Vom mühsamen Neubeginn nach dem Krieg

Wer die Fernsehbilder aus Syrien oder Libyen sieht, der kann sich kaum vorstellen, wie einmal aus diesen Trümmern eine neue Gesellschaft und ein Neuaufbau auch in ganz handfestem Sinne entstehen könnte. Dazu sei ein Rückblick auf das Jahr 1945 in Deutschland erlaubt. Vor gut sieben Jahrzehnten sahen unsere Städte auch so aus, vielleicht noch stärker zerstört, und auch hier gab es Hunger und Tod und vor allem viele traumatisierte Kinder und Erwachsene.

Gefangene deutsche Soldaten im April 1945 auf einer Wiese in Ennepetal.

Gefangene deutsche Soldaten im April 1945 auf einer Wiese in Ennepetal. (Foto: Stadtarchiv Ennepetal)

Natürlich war die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wohnungen zunächst das größte Problem. Die Besatzungstruppen organisierten die Grundversorgung, wenn auch nicht überall erfolgreich, und außerdem funktionierte der Schwarzmarkt sehr schnell – nach dem Motto: Schattenwirtschaft ist auch eine Wirtschaft.

Unbelastete Männer

Politisch sorgten sich die Alliierten sofort um die Verdrängung der faschistischen Strukturen und Ideologie. Beim Vormarsch setzten sie in allen befreiten Gemeinden unbelastete Deutsche als Bürgermeister oder Gemeindevorsteher ein. Teilweise brachten sie diese Kandidaten sogar schon mit. Außerdem entstanden in vielen Städten unmittelbar nach der Befreiung die sogenannten „antifaschistischen Ausschüsse“, die sich um die Installation einer demokratischen Selbstverwaltung kümmerten.

Am Beispiel des Amtes Milspe-Voerde, der späteren Stadt Ennepetal, kann man das weitere Vorgehen aufzeigen: Der von den Amerikanern bestimmte Amtsbürgermeister, ein von den Nazis 1933 entlassener Sozialdemokrat, setzte drei Monate nach dem Ende der Diktatur einen „Amtsausschuss“ ein, dem ausschließlich unbelastete Männer angehörten. Dieser Ausschuss organisierte den Neuaufbau der Verwaltung und war bis Herbst 1946 im Amt, denn die alliierte Militärverwaltung hatte in der Zwischenzeit die Neu- oder Wiedergründung demokratischer Parteien zugelassen.

Wahlbeteiligung bei 80 Prozent

Am 15. September 1946 gab es dann in der Britischen Zone auf kommunaler Ebene die ersten freien Wahlen seit dem Ende des NS-Regimes. Im Amt Milspe-Voerde, unserem Beispiel, erhielt die SPD 18 Sitze, die CDU bekam drei Sitze, die FDP 2 und die KPD einen Sitz. Die 24 Sitze entfielen ausschließlich auf Männer. Die Wahlbeteiligung lag bei etwa 80 Prozent.

Zwei Jahre später, am 17. Oktober 1948, gab es die zweite Wahl, und in der erhielt im Amt Milspe-Voerde die FDP mit sieben Sitzen die selbe Anzahl an Mandaten wie die CDU, und die Liberalen stellten sogar danach den Bürgermeister, der wegen des Patts in der Amtsvertretung per Los ins Amt kam.

Von „unbelasteten“ Personen konnte man da aber nicht mehr sprechen, denn dieser FDP-Bürgermeister Dr. Fritz Textor war seit 1933 in der SA und seit 1937 in der NSDAP und ein aktiver Unterstützer der NS-Ideologie gewesen. Trotzdem widmete ihm der Rat der Stadt Ennepetal später eine Straße. Ein „Neuaufbau“, wie er in vielen Städten unseres Landes abgelaufen ist.




Vor 70 Jahren: Als es das Essen nur auf Lebensmittelmarken gab

Manchmal wird ja so geredet oder geschrieben, als bräche mit dem Einzug der Migranten in unser Land die Welt zusammen. Was wirkliche Not ist, das wissen oft nur noch Mitmenschen, die heute 75 Jahre oder älter sind, denn die haben die Jahre des Hungers nach dem Zusammenbrauch der Naziherrschaft miterlebt, miterlitten.

Lebensmittelkarte von 1946

Lebensmittelkarte von 1946

Damals hatten zwar die meisten Menschen noch die Reichsmark in der Tasche, aber die dazu passenden Waren fehlten. Auch die Besatzungsmächte mussten planwirtschaftlich den Mangel per Lebensmittelkarten verwalten. Eine solche 70 Jahre alte Karte kann man hier sehen. Für jedes Brot, für jedes Nudelpäckchen oder Mehltütchen, für jedes Gramm Fett musste mit der Schere ein kleiner Schnipsel abgetrennt und abgegeben werden, doch meistens reichte das nicht einmal, um satt zu werden. Außerdem handelten manche verbotenerweise mit den Marken, um Tabak oder Alkohol auf dem Schwarzmarkt zu ergattern.

Einzelne Berufsgruppen wurden jedoch von den Alliierten bevorzugt, weil sie besonders schwere Arbeit zu verrichten hatten oder volkswirtschaftlich besonders wichtig waren, Bergleute zum Beispiel. Außerdem setzte schon bald nach Kriegsende der von Amerika aus organsisierte Versand der Care-Pakete ein. Manche werden sich noch an den rötlichen Käse erinnern, der in Dosen abgegeben wurde. In den Schulen gab es zudem die sogenannte Quäker-Speisung, auch sie war von privaten christlichen Vereinigungen in den Vereinigten Staaten organisiert.

Erst mit der Währungsreform im Sommer 1948 und der Aufgabe der Lebensmittel-Planwirtschaft gab es wieder alle Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen. Der Magel an Gütern war beendet, nur war umgekehrt ab diesem Zeitpunkt für viele das gute Geld knapp.




Entnazifizierung im Revier: „Darum war ich in der Partei“

Über die Befreiung des Ruhrgebiets vom Nationalsozialismus durch alliierte Truppen habe ich hier vor einiger Zeit einige Hintergründe dargelegt. Nun soll es um die Entnazifizierung nach 1945 gehen.

Wenn die Amerikaner und ihre Verbündeten eine Stadt oder Gemeinde befreit hatten, dann setzten sie in der Regel sofort einen unbelasteten Bürgermeister ein. Manchmal brachten sie ihn sogar mit. Gleichzeitig hatten sie genaue Vorstellungen über die geplante „Denazification“. Noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht hatten die Besatzungsmächte am 25. April dazu eine Direktive erlassen, die vor Ort durch provisorisch eingerichtete Behörden und den Militärkommandanten umgesetzt wurde. In der britischen Zone, zu der auch das Ruhrgebiet gehörte, arbeitete die Besatzungsmacht mit einem Skalensystem von 1 bis 5. Die Kategorien 1 und 2 landeten vor Spruchgerichten. Dazu gehörten insbesondere Angehörige der verbrecherischen NS-Organisationen wie SS, Waffen-SS und des SD. Später kam die Unterscheidung zwischen A und B hinzu, nach welchen Kriterien Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus „finanziellen Unternehmen“ vorzunehmen seien. Wer unter A fiel, gehörte zu den „zwangsweise zu entlassenden Personen“. Solche Listen gab es wenige Wochen nach Kriegsende auch für Journalisten.

Wie das im Revier praktisch ablief, zeigen die Erlasse des Regierungspräsidenten in Arnsberg. Am 3. Juni 1945 verlangt er, dass sich die noch vorhandenen Mitglieder der Ortsgruppenstäbe der aufgelösten NSDAP „unter Aufsicht zu versammeln“ haben. An Ort und Stelle musste dann eine Liste aller ehemaligen männlichen und weiblichen Mitglieder der NSDAP in der jeweiligen Gemeinde angefertigt werden. Die beteiligten Funktionäre mussten eine eidesstattliche Erklärung abgeben, außerdem waren die Parteimitglieder nach dem Grund ihres Eintritts in die NSDAP zu befragen. Am 15. Juni seien die Listen abzugeben, eine Abschrift erhielt der Militärkommandant, bei wahrheitswidrigen Angaben drohte „strengste Bestrafung“.

Für das damalige Amt Milspe-Voerde – heute das Gebiet der Stadt Ennepetal – sind im Stadtarchiv diese Listen der einzelnen Ortsgruppen, nach Zellen geordnet, erhalten geblieben. Daraus ergibt sich zum einen, wie stark die Bevölkerung mit Funktionären der NSDAP und ihrer Gliederungen durchsetzt war, und zum anderen, wie feige die Menschen nach der Befreiung mit ihrer persönlichen Geschichte umgingen. Als Gründe für den Parteieintritt am häufigsten genannt wurden: Zwang der Behörden, Überredung durch die eigenen Kinder, Übernahme durch den BDM, wegen der Arbeitsstelle, wegen langjähriger Erwerbslosigkeit, Überredung durch die Frauenschaftsleiterin, aus taktischen Gründen (sehr oft genannt), wegen Aufforderung durch den Ortsgruppenleiter, um den Ehemann vor Angriffen seitens der Partei zu schützen, weil man es für einen guten Zweck hielt, um eine sichere Existenz zu bekommen, aus geschäftlichen Gründen, um im Beruf zu bleiben, weil man ohne Wissen übernommen worden sei.

Seltener werden die Gründe genannt, die wahrscheinlich für die meisten ehemaligen Parteimitglieder eher zutrafen: aus politischer Dummheit (mehrfach genannt), aus Überzeugung (nur wenige Nennungen), weil man Fanatiker war oder einfach „aus Dummheit“.
Einige Befragte machten auch persönliche Angaben: Ein Gastwirt sei nur eingetreten, um eine Konzession zu bekommen, ein anderer war Blockwart und eingetreten, „um meine Familie zu schützen“, ein dritter war körperbehindert und fühlte sich gezwungen, der Partei beizutreten, ein vierter sei „nur auf Anordnung des Dienstvorgesetzten“ beigetreten. Ein Unternehmer schrieb: „Weil ich im Anfang die Sache für gut und ehrlich hielt.“

Wie man sieht, wurde in den meisten Fällen der Parteieintritt als unausweichlich dargestellt. Einige ehemalige NSDAP-Mitglieder versuchten in dieser Befragung sogar, einen angeblichen Austritt zu konstruieren. Ein Unternehmer aus Gevelsberg schrieb, er sei im August 1944 aus der Partei ausgetreten, und das habe er auch in einem Schreiben am 10. Mai 1945 dem Herrn Amtsbürgermeister mitgeteilt. Zu dem Zeitpunkt war das Ruhrgebiet jedoch bereits mehrere Wochen besetzt, und das Deutsche Reich hatte am 8. Mai bedingungslos kapituliert.

Warum sich zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten, aber auch engagierte Christen dem verbrecherischen Regime widersetzten und dafür Verfolgung und Tod in Kauf nahmen, die meisten Bürger der Hitler-Partei jedoch mit Überzeugung nachrannten, das bleibt ein großes Rätsel. Wenn man den persönlichen Notizen im Ennepetaler Stadtarchiv glaubt, dann waren es überwiegend sehr egoistische Motive – ohne Rücksicht auf die angekündigten Opfer.

Feierstunde zur Gründung der Stadt Ennepetal 1949