Die „Hitlerwerdung“ Adolf Hitlers – Feridun Zaimoglus riskanter Roman „Bewältigung“

Als Romangestalt bleibt der Autor namenlos. Zunehmend scheint es so, als hätte eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen, so dass er gar kein Individuum mehr sein kann; als hätte er sich selbst verloren. Dahinter steht ein furchtbar monströses Projekt: Er hat sich vorgenommen, einen Roman zu schreiben, dessen Hauptperson Adolf Hitler ist. Genauer: Es geht um die frühen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, sozusagen um die „Hitlerwerdung“ Hitlers.

Besagter Autor hat Dutzende von Büchern durchgearbeitet, die das „Phänomen“ Hitler erschließen sollen. Er hat sich auf Recherche-Reise begeben – nach Bayreuth, wo Winifred Wagner den späteren „Führer“ angehimmelt hat; nach München, wo er einige Lieblingsorte Hitlers aufsucht; nach Dachau; zum Obersalzberg.

Mehr und mehr muss der Autor sich Hitler als glaubhafte Romanfigur anverwandeln, sonst hätte das Schreiben ja gar keinen Zweck. Hitler steckt in seinem Kopf, in seiner Psyche. Es sieht so aus, als käme der Schreibende aus dieser Zwangslage nicht mehr heraus. Lässt sich – bei aller schmerzlichen Anstrengung – überhaupt etwas wesentlich „Neues“ über Hitler herausfinden? Wie war das noch mit dem Diktum „Zu Hitler fällt mir nichts mehr ein“, das fälschlicherweise Karl Kraus zugeschrieben wird?

Feridun Zaimoglu, zwar 1964 in der Türkei geboren, aber seit seinem sechsten Lebensmonat in der Wahlheimat Kiel „ein deutsches Leben“ führend, wie er es selbst nennt, hat sich mit seinem Roman „Bewältigung“ ein denkbar belastendes Thema vorgenommen. Sein Buch enthält zahllose Passagen, in denen der fiktive Autor (und mit ihm Zaimoglu selbst) gedanklich und sprachlich beängstigend nahe an Hitler herangeführt wird. Wer immer sich in diesen Massenmörder dermaßen hineinversetzt, kann nicht einfach „normal“ weiterleben. Nicht nur nebenbei sei’s gesagt: Es gibt hierzulande gewiss nicht viele Autoren, die sprachmächtig genug sind, um solch ein Unterfangen zu beginnen. Da muss manches aus dem zeitgeschichtlichen Urschlamm hervorgeholt und gesagt werden, was eigentlich nicht sagbar ist. Zaimoglu und sein Autor taumeln auf schmalem Grat. Praktisch alle, die vom Hitler-Projekt erfahren, sind zutiefst befremdet.

Es stellt sich die Frage, ob solch ein Projekt auszuhalten ist. Eine irgendwie fassbare Romanfigur muss – so verbrecherisch sie sei – auch menschliche Eigenschaften haben, womöglich Traumata, die aus der biographischen Frühzeit herrühren. Um sie aufzuspüren, muss man sich tief ins Innere begeben. Daraus geht man nicht schadlos hervor, denn diese Figur ist ja recht eigentlich unfassbar. Je konsequenter man Hitlers Wesen nachzeichnen will, umso mehr ist es zum Verrücktwerden. Da hilft es auch nicht, sich in einen Opferstatus hineinzuversetzen, indem man sich eine KZ-Nummer in die Haut ritzt. Ist nicht jede „Bewältigung“ nur Beschönigung?

Seltsam genug, dass der Autor Hitler zumeist „den Österreicher“ oder „Menschenschwein“ nennt. Im Verlauf seiner Untersuchungen stößt dieser Schriftsteller auf mancherlei Vorlieben und Abneigungen Hitlers, er erwägt dessen Verhältnis zu Frauen, zu seiner Mutter und zu Hunden, geht zu den Quellen seiner rassistischen Raserei, untersucht sein verkorkstes Verhältnis zur Kunst. Gar manches klingt plausibel (sofern man es überhaupt so sagen kann) und trifft den schnarrenden Tonfall jener Zeiten, anderes streift beinahe zwangsläufig die läppische Kolportage. Was soll es besagen, dass Hitler als Achtjähriger angeblich einem Ziegenbock ins Maul gepisst hat? Dass er für gewöhnlich sieben Stück Zucker in seinen Tee rührte? Was für lachhafte Exzesse!

Aus vielen, vielen Notizen schält sich ein Kernsatz heraus, mit dem der Autor seinen Roman beginnen lassen will. Er bezieht sich auf eine Verwundung Hitlers durch britisches Gas in Ersten Weltkrieg. Damals in Flandern wäre Hitler fast dauerhaft erblindet, seither sei er von Gas besessen gewesen. Welch ein Ansatz, wenn man die späteren Vernichtungslager mitdenkt…

Hitler wird, aller Annäherung zum Trotz, nicht nur als Einzelmensch geschildert. Immer wieder geraten auch die willfährigen Helfer in den Blick, die ihn erst möglich gemacht haben. Doch auch darin geht die Geschichte nicht auf. Noch immer ist nicht bis ins Letzte ergründet, warum so viele Menschen Hitlers Wahn geradezu rauschhaft gefolgt sind.

Eine weitere Ebene zieht  Zaimoglu in den Roman ein, indem er seinen Autor Sprach- und Integrations-Unterricht für Geflüchtete aus dem arabischen Sprachraum erteilen lässt. Da stellt sich auf noch einmal ganz andere Weise die Frage nach dem Deutschsein an sich. Es zeigt sich, dass das Thema keineswegs „erledigt“ ist. Wohl jede Generation hat hierin eine Herkulesaufgabe. Das betrifft auch jene Menschen, die dauerhaft in dieses Land kommen. Sollte sich da ein Hoffnungsschimmer verbergen?

Feridun Zaimoglu: „Bewältigung“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 268 Seiten. 24 Euro.




Brutaler Vernichtungskrieg: Vor 75 Jahren begann der Feldzug gegen die Sowjetunion

„Kaum ein Krieg war wie dieser. Kaum einer hat so viel Blut gekostet, hatte solche Wirkungen, hat so tiefe Spuren in der Erinnerung der Zeitgenossen hinterlassen …“ So beginnt der Historiker Christian Hartmann sein Buch über den Krieg im Osten zwischen 1941 und 1945. Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der Überfall auf die Sowjetunion. Vorbereitet unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ setzten sich in der Morgenfrühe 121 deutsche Divisionen in Bewegung.

Ein Standardwerk: Christian Hartmanns 2011 bei C.H.Beck erschienenes Buch "Unternehmen Barbarossa" (© Beck Verlag)

Ein Standardwerk: Christian Hartmanns 2011 bei C.H.Beck erschienenes Buch „Unternehmen Barbarossa“ (© Beck Verlag)

3,3 Millionen Soldaten begannen, auf einer Linie von 2130 Kilometern die Grenze zu überschreiten. 600.000 Kraftwagen, 3350 Panzer, 7300 Geschütze, unterstützt von 2000 Flugzeugen – eine riesige Streitmacht. Um 5.30 Uhr morgens verlas Proagandamininster Joseph Goebbels eine „Proklamation des Führers an das deutsche Volk“. Darin verbreitete er die Lüge, die sich auch nach dem Krieg lange halten sollte: Die Wehrmacht, so hieß es, sei zur „Abwehr der drohenden Gefahr aus dem Osten“ in den „gewaltigen Aufmarsch der feindlichen Kräfte hineingestoßen“.

Die Behauptung, Hitler habe einen präventiven Krieg begonnen, wurde erst vor 20 Jahren wissenschaftlich gänzlich widerlegt. Tatsächlich ging es dem Diktator um einen Vernichtungskrieg. Geboren aus einer politischen Idee, die einst „in der dämmerigen Wahnwelt Münchner Bierspelunken Gestalt angenommen hatte“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb. Hitler hatte wohl auch den Gedanken, den Krieg auszuweiten, um England zum Frieden zu zwingen – den einzigen ernstzunehmenden Gegner, der ihm in Westeuropa geblieben war. Um Englands letzte Hoffnung auf dem Kontinent zu zerschlagen, müsse Russland „erledigt“ werden.

Doch es würde zu kurz greifen, in dem Russlandfeldzug nur eine Reaktion auf die politisch-militärische Lage zu sehen. Intensive Forschungen haben gezeigt: Hitler setzte einen Plan um, den er schon in „Mein Kampf“ skizziert hatte. Ihm ging es um die Vernichtung von Judentum um Bolschewismus, um den „Lebensraum“ im Osten, um die Vertreibung slawischer „Untermenschen“ und um den monströsen Plan, ein großgermanisches Reich zu errichten. Wie radikal und inhuman Hitler diesen Ansatz verfolgte, ist heute aus zahllosen Dokumenten erschließbar.

Wahnidee vom „Lebenraum im Osten“

Begünstigt wurde das „Unternehmen Barbarossa“ durch eine breite Akzeptanz des Kampfs gegen den „jüdischen Bolschewismus“ in der militärischen Führung. Nach dem Ende des „Blitzkriegs“ im Westen war einigen Generälen klar, dass die große Operation im Osten gemäß Hitlers Wahnidee vom „Lebensraum im Osten“ nicht lange auf sich warten lasse. So waren bereits Pläne in Arbeit, als Hitler am 3. Juli 1940 den offiziellen Befehl erteilte, prüfen zu lassen, wie ein militärischer Schlag gegen Russland zu führen sei.

Nicht nur militärisch, auch ideologisch bereiteten Hitler und seine Getreuen den Überfall mit deutscher Gründlichkeit vor. Elf Millionen „Slawen“ wollten sie nach Sibirien abdrängen und dort ihrem Schicksal überlassen – oder gleich „verschrotten“, wie der geplante Massenmord technisch bemäntelt ausgedrückt wurde.

Bei der wirtschaftlichen Ausbeutung der eroberten Gebiete rechneten die deutschen Planer bedenkenlos mit dem Hungertod von Millionen Menschen. Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung und der russischen Führungsschicht war von Anfang an vorgesehen. „Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger Unterdrücker, muss beseitigt werden“, hieß es in Hitlers Richtlinien zu Sondergebieten. Die Massenmorde vor allem von SS-Einheiten im Hinterland wurden als „Sonderaufgaben im Auftrag des Führers“ eingeplant. Notwendig, so betonte Hitler wenig später, sei dazu „brutale Gewalt“.

Systematischer Massenmord

Militärisch sah der Plan vor, in nur 22 Wochen in einem „Blitzkrieg“ die Rote Armee handlungsunfähig zu machen und eine Linie zwischen Leningrad und dem Donezbecken zu erreichen. Mit schnellen Kräften sollten Keile in die russische Verteidigungslinie getrieben, die russischen Truppen vom Nachschub abgeschnitten, eingekesselt und aufgerieben werden, während die motorisierten Spitzen des Heeres schon weiter nach Osten vorrücken. Die Erfolge der drei Heeresgruppen und vier Luftflotten waren in der Tat gewaltig. Schon Anfang September war das belagerte Leningrad von Landverbindungen abgeschnitten. Drei verlustreiche Kesselschlachten bei Bialystok, Minsk und Smolensk brachten riesige Raumgewinne.

Ende 1941 waren das Baltikum, Weißrussland und die Ukraine besetzt. In der Ukraine und in den baltischen Ländern wurden die Deutschen anfangs als Befreier bejubelt. Das änderte sich schnell, als die SS, unterstützt von Einheiten der Wehrmacht, mit ihrem Unterdrückungssystem und mit Erschießungen ernst machten. Rund eine halbe Million Menschen, so schätzt man heute, sind den systematischen Morden zum Opfer gefallen.

Schwere moralische Hypothek

Entgegen lange verbreiteten Theorien war die Niederlage der deutschen Militärmacht nicht erst mit Stalingrad, sondern schon mit dem Scheitern des „Blitzkrieges“ im Herbst 1941 besiegelt. Hitler hatte den dringend empfohlenen Angriff auf Moskau – die Kremltürme waren schon in den Ferngläsern der Panzerspitzen zu sehen – gestoppt, um die wirtschaftlich wichtige Ukraine unter Kontrolle zu bringen. Die Moskauer Offensive begann erst im Oktober 1941 und blieb nach Anfangserfolgen im Schlamm und in den eisigen Temperaturen des einbrechenden Winters stecken. Auch die sträflich vernachlässigte deutsche Logistik hielt den Herausforderungen des gewaltigen Raumes nicht stand.

Was Hitler einmal als „Sandkastenspiel“ bezeichnet hatte, endete nach knapp vier Jahren in einer vollständigen Niederlage. Die Bilanz ist grauenerregend: Allein 27 Millionen toter Soldaten und Zivilisten auf russischer Seite, hunderte von Kilometern „verbrannter Erde“, traumatisierte Opfer, zerstörte Familien, Millionen vertriebener und heimatloser Menschen. Für die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist dieser Krieg eine schwere moralische Hypothek; für die Weltgeschichte war er eine der fundamentalen Entscheidungen und bestimmt in seinen Auswirkungen die politische Landkarte bis heute.




Ikone der Filmgeschichte: Vor 75 Jahren wurde Chaplins „Der große Diktator“ uraufgeführt

In diesem Film gibt es Szenen, die in die Weltgeschichte der bewegten Bilder eingegangen sind. Szenen, die man einmal gesehen hat und nie wieder vergisst. Szenen, die das Lachen herauskitzeln und die einem das Lachen im Hals steckenbleiben lassen. Die „New York Times“ bezeichnete ihn – unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen – als vielleicht bedeutsamsten Film, der je produziert wurde. Gemeint ist Charlie Chaplins „Der große Diktator“.

Die bittere und zugleich erzkomische Satire auf Adolf Hitler und das Dritte Reich hatte vor 75 Jahren, am 15. Oktober 1940, ihre Premiere – und zwar in New York, nicht wie üblich in Los Angeles, weil Chaplin eine bereits angelaufene Protestwelle fürchtete. Das Hays-Office, die amerikanische Zensurbehörde, äußerte bereits im Vorfeld Bedenken gegen den Film; Chaplin erhielt aus pro-faschistischen Kreisen Drohbriefe.

Chaplin, wie Hitler im April 1889 geboren, ist vielleicht der einzige Künstler, dem es je gelungen ist, die Figur des größenwahnsinnigen Diktators künstlerisch adäquat umzusetzen. Leicht ist es dem britischen Komiker nicht gefallen: Bis 1935 reichen die Vorbereitungen für den Film zurück. Chaplin musste sein Konzept am Set auch gegen einzelne Mitarbeiter durchsetzen. Und die Kritik war keineswegs einhellig positiv. 1940 ging es in der öffentlichen Diskussion in den USA um einen möglichen Kriegseintritt; Chaplins „Großer Diktator“ wurde da als Beitrag zur Kriegshetze missverstanden.

Darf man über Verbrecher lachen?

Später hat man ihm sogar vorgeworfen, den Nationalsozialismus verharmlost zu haben. Die Frage, ob man über die furchtbaren Verbrecher des Dritten Reiches lachen dürfe, wurde auch in der Nachkriegszeit lange diskutiert. Chaplin selbst bekannte später, hätte er die wahren Gräuel in den Konzentrationslagern gekannt, hätte er den Film nicht produzieren können. Die Amerikaner gaben den Film nach Testaufführungen im Nachkriegs-Berlin nicht frei; er kam erst 1958 in die deutschen Kinos. 2004 erlebte er sein Comeback in einer aufwändig restaurierten Version.

Charlie Chaplin indes wusste, was er tat und was er wollte: Er hatte die Tiraden und Ausfälle Hitlers lange genug studiert, um ihren unmenschlichen Kern freizulegen. Er hatte erkannt, dass die Hassreden gegen die Juden und „Untermenschen“, ihre Diskriminierung und letztlich tödliche Verfolgung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit unerhörten Ausmaßes waren. Er wollte die Wahrheit mit seinen Mitteln darstellen und die Menschen aufrütteln – mit den Mitteln des Komödianten, mit der Kunst der Parodie, der Überzeichnung, der Satire und Persiflage.

Und so ließ er „Adenoid Hynkel“, den Herrscher über „Tomania“, mit einem Luftballon in der Form eines Globus tanzen, bis der Luftbehälter platzt und nur ein paar Fetzen in den Händen des Diktators zurückbleiben. So persiflierte er die „Achse“ zwischen Hitler und Mussolini mit dem Treffen des kriegswütigen Hynkel mit dem kaum weniger gewaltversessenen Herrscher von Bacteria, Benzino Napoloni. Die Szene mit dem verfehlten roten Teppich vor dem Zug gehört zu den Ikonen gelungenen Slapsticks.

Plädoyer für Freiheit und Humanität

Für das Finale des Films – den Einmarsch Tomaniens ins Nachbarland „Osterlich“ – lässt Chaplin einen kleinen, aus dem KZ geflohenen Juden in die Rolle des Diktators geraten: Die tragikomische Gestalt des verfolgten Friseurs, der dem Gewaltherrscher zum Verwechseln ähnlich sieht – Zwei-Finger-Bart unter der Nase eingeschlossen –, muss die Rede nach dem erzwungenen „Anschluss“ des besetzen Landes halten. In diesem Moment wächst er über sich hinaus: Er plädiert für Völkerverständigung, gegen Sklaverei und Unterdrückung, für Freiheit, Toleranz und Humanität. Eine fast sechsminütige Rede, die in der Kritik auf Ablehnung stieß. Formal, weil sie die Ebene der Handlung verlässt und die „vierte Wand“ zum Zuschauer durchbricht; inhaltlich, weil Chaplin seine politische Position unverstellt und leidenschaftlich formuliert.

Die Worte dieser Rede stehen in denkbar scharfem Gegensatz zu dem Kauderwelsch, mit dem sich der echte Diktator in einer vorangegangenen Szene vor dem Mikrofon produziert hatte. Chaplin hatte für diese Ansprache Hitlers Gestik und Mimik genau studiert, um sie lächerlich zu überzeichnen. Und seine Sprache ist ein künstliches Gebrabbel, in dem man nur hin und wieder einzelne Worte erkennt: „Sauerkraut“, „Schnitzel“ oder „Blitzkrieg“. Eines der Kunstworte Chaplins, „Schtonk“, hat über den Film hinaus Karriere gemacht.

„Der große Diktator“ ist nicht nur eine genialische und tief bewegende Satire. Er ist, wie die „New York Times“ schrieb, ein von Grund auf tragisches – oder im klassischen Sinne tragikomisches Werk. Er ist bis heute ein Aufruf, hellsichtig zu bleiben und die Unmenschlichkeit, die sich nicht ausrotten lässt, zu erkennen und zu benennen. Und er ist ein berührendes Zeugnis für den großen Humanisten Charles Spencer Chaplin, der sich in der Rede des jüdischen Friseurs im Film unverstellt wiederfinden lässt:

„Es tut mir leid aber ich möchte nun mal kein Herrscher der Welt sein, denn das liegt mir nicht.
Ich möchte weder herrschen, noch irgendwen erobern,
sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann.
Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weißen.
Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt.
Wir sollten am Glück des andern teilhaben und nicht einander verabscheuen.
Hass und Verachtung bringen uns niemals näher.
Auf dieser Welt ist Platz genug für jeden, und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen.
Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein.
Wir müssen es nur wieder zu leben lernen.“




Hitler als Liebling der Medien: „Er ist wieder da“ im Westfälischen Landestheater

Der Gedanke ist zugegebenermaßen ziemlich absurd, aber als Phantasiespiel nicht ohne Reiz: Wie wäre es, wenn Hitler wieder auftauchte? Wenn er nach 70jährigem Dornröschenschlaf in einer deutschen Gegenwart erwachte, in der es türkische Zeitungen und Comedians gibt und niemand Respekt vor dem Führer hat? Der Autor Timur Vermes hat dieses Spiel vor einigen Jahren in seinem Romanerstling „Er ist wieder da“ gewagt. Jetzt hat das Westfälische Landestheater in der Regie von Gert Becker daraus ein vorwiegend vergnügliches Bühnenstück gemacht und in Castrop-Rauxel uraufgeführt.

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In Pose: Guido Thurk als Hitler 1 (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Zeitungshändler, bei dem dieser merkwürdige Bärtchenträger in seiner abgeranzten, nach Benzin stinkenden braunen Uniform auftaucht, hält ihn für einen Comedian, für einen genialen Hitler-Imitator, der nie aus der Rolle fällt. Er vermittelt ihn an die Agentur „Flashlight“, und eine steile Karriere nimmt ihren Lauf. Jede Woche ist Hitler im Fernsehen zu sehen, seine Klickzahlen im Netz sind atemberaubend, „Youtube-Hitler – Fans feiern seine Hetze“ titelt die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben. Bald schon erhält er (Achtung! Satire!) den Grimme-Preis, seit Loriot war kein Humorist so beliebt wie Adolf Hitler.

Und es bleibt nicht bei den im sattsam bekannten martialischen „Führer“-Duktus gehaltenen Reden. Wenn Hitler das NPD-Büro in Köpenick aufsucht und den Vorsitzenden wegen unvölkischer Gesinnung und einem indiskutablen Bekenntnis zur Demokratie vor laufender Kamera zusammenstaucht, feiert das Volk der Medienkonsumenten dies als Protestaktion gegen Rechts; und als er schließlich von Neonazis beschimpft und zusammengeschlagen wird, fliegen ihm endgültig die Herzen der Menschen zu. Es wird Zeit, das gut zweistündige Stück mit seinen monströsen Hitler-Phantasien zu beenden, was nun dankenswerterweise auch recht abrupt geschieht.

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Hitler 1 (Guido Thurk, links) und Hitler 2 (Burghard Braun). (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Doch das mulmige Gefühl, das sich trotz der zahlreichen eingebauten Lacher schleichend einstellte, will nach der letzten Szene nicht recht weichen. Vieles von dem, was Timur Vermes erzählt, könnte sich tatsächlich so abspielen in der Mechanik unserer stets gebannt auf Quote und Umsatz starrenden Medienwelt. Oder spielt es sich, die Frage steht im Raum, nicht auch so schon ab? Gibt es nicht längst schon diese Stars in Comedy und Talkshows, die reden dürfen, wie immer sie wollen, so lange sie nur Quote bringen, von Mario Barth bis Harald Schmidt?

Gewiss, das Grauen über den millionenfachen rassistischen Mord der Nazis und ihres „Führers“ findet in der Inszenierung seinen Platz, was auch zwingend sein muss. Gleichwohl hat Vermes’ Hitler, der darauf besteht, wirklich Hitler zu heißen und Hitler so gut nachmachen kann, dass man glaubt, er wäre Hitler, mit der historischen Person wenig zu tun. Er wird gezeichnet als komische Figur, als Sonderling mit Realitätsverlust, von dem keine politische Gefahr ausgeht. Es sei denn, skrupellose Rampensäue übernähmen die Macht. So wie vor mehr als 80 Jahren? Es zählt fraglos zu den Qualitäten dieser wüsten Geschichte, dass sie ihr Publikum wiederholt und scheinbar spielerisch auf die zentralen Fragen stößt, die die Nazi-Zeit uns hinterlassen hat: Wie konnte es dazu kommen und wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

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Ein respektloser Zeitungshändler (Bülent Özdil, links), zwei Hitler. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Die Inszenierung leugnet nicht, dass sie vom Buch abstammt, und besetzt den Hitler doppelt. Guido Thurk ist Hitler 1, der die braune Uniform trägt und in den Szenen mitspielt. Burghard Braun hingegen trägt zivil, ist Hitler 2 und spricht verbindende Texte zwischen den Szenen, irritierenderweise in der Vergangenheitsform. Von welchem historischen Punkt aus blickt er zurück, könnte man sich fragen. Thurk grimassiert und rollt die Augen, Braun pflegt die beherrschte Pose, beides kennt man vom historischen Vorbild. Und beide Schauspieler sind famose „Führer“-Darsteller. In zahlreichen weiteren Rollen sind Julia Gutjahr, Samira Hempel, Vesna Buljevic, Thomas Tiberius Meikl, Bülent Özdil und Thomas Zimmer zu sehen, die einige Male stärker überspielen, als für dieses Stück nötig wäre.

Elke König schließlich schuf das Bühnenbild, eine erkennbar aus Holz gefertigte Betonlandschaft mit Türen, Rampe und Tisch. Nur in einer Nische erfährt es ab und an Veränderungen, die zu den Szenen passen. Mal taucht hier eine der vielen „Spiegel“-Titelseiten mit Hitler-Titelgeschichte auf, mal der Tramp Charlie Chaplin, der die Albernheit des „Führer“-Gehabes zu dessen Lebzeiten schon unübertrefflich entlarvte und für Menschlichkeit warb. Die konzentrierte Ausstattung ruft ins Bewusstsein, dass dieses Theater oft auf Reisen geht und dafür kompakte Kulissen braucht. Die nächsten Stationen dieser Produktion sind Rheine, Bocholt und Hamm.

Viel herzlicher Applaus für Darsteller und Inszenierung.

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Termine: 5.2.2015, 19.30h Rheine, Stadthalle
6.2.2015, 20.00h Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
13.2.2015, 19.30h Hamm, Kurhaus
14.2.2015, 19.30h Witten, Saalbau
18.2.2015, 20.00h, Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
14.3.2015, 19.30h Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
14.4.2015, 19.30h Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium.

Ticket-Hotline 02305 / 9780 20

www.westfaelisches-landestheater.de




Ansichten eines Hörbuch-Junkies (3): „Er ist wieder da“

Schwarz auf Weiß, ein Seitenscheitel, der die Strähne von rechts nach links über die Stirn schwenkt, da, wo man das albern-kurze Bärtchen vermutet, steht der Titel geschrieben: „Er ist wieder da“.

Das weltbekannteste Piktogramm, gleichauf mit dem des Comandante Che Guevara, gibt Timur Vermes‘ Erstling den Titel und dem darauf folgenden Hörbuch die Covergrafik. Das weckt eine gewaltige Spannung auf unmittelbar bevorstehende Inhalte, die im Falle des Hörbuches nur von einer mit dem Grimme-Preis gekrönten Stimme eingelöst werden können: der von Christoph Maria Herbst. Und sie tut es brillant.

Wenn ein Text das Hörbuch geradezu herbeiruft, dann ist es der von Timur Vermes. Gleichzeitig stellt er den Sprecher, also in diesem Falle den Ich-Erzähler, vor eine besondere Herausforderung: Einerseits das Hitlerorgan so zu intonieren, dass der komödiantische Aspekt hörbar bleibt und gleichzeitig die Überzeichnung nicht so weit ins Skurrile zu treiben, dass die Parodie ins Alberne abgleitet. Herbst kann das, hält die sicher extrem anstrengende Bemühung während des gesamten Textes aufrecht und kriegt ein Kunststück hin, dass mein Magen ganz flau wird.

Adolf Hitlers Stimme trieb mich seit ich denken kann entweder in innere Wut, hassähnliche Gefühle oder Ekel. Vermes/Herbst schaffen es, nahezu sympathische Anwandlungen zu vermitteln, denn was dem schlimmsten Täter aller Zeiten im Hier und Jetzt geschieht und wie es ihm geschieht, das ist nicht mehr lustig, sondern kommt der Menschen- und Medienwirklichkeit so erbärmlich nahe, dass die Erschaffer beider Wirklichkeiten sich in Grund und Boden schämen müssten.

Adolf Hitler wird eines Tages wach, im Berlin der heutigen Zeit, übel nach Waschbenzin riechend und als erste Lektüre einen Elektromarkt-Katalog studierend – und natürlich stumm staunend, wie das Berlin sich verändert hat, das er aus bekannten Gründen freiwillig und zum Schluss Benzin getränkt nebst Gattin quasi als Lichtgestalt (so sieht er sich nach wie vor) verlassen hat. Erste Zuflucht findet er bei einem Kiosk-Inhaber, der ihm die ersten Schritte weist, ihn einkleidet und ihn überredet, seine müffelnde Uniform säubern zu lassen – bei einer migrationshintergründig geführten Reinigung.

Nach ersten kleinen „Volksreden“ und vergeblichen Versuchen, die Umgebung davon zu überzeugen, dass er wirklich Adolf Hitler sei, gilt er als kauziger Amateur-Komödiant, der seine Rolle so überzeugend spielt, dass schon bald mediales Interesse unvermeidlich wird. Vertreter einer TV-Produktionsfirma nehmen ihn unter ihre Fittiche, feilen mit ihm an seinen „Auftritten“ und dienen ihn alsbald einer Standup-Comedy-Show an, deren Frontmann, migrationshintergründig wie es sich versteht, er, der falsch-echte Adolf Hitler flugs die Schau stiehlt.

Langsam die Propaganda-Mechanismen von heute verstehend („Was Goebbels wohl daraus gemacht hätte?“) und sich listig ihrer bedienend, lässt er sich auf Kämpfe mit dem Boulevard ein, lässt vor laufender Kamera den NPD-Bundesvorsitzenden stramm stehen und bedeutet ihm wortreich, dass dieser sein Haufen auf den Müll gehöre, steckt handgreifliche Prügel von düsteren Neonazis ein und erhält nach Ausstrahlung des Filmes über seine NPD-Schelte den Grimme-Preis. Immer zwischen Grinsen und Grauen hört mensch sich das an und stellt nüchtern fest, dass es sich wohl so abspielen könnte, wenn er „wieder da“ wäre.

Weder d a s Boulevard noch Funk und Fernsehen, weder die etablierten Parteien, die samt und sonders um seinen Beitritt buhlen, noch Werbung oder die Menschen auf der Straße können sich anscheinend der ebenso simplen wie eingängig verkündbaren Botschaften entziehen, die das „R“-rollende Männlein ausstreut. Und was sie missverstehen wollen, das deuten sie um in phänomenale Satire. Das gibt gruselige Gefühle.

Gnadenlos gut, ungemein boshaft – kaum jemand, der im vermeintlich großen Spiel mitspielt, bleibt davon verschont – und entlarvend gesellschaftsspiegelnd ist Timur Vermes‘ erstes Buch. Ich bin echt mal gespannt, wie er das noch toppen will.

Timur Vermes: „Er ist wieder da“, Hörbuch, gelesen von Christoph Maria Herbst, Lübbe Audio, 6 CDs, 411 Minuten. 19,33 (!) Euro (als gedruckter Roman, gebundene Ausgabe, bei Eichborn zum selben Preis).




Körperkult und Ideologie – Bonner „Haus der Geschichte“ riskiert eine Ausstellung über Leni Riefenstahl

Von Bernd Berke

Bonn. Zur Eröffnung war eine antifaschistische Demo angemeldet, schon mittags wurden Flugblätter gegen die neue Austellung verteilt, und auch eine Strafanzeige gegen das Bonner „Haus der Geschichte“ (wegen Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole) lag vor: Wo der Name der umstrittenen Filmregisseurin Leni Riefenstahl auftaucht, schnappen Reaktionen schnell ins bekannte Schema ein.

Riefenstahl, die kürzlich 100 Jahre alt wurde, war wohl viel tiefer ins NS-System verstrickt, als sie bis heute zugeben mag. Daher wirkt es auf manche wie eine gezielte Provokation, wenn jetzt das Bonner Haus der Geschichte eine Riefenstahl-Schau mit Filmausschnitten und rund 300 Dokumenten zu Leben und Werk zeigt, darunter etliche Leihgaben aus dem Privatbesitz der Künstlerin. Die aber habe keinerlei Einfluss aufs Konzept genommen, versichern die Veranstalter.

Ihre Kunstausübung ist keineswegs „unpolitisch“

Die Pressekonferenz war ausgesprochen defensiv ausgerichtet. Mit Prof. Lothar Gall, der dem Beirat des Museums vorsteht, hatte man zusätzlich einen Nestor der Historikerzunft aufgeboten, der dem Unterfangen Dignität verleihen soll. Die Ausstellung, so Gall, sei keine Hommage an Riefenstahl (NS-Parteitägsfilm „Triumph des Willens“, Olympiafilm 1936). Es solle klar werden, dass ihre Ästhetik eine „konstitutive Nähe“ zur NS-Ideologie aufweise, ihr notorischer Rückzug auf „unpolitische“ Kunstausübung also fehl gehe.

Prof. Hermann Schäfer, Leiter des Hauses, betonte einen weiteren Aspekt: Hollywood werde 2003 einen Riefenstahl-Film herausbringen. Da wolle man das Thema sachlich abhandeln, bevor die vom Kino geweckten Emotionen überhand nehmen. Bemerkenswerter Zugzwang…

Menschenmassen als formbare Ornamente

Was also gibt es zu sehen? Eingangs erhebt sich der überlebensgroße „Prometheus“ des stark NS-geneigten Bildhauers Arno Breker, als Kontrapunkt dienen Werbefotos für die Modemarken Calvin Klein und Joop. Was zu beweisen war: Die Verklärung „heldisch“-makelloser Körper, die auch Riefenstahls Werk eigen ist, wirkt nach.

Die insgesamt seriöse, nur punktuell etwas kurzatmig geratene Schau, die wenige „Reliquien“-verdächtige Objekte ohne tieferen Sinn enthält, ist chronologisch wie eine doppelte Phalanx aufgebaut: In der linken Reihe laufen Filmausschnitte, rechts erstrecken sich die Vitrinen.

Man merkt, wie sich gewisse Komponenten der Filme monoton wiederholen: Menschenmassen werden zu formbaren „Ornamenten“ stilisiert, es herrschen Körper- und Führerkult, und bis hin zu Tauchbildern oder den „Nuba“-Fotografien aus Afrika hat Riefenstahl Fluchtwelten aufgesucht. Überdies entsprachen die Männer vom Nuba-Stamm weitgehend dem zur NS-Zeit propagierten Ideal sehniger Krieger – zumindest aus ihrer Perspektive.

Verräterisches Dank-Telegramm an Adolf Hitler

Es gibt einige prägnante Dokumente, etwa ein glühendes Dank-Telegramm Riefenstahls an Hitler oder, noch erschütternder: ihre eigenhändige Vollmacht für den „Stürmer“-Herausgeber Julius Streicher, die Honorarforderungen „des Juden Béla Balazs“ (wörtlich) abzuwehren, der als Ko-Autor an Riefenstahls Film „Das blaue Licht“ mitgewirkt hatte.

Es bleibt kaum eine andere Schlussfolgerung: Leni Riefenstahl hat eifrig und ideologisch passgenau für die Nazis gearbeitet. Ein in der Ausstellung zitierter Satz von Luis Bunuel fasst es noch knapper: „Ideologisch grauenhaft, aber phantastisch gemacht.“

Haus der Geschichte, Bonn (Museumsmeile). Bis 2. März 2003, Di-So 9-19 Uhr. Eintritt frei.