares Zeichen seines Wirkens setzen können: Zum Ruhrgebiets-Kulturhauptstadtjahr 2010 entwarf er – als Krönung fürs „Dortmunder U“ – die „Fliegenden Bilder“, eine bei Tag und Nacht aufleuchtende Film-Installation hoch droben auf der ehemaligen Brauerei. Seine Arbeit steigert die Aura des ohnehin schon imposanten Dortmunder Wahrzeichens. Inzwischen gehören 150 Filme zum Bestand, darunter Szenen mit meterhohen Tauben (quasi die Wappentiere des einstigen Reviers), schwarzgelber Kickerseligkeit oder schäumendem Bier, doch auch Kreationen, die über regionale Befindlichkeiten hinausweisen. Außerdem gibt es zuweilen tagesaktuelle Bezüge. Um all das fortzuführen, nahm die nicht gerade übermäßig reiche Stadt richtig Geld in die Hände: Ende 2020 wurden die mit rund 6000 LEDs ausgestatteten Lamellen ersetzt und die Technik wurde runderneuert. Kostenpunkt dafür: 2,6 Millionen Euro. Aber wer will da kleinlich sein? So gut wie alle Auto-, Rad-, Bahn- oder Busfahrenden und alle Passantinnen, die seit 2010 in der Dortmunder Innenstadt aufgekreuzt sind, kennen diese Schöpfung aus Licht.

(Nicht nur) das Revier im Visier: Adolf Winkelmanns neues Buch im Verlag Henselowsky Boschmann.

Soeben neu erschienen ist Adolf Winkelmanns Buch „Die Bilder, der Boschmann und ich“ im Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann (176 Seiten, 14,90 Euro): Im Gespräch mit dem Verleger Werner Boschmann erzählt Adolf Winkelmann über sein Leben und seine Kunst; eine ausführliche Retrospektive und eine längst nicht nur anekdotische Einführung ins Werk, an der man künftig schwerlich vorbeikommen wird.

Wer darauf wetten sollte, dass Winkelmann gebürtiger Dortmunder sein muss, hätte verloren. Der Filmemacher ist zwar durch und durch von dieser Stadt geprägt, er wurde aber am 10. April 1946 im sauerländischen Hallenberg am Rand des Rothaargebirges geboren. Als er etwa drei Jahre alt war, zogen seine Eltern in die größte Stadt Westfalens: Adolf Winkelmann wuchs in unmittelbarer Nähe zur Dortmunder Union-Brauerei (Jahrzehnte später just das „Dortmunder U“) auf, machte sein Abitur am hiesigen Helmholtz-Gymnasium und studierte von 1965 bis 1968 an der damaligen Werkkunstschule Kassel. Dort muss ihn das Heimweh ergriffen haben, denn danach zog er wieder nach Dortmund und blieb der Stadt treu. Hier hat er rund 40 Jahre lang als Professor für Film-Design an der Fachhochschule gelehrt und dabei Generationen von Filmschaffenden in Feinheiten des Metiers eingeweiht.

Die Stadt Dortmund erinnert in einer Geburtstags-Würdigung an Winkelmanns ersten Experimentalfilm, der vor fast 54 Jahren in Kassel entstanden ist und der da lakonisch heißt: „Adolf Winkelmann, 9.12.1967  11 h 54″. Der Filmemacher, damals 21 Jahre jung, habe größere Irritationen ausgelöst, als er sich beim Spaziergang selbst filmte. Sollte er damit gar das Selfie miterfunden haben?




Suche nach dem Gral – Peter Handke (75) und sein neues Werk „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“

Gastautor Frank Dietschreit über das neue Buch von Peter Handke, der gestern (6. Dezember) 75 Jahre alt geworden ist:

Er weiß um „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ und wie schwer „Das Gewicht der Welt“ wiegt. „Wunschloses Unglück“ hat er erfahren und „Die Stunde der wahren Empfindung“ durchlebt. Wenn er sich nicht gerade der „Publikumsbeschimpfung“ widmet und sich zum „Bewohner des Elfenbeinturms“ stilisiert, fließt ihm „Der kurze Brief zum langen Abschied“ aus der Feder.

Peter Handke, seit gestern 75 Jahre alt, hier eine Aufnahme von 2006. (GFDL Free Documentation License / Wikipedia - © Wild + Team Agentur UNI Salzburg - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Peter Handke, seit gestern 75 Jahre alt, hier eine Aufnahme von 2006. (GFDL Free Documentation License / Wikipedia – © Wild + Team Agentur UNI Salzburg – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Selbst wer nie einen Roman von Peter Handke gelesen oder eines seiner Theaterstück gesehen hat, kennt die zu poetischen Gemeinplätzen und literarischen Sprichwörtern gewordenen Titel seiner Werke.

Peter Handke, am 6. Dezember 1942 in Kärnten geboren, zählt, auch wenn er seit vielen Jahren in einem verwunschenen Haus in der Nähe von Paris lebt, zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Lange Zeit war er, der zusammen mit Filme-Macher Wim Wenders den „Himmel über Berlin“ engelsgleich erstrahlen ließ, so etwas wie der Lieblingsautor der linken Kultur-Schickeria.

Mit vielen Leuten hat er es sich verscherzt

Doch seit er eine „winterliche Reise“ auf den von blutigen Bürgerkriegen zerstörten Balkan unternahm, gar „Gerechtigkeit für Serbien“ forderte und beim Begräbnis von Massenmörder Milosevic als Grabredner auftrat, hat Handke, der gern gegen den politischen Mainstream anschwimmt und auf politische Korrektheit pfeift, es sich mit den meisten ehemaligen Fans und Freunden gründlich verscherzt. Nur mit spitzen Fingern werden seine Bücher noch zur Kenntnis genommen.

Aber das dürfte dem fröhlich in seiner weltabgewandten „Niemandsbucht“ hockenden Handke ziemlich schnuppe sein, hat er seinen Kritikern und vielen Kollegen doch immer schon eine notorische „Beschreibungs-Impotenz“ attestiert und ihre Literatur als „idiotisch“ und „läppisch“ beschimpft. Dass Handke sich nun zu seinem 75. Geburtstag mit einem Buch beschenkt, das vollgepackt ist mit literarischen Anspielungen und poetischen Fantasien, die nur er selbst wirklich verstehen und genießen kann, liegt auf der Hand.

Märchen, Meditation, Gebet und Gesang

„Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“ trägt Züge eines Alterswerks und wirkt, als wolle Handke seinen Nachlass sichten. Die zwischen Märchen und Meditation, Gebet und Gesang angesiedelte Geschichte beginnt „an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird.“

Der Erzähler, Handke selbst, bricht von Chaville bei Paris auf zu einer dreitägigen Reise ins Umland, in die Picardie, die Kornkammer Frankreichs. Doch bis er sein Haus aufgeräumt, das Gartentor verschlossen und sein Bahnticket gekauft hat, sind schon fast 100 Seiten vergangen. Alles was er erlebt, sieht und denkt, muss noch schnell aufs Papier.

Und kaum sitzt er im Zug, glaubt er sie unter den Mitreisenden zu erkennen, Alexia, die Obstdiebin, auf deren Spuren er sich begeben, die er beobachten und begleiten möchte auf ihrem Weg zu einem Familientreffen. Der mit dem Handke-Kosmos vertraute Leser kennt sie aus dem Theaterstück „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“: Dort huschte sie einmal als „Parzivals Schwester“ und „im Gewand einer Obstdiebin“ durch die an Wolfram von Eschenbach erinnernde Szenerie.

Am Wegesrand alles Vorhandene aufsammeln

Wolframs Geschichte von der Gralssuche spielt auch jetzt wieder eine mit kulturgeschichtlichen Querweisen verkomplizierte Rolle und ergibt reichlich Stoff für viele neunmalkluge Seminararbeiten. Schauen wir lieber auf die Diebin, die alles aufsammelt, was sie am Wegesrand so findet, Obst, Blumen, Menschen und Gedanken. Kaum hält der Zug auf freier Strecke, eilt sie über die Stoppelfelder davon. Der Erzähler hinterher. Er hört jetzt auf, von sich und seinen Befindlichkeiten zu sprechen, sondern denkt sich ganz in die junge Frau hinein und beschreibt nur, was sie sieht und fühlt.

Mal übernachtet sie in einer aus der Zeit gefallenen trostlosen Herberge, mal gabelt sie einen melancholischen Jungen auf und rettet ihn vorm Selbstmord. Mal sitzt sie am Rande eines Dorfplatzes und beobachtet das Treiben, als wären wir in Handkes Schauspiel über „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“. Sie ist eine Wahlverwandte von Handkes Tochter Léocadie, die einmal in der Erzählung von der „morawischen Nacht“ auftrat und nun für den Rapper Eminem schwärmt. Überhaupt spielt Handke auf der Klaviatur der Pop-Musik, zitiert, wie in seinem „Versuch über die Jukebox“, die Beatles herbei, Janis Joplin und Johnny Cash.

„Der Schuh im Straßengraben war ein Schuh im Straßengraben“

Die Geschichte der streunenden Obstdiebin, die vielleicht nicht den Gral, aber dafür in tiefster Provinz Vater, Mutter und Bruder wiederfindet, kennt keine Begründung und ihre Figuren haben keine Psychologie. Auf die Frage „Warum?“ antwortet der Erzähler: „Kein Warum“. Für die Obstdiebin wie für Handke gilt: „Alles war, was es war. Der Schuh im Straßengraben war ein Schuh im Straßengraben. Und das jetzt ist das, und das jetzt das, und so fort.“

Eigentlich unterscheidet sich der von unzähligen Frage- und Ausrufezeichen, Gedankenstrichen und Reflexionen unterbrochene Erzählstrom kaum von all seinen Vorgängern. Doch dann schwappt der Terror, die allgegenwärtige Bedrohung und Verunsicherung immer mal wieder ans Ufer der Realität. Nachrichten flackern durchs Bild, bewaffnete Polizisten sichern das Terrain, verschleierte Frauen verbreiten Furcht.

Nch drei Tagen Fahrt ins Landesinnere ist alles erlebt und alles gesagt, ist „jede Stunde dramatisch gewesen, auch wenn sich nichts ereignete.“ Jetzt aber schnell zurück nach Hause, in die „Niemandsbucht“. Oder doch lieber woandershin, gar etwas Neues wagen?

Peter Handke: „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere.“ Suhrkamp, Berlin 2017. 560 Seiten, 34 Euro.

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Stichworte zur Vita:

Geboren wird Peter Handke am 6.12.1942 in Griffen/Kärnten. Einen Teil seiner Kindheit verbringt er im zerbombten Berlin.

1966 wird Handke mit seinem Roman „Die Hornissen“ und dem von Claus Peymann uraufgeführten Stück „Publikumsbeschimpfung“ schlagartig bekannt. Im selben Jahr beleidigt er bei einer Tagung der Gruppe 47 die anwesenden Kritiker und Kollegen, polemisiert gegen politisch engagierte Literatur und erklärt sich zum Bewohner des Elfenbeinturms.

Mehrfach arbeitet er mit Filmemacher Wim Wenders zusammen („Die Angst des Tormanns bei  Elfmeter“, „Der Himmel über Berlin“, „Die schönen Tage von Aranjuez“).

Als er 1996 „Gerechtigkeit für Serbien“ fordert, fällt er bei vielen Kritikern und Kollegen in Ungnade.

Zweimal ist Handke mit Schauspielerinnen verheiratet, zuerst mit Libgart Schwarz, dann mit Sophie Semin.

Seit 1990 wohnt Handke in einem Haus in Chaville bei Paris und unternimmt von seiner „Niemandsbucht“ aus literarische Wanderungen durch europäische Landschaften und Kriegsgebiete.




Seine Songs waren immer da – und das wird auch so bleiben: Bob Dylan zum 75. Geburtstag

Der Blick ins Rocklexikon bestätigt es: Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 geboren, er wird also jetzt 75 Jahre alt. Geburtsort war Duluth/Minnesota, danach wuchs Dylan – bürgerlich bekanntlich Robert Zimmerman(n) – in der Grubenstadt Hibbing auf. Er hat, wenn man so will, Wurzeln in einem Bergbau-„Revier“. Auch darüber hat er ja den einen oder anderen Song gemacht.

Doch wir wollen etwaige Analogien zum Ruhrgebiet nicht weiter treiben, es wäre lächerlich. Jedenfalls war Dylan durch solcherlei Herkunft wohl „geerdet“, er hat gewusst, wie gewisse Härten des Lebens sich anfühlen. Dass er hernach für die Schwachen und Erniedrigten Partei ergriffen hat, war nur folgerichtig.

Der Blick ins Plattenregal zeigt: Von keinem Künstler (ausgenommen Neil Young) habe ich so viele Platten und CDs wie von Bob Dylan. Warum wohl? Die Antwort drängt sich wiederum beim Blick ins eigene Innenleben auf. Seine Musik und seine Wesensart haben mich, wie so viele aus meiner Generation, durch all die Jahre und Jahrzehnte begleitet, mal inniglich, mal auf Hörweite, mal etwas entfernt. Manche seiner Songs waren und sind immer da. Und das wird so bleiben, selbst wenn eines Tages… Nein, ich mag nicht daran denken.

Ein paar Sachen aus dem Plattenregal. (Foto: BB)

Beispielsweise: ein paar Dylan-Sachen aus dem heimischen Plattenfundus. (Foto: BB)

Dabei habe ich seine Anfänge damals gar nicht wahrgenommen, sondern ihn erst auf dem Umweg über die Beatles (mein musikalisches „Erweckungs“-Erlebnis schlechthin), Stones, Small Faces usw. kennen gelernt, als auch er (1965 beim Newport Folk Festival) die elektrischen Verstärker einstöpselte. Was immer er getan hat, hat die Fans – so oder so – gleichermaßen bewegt und oft erregt, wie die Musikerkollegen. Er ist wahrscheinlich der einflussreichste Protagonist der populären Musik überhaupt.

Man hat dann halt mehr oder weniger andächtig nachgeholt, was Dylan vorher so fabriziert hatte. Es war eine vielfältige Welt für sich, mit weit gespanntem Horizont: Da waren die so genannten Protestsongs, authentischer Blues, die allerschönsten Liebeslieder und zwischendurch mal etwas religiöser Kitsch. Auch das war verzeihlich. Kein Künstler ist immerzu auf gleicher Höhe. Nicht einmal diese mythische Gestalt.

Literaturnobelpreis – was soll’s?

Schon seit einigen Jahren ertönt die Forderung immer lauter, man möge ihm doch endlich den Literaturnobelpreis zuerkennen. Dann würde eine ganze Generation nicht nur ihn, sondern sich selbst feiern und abermals in „Forever Young“-Seligkeit schwelgen. Mit literarischen Legenden wie Rimbaud, Villon und William Blake hat man ihn vergleichen wollen, mit den Surrealisten, natürlich auch mit Dylan Thomas, von dem sich Dylans Künstlername herleitet. Und und und. Ganz ehrlich: Mir ist es einerlei, ob er den Nobelpreis erhält. Die meisten genialen Autoren haben ihn nicht bekommen.

Ist er nun in erster Linie Dichter oder Musiker? Auch das ist eine müßige Frage. All seine Antikriegs-, Liebes-, Freiheits- und auch Glaubensbotschaften sind zutiefst in seine Musik eingesenkt, diese hat ihren eigenen Goldstandard. Weil dann noch sinnstiftende (und kunstvoll sinnverweigernde) Poesie hinzu kommt und mit der Musik untrennbar verwoben ist, wird spätestens klar, dass Popmusik auf hochkulturelle Pfade führen kann. Doch wer wollte das noch bezweifeln? Derlei Debatten sind ja längst ausgestanden, nicht zuletzt dank Dylan.

Die endlose Tournee

Der nun doch schon etwas ältere Mann befindet sich weiterhin auf seiner „Never Ending Tour“, die er nur kurz unterbricht, um seinen Geburtstag zu feiern. Anschließend geht es wieder und wieder auf die Bühnen, derzeit kreuz und quer durch die USA. Wahrscheinlich hört er mit solchen Rundreisen erst auf, wenn sich eines seiner berühmtesten Lieder für ihn erfüllt: „Knockin’ on Heaven’s Door“.

Wer ihn je im Konzert erlebt hat, weiß, dass Dylan zwischen den Songs wahrlich nicht lange schwafelt, sondern nur die allernötigsten Ansagen macht. Wie seine Klassiker, die das Publikum immer und immer wieder hören will (am liebsten mit Mundharmonika), dann tatsächlich live klingen, das weiß man vorher nie.

Er richtet seine Kreationen stets wieder anders zu, zuweilen hat er sie den Zuhörern auch lustlos hingeworfen, als wären es wertlose Bruchstücke. Erwartungen zu bedienen, ist seine Sache noch nie gewesen. Ich hatte das Glück, bei seinen Auftritten auch erhabene, strahlende Momente wie für die Ewigkeit zu erleben. Naja, für die Lebzeiten-Ewigkeit. Und ein bisschen darüber hinaus.

Und er kann doch singen

Immer wieder haben Leute spöttisch behauptet, Bob Dylan könne nicht singen, sondern nur nuscheln und näseln. Das ist natürlich Quatsch. Er singt wie kein anderer, auf ureigene Art perfekt phrasiert und mit untrüglichem Gespür fürs richtige Wort im richtigen Augenblick. Er singt eben so, wie seine Songs gesungen werden müssen; auch dann, wenn er sie mal mit Ingrimm selbst verhunzt. Millionen haben es probiert, doch es ist blanker Unsinn, einen solchen Sound nachzuahmen. Es kann nie und nimmer gelingen. Und es geht bei all dem nicht um stimmliche Glockenreinheit.

Es gibt einen Film, der ein lang zurückliegendes Treffen zwischen Donovan (kürzlich 70 geworden) und Dylan zeigt. Irgendwo backstage spielen die beiden einander etwas vor. Zuerst Donovan. Sehr schön, fürwahr. Er war ja auch kein Stümper. Dylan selbst soll einmal gesagt haben, Donovan sei der bessere Gitarrist. Doch dann greift Dylan ungemein lässig zum Instrument – und vom ersten Ton an ist klar, dass seine Schöpferkraft, seine Präsenz und sein Charisma Donovans Habitus bei weitem übersteigen.

Welches sein allerbester Song sei? Darüber könnte man ebenfalls lange palavern. Ich halte es vor allem mit einigen früheren Titeln, darunter „Love minus Zero (No Limit)“, „All Along the Watchtower“, „Just Like a Woman“, „Shelter From the Storm“ oder „Lay Lady Lay“. Ach, jetzt könnte ich doch noch Dutzende nennen, nahezu unaufhörlich, aber ich lasse es bleiben. Wer will schon einzelne Sterne vom Firmament zupfen?




„Den Menschen nicht absacken lassen“ – Dortmunder Autor Josef Reding wird 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

Dortmund. Er gilt als durchaus gesprächig, auch in eigener Sache. Doch literarisch äußert er sich sehr knapp und unprätentiös. Ohne Umschweife und fast schmucklos steuern Josef Redings Kurzgeschichten und Gedichte auf die Realität zu. Er möchte rasch wirken, da halten gedrechselte Feinheiten nur auf.

Reding, 1929 in Castrop-Rauxel als Sohn eines Filmvorführers geboren und seit 1965 in Dortmund lebend, wird heute 75 Jahre alt. Weit über 30 Bücher gibt es von ihm, übersetzt in 16 Sprachen und vielfach preisgekrönt. Den kurzen Formen blieb er durchweg treu.

Ein Gedicht über Dortmund beginnt so: „Meine Stadt ist oft schmutzig; / aber mein kleiner Bruder / ist es auch / und ich mag ihn. / Meine Stadt ist oft laut; / aber meine große Schwester / ist es auch / und ich mag sie.“

Einfache Sätze, klare Botschaft. Kein Wunder, dass solche lehrhaften „Gebrauchstexte“ Eingang in Schulbücher gefunden haben. Reding begreift Kinder als hoffnungsvolle Zielgruppe. Sie könnten die Welt noch ändern.

Früh die heiklen sozialen Themen aufgespürt

Sein erstes Buch („Silberspeer und roter Reiher“) erschien 1952, bevor Reding sein Abi machte. Zwei Jahre lang arbeitete er ganz handfest als Betonwerker, dann erst begann er ein Studium. Sehr zeitig erkannte Reding soziale Themen, die erst später breit debattiert wurden. So griff er etwa 1954 in „Trommlerbub Ricardo“ den Kolonialismus und die Ausrottung mexikanischer Indianer auf. Seine dokumentarische Textmontage „Friedland. Chronik einer Heimkehr“ (1956) schildert die Leiden der Heimatvertriebenen. Andere stießen erst jüngst auf dieses lange politisch verminte Themenfeld.

In Harlem und New Orleans engagierte sich Reding für die Bürgerrechtsbewegung des Martin Luther King (Buch: „Nennt mich nicht Nigger“). Drei Jahre lang lebte und half er in den Lepragebieten Asiens, Afrikas, Lateinamerikas. Reding stellt sich stets auf die Seite der Schwachen.

Seine Leitsterne sind Mitmenschlichkeit und notfalls gewaltloser Widerstand. Davon zeugen auch Tagebücher wie „Reservate des Hungers“ (1964) und „Menschen im Müll“ (1983). Redings Engagement ist christlich motiviert, Ethik geht im Zweifelsfalle vor Ästhetik. „Ich bitte im Grunde darum“, schrieb er einmal, „den Menschen nicht absacken zu lassen, ihn nicht aufzugeben.“ Doch in der Literaturgeschichte sind leider die gütigen, wohlmeinenden Menschen nur selten die Avantgarde gewesen.




Lebendes Monument des europäischen Kinos – Der französische Schauspieler Michel Piccoli wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

In manchen Filmen hat er nur für Minuten die Bildfläche betreten, nur ein paar Sätze gesprochen. Kam einem der Titel in den Sinn, so wusste man freilich gleich: Oh, das war doch diese Geschichte, in der Michel Piccoli mitgespielt hat!

Der Schauspieler, der als Typus eher zurückhaltend wirkt, sich aber mit seinen Rollen immer wieder unvergesslich einprägt, wird heute 75 Jahre alt. In weit über 100 Filmen hat er nahezu mit allen anderen Größen des europäischen Kinos gespielt. Man denke nur an diese Frauen: Jeanne Moreau, Brigitte Bardot, Catherine Deneuve, Stéphane Audran, Romy Schneider, Hanna Schygulla, Liv Ullmann, Juliette Binoche, Sandrine Bonnaire, Emmanuelle Béart…

Meist wurden dem in Paris geborenen Charmeur, der aus einer italienischen Musikerfamilie stammt, Affären mit diesen Schönen angedichtet. Er selbst hat beteuert, niemals eine Frau wegen einer anderen verlassen zu haben. Gleichwohl ist der treue Gefährte in dritter Ehe liiert – mit einer Großgrundbesitzerin, was seinem Bekenntnis zum Sozialismus keinen Abbruch tut. Die bekannteste Verbindung, Nummer zwei (mit der Sängerin Juliette Gréco), währte von 1966 bis 1977.

Kurz ist das Leben, lang die Kunst: Schon seit 1945 war Piccoli, anfangs in kleineren Parts, auf Theaterbühnen und im Kino zu sehen. Der Durchbruch kam 1963 mit Jean-Luc Godards „Die Verachtung“: Hier stürzte sich Piccoli in einen ungeheuer intensiven Geschlechterkampf mit Brigitte Bardot. Auch Luis Buñuel wurde auf ihn aufmerksam und setzte ihn gleich in Serie ein: in „Die Milchstraße“, „Tagebuch einer Kammerzofe“, „Belle de jour“ (Die Schöne des Tages), „Das Gespenst der Freiheit“ und „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“.

Dieser Filmtitel wurde auch Piccoli selbst als Etikett angeheftet, wirkte der elegante Verführer und Salonlöwe doch nie wie ein Draufgänger à la Delon oder Belmondo, sondern bürgerlich selbstbeherrscht und gefasst. Auch Regisseure wie Alfred Hitchcock („Topaz“) und Claude Chabrol besetzten ihn in diesem Sinne.

Beherzter Kämpfer gegen die Vormacht von Hollywood

Doch das war nur die Vorderansicht. Man konnte ahnen, wie es in vielen dieser Gestalten brodelte, wenn man Piccoli auf hundert hintersinnige Arten rauchen sah; wenn man bemerkte, wie er unter halb geschlossenen Augenlidern Blicke blitzen ließ oder wie er Requisiten behandelte, als wolle er sie mitsamt der ganzen Menschheit erdrosseln: Hier lauerte ein gefährlicher Hang zum Zynismus, zum Abgründigen, zu Delirium, Perversion und Wahnsinn.

Dieses Doppelwesen und alle Schattierungen dazwischen, die er auffächerte wie kein anderer, machten Piccoli als Darsteller einzigartig. Die entgrenzte, explosive und düstere Seite hat er manchmal bis zum Exzess ausleben können, so in Claude Faraldos qualvoller Sozial-Phantasie „Themroc“ (1973). Da spielte er jenen Anstreicher, der urplötzlich alle Regeln der Zivilisation abstreift und als brüllender Tiermensch die Mitwelt attackiert.

In Marco Ferreris Ekel-Fest „Das große Fressen“ stopfte er sich (mit Philppe Noiret, Marcello Mastroianni und Ugo Tognazzi) den Wanst so lange voll, bis er unter majestätischen Blähungen verreckte.

Laugst ist Piccoli ein lebendes Monument des europäischen Kinos, für dessen Belange er immer wieder beherzt eingetreten ist – gegen Hollywoods kommerzielle Dominanz. Gewiss kein Zufall, dass Agnès Varda für ihre Hommage zum hundertjährigen Bestehen des Lichtspiels („Les cent et une nuit“ / Hundertundeine Nacht) gerade Piccoli als über allen cineastischen Epochen schwebenden „Mr. Cinéma“ vorsah.

Eine seiner wunderbarsten Rollen war 1991 der Maler Frenhofer in Jacques Rivettes„La belle noiseuse“ (Die schöne Querulantin). Emmanuelle Béart stand und lag ihm da stundenlang nackt Modell. Doch der Film hat gar nichts Anzügliches, sondern erweist sich als existenzielle Auseinandersetzung zweier starker Seelen und als exemplarisches Ringen um den künstlerischen Schöpfungsakt.




Komik des Kosakenzipfels – Deutschlands prominentester Humorist Loriot wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

So feinsinnig, charmant und verbindlich wirkt der distinguierte Herr, daß man kaum merkt, wie rigide seine Komik manchmal ist. Aber ja! Wir reden wirklich von Vicco von Bülow alias Loriot, der heute 75 Jahre alt wird.

Er selbst hat einmal Buster Keaton und W. C. Fields als Vorbilder genannt, denn deren Komik sei „erbarmungslos“. Charlie Chaplin hingegen sei, bei allem Respekt, zu sentimental und moralisch. Bei Loriot „menschelt“ es nicht nur unverbindlich daher, sondern er zielt und trifft. Schon die steifen Posen des deutschen „Wirtschaftswunders“ hat er dem Gelächter preisgegeben. Und dabei wirkten seine Knollennasen-Männchen aus Büchern wie „Der gute Ton“ oder „Der Weg zum Erfolg“ doch so harmlos.

Was wirkliche Haltung und was bloße „Mache“ war, weiß der in Brandenburg geborene Sproß einer alten preußischen Offiziersfamilie gewiß haargenau zu unterscheiden.

„Man muß sich über alles wundem“

Mit solchem Gespür begabt, mußte man in den verdrucksten 50er Jahren nur noch mit offenen Augen durch die Welt gehen, um an jeder Ecke komische Situationen zu entdecken. Wenn sich gewisse Leute im Bewußtsein des „Wir sind wieder wer!“ reckten, so schrie das ja geradezu nach humoristischer Weiterverarbeitung. „Man darf nichts als selbstverständlich hinnehmen und muß sich über alles wundern“, so lautete eine von Loriots Humor-Regeln. So ist es.

Mit Cartoons und Sketchen in Fernseh-Sendereihen wie „Cartoon“ (ab 1967), „Telecabinet (ab 1974) oder „Loriot I bis VI“ (1976) erlangte er unverwüstliche Popularität. Endlich war da mal einer, der nicht die vordem landläufige, eher krachlederne Variante „deutschen Humors bediente! Loriot (französisches Wort für Pirol – der Vogel ist das Wappentier seiner Familie) dürfte Einflüsse ausgeübt haben, die etwa über die „Neue Frankfurter Schule“ (Robert Gernhardt & Co.) bis hin zur Kabarettszene neuester Prägung unterschwellig gewirkt haben.

Unvergeßliches TV-Requisit war jenes Gründerzeit-Sofa, auf dem Loriot mit gekräuselten Lippen seine Beiträge ansagte. Man fängt schon an zu grinsen, wenn man nur an all diese Szenen denkt, die längst zum Standard-Repertoire gehören. Da war z. B. jener Mann, der sich im Restaurant eine glühende Liebeserklärung abquält („Sagen Sie jetzt nichts, Fräulein Hildegard!“) und dabei einen Nudelrest in seinem Gesicht nicht bemerkt, während die Angebetete (Lieblings-Sketchpartnerin Evelyn Hamann) immerzu fassungslos dorthin starren muß.

Von der Gummiente zum Jodeldiplom

Urkomisch auch die Herren Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner, die aus unerfindlichen Gründen in derselben Hotelbadewanne stranden und nun streiten, ob und wie man die Gummiente „zu Wasser lassen“ solle.

Man könnte endlos weiter memorieren: den ausufernden Streit zweier Ehepaare, die sich im Campingurlaub kennengelernt haben. Anlaß: jene Nachtisch-Leckerei namens „Kosakenzipfel“; das „Jodeldiplom“ für die unausgefüllte Hausfrau („Da hat man was Eigenes“); das Ehepaar Hoppenstedt und seine Chaos-Besuche beim Herrenausstatter oder in der Bettenabteilung. Es waren im Grunde kleine Tragödien einer allseits gründlich fehlschlagenden Kommunikation, die einen trübsinnig machen könnten, wenn bitterernste Autoren sie aufbereitet hätten.

Apropos Paare: Nicht nur bei den Hoppenstedts und der ehelichen Groteske ums Vierminuten-Ei erweist sich die tiefe Wahrheit der Loriot-Formel „Frauen und Männer passen eigentlich nicht zusammen“. Sie versuchen’s halt immer wieder, ob’s nicht doch geht…

Daß die von Loriot gezeichneten Maskottchen „Wum und Wendelin“ jahrzehntelang für die „Aktion Sorgenkind“ warben, haben wir bei all dem noch gar nicht erwähnt. Bayreuth-Stammgast Loriot hat zudem gelegentlich Opern inszeniert und zwei der erfolgreichsten deutschen Kinofilme der letzten Jahrzehnte gedreht, „Ödipussi“ und „Pappa ante portas“.

Die Ruhe, die er sich neuerdings antut, sei ihm von Herzen gegönnt. Doch wie schade auch, daß er, sich so zurückhält! Wir vermissen etwas.

Das ARD-Fernsehen bietet heute um 21.45 Uhr viel Prominenz auf, um Loriot gebührend zu gratulieren. Programmänderung: Um 23.45 Uhr schließt sich Theatermann August Everding als Solo-Gratulant an.




Die Erregung beim Malen – Hagener Künstler Emil Schumacher wird 75

Von Bernd Berke

Der Hagener Maler Emil Schumacher, eine der bahnbrechenden Gestalten der deutschen Nachkriegskunst, wird heute 75 Jahre alt. Aus diesem Anlaß verleiht ihm seine Geburtsstadt die Ehrenbürgerschaft, und im Osthaus-Museum wird eine Schumacher-Ausstellung eröffnet.

Schumacher genießt weltweiten Ruf; er bekam zahllose internationale Auszeichnungen; er war auf den größten Ausstellungen (documenta, Biennale in Venedig) vertreten. Doch stets „war und ist für seine Malerei die südwestfälische Herkunft bestimmend“, befindet Kindlers Malerei-Lexikon. Die Kunstzeitschrift „Art“ zitiert sein Bekenntnis zu Hagen: „Die Leute hier sind mir vertraut. Die Arbeitergegend inspiriert mich. Der gute Geist, der von diesem Flecken ausgeht, gibt mir Bilder, die ich nur hier malen kann.“ In der Tat: Die Landschaft Südwestfalens regte nicht nur die Gestaltung schrundig-erdhafter Bilder an, sie lieferte manchmal auch gleich das zugehörige Material.

Am 29. August 1912 wurde Emil Schumacher im Haus Bleichstraße 11 in Hagen (dort wohnt er noch heute) als Sohn eines Schlossers geboren. Von 1932 bis 1935 studierte er an der Dortmunder Kunstgewerbeschule, strebte dann eine Existenz als freier Maler an.

Bedeutsam war die Begeglung mit dem Altmeister Christian Rohlfs im Jahr 1937. Rohlfs (1938 in Hagen gestorben) gehörte zu den vom NS-Regime verfemten Künstlern (1934 verhinderten die Nazis in Witten auch eine Schumacher-Ausstellung). Rohlfs‘ expressive Malweise gab Schumacher Impulse.

Vom Fronteinsatz zurückgestellt, wurde Schumacher von 1939 bis 1945 als technischer Zeichner in die Hagener Akkumulatorenfabrik verpflichtet. Erst nach dem Krieg konnte er wieder als freischaffender Künstler arbeiten. Alsbald gehörte er zu den Malern, die den Anschluß an die so lang und gewaltsam unterdrückte Moderne wiederherstellten.

Zunächst experimentierte Schumacher mit kubischen .Formen, die die Farborgien noch „bändigten“. Doch nach einem Besuch in Paris (1951) wagte er das Abenteuer der Abstraktion. Die Farbe sprengt nun die Form. Die spontane Aktion an der Leinwand wird bestimmend. Schumacher trägt die Farbe oft mit bloßen Händen auf. Bekannt wurden seine reliefartigen „Tastobjekte“ sowie die „Hammerbilder“, bei denen Schumacher die Malfläche durch aggressive Hammerschläge bearbeitete und die entstandenen Furchen erneut ausmalte – Zerstörung und neues Werden. Dabei kommt die pure „Körperlichkeit“ der Farbe zum Vorschein, und es entfaltet sich ihre psychologische Macht. Man mag Schumachers Bilder dem „Tachismus“ oder dem „Informel“ zuordnen. Ihre Qualität erfaßt man mit solchen Schubladen-Begriffen nicht.

Seine immens lebendigen Bilder tragen deutliche Spuren heftiger Malgesten, sie sind ersichtlich aus starker Motorik, aus kraftvoll ausgetragenem Kampf hervorgegangen. Zwar spielt dabei auch Zufall eine Rolle, doch gerade deshalb ist eine souveräne Beherrschung von Form und Farbe wichtig. Schumacher: „Handwerk, Technik und Erregung sind eins.“

Die Erregung beim Malen hat Schumacher auch in seinem jetzigen Alter nicht verlassen. Im Gegenteil, seine Arbeiten wirken vitaler denn je. Schumachers häufig zitierter Satz „Ich nehme eine Farbe, wie ich in einen Apfel beiße oder einem Freund die Hand gebe“, läßt ahnen, wie lebenswichtig ihm die Kunst ist.