Melancholischer Reigen der einsamen Menschen – Kinofilm „Herzen“ vom Altmeister Alain Resnais

Von Bernd Berke

Schnee. Schnee. Schnee. An den Nahtstellen dieses Films schneit es unentwegt; nicht nur draußen, sondern häufig – so wirkt es – bis in die Zimmer hinein. Doch obwohl Altmeister Alain Resnais in „Herzen“ lauter einsame Menschen zeigt, fallen die Flocken nicht etwa als Zeichen für Seelenkälte.

Vielmehr gibt das weiße Gestöber der Bilderfolge eine durchweg flüchtige Gestalt. Ein weiteres, häufig wiederkehrendes Element der festeren Art sind jene Wände und Gitter, hinter denen die Menschen sich hier häufig verbergen. Dass keiner sich preisgeben mag, ist insgeheim ein Hauptthema dieses großartig besetzten, formbewussten und vielschichtigen Films.

Die episodische Handlung ist als Reigen aus 54 Sequenzen angelegt. Fast kaum zu glauben, dass die Theater-Vorlage vom britischen Komödien-Vielschreiber. Pariserisch ist das Flair, alles Britische wurde getilgt, Melancholie weht durch jede Szene.

Nicole (Laura Morante) und Dan (Lambert Wilson als arbeits- und antriebsloser Mann, der stets in derselben Bar versackt) sind reif für die Trennung. Trotzdem suchen sie noch halbherzig eine neue Wohnung. Quälend die fruchtlosen Besichtigungen. Herzzerreißend ihr Unvermögen, miteinander zu reden.

Nach religiösen Liedern kommt der heiße Striptease

Die Handlung gleitet nun hin und her – zunächst zum etwas linkischen Wohnungsmakler Thierry (André Dussollier). Er lebt neben seiner nicht minder einsamen Schwester Gaëlle (Isabelle Carré) her, die abends in Lokalen trübsinnig auf Annoncen-Bekanntschaften wartet. Der Makler himmelt unterdessen seine Kollegin Charlotte (Sabine Azéma) an. Die wiederum ist fromm, hegt aber eine heimliche Lust an der Versuchung: Erst inständig beten, um sich dann der Sünde auszuliefern. Charlotte leiht dem Makler Video-Kassetten mit religiösen Liedern. Doch wenn die aufgenommenen TV-Sendungen enden, beginnt plötzlich ein heißer Striptease mit Gestöhne. Sollte sie etwa selbst…?

Barkeeper Lionel (Pierre Arditi), bei dem besagter Dan Stammgast ist, braucht mal wieder eine neue Pflegerin für seinen kranken, immerzu Obszönitäten sabbernden Vater – und engagiert just Charlotte für die langen Abende. Wie die ach so fromme Frau wohl mit dem polternden Lustgreis zurande kommt?

Gebannt verfolgt man, wie all diese Verlorenen und Vergessenen in die Ascheresten ihrer Gefühle pusten. Um jede Figur herum gibt es so etwas wie einen Strahlenkranz der Einsamkeit. Doch eine freundliche Geste genügt, um ihre verborgenen Hoffnungen zu wecken. Vor Verletzungen flüchten sie in Verzicht, Lüge und Versteckspiel. Man ahnt: Samt und sonders haben sie viel mehr Leben in sich, als sie zeigen können. All das lässt dieser Film mit weiser Zurückhaltung anklingen. Unaufdringlich, daher doppelt eindringlich.




Mit Melodien durch die Liebeswirren gleiten – Kinofilm „On connaît la chanson“ von Alain Resnais

Von Bernd Berke

Marc hat ganz gerötete Augen. Die Tränen fließen. Er schneuzt sich in sein Taschentuch. Camille will mit ihrer Schwester Odile eine Wohnung besichtigen und erscheint verfrüht am Treffpunkt. Sie glaubt, daß der Mann richtig weint – und schon beginnt sie, sich in den offenbar empfindsamen Menschen zu verlieben. Doch der Kerl erweist sich später als eiskalter Immobilienmakler. Und das Taschentuch? Nun ja, eine simple Erkältung.

Beileibe kein Einzelfall in Alain Resnais‘ Film „On connaît la chanson“ (etwa: „Man kennt das Lied“). Jede Geste ist schon ein halbes Mißverständnis – oder eine bewußte Maskierung wahrer Absichten und damit Quell des Unglücks.

Das Besondere an diesem Meisterwerk: Resnais verfremdet die vielfach verwobenen Episoden seines Liebesreigens sinnreich und kunstvoll mit Musik. Mitten in den Szenen und Sätzen legt er den männlichen und weiblichen Stadtneurotikern plötzlich lippensynchron Schlager und Chansons in den Mund. Danach, als sei nichts gewesen, reden die Leute weiter wie gehabt.

Die verwendeten Melodien kennt in Frankreich jedes Kind, und auch für unsere Ohren klingt mancher Ton vertraut. Völlig klar, daß ein solch spezifisch französischer Film im Original mit deutschen Untertiteln ins Kino kommt. Was klingt wohl zärtlicher: „Ich liebe die Mädchen“ oder „J’aime les filles“?

Tröstliche Floskeln des Liebeslebens

Hier also kann es sogar geschehen, daß auf einmal Sylvie Vartan oder France Gall einem verliebten Gockel ihre Stimmen leihen, daß eine Frau wie Charles Aznavour oder Gilbert Becaud singt. Anfangs nimmt man solche gezielten Stimm-Brüche mit leichtem Stirnrunzeln zur Kenntnis. Doch die Sache geht wundersam schwebeleicht auf.

Amüsiert vernimmt man die gelegentlich „trivialen“, zuweilen aber einfach tröstlichen Formeln und Floskeln des Gefühlslebens. Erhellend komisch sind die Kontraste zwischen der Schwerkraft des Lebens, und dem Leichtsinn der Lieder. Und man spürt: Sogar das Leiden an der Liebe ist manchmal zum Lachen, aber kein Liebender ist als solcher lächerlich…

Die Chemie der Beziehungen gerät jedenfalls schön durcheinander: Die anfangs erwähnte Camille (Agnes Jaoui), die sich mit Stadtführungen durch Paris ihr Studiengeld verdient, wird insgeheim von Marcs zerstreut-sensiblem Hilfsmakler Simon (André Dussollier) angebetet. Der gibt sich als Hörspielautor aus, weil das nicht so elend prosaisch klingt.

Wenn alle einander im Unklaren lassen

Camilles Schwester Odile (Sabine Azéma) begegnet derweil ihrer alten, längst verheirateten Jugendliebe Nicolas und gerät darob über ihren stets ermatteten Gatten Claude ins Grübeln: „Meine Ehe ist nicht übel. Eigentlich ganz normal“, sinniert Odile. Doch wie sehnsuchtsvoll sie dabei in unbestimmte Fernen blickt! Und dann spitzt sie die Lippen zu einem Liebeslied, das die laue Zufriedenheit vollends verneint.

Claude und Nicolas halten ihrerseits heimlich Ausschau nach neuen Frauengeschichten. Bei jener Party, mit der Odile und Claude am Ende ihre neue Wohnung einweihen, kulminieren und kollabieren all diese Verhältnisse. So lange es nur irgend ging, haben diese Menschen einander im Unklaren gelassen. Sie haben falsche Berufe erfunden und sich falsche Gefühle angemaßt. Aus Angst vor dauerhafter Verantwortung, aus Verstellungslust oder aus purer Depression.

Doch von derlei Erdenschwere spürt man kaum einen Hauch, so charmant und elegant gleitet dieser Film daher.