Die Pranke des wilden Bären: Denis Matsuev in der Philharmonie Essen

Aber holla: Wenn Denis Leonidovich Matsuev auftritt, gibt’s für den Steinway kein Pardon. Der in Irkutsk geborene und von seinem Vater unterrichtete Russe verkörpert Eigenschaften, die man gemeinhin mit der „russischen Schule“ verbindet: stählerne Energie, gewaltiger Ton, dräuende Romantik. Und dazu phänomenale Treffsicherheit in Skalen, Grifffolgen, Oktavparallelen und was derlei virtuoses Handwerk noch mehr ist.

Ein amerikanischer Kritiker schrieb über ein Matsuev-Konzert, er habe in seiner fast sechzigjährigen Laufbahn noch nie ein Klavier so laut gespielt erlebt. Nun denn: Matsuev schafft es auch, die Essener Philharmonie so zu erschüttern, dass man in der Stille zwischen den Orkanen besorgt auf mögliches Knirschen der Stahlträger lauscht.

Die Philharmonie in Essen. (Bild: Werner Häußner)

Die Philharmonie in Essen. (Bild: Werner Häußner)

Matsuev wollte sich zunächst nicht als Extrem-Pianist einführen: Mit Peter Iljitsch Tschaikowskys Zyklus „Die Jahreszeiten“ stellte er – passend zum in Deutschland kaum wahrgenommenen 175. Geburtstag des Komponisten – ein mindestens so viel Zartheit wie Zugriff forderndes Werk an den Anfang seines Auftritts beim Klavier-Festival Ruhr. Und enttäuschte alle, die sich von altrussischer Kraft bestätigt sehen wollten. Matsuev spielt mit durchaus kernigem Anschlag; Verzärtelungen sind seine Sache nicht. Aber er gestaltet nicht ohne Poesie: wenig Rubato, aber sorgsam gebildetes Mezzoforte; sanft formuliertes Selbstbewusstsein in den „Weißen Nächten“, poetisch-melodienselige Reminiszenzen an Tschaikowskys Tatjana aus „Eugen Onegin“ in der „Barkarole“.

Natürlich geht es auch zur Sache, wenn Matsuev das „Lied der Schnitter“ (alles andere als „moderato“) als frischfröhlich gedroschenes folkloristisches Intermezzo versteht. Oder wenn er die herbstliche Jagd im „September“ als effektsicheres Schaustück vorführt, bei dem sich das Martellato schon gefährlich nahe an Großvirtuosen wie Skrjabin oder Prokofjew heranhämmert. Im „November“ streift Matsuev gar eine versonnene Melancholie; den „Dezember“-Walzer stattet er mit schwingender Melodik und gekonnten Salon-Fermaten aus. Kein übler Eindruck also zu Beginn; das „Russische“ des Denis Leonidovich scheint durchaus gebändigt und reflektiert.

Auch die kurze cis-Moll-Sonate Alexander Skrjabins (op. 2/1) hätte gefallen können: Matsuev wählt einen entschiedenen, aber nicht dröhnenden Ton, nimmt sich zurück und führt das Auf und Ab der Achtelfigur immer wieder ins Mezzoforte. Das wäre recht schön und schlüssig gewesen, hätte man nicht Benjamin Mosers energetisch dosierte Gestaltung drei Tage vorher in Haus Fuhr in Werden erlebt. Da klangen doch differenziertere Farben mit, da war das Spektrum der Dynamik elaborierter – und so Skrjabins Anweisungen treffender umgesetzt. Aber gut: Matsuev wählt einen „heroischeren“ Ton, sieht in der Etüde eher die geschichteten Akkorde als einen melodischen Verlauf. Ein Beispiel, wie grundverschieden die Zugänge zu einem Stück sein können.

Dann die dis-Moll-Sonate (op. 8, Nr. 12) Skrjabins: Jetzt erfreut sich Matsuev an den Läufen, die er mit machtvollem Bassfundament stützt und rauschend durchzieht. Jetzt zeigt er, wie er „patetico“ liest: formidable Konsequenz in der Phrasierung, erfolgreiches Überwinden irrwitziger technischer Hürden, zustoßende Finger wie Maschinen in einer alten Ruhrpott-Fabrik. Das reißt mit; der Beifall war merklich animierter als nach den Tschaikowsky-Miniaturen. Poesie heizt eben nicht an.

Nach der Pause fielen alle Hemmungen. Jetzt kam der Virtuose alten Stils zum Durchbruch. Werbegazetten und Lobhudel-Kritiken auf der Suche nach „Ausnahme“-Pianisten hatten Matsuev ja schon zum neuen Horowitz gekürt, und er hat das Etikett noch bekräftigt durch eine 2005 erschienene CD mit dem Titel „Tribute to Horowitz“. Aber um an den Altmeister aller Virtuosen heranzukommen, fehlt dem Vierzigjährigen aus Sibirien die Subtilität, die grandseigneurhafte Individualität und die ironische Distanz des Alten. Robert Schumanns „Kreisleriana“ transformiert er vom zerrissenen romantischen Seelenbild zum Futter furioser Exaltationen.

„Äußerst bewegt“ bedeutet für Matsuev rasant und forsch; „sehr innig“ ist bei ihm heroisch geladen. Ein Schumann voller Saft und Kraft, aber ohne in sich gekehrtes Betrachten, ohne jenseitige Feierlichkeit, auch ohne bohrendes Grübeln. Wobei Matsuev den „Kreisleriana“ durchaus interessante Facetten abgewinnt, etwa, wenn er sich in den beiden langsamen Teilen mit Noblesse zurücknimmt, wenn er das „Lebhafte“ groß und frei, mit kraftvollen Bässen selbstbewusst, aber nicht verdonnert spielt.

Nach der fulminanten Geste des Beginns war dann klar, wohin Sergej Rachmaninows b-Moll-Sonate op. 36 getrieben wird: Jetzt endlich kann Matsuev den wilden Bären geben, jetzt kann er mit Liszt-Ekstase, mit Prokofjev’scher Brutalität dem Flügel zeigen, wo die Grenzen der Materie liegen. Ob die grollenden Bassgewitter, ob die aufzischenden Diskantblitze, ob der Tumult der rasenden Finger noch den Noten entsprachen, weiß in dem Toben entfesselter Elemente wohl nur noch der liebe Gott.

Trotzdem: Matsuev entdeckt auch in dieser Sonate Momente des Nachsinnens, im „Lento“ sogar etwas wie andächtige Versonnenheit. Würde er in dem Stück durch mehr Kontrolle einen inneren Zusammenhang herstellen, könnte er das Zurücknehmen aus dem Ruch sentimentaler Ruhepausen befreien.

Konzept hin, Konzept her – die Zuhörer schrien elektrisiert auf, als Matsuev seine letzten Kraftkaskaden in den Raum gepulvert hatte. Und sie erklatschten sich fünf Zugaben, darunter Anatoli Ljadows impressionistische Porzellanton-Miniatur „The Musicbox“ op. 32 und eine einem grollenden Bergsturz gleich kommende Bearbeitung von Edvard Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ in eigenem Arrangement.




Dosierte Energie: Benjamin Moser beim Klavier-Festival Ruhr in Essen-Werden

Der Pianist Benjamin Moser. Foto KFR

Der Pianist Benjamin Moser. Foto KFR

Haus Fuhr in Essen-Werden ist mit seinem intimen Saal ein idealer Veranstaltungsort für das Klavier-Festival Ruhr. Allerdings hat der Raum seine Tücken; er bildet das Spiel des Solisten sehr genau ab, verstärkt aber die Lautstärke überproportional, sobald sie über ein verhaltenes Mezzoforte hinausgeht. Dazu steht auf der Bühne ein Steinway, erfreulich präsent im Klang, aber für diesen Raum wünschte man sich manchmal einen weicher intonierenden Flügel.

Benjamin Moser, nun schon zum vierten Mal beim Klavier-Festival zu Gast, hätte seine liebe Mühe gehabt, die ausufernden Klangfluten zu dämmen – wenn er es denn versucht hätte. Aber er konnte die Schleusen nicht geschlossen halten; nicht bei Alexandre Skrjabins Fantasie op. 28, nicht in Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“. Wie auch: Skrjabin bläut dem Pianisten ständig „crescendo“ ein, um ihn dann beinahe unvermittelt auf „piano“ einzuschwören, sogleich aber wieder das Aufwachsen der Lautstärke einzufordern, Wer die Fantasie so steigern will, wie es in den Noten steht, landet eben beim Fortissimo „appassionato“. So geschehen auch unter den sorgfältig formulierenden Händen des Münchner Pianisten, der mit seinen 34 Jahren schon auf eine schöne Karriere blicken kann.

Ein intimer Veranstaltungsort: Haus Fuhr in Essen-Werden. Foto: Werner Häußner

Ein intimer Veranstaltungsort: Haus Fuhr in Essen-Werden. Foto: Werner Häußner

Der Anfang des Konzerts war explizit „lyrisch“: Sieben von Edvard Griegs Klavierminiaturen, beginnend mit dem differenzierten Arpeggienspiel und der schwärmerischen Agogik von „An den Frühling“, über den drollig anhebenden, sich ins Dämonische auswachsenden „Zug der Zwerge“ bis zu den Fanfaren und majestätischen Umspielungen des „Hochzeitstags auf Troldhaugen“. Dazwischen macht Moser in „Heimweh“ deutlich, wie subtil er Innenspannung aufbauen und halten kann, auch wenn die Noten „einfach“ scheinen.

Skrjabins cis-Moll-Etüde op.2/1 schließt mit ihrem versonnenen Auf und Ab einer charakteristischen Achtelfigur an Griegs elegische Lyrismen an. In dem kurzen Stück bewegt sich Skrjabin kaum über die Region des Mezzoforte hinaus; Moser versucht sich in Delikatesse und verhaltenem Gestus, aber der Steinway zeigt ihm, wo’s langgeht: Direkter Klang, stählerne Resonanz, später, in der Fantasie, dann auch (zu) vollmundiges Pedal.

Moser hat die Abfolge klug gewählt, denn in der Etüde lässt er die Energie ahnen, die sich in den machtvollen Arpeggien und Repetitionen der Fantasie Bahn bricht. Und der Pianist macht deutlich, dass er es versteht, den Feuerbrand der Töne allmählich, klug dosierend zu entfachen.

Nach der Hommage an den vor 100 Jahren aus nichtigem Anlass verstorbenen Komponisten (ein Pickel verursachte eine Blutvergiftung) folgte Musik der französischen Zeitgenossen Skrjabins, Claude Debussy und Maurice Ravel.

Debussys „Childrens Corner“ hat Licht und Schatten – und das nicht nur im durchaus gekonnten claire-obscure der licht wirbelnden Schneeflocken des vierten und der bassdüsteren Lesart des zweiten Stücks („Jimbo‘s Lullaby“). Sondern auch in Mosers Lesart, der in der Puppenserenade den Klang zu füllig, den Rhythmus zu geschmeidig gestaltet und im abschließenden Cakewalk einen Schuss Spontaneität vermissen lässt.

Entsprechungen zwischen Musik und Malerei: Hippolyte Petitjean hat die Prinzipien des Pointillismus in "Femmes au bain" exemplarisch verwirklicht. Foto: Wikimedia Commons

Entsprechungen zwischen Musik und Malerei: Hippolyte Petitjean hat die Prinzipien des Pointillismus in „Femmes au bain“ exemplarisch verwirklicht. Foto: Wikimedia Commons/public domain

Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ spielt Moser weit weniger entschieden als etwa Khatia Buniatishvili bei ihrem Mülheimer Klavier-Festival-Auftritt. Er achtet mehr auf Atmosphärisches, rückt die Musik vor allem in „Ondine“ in die Nähe eines Pointillismus, wie ihn Georges Seurat oder Hippolyte Petitjean in der Malerei etablierten.

Die flirrende Atmosphäre, die sich auf genau definierte Punkte zurückführen lässt, entspricht Mosers musikalische Auffassung: Flächen und Linien aus definiert gespielten Noten, die als Ganzes eine hundertfach in sich gebrochene Klangsphäre bilden. „Le Gibet“ fasst er eher als melancholisches Stimmungsbild auf als im Sinne einer Studie des Unheimlichen.

Aber in „Scarbo“ kommt das Abrupt-Spukhafte in scharf geschnittenen Akkorden, in der Grandezza des Zugriffs und in zugespitzter rhythmischer Energie zum Ausdruck. Wie Rauch durch das Schlüsselloch verschwindet der Nachtmahr, um herzlichem Beifall und zwei Zugaben – Debussys „clair de lune“ und einer weiteren Skrjabin-Etüde – Platz zu machen.




Fieberfrei in Dortmund: Skrjabin mit Joseph Moog und den Bochumer Symphonikern

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Der Pianist Joseph Moog. Foto: Paul Marc Mitchell

Vor zehn Jahren, da war er gerade mal 17 Jahre alt, spielte Joseph Moog in einem Konzert Franz Liszts „Totentanz“ – und seine Zurückhaltung bekam Liszts abundanten Klangfantasien außerordentlich gut. Vor zwei Jahren debütierte er in Moers beim Klavier-Festival Ruhr – und überzeugte mit klug ausbalancierten Klavier-Versionen von Opernschlagern Verdis und Wagners. Nun kehrt Moog zum Tastenfeste zurück, stürzt sich im Konzerthaus Dortmund in Alexander Skrjabins mystisch-fantastisch-rauschhafte Musikwelten. Und lässt diesmal spüren, dass er an Grenzen stößt. Nicht an pianistische, aber an musikalische.

Sein Zugang zur Skrjabins fis-Moll-Klavierkonzert op. 20 ist zunächst durchaus logisch. Moog macht aus Skrjabins vermeintlich formvergessen schweifender, selbstversponnener Kunstmystik keine esoterische Meditation. Er formt seine Soli klar durch, gibt ihnen kühle Fasslichkeit, vernebelt nichts in dampfendem Klang. Auch im Andante-Satz träumt er nicht vor sich hin.

Moog vergisst nicht, dass Skrjabin einen Variationensatz und keine Fantasie konzipiert hat. In fein poliertem Porzellanton modelliert er die melodischen Motive, lyrisch gelöst reiht er Figurationen und absichtslos wirkendes Spielwerk. In der unterschiedlichen Gewichtung der Phrasen, in der Differenzierung des Anschlags macht er die Struktur des Satzes deutlich. Und die Bochumer Symphoniker lassen es unter ihrem Chef Steven Sloane nicht an Piano-Delikatesse, an lichten Streicherlinien, an einer aparten Klarinette fehlen.

Was zum glückhaften Gelingen fehlt, ist bei einem so bewussten und ästhetisch präsenten Pianisten wie Joseph Moog nicht einfach zu beschreiben. Vielleicht geht er zu ernst mit den emotionalen Schichten in Skrjabins Musik um. Vielleicht geht er in den Noten auf statt über den Noten zu fliegen. Vielleicht äußert sich eine Befangenheit, die den spontanen und durchaus einmal riskanten Zugriff hemmt.

Das dynamisch variable Spiel mit dem Orchester gelingt nicht durchgängig. Wo sich der Klavierpart mal wie eine zusätzliche Farbe in den Klang integriert, sind die Symphoniker zu dominant; wo er mal selbstbewusst und klangfroh aufleuchten soll, bleibt Moog zu diskret; wo das Piano in kostbar stillen Tönen singen sollte, lässt er die metrischen Fesseln nicht fahren.

Auch das Poème „Vers la flamme“, eines der letzten Werke Skrjabins aus dem Jahr 1914, hat zwar die Steigerungsdynamik, nicht aber das raffinierte Flair. Moog beginnt mit dem schattigen Pianissimo und intensiviert es bis zum „Forte crescendo“. Aber sein Ton bleibt kalt, das „éclatant, lumineux“ hat statt der Hitze einer Flamme die fröstelnde Grelle einer Leuchtstofflampe. Moog fast dieses Werk in den Ton der Moderne: nicht strahlend, sondern gleißend.

Das Farbenspiel, die züngelnden Nuancen einer Flamme liefern die Bochumer Symphoniker. Sloane exhibitioniert Skrjabins frei dem Rausch und dem erotisch geladenen Klang huldigende Werk von 1908 nicht; er lässt die Musik nicht schwitzen, den Klang nicht dampfen. Sondern er betont die Nähe zu den französischen Impressionisten und zu Claude Debussy. Der Duft der flirrenden Streicher, das feine Parfüm der Harfen, die sehnsuchtsvoll verklingenden Flöten: das ist eher die Ahnung „ekstatischer“ Ausbrüche als ihre klangprächtige Vergegenwärtigung. So hält Sloane die allzu direkte und schnell banal wirkende Effekt-Dramaturgie zurück. Und die Finesse ist bei den präsent und farbenfroh agierenden Philharmonikern in guten Händen. Nur in den finalen Entladungen trägt das Konzept nicht ganz: Lautstärke ist nicht Intensität, die entsteht durch Hingabe und Risiko – und da waren die Bochumer noch zu fest auf der Erde verankert.

Dass Sloanes zurückhaltender, ins Lyrische neigender Ansatz seine Probleme hat, wurde im „Tristan“-Vorspiel zu Beginn des Konzertes deutlich. Vermutlich wollte der Dirigent die Bezüge demonstrieren, die zwischen der vor 150 Jahren uraufgeführten Oper Wagners – einem Meilenstein in der historischen Entwicklung der europäischen Musik – und ihrem Echo im Werk des vor 100 Jahren gestorbenen russischen Komponisten feststellbar sind. Entsprechend legte er Wagners Musik nicht im Sinne des Drängens und Sehrens aus, das die wellenförmige Dynamik ihrer Entwicklung hin zur Ekstase der sich lösenden harmonischen Spannung bestimmt. Sondern er leuchtet die Statik der Klänge aus, lässt sie fast lyrisch verharren, nimmt ihr die innere Unruhe. Auch den „Tristan“ prägt das milde Licht Debussys statt der Fieberschübe Wagners.




Pierre-Laurent Aimard verortet György Ligetis Klavieretüden in ihrem historischen Kontext

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard in tiefer Versenkung und höchster Konzentration am Klavier. Foto: Mohn/KFR

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard in tiefer Versenkung und höchster Konzentration am Klavier. Foto: Mohn/KFR

Er zählt zu den Intellektuellen unter den Pianisten. Zu denen, die sich erst einmal Gedanken über die Programmgestaltung machen, bevor ein Konzert beginnt. Um dann zwischen einzelnen Werken sinnfällige Beziehungen aufzuzeigen, zu verdeutlichen, dass Komponisten nicht im luftleeren Raum agieren, sondern stets in die Musikgeschichte eingebunden sind.

Von Pierre-Laurent Aimard ist hier die Rede, dessen analytischer Zugriff – als Interpret und indirekt ja auch als des Publikums Lehrer – uns Anregungen, zudem ästhetische Sinneserweiterung schenkt. Das hat er nun beim Klavier-Festival Ruhr erneut aufs Schönste bewiesen. Ihm zu folgen, staunend, anerkennend und mitdenkend, bedeutet Genuss und Herausforderung zugleich. Und am Ende eines solchen Konzeptkonzertes applaudiert das Publikum sowohl für Aimards nie zur Schau gestellte Virtuosität als auch, diesen Abend im Essener Haus Fuhr, für die Erkenntnis, dass Neue Musik mitreißend und sinnlich sein kann.

Der französische Pianist verknüpft zwei Stränge, die das Festival in diesem Jahr als Schwerpunkte ausgegeben hat. Vieles dreht sich dabei um das Thema Etüden, manches um den Ungarn György Ligeti. Der gilt, in Nachfolge Bartóks, gewiss als bedeutendster Komponist seines Landes im 20. Jahrhundert. Und schrieb zwischen 1985 und 2001 ein Konvolut von 18 Klavieretüden. Eine rhythmisch vertrackte, fingerakrobatische, teils klanglich aufreizende Musik, die sich so wahnwitzig wie vermeintlich unspielbar anhört. Dann müssen zehn Finger raschest quirlige Figurationen die Tastatur rauf und runter treiben, und dabei noch die Illusion ungleicher Geschwindigkeiten wecken.

Pierre-Laurent Aimard: ein kluger Kopf, der die musikalische Moderne geschickt in die Historie einbettet. Foto: Borggreve/KFR

Pierre-Laurent Aimard: ein kluger Kopf, der die musikalische Moderne bei seinen Konzeptkonzerten geschickt in die Historie einbettet. Foto: Borggreve/KFR

Ligeti hat sich als Vorbild die Musik für Player Pianos des Amerikaners Conlon Nancarrow genommen. Nur dass der Ungar einen lebendigen Pianisten als Interpreten vorsah, und nicht ein Selbstspielklavier – also eine Maschine. Doch abseits davon hat Ligeti die Etüden Chopins genauso intensiv studiert wie jene Claude Debussys oder eben Béla Bartóks. Und dem Solisten Aimard gelingt es nun, diese Beziehungen ohrenfällig zu illustrieren. Indem er seinem Programm einen Kunstgriff verordnet: Die Etüden, die erklingen, werden gemischt – auf Debussy folgt Ligeti, folgt Chopin, wieder Ligeti, dann Bartók…

Und es ist schon erstaunlich, dass wir plötzlich die Umspielungen einer Chopin-Etüde im Lichte der Moderne ganz neu hören. Dass die rauschhafte Sturm-und-Drang-Musik der frühen Bartók-Etüden problemlos als eine von Ligetis Wurzeln zu erkennen ist. Oder dass Alexander Skrjabins Beitrag zu Gattung, in ihrer Farbenpracht und orchestralen Wucht, klar auf Zukünftiges verweist. Nehmen wir nur das letzte Werk des Abends, Ligetis 13. Etüde, „Die Teufelstreppe“. In aberwitziger Geschwindigkeit, die der Komponist bis zum Exzess treibt, rast Satan umher. Um letztlich dort zu landen, wo er hergekommen ist: in der vom Clusterklang dominierten bassschwarzen Hölle.

Ein Finale furioso, das Pierre-Laurent Aimard bravourös inszeniert. Mancher mag danach Ligeti, den Modernen, für sich entdeckt haben.




Begeisterndes Panorama des Ausdrucks: Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Dortmund

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Evgeny Kissin bei seinem Konzert in Dortmund. Foto: Mark Wohlrab/KFR

Seine Auftritte sind nicht häufig, aber die Verknappung ist kein Programm zur Förderung einer Aura, sondern schlicht künstlerischer Verantwortung geschuldet: Evgheny Igorewitsch Kissin gehört zu den ganz Großen seiner Zunft, nicht weil er anderen technisch etwas vorzumachen hätte, sondern weil er in seinem Spiel den einfühlenden, gestaltenden, souveränen Geist erkennen lässt. Weil es ihm gelingt, das innere Erleben, das ihm nach eigener Aussage wichtiger ist als das äußere, in seinem Spiel zu kommunizieren. Weil er, der Distanzierte, Scheue, ein bisschen aus der Welt Gefallene, in diesen Momenten sich mit seinem Publikum tief verbindet.

Und die Menschen in den Sälen merken das: Der Beifall bei Kissins Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr im Konzerthaus Dortmund war nicht nur der Überwältigung durch ein makelloses Spiel geschuldet – das können viele andere Pianisten ja auch –, sondern drückte etwas aus von der „Begeisterung“ im wahrsten Sinn des Wortes. Wenn Kissin sich in Schubert, in Skrjabin versenkt, dann be-geistert er, dann nimmt er mit in die unergründlichen Welten, die Musik aufschließen kann. Vor wenigen Tagen wies Claus Leggewie beim Festkonzert zu zehn Jahren Philharmonie Essen auf die immense Kraftquelle hin, die Orte wie ein Konzerthaus für eine Stadt und ihre Gesellschaft bedeuten. Nach dem Kissin-Konzert möchte man mit Wotan sagen: „Heut hast Du’s erlebt“.

Man erlebt’s, selbst wenn nicht alles wie aus einem Guss gelingt: Warum Kissin in Schuberts „Gasteiner Sonate“ D 850 den einleitenden, später formal so bedeutenden rhythmischen Ruf so hastig zusammenzieht, wird nicht verständlich. Seine Artikulation wirkt unwirsch und verschwommen, sein Akkordspiel beruhigt sich erst im klar formulierten Seitenthema. Will man bei den oft strapazierten Naturbildern gerade für diese, in Schuberts Ferien in Bad Gastein entstandenen Sonate bleiben, könnte man für den ersten Satz sagen: ein Sturm im Gebirge. Allerdings einer, in dem sich mehr und mehr die Nebel lichten und im Wüten rauschender Triolen die vollgriffige Harmonik deutlich fassbar wird. Wie er das Signal des Beginns durch die harmonische Entwicklung immer wieder aufleuchten lässt, zeigt: Kissin ist ganz bei sich.

Im zweiten Satz bringt Kissin die harmonischen Wendungen zum Leuchten, sentimentalisiert sie aber nicht. Auch wenn er verzögert, mit der Agogik spielt, will er nicht verzücken, sondern vertiefen. Wie differenziert er die Wiederholungen färbt, ist ein Beispiel großer Kunst für sich. Das Scherzo lässt er aus der heftigen Bewegung und den scharfen Kontrasten Kraft gewinnen: Hier selbstbewusster Rhythmus, scharf konturiert; dort silbern filigranes melodisches Gespinst. Und im letzten Satz schaut Kissin weniger auf die humorigen Momente – die trockenen Staccatio empfand Schumann als Satire auf den „Schlafmützenstil“ von Pianisten wie Pleyer oder Vanhal –, sondern auf die einfache, unverkünstelte Poesie, mit der die Sonate endet.

Bei seinem Landsmann Alexander Skrjabin bewegt sich Kissin dann auch manuell auf Gipfeln, auf denen die Luft für andere sehr dünn wird: Das polymetrische Gewirk im zweite Satz der Sonate-Fantaisie gis-Moll (op.19) muss erst einmal jemand so präzis und souverän entflechten. Die Presto-Kaskaden muss erst einmal jemand so hindernisfrei abrauschen lassen. Und wem das nicht genug ist, dessen Blick stellt Kissin in all dem Trubel noch scharf auf die motivischen Bezüge zum Andante; denn die Sonate vergisst im Finale nicht die Ostinato-Glockenschläge des Beginns.

Auch in der Auswahl der sieben Etüden aus dem Zyklus Opus 8 von 1894 erweist sich das dramaturgische Geschick, mit dem Kissin seine Programme gestaltet. Nie verrät er die technisch anspruchsvollen Stücke an das bloß Triumphal-Zupackende. Nie umwölkt er die leisen Töne, das nachdenkliche Innehalten mit dem Parfüm, das Skrjabin noch vor dreißig Jahren in Westeuropa gerne nachgesagt wurde. Das „tempo rubato“ etwa in der Nummer acht ist kein sensualistischer Effekt, sondern unterstreicht die poetische Note des Stücks. Und das „Andante cantabile“ der Nummer elf wird herb, fast schmerzlich formuliert und endet in einem fragenden Dunkel, auf das in der abschließenden dis-Moll-Etüde Nummer 12 eine heroisch aufbegehrende Antwort gegeben wird.

Kissin entrollt ein unglaubliches Panorama pianistischer Ausdruckskunst – und seine Zugaben sind keine netten Schmankerln, um das Publikum noch einmal „Ah“ und „Oh“ rufen zu lassen, sondern erweitern den Blick um weitere Aspekte: von Skrjabin zu Chopin und von den Meistern des 19. Jahrhunderts zurück zum Meister aller Meister, Johann Sebastian Bach, gesehen durch die Bearbeiter-Brille eines der signifikanten Ausdrucksmusiker der verebbenden Romantik, Wilhelm Kempff.




Selbstbewusstes Konzept: Khatia Buniatishvili beim Klavier-Festival Ruhr in Duisburg

Die Unruhe ist von Anfang an da, zieht in ihren Bann. Sie ist präsent in den hart angeschlagenen Akkorden des Beginns von Chopins b-Moll-Sonate, sie wacht über dem aufgewühlten Agitato-Brausen, sie durchwebt auch die Beruhigung des Tempos, die sanfte Dolce-Versenkung. Bei Khatia Buniatishvili liegt diese Unruhe wie ein existenzielles Verhängnis über allen vier Sätzen der Sonate, die durch ihren „Trauermarsch“ eine manchmal traurig-banale Berühmtheit erlangt hat.

"Versinken ... ertrinken...": Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

„Versinken … ertrinken…“: Khatia Buniatishvili bei ihrem Duisburger Konzert. Foto: Frank Mohn

Bei der 25-jährigen georgischen Pianistin sitzt man das Stück nicht mit dem bestätigenden Eindruck des viele Male Gehörten ab. Wie Blitze eine bekannte und lieb gewonnene Landschaft unheimlich neu beleuchten können, durchfetzen ihre Einfälle das vertraute Gebilde. Etwa wenn sie die Dynamik, nicht aber die Toncharakteristik ändert und damit etwas Unerbittliches in die Noten legt. Oder wenn sie durch Bassakzente den ach so lieb gewordenen weit phrasierten melodischen Motiven etwas Irritierendes mitgibt, ein Gift gegen jede Heimeligkeit.

Sicher: Chopin spielen viele, und viele spielen ihn beeindruckend, beredt, ja beschwörend. Umso faszinierender ist es zu erleben, wie eine junge, selbstbewusst ihrem Konzept folgende Pianistin ein Stück neu gestaltet, ohne es zu zerlegen. Buniatishvilis Chopin ist beides: authentisch und subjektiv, textgetreu und wunderbar frei.

Die Pianistin, die 2009 beim Klavier-Festival als Einspringerin für Hélène Grimaud Aufsehen erregte, ist inzwischen vielfach ausgezeichnet worden. Zum Beispiel erhielt sie 2012 den Echo-Klassik-Preis als Nachwuchskünstlerin Klavier. Ihre drei Schubert-Piècen, von Franz Liszt bearbeitet, zeigen auch, warum: Das „Ständchen“ nimmt sie introvertiert, mit leichten Rubato-Akzenten, meidet aber die Einfärbung des Anschlags zum sentimentalen Dolce, hält den Klang gerade und ernst. Keinerlei Attitüde, kein Anflug von virtuosem Narzissmus. „Gretchen am Spinnrad“ ist ein Beispiel dafür, wie Monotonie ausgedrückt werden kann, ohne monoton zu werden. Buniatishvili leistet sich keine theatralische Aufladung: Das Drama ist leise, aber bitter. Den „Erlkönig“ hämmert sie rasend übersteigert in die Tasten; ein entfesselter Weltenbrand mit fahl verlöschendem Ende.

Die Transkription „Schafe können sicher weiden“ des einst berühmten Pianisten Egon Petri (1881-1962) ist eine jener romantischen Reflexionen auf Johann Sebastian Bach, wie sie durch Ferruccio Busoni oder Leopold Stokowski beliebt geworden sind. Buniatishvili steht zur Romantisierung, verwendet viel Pedal, gestaltet den Klang substanzvoll.

Den zweiten Teil ihres Konzertes in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks Nord sieht Buniatishvili offenbar wie eine Meditation am Klavier: Chopins cis-Moll Etüde aus Opus 25, die a-Moll-Mazurka aus Opus 17, der „Oktober“ aus den „Jahreszeiten“ Tschaikowskys, Skrjabins cis-Moll-Etüde, schließlich Debussys „Clair de lune“ und Ravels „Pavane pur une infante défunte“.

Ohne Pause fließen die Stücke ineinander, verlangen Konzentration, Stille, fast schon Entrückung. Buniatishvili formt die Linien weltverloren aus: weit, behutsam im Anschlag, spannungsvoll in der Dramaturgie, in bewusstem Verzicht auf Kontraste. Wenn „Magie“ überhaupt eine taugliche Beschreibung für die Qualität von Klavierspiel ist, dann passt sie hier.

Als dann „La Valse“, Maurice Ravels raffiniertes Schaustück, das offizielle Programm abschließt, kehren wir wieder in die Welt zurück, begleitet von weniger grell verzerrten als pikant ironischen Rhythmen – eine Welt, die von der ersten der beiden Zugaben, dem letzten Satz aus Prokofjews wahnwitziger Siebter Sonate, in furioser Raserei übersteigert wird.




Edler Ton: Der Geiger Daniel Hope mit Elgars Violinkonzert in Essen

Entfesselung, Verklärung, Apotheose? Ja, schon. Aber Alexander Skriabin, der kühne Eigenbrötler unter den russischen Komponisten, wollte sein „Poème de l’extase“ nicht nur schöngeistig aufgefasst wissen.

Anspannen, aufheizen, explosives Entladen: Skriabin fasste das in eine vor hundert Jahren als extrem, verrückt und manchmal auch zu offensichtlich körperlich-erotisch eingeschätzte Musik. Noch heute weckt das musikalisch frei dem Klang und dem Rausch huldigende Werk von 1908 Bewunderung. In der Philharmonie Essen wurde es als Krönung des Konzerts des russischen Nationalorchesters mit Bravorufen quittiert.

Dabei war kaum Anlass für Jubel. Denn der Orchestergründer und Dirigent Mikhail Pletnev, einst ein hoffnungsvoller Pianist, fährt die Ekstase zwar mit grandiosem Fortissimo auf. Aber er bereitet sie nicht vor. Aus dem lyrisch-entspannten Beginn des Werks führt keine drängende Energie, kein unausweichlicher Bewegungsimpuls zur unvermeidlichen Entladung, sondern eine Abfolge sauber gestaffelter Zustände. Das selige Verströmen hin zum triumphal aufwachsenden Schluss legt die Vermutung nahe, dass sich Pletnev im Lyrischen mehr zu Hause fühlt als im Ekstatischen.

Rachmaninows „Toteninsel“ bestätigt das im Rückblick: Sinnig formt Pletnev den wiegenden Rhythmus, die allmähliche Steigerung, den gelassenen Gesang der Violine und Oboe. Aber untergründige Spannung will nicht aufkommen; dramatische Zuspitzung bleibt flach. Auch das Orchester hat seine Schwächen: Der düstere Höhepunkt mit dem Eintritt der Pauken bleibt klanglich ungefasst und spröde.

Mit Daniel Hope, dem britischen Geiger, brachten die Russen einen Trumpf mit: Sein verhaltener, nie zu brillant nach außen gekehrter Ton veredelte Edward Elgars Violinkonzert mit schier unendlichen, schmerzhaft schön erfüllten Linien. Die raschen Momente geraten Hope manchmal zu hastig – so, als wolle er schnell zur nächsten innerlichen Versenkung forteilen. Die russischen Orchestermusiker erfüllten mit dunkel-gerundeten Holzbläsern und dezenten Streichern ihre sensible Partnerrolle mit Bravour. So geriet der Auftakt schon zum Höhepunkt dieses Gastspiels. Seine Zugabe, Ravels „Kaddisch“, widmete Hope dem vor kurzem verstorbenen Hans Werner Henze.

(Der Bericht ist zuerst in der WAZ Essen erschienen)




Daniil Trifonov: Grandioses Debut beim Klavier-Festival Ruhr

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Hymnische Kritiken zu bekommen, ist heutzutage nicht schwer. Die Frage ist immer, von wem. Der 21-jährige Russe Daniil Trifonov hat sie nicht aus einer gut geschmierten PR-Maschinerie, sondern von Kritikern, deren Kompetenz und Unabhängigkeit erprobt sind.

Der junge Mann scheint sich zum Glück auch nicht als kompatibel für Kampagnen zu geben: Seine noch nicht inflationär verbreiteten Äußerungen in Interviews deuten auf ein maßvolles gezügeltes Selbstbewusstsein hin, das sich vor allem musikalisch verwurzelt: Auf der einen Seite zitiert ihn das Programmheft zu seinem Einstand beim Klavier-Festival Ruhr mit dem Satz, er verstehe das Wort Karriere im musikalischen Sinne; auf der anderen hatte er sein im letzten Jahr schon geplantes Debüt bei dem renommierten Ruhrgebiets-Tastenmarathon abgesagt, um nach dem Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv noch schnell auch den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau zu gewinnen. Dem 16. Chopin-Wettbewerb war er einen dritten Preis wert. Aber Martha Argerich und Krystian Zimmerman wurden in Warschau auf den Newcomer aus Nischnij-Nowgorod aufmerksam. Und wenn Argerich einmal sagt, so etwas habe sie noch nie gehört, hat das Gewicht.

So haben sich die Portale der Klavierwelt für Trifonov weit geöffnet. Er hat schon in Sälen gespielt, die für Andere Gipfelpunkt einer langen Karriere sind: Carnegie Hall New York, Wigmore Hall London, Musikverein Wien, Suntory Hall Tokyo, Salle Pleyel Paris, Amsterdamer Concertgebouw und Berliner Philharmonie; dazu kommen jetzt im Sommer Festivals wie Verbier, Lockenhaus oder das – neben dem Ruhr-Festival – zweite wichtige europäische Pianistentreffen im südfranzösischen La Roque d’Anthéron. Und wer mit den Berliner und den New Yorker Philharmonikern spielt, mit dem Cleveland Orchestra und den Wiener Philharmonikern, von dem lässt sich getrost behaupten, er habe den Durchbruch nicht nur geschafft, sondern längst hinter sich.

Solche Leute holt das Klavier-Festival an Rhein und Ruhr! Ruhris und Rheinis sollten, so sie es denn wahrnehmen, stolz sein auf ihr noch existierendes Kulturleben. Zumindest die lesende Öffentlichkeit hatte für diese Wahrnehmung wenig Chancen: Das Trifonov-Debüt wurde publizistisch weitgehend ignoriert. Zu wenig lokale Relevanz für „Europas neue Metropole“? Das stimmt sogar: Trifonov bewegt sich auf internationalen Parketts. Der einzige Unterschied zu arrivierten Künstlern seines Kalibers ist das Fehlen von Hochglanz-Breitseiten, die ihm mit ihrem Dauer-Salut den Weg auch in „lokale“ Feuilletons freischießen.

Das Publikum in Düsseldorf jubelte. Trifonov erwies sich als „formidabler Virtuoso“, wie ihn die „New York Times“ bei seinem Debüt im August 2011 beschrieben hat. Das betrifft nicht nur Wucht und Kraft des Zugriffs, etwa in den bösen Glockenschlägen und dem ungezähmten Furor von Skrjabins fis-Moll-Sonate Nr. 3, einem Paradestück Trifonovs. Sondern auch den Bruitismus und die ungeschönte Raserei in den pianistisch unglaublich anspruchsvollen Transkriptionen Guido Agustis von Strawinskys „Feuervogel“-Sätzen. Und die technischen Raffinessen von Chopins Etuden op. 25, die Trifonov so spielend bewältigt, als habe er ein paar Übungsstückchen von Karl Czerny vor sich.

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Aber all die grandiosen Kaskaden, die Pranke im Bass und die gleißende Kraft des Diskants, die durchgerauschten Passagen und Arpeggien, die Raserei der Hände und der Triumph ihrer Spannweite über die Grenzen der Physis – alles das macht den jungen Virtuosen noch nicht zu einem Dramatiker, einem Poeten oder einem Lyriker am Klavier, sondern erst einmal zu einem Techniker. Wenn da nicht noch etwas ganz Anderes wäre: Im Allegretto der Skrjabin-Sonate zum Beispiel ist es die Farbe der Bässe, ein trocken-drohendes Staccato, das die Leichtigkeit als trügerisch entlarvt. Es ist die Abtönung der Phrasenenden, die zeigt, mit wie viel Delikatesse Trifonov zu modellieren versteht. Es ist die souveräne Geschmeidigkeit, mit der er sich an das Maestoso im letzten Satz anschleicht: Wie ein Tiger spannt er die Sehnen an, um dann mit voller Kraft abzuspringen.

Mehr noch: In Tschaikowskys „Echo rustique“ aus den 18 Morceaux op.72 bricht sich eine fröhlich zupackende Lust am Spielen ihre Bahn, ein gewitzter Blick auf den „Effekt“. Und in der cis-Moll-Hommage an Chopin aus dem gleichen Zyklus überzeugt der klare Aufbau des Stücks, die klug gesetzten dynamischen Forte-Piano-Kontraste, und wieder die federnden, gestaltreich durchformten Bässe. Bei Strawinsky transzendiert Trifonov die knallig-wilde Energie der „Danse infernale“ in der „Berceuse“ in kühler Poesie, in zerbrechlich-gläsernen Klangflächen. Das ungerührte, kalte Feuer dieser Tanz-Explosionen erfasst Trifonov ebenso wie die orchestrale Fülle des Finales.

Bedürfte es nach so viel musikalischer Überzeugungskraft noch eines letzten Impulses, um Trifonovs überragende Begabung zu bestätigen: mit Claude Debussys „Images“ hätte er ihn gegeben. Die „reflets dans l’eau“ habe ich – weder auf Tonträger noch live – schon lange nicht mehr so kontrolliert, so klar und dennoch mit solch poetischer Durchdringung erlebt wie an diesem Abend im Düsseldorfer Robert-Schumann-Saal. Die große Kunst der Balance – hier der innere Drang des Stücks, mit lyrischen Farben aquarelliert zu werden, dort der Wille Debussys zu Klarheit und seine Distanz zu schweifend-glühender Innerlichkeit – beherrscht Trifonov schlicht überwältigend. Und die Versenkung am Schluss hat in ihrer zärtlichen Freude am lichten Ton nichts vom Hang zum romantischen Kolorit, das Debussy gerne in die Nähe unscharfer Farbenmalerei des Impressionismus rückt.

Dass ein 21jähriger noch nicht „fertig“ ist mit dem Erschließen musikalischer Weltenräume, ist eine Binsenweisheit, die eigentlich keiner Erwähnung bedürfte. Aber bevor Trifonov zum jungen Abgott aus einer neuen Pianistengeneration stilisiert wird, sei auch auf Momente hingewiesen, die sein Potenzial auf künftige Erfüllung hin offen halten: Es ist, pikanterweise, das Einfache, das ihm noch nicht so souverän von der Hand geht. Tschaikowskys Morceaux, „Salonstücke“ im besten Sinne, wünschen sich im Falle der Valse aus op.51 das „Sentimentale“, also die Verschattung des Tons, den Trifonov zu klar und zu diesseitig nimmt. Die Bässe sind in diesem Fall zu bestimmt gesetzt, Arpeggien fehlt das biegsame Gleiten mit dem Hauch des Ungefähren. Das Sentiment will, überspitzt gesagt, ein kleines Spiel mit der Schlamperei – und das fordert das überlegen-augenzwinkerte Loslassen eines Virtuosen, der weiß, was er kann, und der sich dennoch ein wenig „gehen“ lässt.

Auch im Andante der Skrjabin-Sonate steht die jugendliche Ernsthaftigkeit der Suche nach dem Doppelgesicht der perfekten Töne noch im Wege. Bei Chopin schafft es Trifonov, poetisches Raffinement expressiv zu gestalten; da sind es nurmehr Details, die davon zeugen, wie jung dieser Ausnahme-Pianist ist: die Bässe der f-Moll-Etüde wirken ratlos unter der silbrigen Oberfläche; in der e-Moll-Etüde kommt er zu schnell zum Ziel des Crescendo und für die melancholische Lähmung des Stücks in cis-Moll fehlt ihm noch ein Quentchen Geduld. Doch das sind nicht mehr als winzige Flecken in einem überwältigend leuchtenden Bild, das, wäre es makellos, seine innere Tiefe verlöre.