Nur wenige echte Premieren – doch das Aalto-Theater präsentiert anregenden Spielplan

Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Mit einem Juwel aus dem tschechischen Opernschaffen startet das Essener Aalto-Theater am 26. September in die Spielzeit 2015/16: GMD Tomáš Netopil dirigiert zum ersten Mal in seiner Laufbahn Bohuslav Martinůs „The Greek Passion“. Der Komponist dieser Oper nach dem Roman „Griechische Passion“ (1948) von Nikos Kazantzakis wurde vor 125 Jahren geboren.

Mit „Elektra“ kehrt ein Schwergewicht des Strauss-Repertoires ans Aalto zurück. Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ bereichert den Essener Spielplan mit einer skurril-burlesken Variante von Humor, während der Klassiker „Il Barbiere di Siviglia“ zwar das schmale Essener Rossini-Portfolio nicht erweitert, aber einen frech-spritzigen Abend für das breite Publikum verspricht.

Regie führt bei Rossini der durch seinen Bayreuther „Holländer“ bekannt gewordene Jan Philipp Gloger. Für Martinů engagierte Intendant Hein Mulders einen tschechischen Regisseur: Jiří Heřman, 2007 bis 2012 Künstlerischer Direktor der Prager Nationaloper, hat dort viel inszeniert, unter anderem Martinůs „Marienspiele“ und Antonín Dvořáks „Der Jakobiner“ mit Netopil am Pult (2011).

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie und des Aalto Theaters Essen. Foto: Philharmonie Essen

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie und des Aalto Theaters Essen. Foto: Philharmonie Essen

Von den fünf Premieren – für ein Haus von der Größe Essens zu wenig – sind drei Kooperationen: Prokofjews Oper kommt aus Amsterdam in einer Inszenierung Laurent Pellys. Die „Elektra“ hat David Bösch 2014 in Antwerpen/Gent erarbeitet. Und „Faust“ kommt in der Interpretation von Philipp Stölzl von der Spree an die Ruhr. In zwei Monaten, am 19. Juni hat Charles Gounods Oper an der Deutschen Oper Premiere.

Operetten- und Musical-Freunde gehen auch bei den Wiederaufnahmen leer aus: Einer Rückkehr der „Csardasfürstin“ standen Dispositionsgründe entgegen, ein neues Musical ist vorerst nicht vorgesehen, gab Mulders bekannt. Dafür versprach er für die nächste Spielzeit eine neue große Operettenproduktion.

Unter den dreizehn Wiederaufnahmen rangieren mit den Puccini-Opern „Madama Butterfly“, „La Bohème“ und „Tosca“ drei ausgesprochene Publikumslieblinge. Verdi ist mit „Macbeth“, „Ballo in maschera“, „Aida“ und „La Traviata“ vier Mal vertreten, Mozart mit seinen zwei maßstabsetzenden Werken „Die Zauberflöte“ und „Don Giovanni“. Von Wagner kehrt lediglich „Der fliegende Holländer“ zurück; die verdienstvolle slawische Linie des Hauses bleibt mit Dvořáks „Rusalka“ präsent.

Kommt wieder: "Giselle" mit der berühmtesten von Adolphe Adams Ballettmusiken. Foto: Bettina Stöss/Aalto-Ballett

Kommt wieder: „Giselle“ mit der berühmtesten von Adolphe Adams Ballettmusiken. Foto: Bettina Stöss/Aalto-Ballett

Im Ballett sind derzeit innovative künstlerische Impulse nicht zu erwarten: Ben Van Cauwenbergh arbeitet seit Jahren die „Top Ten“ des gängigen Repertoires ab; in der nächsten Saison erwartet das Essener Publikum am 24. Oktober folglich ein neuer „Nussknacker“.

Als zweite Premiere präsentiert das Aalto-Ballett unter dem Titel „Archipel“ vier zwischen 1986 und 2002 entstandene Kreationen des legendären Jiří Kylián: „27‘52“ mit Musik von Gustav Mahler und „Petite Mort“ sind viel gezeigte Klassiker, dazu kommen die von Mozart inspirierten „Sechs Tänze“ und „Wings of Wax“. Unter den fünf Wiederaufnahmen sind „Giselle“ und die Uraufführung der laufenden Saison, „Odyssee“.

Begleitprogramme, Einführungsmatineen und das Kinder- und Jugendprogramm „Abenteuer Aalto“ bewegen sich auf gewohnt hohem Niveau. Vom 14. bis 20. März 2016 zeigen die TUP-Festtage, wie sich die fünf Sparten der Theater- und Philharmonie Essen GmbH miteinander inhaltlich verbinden – eine Perspektive, die etwa auch in den Querverweisen zwischen Opern- und Konzertprogrammen immer deutlicher spürbar wird. Unter dem Thema „Unbeschreiblich weiblich“ sollen Heldinnen der Antike und Frauen in der heutigen Kulturszene in Klang und Wort, reflektierender Theorie und szenischer Praxis aufeinander treffen.

Info: www.theater-essen.de




Den Gaga-Style tanzen: Ballett-Premiere „Deca Dance“ im Aalto

Deca Dance, Aalto Ballett Theater, Foto: Bettina Stöß

Deca Dance, Aalto Ballett Theater, Foto: Bettina Stöß

Im Aalto tanzt man den „Gaga-Style“: Der von dem israelischen Choreographen Ohad Naharin entwickelte Tanzstil eröffnet den Tänzern des Aalto Balletts ganz neuartige körperliche Erfahrungswelten und kommt gleichzeitig mit einer Leichtigkeit und Energie daher, die sogar Nachahmer im Publikum findet.

Der übliche Reflex im Zuschauerraum besteht ja meist aus einem verschämten Wegducken, wenn Tänzer Zuschauer auf die Bühne bitten. Mit den Profis möchte man sich doch nicht unbedingt messen, zumal, wenn alle zusehen. Doch die überaus charmante Szene bei der Premiere von „Deca Dance“ zeigt, dass sich zwischen Tänzern und Laien Grenzen überwinden und eine ungeheure Lust an der Bewegung erwecken lassen: Gesetzte Damen, elegante Herren, Schulmädchen oder sportliche Frauen im Abendjäckchen– sie alle tanzen raumgreifend den Cha-Cha-Cha auf der großen Bühne, behutsam geführt von Tänzern im schwarzen Anzug und Hut. Unaufgeregt und lebensfroh, so dass der eine oder andere sich in die eigene Tanzstunde zurückversetzt fühlt, eine Dame gar nicht mehr aufhören mag und sich zu einem bezaubernden Pas de deux aufschwingt: Applaus für die unerschrockene Begabung. So braucht es weder Youtube noch koreanische Rapper mit „Gangnam-Style“, um Menschen zum Tanzen zu animieren. Das Aalto Ballett reicht völlig aus und adelt den Spaß gleichzeitig zur hochkarätigen Bewegungskunst.

Genau eine Stunde dauert diese Frühlingspremiere, die Ohad Naharin mit einem klaren Bild zu wuchtiger Hava Nagila-Musik beginnen lässt: Im Halbkreis sitzen die Tänzer in Anzug und Hut und hier spürt man die ästhetischen Einflüsse der Kibbuz-Bewegung. Doch schon die nächste Szene führt in eine Art Proben-Atmosphäre, die Tänzerinnen tragen bunte Gymnastikkleidung und bewegen sich ebenso frei und dynamisch wie exakt in der Gruppe.

Ein ungewöhnlicher Effekt entsteht, als die Tänzerinnen synchron mit den Zähnen klappern – ein durchaus durchdringender Sound im großen Opernhaus. Die Männergruppe dagegen zeigt Rivalen-Verhalten und misst ihre Muskeln und Kräfte. Mit von der Arbeit geschwärzten Gesichtern vergießen sie im Konkurrenzkampf Schweiß. Doch beim Liebespaar nimmt der männliche Part eher die bittende Rolle ein: Will sie ihn nicht erhören oder lässt sie den Armen nur ein wenig zappeln?

Apropos zappeln: „Sei wie eine Spaghetti-Nudel in kochendem Wasser“, lautet eine Anweisung der Bewegungssprache „Gaga“. Ohad Naharin hat sie nach einer Rückenverletzung für sich selbst entwickelt. Statt hoher Sprünge und perfekter Haltung bei den verschiedenen Positionen sollen dynamische, multidimensionale Bewegungen im Vordergrund stehen, die Spaß machen und die bewusste und unbewusste Wahrnehmung des Körpers schärfen.

Das Ziel ist es „gaga“, also frei und aufgelockert zu werden. Das hat das Aalto-Ballett geschafft, denn der Körper weiß manchmal mehr als der Verstand. „Die Illusion von Schönheit und eine dünne Linie, die Wahnsinn und Vernunft trennt, die Panik hinter dem Lachen und die Koexistenz von Müdigkeit und Eleganz.“ Der Satz wird dem Abend als Motto vorangestellt, doch am Ende klingt er noch nach – mit Leben gefüllt.

Weitere Informationen: www.aalto-ballett-theater.de