Parabel über die Narrheit der Macht: „Hamlet“ als Opern-Rarität von Ambroise Thomas in Krefeld

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Der Thron schwebt über der Szene. Unter ihm kauern Lemuren, weisen mit ausgestreckten Armen auf den Sessel, kriechen auf einen undefinierbaren Gegenstand im Zwielicht zu. Sobald der erste zuschnappt, erkennen wir: Es ist eine Krone. Wie mit einer Waffe hält der schwarze Mensch die Menge mit dem Reif in Schach. Fanfaren. Ein Königsmantel. Eine Frau, die mit hartem Griff in Besitz genommen wird. Der Thron gleitet herab, der Hof von Dänemark feiert sein neues Königspaar.

Wenig später kriecht ein dünner, junger Mann mit wirren Haaren auf einen anderen Gegenstand zu, begleitet von einer schwermütigen, fragmentierten Cello-Kantilene: eine Aschenurne. Ein Narr hat das Symbol des Todes, der Vanitas gebracht. Ein Narr, der immer wieder durch die Szene Hermann Feuchters huschen, geistern, schreiten wird. Andrew Nolen verkörpert eindrucksvoll diese – bei Thomas so nicht vorgesehene – Figur der Weisheit, aber auch der Nichtigkeit aller irdischen Gewissheiten. Seine Zweifel, sein Witz löschen alles, was Endgültigkeit für sich beansprucht. Auch die Macht.

Und dass es in Ambroise Thomas‘ selten gespielter, vor fast 150 Jahren in Paris uraufgeführter Oper um Macht geht, daran lässt Helen Malkowsky in Krefeld keinen Zweifel. Die Regisseurin ist in der Region nicht unbekannt. Sie hat in Essen an der Folkwang Universität der Künste mit Brittens „Turn of the Screw“, in Krefeld-Mönchengladbach mit „Stiffelio“ und „Mazeppa“, in Bielefeld mit „Peter Grimes“ ausgezeichnete Arbeiten vorgelegt. Szenisch virtuos deutet sie die düstere Geschichte über Königsmord, unschuldige Opfer, Rache, Angst und Wahnsinn als eine Parabel über die Narrheit und Vergeblichkeit der Macht.

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Der Thron des Anfangs, reduziert auf einen noblen Stuhl, setzt in grellem Licht den Schlusspunkt des Dramas. Die Symbole der Macht, Thron und Königsmantel, in ein surreales Bild drapiert, spucken den Geist von Hamlets Vater aus. Er fordert den Sohn zur Rache an seinem Bruder Claudius auf, der ihn ermordet, Herrschaft und Gattin usurpiert hat. Ein jenseitiger Bote? Eine Stimme aus dem Inneren des bleichen, hohläugigen jungen Mannes, dessen psychische Verletzungen wir nur erahnen und in seiner Musik erlauschen können?

Hamlet jedenfalls „macht“ sich sein Bild, worauf in Hermann Feuchters shakespearianisch klug reduzierter, spielfreundlicher Bühne ein goldener Rahmen im Hintergrund hinweist. In ihm materialisiert sich nicht nur der Geist, aus ihm quellen auch die Gestalten, die den „Mord des Gonzaga“ in der Schlüsselszene im zweiten Akt spielen sollen – eine Pantomime, die König Claudius durch Konfrontation als Mörder seines Vorgängers entlarven soll.

Später vervielfältigen sich die Bilderrahmen und kippen in die Schräge – Zeichen des fortschreitenden inneren Abrutschens Hamlets. Sterben, Schlafen … oder Träumen, so singt der Bariton Rafael Bruck in der Titelrolle in seinem großen Monolog. Dass sich aus einem schräg gestellten Portal eine Gestalt löst wie ein Schatten Hamlets, ist nur folgerichtig: Es ist der König. Schwer trägt er an seinem Thron, schleppt ihn hinter sich her – ein gebrochener Mann. Matthias Wippich singt von der Qual, die Seele dem ewigen Tod preisgegeben zu haben. Das Englischhorn, das Hamlets innere Melancholie begleitet, lässt in einem kurzen Moment die Elegie des drei Jahre vor Thomas‘ Oper in München uraufgeführten „Tristan“ erahnen.

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Mit besonderer szenischer Sorgfalt widmet sich Helen Malkowsky den Frauen des Stücks: Ophélie ist keine Shakespeare-Figur, sondern ganz femme fragile des 19. Jahrhunderts. Mit ihrer kindlichen Gestalt, den nackten Füßen, den gelösten blonden Haaren und den im Licht undefinierbaren Pastellfarben ihres Hemdchens erinnert sie schon beim ersten Erscheinen an die „Willis“, jene Wasserwesen, bei denen sie im Tode aufgenommen werden will. Im herrschaftlichen Kleid, das ihr Susanne Hubrich im Rot der Schauspielertruppe geschneidert hat, unternimmt sie einen letzten Versuch, den liebesunfähigen Hamlet umzustimmen. Im vierten Akt, bevor sie ins Wasser gleitend verlischt, lässt sie das Gewand in die Requisite hinaufziehen. Sophie Witte als beste Stimme des Krefelder Opernabends zeigt alles andere als einen fragilen Sopran. Sie stützt sicher, agiert mit dem klanglichen Kern, schattiert von anrührender Leichtigkeit bis erfülltem dramatischem Impetus und trägt die Phrasierung unverbrüchlich auf dem Atem.

In psychologischen Facetten durchdacht gestaltet Malkowsky auch die Konfrontation zwischen Hamlet und seiner Mutter Gertrud. Im intensiven Spiel und den Farben seiner kühlen, in den exorbitanten Höhen der Partie überaus geforderten Stimme zeigt Rafael Bruck, wie ihn der Zwiespalt innerlich zerreißt: Mutter und Mörderin, Anziehung und Ablehnung, Respekt und Rache – die Pole der Begriffe, die Hamlet sich von dieser Frau macht, sind extrem. Bruck kann auch in seiner Körpersprache mit schauspielerischer Bravour ausdrücken, was in der Seele Hamlets vorgeht.

Janet Bartolova gibt der Gertrude beinahe die Züge einer Klytämnestra, wenn sie, hochfahrend und zerknirscht, angstvoll und liebesbettelnd allmählich erkennen muss, welch ungeheure Andeutungen ihrem Sohn über die Lippen kommen. In diesen Momenten passt der zum Schrillen neigende Ton des dunkel gefärbten Soprans, an anderen Stellen muss Janet Bartolova kämpfen, die Stimme weit und den Ton flüssig zu halten.

Ambroise Thomas auf einer historischen Fotografie von Antoine-Samuel Adam-Salomon, entstanden zwischen 1876 und 1884.

Mit den Niederrheinischen Symphonikern setzt GMD Mihkel Kütson weniger auf die elegante Seite der Musik von Ambroise Thomas, sondern schärft die expressiven Kanten. Das bedeutet auch die Sänger gefährdende Wucht aus dem Graben, ist aber ein Gewinn: Zupackend musiziert, ist die Klangsprache aus schönfärbendem Lyrismus befreit. Bei Kütson haben etwa die Einsätze der Hörner Kontur, die vortrefflichen Holzbläser (Klarinette) ziehen ihre melodischen Linien unverzärtelt durch, das sfumato der Stellen, die an Gounod erinnern, ist spröde gelichtet.

Momente wie die gruslige Spannung der Ouvertüre, der fahle Pomp der Staatsszenerie oder die orchestralen Verzweiflungsschreie Hamlets gelingen ausdrucksstark und zeigen, dass Thomas‘ Musik nicht in die Untiefen lyrischer Belanglosigkeit schwappen muss. Kütson trägt auch den von Michael Preiser einstudierten Chor und die Sänger – unter ihnen Haik Dèinyan als Mord-Mitwisser Polonius und Carlos Moreno Pelizari als herausgeputzten Laertes in goldener Brünne.

Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat stets eine glückliche Hand bei seinen Ausgrabungen und Trouvaillen (am 12. Januar etwa läuft zum letzten Mal Gian-Carlo Menottis „Der Konsul“) und macht mit diesem „Hamlet“ der letzten, psychologisch klugen und bildstarken Inszenierung von Andrea Schwalbach 2015 in Bielefeld kraftvoll Konkurrenz.

Vorstellungen in Krefeld am 29. Dezember, 9., 14., 28. Januar und 7. Februar 2018. In der nächsten Spielzeit ab 24. November 2018 in Mönchengladbach.
Info: http://theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/hamlet/




Tödliche Logik: „Hamlet“ als Oper von Ambroise Thomas in Bielefeld

Evgueniy Alexiev (Hamlet) und Cornelie Isenbürger (Ophélie) in Ambroise Thomas' selten gespielter Oper am Theater Bielefeld. Foto: Paul Leclaire

Evgueniy Alexiev (Hamlet) und Cornelie Isenbürger (Ophélie) in Ambroise Thomas‘ selten gespielter Oper am Theater Bielefeld. Foto: Paul Leclaire

Es ist was krank am Hofe Dänemarks. Auf der Couch sitzen ein junger Mann und eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Um sie herum herrscht Ausgelassenheit: Man feiert die Krönung des neuen Königs. Aber der hagere Junge zeigt kein Interesse: Er notiert sich etwas in einem Büchlein. Vor dem schüchternen Versuch des Mädchens, ihn sacht zu berühren, zuckt er zurück. Die wirren Haare, der unstete Blick, die gesuchte Isolation: So sieht ein Außenseiter aus.

Hamlet ist an diesem Hof eine einsame Figur; einsam, weil er sich selbst, weil ihn offenbar eine Krankheit dazu macht. Wir finden ihn kurze Zeit später alleine auf der Couch, einem zentralen Bühnenrequisit Nanette Zimmermanns für Andrea Schwalbachs Inszenierung von „Hamlet“ am Theater Bielefeld. Ihm zur Seite: Ein in unauffälligem Braun gekleideter Herr. Ein Psychiater? Ein Therapeut?

Die Exposition wird sich schnell zuspitzen, wird die psychische Deformation Hamlets immer klarer offenbaren, wird zeigen, wie seine idée fixe nach und nach alle Personen seines Umfelds mit klebrigen Fäden an ihn bindet, und in seinem Gespinst fesselt, bis sie am Ende dem zupackenden Stahlzahn zum Opfer fallen, den er in der Hand hält.

Die Entwicklung vom nagenden Argwohn zur kranken Gewissheit hat Regisseurin Andrea Schwalbach in Bielefeld nicht aus Shakespeares wohlbekannter Tragödie gewonnen, sondern aus Ambroise Thomas‘ kaum bekannter Oper „Hamlet“. 1868 an der Pariser Opéra uraufgeführt, kleidet dieses Werk Shakespeare in die eleganten Gewänder einer grand opéra und setzt – basierend auf einer Adaption von Alexandre Dumas und dem Libretto von Michel Carré und Jules Barbier – den Akzent auf das Geflecht der Emotionen, Wünsche, Erwartungen und Ängste der Hauptpersonen. Ein psychologisches Kammerspiel, das oft genug mit einem Salontrauerspiel verwechselt wurde.

Eigentlich sollte die Opernwelt spätestens nach den verdienstvollen Aufführungen mit Siegfried Köhler am Pult in Saarbrücken und Wiesbaden 1973 und 1983 wissen, welch ein Juwel – nicht nur musikalisch – von Thomas hier gefasst und geschliffen wurde. Aber der Tunnelblick auf das Repertoire wirkt auch eine Generation später noch: Bielefelds „Hamlet“ kommt daher beinahe der Rang einer Wiederentdeckung zu.

Caio Monteiro (Horatio), Evgueniy Alexiev (Hamlet), Cornelie Isenbürger (Ophélie), Lianghua Gong (Marcellus). Foto: Paul Leclaire

Caio Monteiro (Horatio), Evgueniy Alexiev (Hamlet), Cornelie Isenbürger (Ophélie), Lianghua Gong (Marcellus). Foto: Paul Leclaire

Schwalbach, wie stets in der Wahl ihrer Mittel sorgfältig und beziehungsreich bis zum Äußersten, entdeckt das Potenzial des Opernstoffs. Sie setzt eine fatale Verstrickung Hamlets in seine sinistre Innenwelt voraus, in der sich die Ahnung, seine Mutter und sein Onkel könnten den König, seinen Vater, ermordet haben, zur Gewissheit verdichtet und blutige Konsequenzen zeugt. Schwalbach gelingt das Meisterstück, zu zeigen, wie Hamlet mit jedem Indiz seine innere Logik bestätigt sieht. Jeder rationalen Kontrolle entzogen, führt sie ihn zu furchtbarer Gewissheit. Ein Psychogramm einer Verschwörungstheorie mit tödlichen Folgen.

Das funktioniert auch dank der vagen Formulierungen des Librettos. Sie kommen dem virtuosen Spiel mit mehrdeutigen Hinweisen entgegen, das Schwalbach inszeniert – vor allem das Fest mit dem scheinbar verräterischen Schauspiel des „Todes Gonzagas“ im dritten Akt.

Der Zuschauer wird Zeuge des inneren Verfalls Hamlets – und der Menschen um ihn herum: Er entzieht Ophélie ihre Lebenskraft, er zerrüttet seine Mutter Gertrude und er tötet schließlich, als sich der Kontrollverlust nicht mehr bremsen lässt. Eine Schlüsselrolle spielt der „Geist“ des Vaters (Yoshiaki Kimura), säkularisiert zum Therapeuten: Der Hinweis auf den Vatermord kommt nicht aus schaurigem Jenseits, sondern wird aus dem Tagebuch Hamlets vorgelesen.

Schwalbach hat am Theater Bielefeld eine Riege engagierter Darsteller, ohne die ihr differenziertes Konzept auf der Bühne verpuffen würde: Evgueniy Alexiev ist der hagere Hamlet mit wirrem Scheitel, dem dunkelblauen Anzug eines Aufsteigers – Petra Wilkes Kostüme zitieren beziehungsreich Modisches – und den eckig-exaltierten Bewegungen eines Menschen, der sein inneres Getriebensein in ausgreifender äußerer Gestik offenbart. Mit seiner dunklen Stimme fasst er die gequälte Seele Hamlets in passend aufgeraute, in der Höhe nicht immer abgesicherte Töne.

Cornelie Isenbürger legt die Ophélie nicht als die gebrochene „femme fragile“ in der Nachfolge Lucia di Lammermoors an, wie es die Musik nahelegen könnte. Kein Koloraturvögelchen also, wie die großen Interpretinnen der Vergangenheit die Partie gerne präsentiert haben. Sondern eine nach Zuwendung gierende junge Frau, die Hamlets empathielose innere Isolation und seine immer befremdlicheren Ausfälle endgültig in die Depression treiben. Auch stimmlich ist Isenbürger eine Ophélie aus Fleisch und Blut; ihre substanzreiche Stimme ist zur Schattierung in Farbe und Dynamik fähig.

Wie weit die seelische Deformation in diesem Biotop der Grausamkeit fortgeschritten ist, offenbaren äußere Wunden: Ophélie lässt schon bald die Pflaster an Armen und Oberschenkeln sehen; Gertrude demonstriert die blutigen Narben ihrer aufgeschnittenen Pulsadern. Zärtlichkeit und Zuwendung fehlen ihnen allen: Die Ehe zwischen Gertrude und Claudius, einem gemütlichen Blonden: eine Vernunftheirat. Ihr Kuss: förmlich. Die Beziehung zwischen Gertrude und Ophélie: geprägt von Scheu vor Berührung. Und wenn Hamlet und seine Mutter aufeinandertreffen, offenbaren die Reaktionen, dass diese Menschen eine lange Geschichte quälender Absenz jeder liebevollen Zuneigung hinter sich haben. Das fein schimmernde Metall in der schneidenden Stimme Melanie Kreuters passt zum Psychogramm dieser Figur.

Schwalbach vernachlässigt aber auch die Figuren der Peripherie nicht: Marcellus und Horatio (Lianghua Gong und Caio Monteiro) sind die stimmlich prächtig disponierten Freunde Hamlets, die sich erst einen Spaß machen, sich dann aber dem seelisch Abgründigen nicht entziehen könnten; der gebildete, diesmal erfreulich freie Tenor von Daniel Pataky ist fast zu edel für den unglücklichen Laërte, der wie Polonius (Moon Soo Park) ein Opfer von Hamlets verbissenem Rachetrieb wird.

Elisa Gogou spornt die Bielefelder Philharmoniker zu differenziertem Spielen an: Ambroise Thomas‘ elegante, expressive Musik fordert geschmeidige Phrasierungen, hält sich kammermusikalisch zurück, um der Gesangslinie die Priorität einzuräumen, blüht aber auch auf, wo sie Gounod’sche Glut und die Pracht eines Saint-Saëns für sich entdeckt. Die Dirigentin hat für die stilistischen Facetten einen Blick, führt die Musiker und den von Hagen Enke einstudierten Chor mit sicherer Hand. Der Besuch in Bielefeld lohnt sich.

Weitere Vorstellungen: 13. und 22. März, 11. April, 10., 18. und 26. Juni.
Info: www.theater-bielefeld.de