Vom Verschwimmen des Privaten: Paul Hindemiths Satire „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen

Vor dem Bad noch schnell ein Selfie: Eleonore Marguerre in Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen. (Foto: Monika Forster)

Die Badewanne war’s. Sie ließ Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ zum Skandal werden. Eine Frau, die nackt und schaumbedeckt Männer empfängt, das erregte den wohlgesitteten deutschen Bürger der Weimarer Zeit: Ein bisschen gucken und sich empören.

In Berlin war die „Zeitoper“ zwar nicht sonderlich erfolgreich. Aber den nur 15 Wiederholungen an der Kroll-Oper folgten, so Hindemith selbst in einem Interview, „allenthalben zahlreiche Aufführungen, bis schließlich das nazistische Allerneueste vom Tage ihr vorläufig den Garaus machte“.

Jetzt setzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen dem „Garaus“ etwas entgegen und bringt Hindemiths „lustige Oper“ mit einer leider mäßig besuchten, aber begeistert gefeierten Premiere wieder in die Diskussion. Und siehe da, die 92 Jahre alte Satire auf die großstädtische Gesellschaft von damals erweist sich als überraschend vital. Mag zwar sein, dass die Ehescheidungs-Problematik, aus der Kabarett- und Revueautor Marcellus Schiffer sein Libretto entwickelt, heute nicht mehr den prickelnden Ruch von damals mitbringt. Aber im Zeitalter von social media, Selfies und überwachten Räumen, medialer Allgegenwart und konstruierter Realität erweist sich als ungebrochen aktuell, wie Hindemith und Schiffer das Verschwimmen von Öffentlichem und Privatem, Authentischem und Inszeniertem mit den Mitteln karikierender Überspitzung aufs Korn nehmen.

Die inhaltliche Klammer über die Epochen hinweg spiegelt sich schon zu Beginn in der Bühne von Dirk Becker: In Hintergrund fahren Hochhäuser auf, wie sie Ende der zwanziger Jahre auch in deutschen Großstädten entstanden. Die Spielfläche wird abgegrenzt von Elementen aus der „Neuen Sachlichkeit“, dem Kubismus und der Konkreten Kunst, reduziert auf schmucklose Elemente aus geometrischen Formen. Sie bewegen sich wie Maschinenkunst von selbst oder brechen, von Statisten verschoben, die Illusion des Theaters. Aber die expressionistische Anmutung wird relativiert: Ein Fernseher flimmert, und später ziehen die Videos von Moritz Hils eine neue Ebene medialer Gegenwart ein, wenn sie private Smartphone-Kurznachrichten oder Instagram-Clips übergroß für das Publikum – also öffentlich – sichtbar machen.

Romantische Liebe? – Nein, danke.

Punkt Neun wird die Maschinerie der Bürokratie angeworfen … (Foto: Monika Forster)

Jula Reindells Kostüme bewegen sich zwischen Revuefummel der dreißiger Jahre, unauffälliger Büromode der Fünfziger und Boxershorts der Gegenwart und lassen so Zuschreibungen bewusst außen vor. Auch Sonja Trebes benutzt in ihrer Inszenierung Accessoires unterschiedlicher Epochen: Aufgezeichnet wird mal mit einer altmodischen Videokamera, mal mit dem Smartphone. Die berüchtigte Szene im Bad bleibt erst überaus diskret. Bis sie sich zu einem grotesken social-media-Event steigert: Wie bei so mancher digital bekannt gemachten Teenie-Geburtstagsparty locken Tweets allerlei Schaulustige an, die in bizarr überzogener Nacktheit das Bad füllen. Authentizität und Camouflage: Das Thema spiegelt sich im Kostüm. Einzig wirklich Nackter ist Tobias Glagau, der Laura, der kompromittierten Ehefrau im Bad, die Wanne streitig macht.

Wir nehmen heute wohl eher amüsiert wahr, was die Zuschauer von 1929 geschockt haben muss: Die Vorstellung einer romantischen Liebe wird gnadenlos dekonstruiert. Beklemmender ist, dass Emotion bedeutungslos ist, mit Menschen pragmatisch, geschäftsmäßig aus der Sicht des nur noch auf sich bezogenen Vorteils umgegangen wird. Laura und Eduard, frisch verheiratet, verlieren ihre gegenseitige Attraktion schon im ersten Krach; Herr und Frau M., zunächst lustvolle Voyeure der lautstarken Auseinandersetzung, zerstreiten sich ebenso flugs und keifen mit denselben Schimpfworten wie das junge Paar vorher aufeinander ein. Jetzt geht es nur noch darum, die Scheidung möglichst unkompliziert hinter sich zu bringen. Für den Scheidungsgrund sorgt ein eingekaufter Dienstleister, der schöne Herr Hermann – und nur zu diesem Zwecke liegt Laura im Bad.

Zu dumm, dass sich Gefühle nicht ausschalten lassen – doch Hindemith lässt kunstvoll in der Schwebe, ob Hermanns Liebesbeteuerungen echt sind oder zum Geschäft gehören. Inzwischen hat jedoch der Scheidungsskandal, medial befeuert, Fahrt aufgenommen und sich selbständig gemacht: Die Freiheit, ihre Beziehung zu regeln, haben Laura und Eduard verloren. Die Öffentlichkeit fordert die Fortdauer des Scheidungsdramas. Am Schluss flimmern nur noch Schlagzeilen über die Bühne.

Vereinnahmte Menschen

Sonja Trebes erzählt mit einigem Geschick, was sich tagtäglich an medial präsenten prominenten Paaren – Amber Heard und Johnny Depp lassen grüßen – durchexerzieren lässt. Sie zeigt, wie die Menschen selbst Privates in die Kanäle des Öffentlichen gießen, wie sie aber auch vereinnahmt, entmündigt und funktionalisiert werden. Sie mutieren zu einer unter anderen sinnlosen Headlines. „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es im Libretto. Wahr oder vorgetäuscht, echt oder falsch, authentisch oder gekünstelt? Hindemith hebt lustig und lustvoll die Orientierung auf, und die nur manchmal etwas schüchtern zupackende Gelsenkirchener Inszenierung folgt ihm mit Vergnügen.

Schlagworte und Schlagzeilen bleiben: „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es in Paul Hindemiths Oper. (Foto: Monika Forster)

Mit Spaß am satirischen Überschwang sind auch die Darsteller am Werk. Eleonore Marguerre darf ihren wohlklingenden Sopran an das saftige Pathos einer Tristan-Parodie verschwenden und die Vorzüge moderner Warmwasserversorgung preisen. Ihr Ehemann Eduard (Piotr Prochera) strengt sich an, Paragraphen zu zitieren und sich vibratosatt aufzuregen, weil er lieber einen Scheidungsgrund ohne Eifersucht gehabt hätte. Denn der „schöne Herr Hermann“ – natürlich ein Tenor (Martin Homrich) – gleitet bei seiner Dienstleistung, die Scheidung zu befördern, ins Private ab und gesteht seiner Mandantin „Liebe“. Das empört wiederum die frisch geschiedene Frau M.: Almuth Herbst sieht sich um ihre Hoffnungen betrogen und macht ihrem neuen Liebhaber in herrlich schrillem Outfit eine Szene. Adam Temple-Smith gibt sein Bestes, damit Herr M. im Scheidungs- und Versöhnungskarussell mithalten kann.

Der Chor ist von Alexander Eberle bestens präpariert, um Tippfräulein und Bürokraten darzustellen, deren vokale Mechanik auf die Sekunde genau Punkt neun Uhr in Gang gesetzt wird. Einen großen Tag hat die Statisterie des Musiktheaters im Revier: Sie kann sich, unterstützt von Andreas Langschs Choreografie, im Mob der Scheidungsshow-Zuschauer richtig austoben. Giuliano Betta hält die Neue Philharmonie Westfalen zu präziser Rhythmik an, die von einer Uraufführungs-Kritik gegeißelten „stechendsten und stachlichsten Staccati“ pieksen in Bettas verbindlicher Lesart die Ohren nicht gar zu schmerzhaft, die parodierte Wagner-Harmonik ist süffig ausgekostet und vom Piccolo über die Harfe und die damaligen „Mode“-Instrumente Banjo und Saxophon bis in die Bassregionen hinein perlen und purzeln die Soli behend und klangschön durch die rhythmischen Lücken der Partitur. Ein Abend, den man nicht verpassen sollte.

Weitere Vorstellungen: 14., 21., 29. Mai; 10., 25. Juni 2022. Info und Karten: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/neues-vom-tage




Zwischen Symbolismus und Sozialkritik: Engelbert Humperdincks Opern-Rarität „Königskinder“ in Gelsenkirchen

Angekommen im Milieu: Tobias Glagau (links, Besenbinder), Petro Ostapenko (Spielmann) und Urban Malmberg (Holzhacker). Foto: Bettina StößAngekommen im Milieu: Tobias Glagau (links, Besenbinder), Petro Ostapenko (Spielmann) und Urban Malmberg (Holzhacker). Foto: Bettina Stöß

Angekommen im Milieu: Tobias Glagau (links, Besenbinder), Petro Ostapenko (Spielmann) und Urban Malmberg (Holzhacker). (Foto: Bettina Stöß)

Die Erlösung erblüht aus dem Buch: Als die Gänsemagd in Engelbert Humperdincks „Königskinder“ nach einem Gebet den Bann der Hexe zerreißen kann, wächst aus den aufgeschlagenen Seiten eine Wunderblume. Es ist einer der poetischsten Momente in Tobias Ribitzkis Inszenierung dieser selten gespielten Oper am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen.

Kathrin-Susann Brose hat für das symbolistische Kunstmärchen von Elsa Bernstein-Porges, geschrieben unter dem Pseudoym „Ernst Rosmer“, einen Raum gestaltet, der einen Preis verdient hätte – den für das bisher hässlichste Bühnenbild der Saison. Die gelbbraune Halle im Anna-Viebrock-Stil erinnert an unwirtliche Bauten der Siebziger, könnte ein Bahnhof oder auch eine Uni-Aula sein, ist mit einer breiten Treppe schräg im Hintergrund und ein paar Parkbänken möbliert.

Ein Ort ohne Menschlichkeit

Das hat sicherlich seinen Sinn, denn die Welt, in der die Gänsemagd als leicht alternativ kostümiertes Mädchen isoliert von herumhetzenden Passanten leben muss, ist alles andere als anziehend. „Hellabrunn“, die Stadt, die sich einen Herrscher wünscht, obwohl es allen gut geht, ist ein Ort ohne Menschlichkeit, ohne Empathie, ohne Liebe. Aber im Lauf der drei Stunden verliert die Bühne ihre Kraft und wird zur Falle, die Ribitzkis Figuren einfängt und nicht mehr freigibt.

Bele Kumberger als Gänsemagd in Engelbert Humperdincks "Königskindern" in Gelsenkirchen. Foto: Bettina Stöß

Bele Kumberger als Gänsemagd in Engelbert Humperdincks Oper „Königskinder“. (Foto: Bettina Stöß)

Die Folge sind nicht nur überflüssig wirkende Gänge – etwa, wenn die Treppe erreicht oder von einer bestimmten Seite begangen werden soll –, sondern auch eine Statik, die der Entwicklung der Personen im Weg steht. Man spürt die Absicht und wartet auf die Erfüllung, allein, die stellt sich nicht ein: Der Reifungsprozess der Gänsemagd von der kindlichen zu einer sich selbst bewussten Persönlichkeit erschließt sich fast ausschließlich über das Requisit Buch. Auch der junge Mann, der den Anstoß für die Selbstüberschreitung des Mädchens gibt, erliest sich aus den Seiten die Selbstwerdung: „Bin ich als Königssohn geboren, zum König muss ich mich selber machen.“

Dem poetischen Bild mangelt es an Tiefenschärfe

Der Mob von Hellabrunn, der die Königskinder nicht erkennt und aus der Stadt jagt, zerfleddert das Buch und zerstreut seine Blätter. Das sind bedeutungsvolle, ausinszenierte Chiffren, die aber den unentschiedenen Regie-Zugriff auf die Personen nicht ausgleichen. Vor allem der geheimnisvolle Spielmann – mit der ambivalenten roten Feder des Teufels, der Abenteurer und der freien, fahrenden Leute am Hut – bleibt seltsam blass; die Hexe identifiziert Ribitzki mit der Wirtstochter und gibt deren sexuellen Zudringlichkeiten damit eine schärfere Dimension, profiliert sie dann aber nicht ausreichend als Kontrahentin des Spielmanns.

Auch die Hellabrunner Gesellschaft, die etwa David Bösch in Frankfurt als grimmige Parabel einer selbstgenügsamen Gesellschaft erzählt hat, kommt über die mehr oder weniger pragmatische Choraufstellung nicht hinaus. Der Kältetod auf der Parkbank in wirbelndem Schnee bleibt ein poetisch-trauriges Bild ohne Tiefenschärfe.

Rasmus Baumann spielt die musikalischen Trümpfe aus

Bleibt die Inszenierung also ein nur halb eingelöstes, sich durch manche Länge quälendes Versprechen, spielt Rasmus Baumann die Humperdinck-Trümpfe mit der Neuen Philharmonie Westfalen gewinnend aus: Da qualifizieren sich die Wagner-Anklänge von den „Meistersingern“ bis zum „Tristan“ deutlich als nach-wagnerische Entwicklungen, da zeigt sich ebenso klar, wo sich Humperdinck vom übermächtigen Vorbild losreißt.

Die detaillierte Durcharbeitung dieser Partitur, die klangliche Raffinesse und ihre großräumigen Entwicklungen lassen „Königskinder“ dem Dauerbrenner „Hänsel und Gretel“ als überlegen erscheinen. Baumann braucht zwar einige Zeit, bis das Orchester seinen handfesten, wenig subtilen Klang an die feineren Lasuren Humperdincks angepasst hat, dann aber lässt er die aufrauschenden melodischen Motive ebenso frei atmend ausmusizieren wie er die innigen und melancholischen Momente des Zurücknehmens ausmodelliert. Schade um die Striche!

Bele Kumberger (Gänsemagd) und Almuth Herbst (Hexe). Foto: Bettina Stöß

Bele Kumberger (Gänsemagd) und Almuth Herbst (Hexe). (Foto: Bettina Stöß)

Merklich forcierte Lautstärke

Martin Homrich stellt sich als Königssohn einer anspruchsvollen Zwischenfachpartie, die er allerdings ohne Reserven angehen muss. Die Folge ist dann merklich forcierte Lautstärke und wenig gestalterischer Spielraum. Am Ende bewundert man eher Mut und Standfestigkeit seines Tenors. Auch Bele Kumberger, als Gänsemagd eine berührende Erscheinung, kann nicht verhehlen, dass sie die dramatischen Aufstiege in die Höhe an ihre Grenzen führen. Wenn sie sich lyrisch-frei fühlen kann, gestaltet sie mit subtilen Farben und deutlich entspannter.

Almuth Herbst hat als Hexe satte, sarkastische, sichere Töne; als Wirtstochter kämpft sie mit der Position: Es wäre wohl doch besser, beide Partien mit einer je eigenen Sängerin zu besetzen. Petro Ostapenko, aus Nürnberg nach Gelsenkirchen gekommen, qualifiziert sich mit prachtvollem Bariton für künftige größere Partien; den Charakter des Spielmanns kann er dennoch nicht über die schwachen Konturen der Regie hinaus entschiedener profilieren.

Urban Malmberg weiß, wie er bei der opportunistischen Figur des Holzhackers den Zug ins Hartherzige verstärkt; Tobias Glagau bleibt als Besenbinder ganz sein blasser Schatten. John Lim füllt die Nebenfigur des Wirts engagiert aus. Alexander Eberle hat den Gelsenkirchener Opernchor für den zweiten Akt sattelfest gemacht; den pauschalen Klang aus dem Hintergrund der Bühne kann er nicht parieren. Tadellos auch der von Zeljo Davutovic einstudierte Kinderchor.

Plädoyer für eine vergessene Generation

Alles in allem gehören Humperdincks „Königskinder“ nicht zu den starken Produktionen der letzten Jahre in Gelsenkirchen. Das ist bedauerlich, denn die Oper selbst hat jede Bemühung verdient. Steht sie doch als Werk deutungsoffen zwischen Symbolismus und Sozialkritik und musikalisch für eine Epoche, die sich nach oder gegen Wagner positionieren und vor dem Hintergrund der aufbrechenden Moderne um innovative Lösungen bemühen musste. Zu dieser vergessenen Generation, die im Licht einer neuen Rezeption geprüft werden müsste, gehört nicht nur der Humperdinck-Schüler Siegfried Wagner, der im nächsten Jahr seinen 150. Geburtstag feiern könnte; sondern etwa auch der langjährige Strauss-Vertraute Ludwig Thuille, ambivalente Komponisten wie Max von Schillings und Hans Pfitzner oder die französischen Vertreter des „Wagnerisme“. Ein weites Feld – und der Neugier des Generalintendanten Michael Schulz wäre es zuzutrauen, dass er uns aus dieser Fülle noch einige Trouvaillen zu entdecken gibt!

Vorstellungen am 2., 8., 14. und 26.  Dezember 2018, 12. Januar, 24. Februar, 3. März 2019.
Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2018-19/koenigskinder/




Mit Leoš Janáček in die neue Spielzeit: Die Essener Philharmoniker eröffnen die Reihe ihrer Sinfoniekonzerte

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Er tritt für die Musik seiner Heimat ein: GMD Tomáš Netopil stand am Pult beim ersten Sinfoniekonzert der Spielzeit 2018/19. Foto: Hamza Saad.

Mit einer Aufführung der „Glagolitischen Messe“ von Leoš Janáček und von Ludwig van Beethovens gerne vernachlässigter Zweiter begann Generalmusikdirektor Tomáš Netopil die Serie der zwölf Sinfoniekonzerte der Essener Philharmoniker.

Mit Janáčeks „Glagolitischer Messe“ stellt Tomáš Netopil ein weiteres wichtiges Werk aus dem hierzulande viel zu wenig bekannten Repertoire seiner tschechischen Heimat vor. Eine Serie, die hoffentlich in den nächsten Jahren – Netopils Vertrag wurde bis 2023 verlängert – weitere Begegnungen ermöglicht. Die Messe trägt ihren Namen, weil der glühende Panslawist Janáček den Messtext im uralten Kirchenslawisch vertont hat.

Liturgisches Werk oder Konzertmusik?

Im Westen wurde die Komposition nie richtig heimisch: Ihr hing wie so manch anderer wertvoller Musik östlicher Nachbarn das zweifelhafte Prädikat des „Nationalen“ an. Nicht für die Liturgie geschaffen und selbst für semiprofessionelle Chöre sehr schwer, dazu weder schmeichelnd melodisch noch offensichtlich fromm, passte sie als merkwürdiger Zwitter weder in die kirchliche Musikpflege noch in den bürgerlichen Konzertbetrieb.

Das hat sich durch einige verdienstvolle Einspielungen – von Rafael Kubelik bis Pierre Boulez – zum Glück geändert. Aber die aufgelockert besetzten Reihen im Alfried Krupp Saal belegen, dass die Messe das Publikum nicht anzieht – ein Schicksal, das sie kurioserweise mit Beethovens Zweiter Sinfonie teilt. Dabei spart Janáček nicht mit hymnischem Überschwang: in den Fanfaren des Beginns etwa, die sich am Ende wiederholen, aber auch im aufgewühlten Credo, das die slawische Glaubensformel „Vĕruju“ stets aufs Neue wiederholt.

Vielfältige Farben der Blechbläser

Dazwischen nimmt Janáček die Musik oft zurück. Aber der raue Samt flächiger Violinen und die dunklen Bläser-Piani werden kontrastiert von Paukensoli und heftigen Orgelakkorden (Friedemann Winklhofer). Die Farben der Blechbläser setzt er vielfältig ein, kontrastiert filigrane Streicher mit der tiefen Glut von Posaunen und Tuba. Die heftigen rhythmischen Akzente, die ostinat wiederholten Figuren, das drängende, oft atemlose Tempo ist als expressives Mittel aus seinen Opern wohlbekannt.

Netopil lässt die Philharmoniker die spröden Seiten des Klangs nicht überbetonen, sondern sorgt für eine eher weiche, aber nicht glattpolierte Artikulation. Almuth Herbst bietet unter den Solisten trotz ihrer nur marginalen Aufgabe den schönsten, weich grundierten Stimmklang. Carlos Cardoso mit kräftig-festem Tenor und Almas Svilpa mit muskulösem Bass sind ihren Partien gewachsen; Andrea Danková zeigt harte Tongebung und flackerndes Vibrato, das dem Kern ihres Soprans dennoch nicht hilft, das Orchester zu überstrahlen.

Alle Anzeichen panischer Gottesfurcht

Patrick Jaskolka und Jens Bingert haben ihre Chöre vorzüglich einstudiert: Die Sängerinnen und Sänger pflegen eine weitgehend klare Aussprache des fremden Idioms. Die Lobpreisungen des „Gloria“, die Glaubenssätze des „Credo“ fasst Janáček nicht in die Form feierlicher Hymnen oder erhabener Anrufungen: Sie erklingen wie hervorgestoßene Aufschreie, atemlos, hektisch, erregt und grell. Da äußert sich keine balsamische Glaubensgewissheit, sondern eine fast panische Gottesfurcht. Der kirchenskeptische Janáček schreibt, ähnlich wie Giuseppe Verdi in seiner „Missa da Requiem“, eine Musik des Zweifels, aber auch der existenziellen Hoffnung am Rande des Nichts. Die Hoffnung, am Ende möge doch nicht alles umsonst gewesen sein, verbindet Janáčeks Messe mit Beethovens Ouvertüre zu Goethes „Egmont“, die den Abend eröffnete, voll Wehmut und Passion.

So haydnisch heiter wie oft beschrieben klingt Beethovens Zweite Sinfonie an diesem Abend auch nicht: Die Violinen artikulieren frisch und markant im ersten Satz, im Scherzo trifft das Orchester die Eleganz á la Haydn, aber auch die unwirschen Akzente und dynamischen Überraschungen, die über die Surprisen des älteren Meisters hinausgehen.

Während Netopil die Einleitung genüsslich ausbreitet, findet er im Allegro con brio des ersten Satzes den forschen Schritt, der gleichwohl nichts überhetzt, gibt im zweiten Satz mehr Atem als Zeit und macht so aus dem „Larghetto“ kein „Largo“. Der letzte Satz wird erhitzt getrieben und hält die Spannung bis zum Ende. So gespielt steht die Zweite keineswegs in der zweiten Reihe der Sinfonien Beethovens.

Saisonausblick: Dominanz des Bewährten

Mit dem Schlagzeug steht in der beginnenden Saison ein Instrumentarium im solistischen Vordergrund, das erst im 20. Jahrhundert zu derartigen Ehren gekommen ist: Alexej Gerassimez, inzwischen in die führende Riege der Schlagzeuger aufgestiegen, widmet sich „Sieidi“, einem Konzert des Finnen Kalevi Aho. Dieses Konzert ist auch in einem neuen „Einsteiger-Abo“ mit vier Konzerten enthalten, mit dem die Vorteile eines fest gebuchten Platzes schmackhaft gemacht werden sollen.

Die weiteren Konzerte bis Juli 2019 bieten Neues oder Überraschendes nur in homöopathischen Dosen, verlassen sich auf die Dominanz des Bewährten und eine Prise von Randständigem: Tschaikowsky etwa zieht immer und kommt mit seiner Fünften, kombiniert mit dem Violinkonzert mit Julian Rachlin als Solist und Dirigent, am 14./15. Februar zu Ehren. Dazu tritt am 11./12. Juli das b-Moll-Klavierkonzert mit Boris Berezovsky. Mozarts „Jupiter“, Bruckners Dritte unter Hans Graf, Mahlers Sechste und Schostakowitschs Fünfte, beide mit Netopil am Pult, umschreiben den Kreis der Sinfonien.

Namhafte Solisten wecken Erwartungen

180 Jahre alt wird der Philharmonische Chor Essen, der mit Janáčeks Messe eine erste Bewährungsprobe erfolgreich bestanden hat und sich am 22./23. November Wolfgang Amadeus Mozarts „Requiem“ stellen wird. Erwartungen wecken die Namen der Solisten, unter ihnen der amerikanische Pianist Tzimon Barto mit dem B-Dur-Klavierkonzert Johannes Brahms‘ am 10./11. Januar 2019, Christiane Karg mit Maurice Ravels „Shéhérazade“ am 7./8. März, der Geiger Daniel Bell mit Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ am 4./5. April oder Gautier Capuçon, der am 20./21. Juni das Erste Konzert für Violoncello und Orchester op. 33 von Camille Saint-Saëns spielt.

Selten zu hörende Werke wie Arthur Honeggers witzige Sport-Adaption „Rugby“ oder Ottorino Respighis musikalische Annäherung an den magischen Lichtglanz bunter Kirchenfenster „Vetrate di Chiesa“ stehen eher am Rand – in diesem Fall etwa als Einleitung zu Carl Orffs unverwüstlichen „Carmina burana“ mit Ivor Bolton und dem Collegium Vocale Gent am 25./26. April.

Schon am 27. und 28. September setzt sich die Reihe der Sinfoniekonzerte fort, wenn Gastdirigent Alexander Liebreich als zentralen populären Programmpunkt Modest Mussorgskys „Bilder eine Ausstellung“ dirigiert.

Tel.: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de




In den Abgründen romantischer Existenz: Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ gelingt in Gelsenkirchen großartig

Gelb und Blau, die Farben Werthers, in den Kostümen Jula Reindells für „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen. Über verschmähte Liebe und Existenzangst hinaus lassen sich wohl noch andere Berührungspunkte in der Psyche der literarischen Figuren finden. Joachim Bäckström (Hoffmann) im leuchtenden Gelb des Außenseiters inmitten des Chores. Foto: Pedro Malinkowski

Gelb und Blau, die Farben Werthers, in den Kostümen Jula Reindells für „Hoffmanns Erzählungen“ in Gelsenkirchen. Über verschmähte Liebe und Existenzangst hinaus lassen sich wohl noch andere Berührungspunkte in der Psyche der literarischen Figuren finden. Joachim Bäckström (Hoffmann) im leuchtenden Gelb des Außenseiters inmitten des Chores. Foto: Pedro Malinkowski

Das Lied von Kleinzack ist eines jener spöttisch-frivolen Studentenlieder, wie sie heute noch in Verbindungen gesungen werden: einfacher strophischer Aufbau, ein Chor, der den Vorsänger wiederholt. Aber in der dritten Strophe entgleitet dem Sänger die Form. Ein Stichwort genügt und er verliert sich in einer schwärmerischen lyrischen Vision, aus der er nur mit Mühe in die Realität von Lutters Wein- und Bierschänke zurückfindet.

Mit dieser relativ einfachen, aber höchst wirkungsvollen Operation exponiert Jacques Offenbach im ersten Akt von „Les Contes d’Hoffmann“ musikalisch, mit welchem Begriff von Romantik er in seiner ehrgeizigen Oper zu arbeiten gedenkt.

Offenbach erweist sich, je weiter die Forschung zu den Fragmenten des unvollendeten Werks fortschreitet, desto mehr als feinsinniger Kenner romantischer Ideen: Welt- und Selbstverlust des Individuums, gleichzeitig Eindringen in verborgene Schichten der menschlichen Existenz, die Ambivalenz romantischer „Geisterreiche“ im Sinne E.T.A. Hoffmanns zwischen Entsetzen und Erleuchtung, das Bewusstsein von rational nicht steuerbaren Kräften zwischen dem Wunderbaren und dem Dämonischen, die Grenzbereiche von Psychologie und religiösem Glauben, aber auch die Abscheu vor der geistlosen Ordnung eines bürgerlichen Daseins mit seinem materialistischen Pragmatismus und seinem perspektivlosen Aktionismus.

„Hoffmann“-Inszenierungen sind wegen des komplexen gedanklich-geistesgeschichtlichen Überbaus, wegen der stets offenen Frage einer aktuellen Deutung des „Romantischen“, aber auch wegen der unabgeschlossenen Werkgestalt stets heikel und vom Scheitern bedroht. In Wuppertal etwa betonte zu Beginn der Spielzeit ein Experiment den disparaten Charakter des Werks: Die Inszenierung war drei Regisseur(inn)en anvertraut, die ihren Blick unabhängig voneinander auf je einen Akt richteten. Das unterstrich, wie zerrissen diese romantische Welt ist, machte es aber schwer, einen Zusammenhang zu konstruieren. In Essen zeigte – in dieser Spielzeit als Wiederaufnahme – die Inszenierung von Dietrich Hilsdorf, wie man sich „Hoffmanns Erzählungen“ als Drama eines Künstlers, der mit gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen nicht kompatibel ist, vorstellen muss.

E.T.A. Hoffmanns Romantik nahegekommen

Nun hat Michiel Dijkema in Gelsenkirchen als Regisseur und Ausstatter eine Lösung gefunden, die dem Romantik-Begriff Hoffmanns am nächsten kommt. Die Bühne ist zunächst weiß verschlossen, dann zeigt sich der Vorhang als Projektionsfläche. In Schwarz und Weiß erscheinen Szenen, die man wähnt, auf der Bühne gesehen zu haben, oder die geheimnisvoll vorausweisen auf das Kommende. Nüchtern exponiert Dijkema den Schauplatz, der für alle Bilder die Basis ist: Schlichte Tische und Stühle auf einer runden Scheibe, eingeschlossen von einer nach hinten spitz zulaufenden Wand.

Der hoffmanneske Riesenzylinder - hier das Denkmal für den Dichter und Komponisten in Bamberg - kehr auch in den Kostümen von Jula Reindell wieder. Foto: Werner Häußner

Der hoffmanneske Riesenzylinder – hier das Denkmal für den Dichter und Komponisten in Bamberg – kehrt auch in den Kostümen von Jula Reindell wieder. Foto: Werner Häußner

Die Schänke wird nicht verlassen; die Schauplätze der drei Akte sind innere Bilder Hoffmanns. Darauf deuten auch die Studenten hin, die zuerst als schwarze Menge mit riesigen Zylindern à la E.T.A. Hoffmann in den Raum strömen und sich dann als einmal leblos stumme, ein andermal als lebhaft applaudierende oder kommentierende Zuschauer auf oder um die Scheibe gruppieren. Teils Puppen, teils Statisten, sind sie Teil einer uneindeutigen Welt, weder wirklich noch imaginiert, changierend zwischen scheinbar prallem Realismus und sich real gebärdender Phantastik.

Kennzeichen der drei Akte sind Bühnen-Chiffren, die in ihrer surrealen Machart an die Gelsenkirchener Steampunk-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ nach E.T.A. Hoffmann erinnern: Zwei riesige Augäpfel mit mechanisch schlagenden Wimpern für Olympia, ein abgebrochener Geigenhals für Antonia, eine (später brennende) schwebende Gondel für Giulietta. Dijkema bricht in diesen Bildern den Realismus immer wieder, ohne den Erzählstrang zu verlassen, bedient sich – wie in den wunderbaren Kostümen von Jula Reindell – einiger Bildsignale aus dem frühen 19. Jahrhundert, so in den Frisuren der Damen im Olympia-Akt.

Widersacher aus unheimlicher Sphäre

Wie Hoffmann literarisch, so führt Dijkema szenisch das Verstörende, das die Fugen der Alltagsrealität sprengt, immer wieder allmählich schleichend ein, manchmal aber auch mit theatralischem Getöse, etwa, wenn sich die Muse aus zischendem Bühnendampf schält – in grünem Tanzröckchen und roter Perücke wie eine Elfe. Lindorf und seine drei Verkörperungen tragen imposante Roben, die den unheimlichen Charakter betonen. Ob Mann, ob Weib, ist bei dem kahlköpfigen Dämon in gewaltigem glitzerndem Schwarz im Vorspiel, in klinischem Weiß im Antonia-Akt und in opulentem Purpur im Venedig-Bild, nicht definierbar. Ein Widersacher aus einer anderen Sphäre, die sich jenseits menschlicher Zuordnungen manifestiert.

Durch die Magie des Singens stirbt Antonia der geordneten bürgerlichen Welt ihres Vaters Crespel (Dong-Won Seo). Der Doktor Miracle (Urban Malmberg) fördert den exaltierten Ausbruch Antonias (Solen Mainguené) in die tödlichen Abgründe romantischer Existenz. Foto: Pedro Malinkowski

Durch die Magie des Singens stirbt Antonia der geordneten bürgerlichen Welt ihres Vaters Crespel (Dong-Won Seo). Der Doktor Miracle (Urban Malmberg) fördert den exaltierten Ausbruch Antonias (Solen Mainguené) in die tödlichen Abgründe romantischer Existenz. Foto: Pedro Malinkowski

Hoffmann selbst erinnert im langen Mantel und später in gelbem Frack – seit dem Mittelalter die Farbe der Außenseiter – an den Dichter. Antonia erduldet die Qualen des Singverbots und die Bedrängnis durch den zwielichtigen Doktor Mirakel als bleiches, hohläugiges Wesen in weißem Gewand wie eine Lucia di Lammermoor am Rande des Wahnsinns – die Ikone von Kunst und Krankheit des 19. Jahrhunderts schlechthin.

Dass Dijkema in diesen Akt ein Spiel mit Cello und Kontrabass einführt – man hat in Gelsenkirchen sogar eine Cello spielende Sopranistin –, hat einen distanzierenden, aber auch symbolischen Sinn: Das Cello erinnert an den Frauenkörper, sein Klang liegt der menschlichen Stimme nahe. Und Giulietta verkörpert mit prallen, gleichwohl künstlichen Brüsten den Heilswahn sexueller Leidenschaft, für den Hoffmann sein Spiegelbild opfert: Schatten, Gesang, Augen – diese Seelensymbole spielen in Dijkemas Inszenierung eine entscheidende Rolle und erschaffen eine Bildwelt, in der folgerichtig wie selten die Ambivalenz der Romantik erschlossen und verdeutlicht wird.

Reaktionsschnell und hochmusikalisch

Die musikalische Seite der Aufführung bleibt hinter dem ambitionierten Rang des Szenischen nicht zurück – vor allem ein Verdienst des leider in Richtung Staatsoper Hannover scheidenden Kapellmeisters Valtteri Rauhalammi. Der Finne hat sich in seinen Dirigaten der letzten Zeit als sensibler Gestalter ohne Allüren erwiesen und findet zu Offenbachs musikalischer Sprache einen sinnigen Zugang. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn Offenbach setzt sein Ausdrucksrepertoire beinahe schon polystilistisch ein. Die leichten Schraffuren und rhythmischen Petitessen seiner Buffo-Öperchen sind kombiniert mit der klanglich-melodischen Intensität Gounod’scher Lyrik, dunkel-untergründige Bläserakkorde korrespondieren mit der banalen Hymnik etwa des Choraufzugs des Olympia-Akts, melodisches Schwärmen und mechanische Rhythmik kontrastieren miteinander.

Rauhalammi arbeitet diese Gegensätze heraus, ohne sie zu hart gegeneinander zu setzen, hat Gespür für die weltvergessen sich fortspinnende Melodik des „Kleinzack“-Einschubs oder der glühenden Antonia-Kantilenen, kann die Puppe Olympia wie eine Spieluhr tanzen lassen und hält die Barcarole kitschfrei. Die reaktionsschnelle Neue Philharmonie Westfalen schaltet von einem Moment zum anderen um, strichelt hier leicht dahin und lässt dort ahnungsvolle Bläserakkorde weich und dunkel schimmern. Ein idiomatisch selten gut getroffener Offenbach, gerade weil er sich der Mode des durchgeschlagenen Maschinen-Rhythmus‘ und dem Missverständnis einer ausschließlich „leichten“ Tongebung entzieht.

Tenor-Entdeckung aus Skandinavien

Hoffmann (Joachim Bäckström) in den verführerischen Armen von Giulietta (Petra Schmidt). Foto: Pedro Malinkowski

Hoffmann (Joachim Bäckström) in den verführerischen Armen von Giulietta (Petra Schmidt). Foto: Pedro Malinkowski

Mit Joachim Bäckström hat sich Gelsenkirchen aus Schweden einen wunderbar hellstimmigen, höhensicheren Hoffmann geholt. Der Tenor hat bisher vor allem im skandinavischen Raum gesungen – Malmö, Göteborg, Kopenhagen. Sein Deutschland-Debüt macht mit einer solide fundierten, gut fokussierten, manchmal noch dynamisch etwas unflexiblen, aber leuchtkräftigen und schlank-beweglichen Stimme bekannt. Bäckström dürfte, so mal jemand in die „Provinz“ hineinhört, bald von größeren Bühnen umworben werden.

Dem Gegenspieler Lindorf und seinen Erscheinungsformen haucht Urban Malmberg mit faszinierender Präsenz Bühnenleben ein. Malmberg hatte im Vorfeld der Produktion mit Krankheit zu kämpfen, singt aber fast unbeeinträchtigt sogar seine – nicht von Offenbach geschriebene, aber Musik von ihm verwendende – „Diamanten-Arie“. Dennoch ist zu fragen, ob Malmberg eine vokal passende Besetzung ist: Statt des dramatisch-italienisch orientierten Heldenbaritons wäre eine agile, leichter timbrierte französische Stimme adäquater. Unter den zahlreichen kleineren Partien verdienen die Mitglieder des Jungen Ensembles hervorgehoben zu werden: Marvin Zobel singt als Nathanaël locker, sicher und mit freiem Timbre; auch Tobias Glagau zeigt in den paar Einwürfen des Wilhelm einen schön entwickelten Ton.

Faszination und Dämonie künstlicher Welten: Dongmin Lee als Automat Olympia. Foto: Pedro Malinkowski

Faszination und Dämonie künstlicher Welten: Dongmin Lee als Automat Olympia. Foto: Pedro Malinkowski

Unter den Damen hat es Dongmin Lee am leichtesten, als Olympia mit ihren Acuti und Koloraturen „abzuräumen“ – was ihr mit Charme und darstellerischem Geschick auch gelingt. Am schwersten tut sich Giulietta, aber Petra Schmidt schlägt sich mit der ähnlich wie Mozarts Donna Elvira alles fordernden Partie, ohne sich eine Blöße zu geben. Solen Mainguené geht die Antonia eher hart und grell als weich und schmiegsam an: Das Timbre passt zur Rollenauffassung einer gespenstisch enthobenen, in tödliche Regionen der Existenz abdriftenden Frau. Almuth Herbst ist eine wendig singende, verschmitzte Muse. Chor und Extrachor des Musiktheaters im Revier hat Alexander Eberle – auch im melancholischen a cappella Chor des fünften Akts – auf Präzision und Klangbalance eingeschworen.

„Les Contes d’Hoffmann“ in Gelsenkirchen ist bildmächtiges, beziehungsreiches, tiefsinniges Musiktheater, wie man es sich schlüssiger, schöner kaum wünschen kann. Damit positioniert sich das Musiktheater im Revier erneut mit einem starken Akzent in der Theaterlandschaft Nordrhein-Westfalens, der über die Landesgrenzen hinaus Beachtung verdient.

Vorstellungen am 18., 22., 24., 30. Juni, 9. Juli. Wiederaufnahme am 3. September. Karten: Tel. (0209) 4097 200, www.musiktheater-im-revier.de