Kein dürres Gedenkdatum: Was mir der Élysée-Vertrag und die deutsch-französische Freundschaft persönlich bedeuten

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Was sehe ich denn da im Gedenktagekalender? Der deutsch-französische (oder auch französisch-deutsche) Élysée-Vertrag jährt sich heute zum 55. Mal? Für mich ist das kein abstraktes Datum aus ferner Vergangenheit. Es ist mit persönlicher Bedeutung angefüllt. Lasst mich kurz davon erzählen.

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten das historische Vertragswerk am 22. Januar 1963. Damit wurde die fürchterliche „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern, die in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts so viele Menschenleben kostete, höchst offiziell und feierlich beendet. Und es blieb gottlob keine bloße Symbolik.

Tatsächlich herrscht seit 1945 und erst recht seit 1963 dauerhafter Frieden zwischen diesen beiden Völkern, etwaige Konflikte klärt man zeitnah bei regelmäßigen Konsultationen. Dabei spielt es bisher keine Rolle, welche Regierung jeweils am Ruder ist. Und die europäische Einigung wäre ohne Frankreich und Deutschland nicht so immens vorangeschritten – mancherlei Mängel inbegriffen, von denen wir aber jetzt einmal absehen wollen.

Dortmund verkündete schon 1960 Partnerschaft mit Amiens

Im Gefolge des Vertrages gab es nicht nur zahlreiche Jugendbegegnungen zwischen beiden Ländern, es entstanden auch etliche Städtepartnerschaften. Dortmund war ganz früh mit von der Partie, schon vor dem Élysée-Vertrag. Man knüpfte Verbindungen zu Amiens und proklamierte die Partnerschaft bereits 1960. Just aus Amiens kamen die Kinder, mit denen fortan viele Dortmunder Kinder- und Jugendgruppen einige Wochen der Sommerferien verbrachten. Ich durfte mehrmals dabei sein. Schon kurz nach der Anfangsphase. Welch ein Glück des Beginnens.

Urlaub mit meinen Eltern habe ich so gut wie gar nicht erlebt, höchstens mal ein paar Tage an der holländischen Küste oder in der Eifel. An Fliegen oder gar Fernreisen war noch nicht zu denken, ein eigenes Auto hatten wir damals auch nicht. Statt dessen ging’s – erstmals mit elf Jahren – mit dem Bus auf deutsch-französische Gruppenreisen, zunächst dreimal nach Mollseifen im Sauerland, später nach Rieseberg/Königslutter (Niedersachsen), einmal auch nach Sanary in Süfrankreich und nach Marina di Massa in Italien.

Wie Pfadfinder am Lagerfeuer - die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Nach Pfadfinder-Art am Lagerfeuer: die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Herrliches Gemeinschaftserlebnis

Sauerland klingt für heutige Begriffe vielleicht langweilig, war aber als Gemeinschaftserlebnis wunderbar und teilweise abenteuerlich nach Pfadfinder-Art. Allein die Schnitzeljagden, Budenbauten und Indianerspiele in den Wäldern… Ich will nicht behaupten, dass man davon bis heute zehrt. Aber unvergesslich sind so manche Augenblicke doch. Und es will mir scheinen, als sei dies noch wirkliche Kindheit gewesen.

Leider hatten wir anfangs in der Schule noch keinen Französisch-Unterricht, so dass die Kommunikation überwiegend nonverbal erfolgen musste. Doch wie gut das unter uns Kindern ging! Für Zweifelsfälle waren da ja auch noch ein sprachkundiger „Moniteur“ bzw. eine „Monitrice“ (GruppenleiterIn). Wenn wir zusammen durch die Wälder streiften, hitzige Wettspiele austrugen, miteinander malten oder einander Lieder aus dem jeweiligen Land vorsangen, spielte Sprache eh nur eine Nebenrolle.

Die Jungs aus Frankreich waren galanter

Mit der Zeit bemerkten wir auch Unterschiede, die teilweise den Klischees entsprachen: Gleichaltrige französische Jungs waren einfach „früher dran“ und entschieden frecher, was den galanten Umgang mit Mädchen anbelangte; die französischen Mädchen wiederum hatten – wie soll man sagen – vielfach mehr Geheimnis und schon früh etwas Apartes, Anmutiges. Oder war’s eher das lockende Unbekannte, das einen verwirrte? Allein, dass sie mit so wohlklingenden Lauten sprachen, deren Wortsinn sich einem nicht erschloss. Jedenfalls glaube ich, dass aus der Zeit meine – und nicht nur meine – spätere Vorliebe für französische Filme (Truffaut, Rohmer, Rivette etc.) herrührte. Ja, in jenen Ferienzeiten erfuhren wir vielleicht einen Hauch von Nouvelle Vague…

Ich erinnere mich an jenen Tag, als abends „Teppichtanz“ gespielt wurde, in dessen Verlauf man sich unschuldige Küsschen geben durfte. Doch schon das brachte uns ca. Dreizehnjährige einigermaßen in (bestenfalls halbwegs begriffene) Wallung. Sagte nicht eine Monitrice nach Ende des Spiels zu ihrem Kollegen, das habe uns wohl zu sehr aufgeregt? Was sie wohl gemeint hat? Wenn Adenauer und de Gaulle geahnt hätten, was sie uns da beschert haben… Adenauer hätte vielleicht mit rheinischem Zungenschlag einen seiner Lieblingssätze gesagt: „Meine Herren, die Situation ist da…“

„Hitler – c’est fini…“

Und der Krieg? War anfangs noch keine 20 Jahre her, spielte aber unter uns Kindern praktisch keine Rolle mehr. Alles schmeckte so herrlich nach Neuanfang. Einmal sagte ein kleiner Franzose mit plötzlichem Ernst zu uns: „Hitler (sprich: „Itlère“) – c’est passé, c’est fini!“ Hatten sie ihm zu Hause wohlmeinend aufgetragen, das zu sagen? Egal. Jedenfalls haben wir ihn verstanden und waren wirklich erleichtert.

Diese bedeutsamen kleinen Momente. So unscheinbar, doch noch nach Jahrzehnten präsent.




Worin sich Frankreich und Sachsen ähnlich sind

Nach dem Urnengang ist vor dem Urnengang. Kaum hat England gewählt, ist Frankreich an der Reihe:

Wenn am kommenden Sonntag das französische Parlament neu gewählt wird, dann könnte es nach derzeitigen Umfragen zu einer satten Mehrheit für die neue Partei „La République En Marche“ (LREM)  des jungen Staatspräsidenten Emmanuel Macron kommen. Das scheint für Europa und Deutschland eine positive Perspektive zu sein, aber die politische und gesellschaftliche Spaltung unseres Nachbarlandes ist unübersehbar.

Schein-Idylle an der Côte d’azur. (Foto: HH Pöpsel)

Auf der Landkarte Frankreichs mit den eingefärbten Ergebnissen der Präsidentschaftswahl in den einzelnen Départements sieht man deutlich eine Ost-West-Grenze: In den Regionen östlich von Paris bis hinunter zum Mittelmeer erreichte der rechte Front National mit Marine Le Pen fast überall die Mehrheit, in den westlichen Landesteilen bis hin zum Atlantik gelang Macron der Sieg.

Besonders hoch fiel der Erfolg des neuen Präsidenten in Paris aus – ausgerechnet dort, wo die meisten Migranten leben. Ebenfalls besonders deutlich siegte seine Kontrahentin Le Pen an der Côte d’azur, in Nizza, Cannes und St. Tropez – dort, wo außer algerischen Arbeitern eher wenige Migranten zuhause sind, wenn man mal von den Popstars wie Bono oder Johnny Depp auf ihren Landgütern oder den zahlreichen britischen Rentnern absieht.

Diese Tendenz sieht man so ähnlich auch in den Neuen Ländern in Deutschlands Osten, in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg: Wo die wenigsten Flüchtlinge leben, ist der Widerstand der Bevölkerung am größten und der Einfluss rechter Parteien und Bewegungen am stärksten. Vielleicht bringt ja die neue Pro-Europa-Bewegung mit ihren sonntäglichen Kundgebungen etwas Schwung in die Demokratie-Debatte. Aber wie in privaten Beziehungen weiß man, dass Gefühle sehr schwer zu beeinflussen sind.

Übrigens heißt dieser Blog ja Revierpassagen, deshalb noch ein Hinweis auf eine Querverbindung ins Ruhrgebiet: Der neue französische Präsident Macron wurde im kommenden Dezember vor vier Jahrzehnten im schönen Amiens geboren. Das ist seit langer Zeit eine Partnerstadt Dortmunds.




Kathedrale, historische Fabriken, Jules Verne – zu Besuch in Dortmunds französischer Partnerstadt Amiens

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über einen Besuch in Dortmunds nordfranzösischer Partnerstadt Amiens:

Es ist ein kleines Schildchen unter Ortsschildern der Stadt Dortmund. Zusammen mit anderen kleinen Schildern zeigt es an, mit welchen Städten in der Welt Dortmund eine Partnerschaft betreibt. Wann immer ich in Dortmund einfahre, lese ich, was auf dem Schildchen steht: Amiens. Das ist ein kleines Schildchen, aber noch immer kein Bild in meinem Kopf.

Gewaltiges Bauwerk: Nordansicht der Kathedrale von Amiens, September 2011. (Foto: BjörnT - Public Domain / Wikimedia Commons)

Gewaltiges Bauwerk: Nordansicht der Kathedrale von Amiens, September 2011. (Foto: BjörnT – Public Domain / Wikimedia Commons)

„Du musst es mal gesehen haben“, sagt mein Freund Kurt Eichler, bis vor Kurzem Leiter des Dortmunder „U“. „Und wenn du da bist, geh unbedingt in das Jules-Verne-Haus! Das ist ein tolles Literaturhaus, das jedem Schriftsteller gefallen muss.“

Ja, ich muss mal dorthin. So eine Stadt kann doch kein Schild in meinem Kopf bleiben, sie muss endlich zu Bildern werden. Außerdem habe ich seit dem Jahr, als Dortmund und das ganze Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas waren, einen Freund in Amiens. Habe also einen besonderen Grund, einmal dorthin zu fahren. Jean Paul Dekiss ist es, der Schriftsteller, der Filmemacher, der Leiter des Jules-Verne-Hauses, mit dem zusammen ich mich auf Erkundungstour durchs Ruhrgebiet aufgemacht habe. Andere Schriftsteller waren dabei, Autorenfreunde aus Dortmund und Umgebung und dazu Schriftsteller aus Rostov und Leeds. Das sind andere Partnerstädte von Dortmund, die bis jetzt auch noch nicht zu Bildern in meinem Kopf geworden sind. Die es aber werden sollen.

Ein schönes Buch ist aus den Reportagen, die wir über unsere Erkundungstouren geschrieben haben, entstanden. „Blickwechsel“ heißt es. Blicke von außen, Blicke von innen über meine Heimat Ruhrgebiet.

Gigantische Kathedrale

Ich sollte also zuerst über das Jules-Verne-Haus schreiben, wenn ich über meinen Besuch in Amiens berichte, aber ich kann nichts anders, ich muss mit der Kathedrale anfangen. Vom Tisch im Restaurant „Le Quai“ aus kann ich sie sehen, in der Abenddämmerung. Die kleinen Häuser davor lassen sie noch größer, noch mächtiger erscheinen. Im Mittelalter, denke ich, waren alle Häuser von Amiens klein, kleiner noch als jene, die jetzt vor der Kathedrale stehen. Wie groß, wie mächtig muss sie damals auf den Besucher gewirkt haben?

Natürlich möchte ich hineingehen, die Höhe des Kirchenschiffs bewundern, 144 Fuß hoch, nach den 144 Ellen, die das neue Jerusalem nach Angaben in der Johannes-Apokalypse lang sein soll. Und das Gesicht von Johannes dem Täufer will ich sehen.

Biblische Geschichte voller Leidenschaft

Amiens ist einer von drei Orten, die beanspruchen, den Kopf von Johannes dem Täufer zu haben. Ich stehe vor ihm, mache ein Foto und denke an seinen Tod. Herodes Agrippa soll er kritisiert haben, den König, weil er seine Schwägerin Herodias geheiratet hat. Eine Schwägerin galt damals als Quasi-Blutsverwandte, so jemand heiratete man nicht. Herodias war es dann, die ihn mit ihrem Hass verfolgte, und als sich ihre Tochter Salome nach einem verführerischen Tanz ein Geschenk von Herodes Agrippa wünschen durfte, sah sie ihre Chance. Den Kopf von Johannes sollte sich die Tochter, die sonst alles hatte, wünschen. So steht es in der Bibel, aber vermutlich war alles ganz anders.

Herodes Agrippa drohte ein Krieg, und da wollte er, der es sich mit Johannes und seinen zahlreichen Anhängern verscherzt hatte, keine zwei Fronten haben. Also ließ er Johannes töten, um sich ganz auf seinen äußeren Kriegsgegner konzentrieren zu können.

Trotzdem, die Bibelgeschichte mit dem Tanz ist spannender. Sie ist voller Leidenschaft, voller Hass vor allem, sie bleibt den Menschen, die sie lesen, im Gedächtnis.

Traum von einer besseren Welt

Über solche Geschichten, gefüllt mit prallem Leben, reden wir auch bei unseren Diskussionen, Jean Paul Dekiss, meine neuen französischen Autorenfreunde Gilbert Desmée, Jean-Louis Rambour, Lilian Robin, Roland Thibeau, Jean-Luc Vigneux, meine Ruhrgebietsfreunde und ich. Wie soll moderne Literatur aussehen, welche Themen soll sie aufgreifen?

Quartier Saint Leu in Amiens, Aufnahme von 2005. (Foto: Emmanuel Legrand - Free Art License 1.3: http://artlibre.org/licence/lal/en/)

Quartier Saint Leu in Amiens, Aufnahme von 2005. (Foto: Emmanuel Legrand – Free Art License 1.3: http://artlibre.org/licence/lal/en/)

Soll die Arbeitswelt darin auftauchen, soll sie es nicht? Auf jeden Fall, stellen wir fest, besteht Literatur aus mehr als nur schön formulierten Sätzen. Literatur gestaltet wichtige Inhalte, sie erzählt einen Ausschnitt aus dem Leben, einen mit Leid und Freud gefüllten Ausschnitt. Literatur, so stelle vor allem ich es mir vor, ist immer auch kritisch, sie greift an, sie träumt von einer anderen, besseren Welt. Zur Leidenschaft, wie sie in der großen Bibelgeschichte ausgedrückt wird, kommt also auch die Sehnsucht. Die Arbeitswelt mit ihrem Druck, ihrer Ausbeutung und auch mit ihrer Freude, wenn etwas Schönes gestaltet wird, gehört dazu.

Lange reden wir darüber, das Thema immer neu umkreisend. Um dann unsere Diskussion zwischendurch zu unterbrechen und uns Beispiele vom Leben in der Arbeitswelt rund um Amiens anzusehen.

Zweierlei Fabrik-Modelle

Wir besuchen das Gelände von Jean-Baptiste Godin, der ein ehemaliger Arbeiter war. Er entwickelte ein genossenschaftliches Modell ab 1850, gründete eine Fabrik, die gusseiserne Öfen herstellte. Sein Modell war keine Philanthropie, sondern ein utopischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Die Arbeiter bekamen Anteile von der Fabrik, es wurden große Wohnhäuser mit überdachten Innenhöfen für sie gebaut, dazu Schulen für die Kinder.

Es war ein Gegenentwurf gegen das paternalistische System, das wir am folgenden Tag bei den Brüdern Saint sahen, die sich „Saint Frères“ nannten und die große Stoffe, Seile, Segel herstellten. Hier war alles auf Kontrolle abgestellt, auf effektive Ausbeutung der Arbeiter. Selbst die Wohnhäuser waren so gebaut, dass die Vorarbeiter ihre Untergebenen in deren Freizeit beobachten konnten. Sie sollten nicht nach Belieben in eine Kneipe gehen können, die Zeit nach der Arbeit diente allein dazu, dass sie sich für die Arbeit am nächsten Tag erholten.

Godins Modell ging 1969 unter. Klar, könnte man denken, idealistische Modelle haben auf lange Sicht keine Chance. Sie sind Wünsche, von denen man träumen kann, die sich aber nicht verwirklichen lassen.

Stimmt das wirklich? Nicht ganz, denn auch das Modell „Saint Frères“ ging in genau diesem Jahre unter.

Stoff für einen Kriminalroman

Heute wird auf dem Gelände Altkleidung sortiert, die in Frankreich verkauft wird oder in Afrika. Die Emmaus-Brüder machen das mit Ideen wie jene von Godin. Leute, die lange arbeitslos waren, arbeiten bei ihnen, niemand verdient mehr als das Dreifache von dem, was der einfache Arbeiter verdient. Wie weit entfernt ist das von unseren Bankern, die in einem Jahr so viel verdienen, wie ich es nicht in drei Leben verdienen werde. Und dabei verdiene ich nicht einmal wenig.

Ein Stoff für einen Roman ist das, denke ich. Und ich habe auch schon damit angefangen, ihn zu schreiben, einen Kriminalroman über die Machenschaften der Banker. Im Herbst dieses Jahres wird er erscheinen.

Heute Bestandteil des Jules-Verne-Museums: das Arbeitszimmer des welberühmten Schriftstellers in seinem Stadthaus in Amiens. (Foto: Achim Ebenau / Wikimedia Creative Commons - Linkz zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Heute Bestandteil des Jules-Verne-Museums: das Arbeitszimmer des weltberühmten Schriftstellers in seinem Stadthaus in Amiens. (Foto: Achim Ebenau / Wikimedia Creative Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Unverzichtbares Jules-Verne-Haus

Er folgt meiner Idee von Literatur. Pralle Geschichten will ich erzählen, Kritik an Fehlentwicklungen der Gesellschaft und der Arbeitswelt üben. Leidenschaften zeigen, Ärger, Wut. Den Traum von einer anderen, besseren Welt träumen. Jemandem wie Godin bin ich dabei nahe, der dies alles nicht nur geträumt, sondern realisiert hat für hundert Jahre. Für hundert Jahre immerhin!

Ja, und dann bin ich in Amiens auch noch ins Jules-Verne-Haus gegangen. Und weil es um Jules Verne geht, muss ich meine Erlebnisse in diesem Haus in besonderer Sprache schildern:

Bruder Jules

Stell dich ins Hoftor
dorthin, wo auch
Jules Verne stand
als die Schüsse fielen

Zwei Schüsse, einer
der das Holz des Tors
zersplitterte und einer
der sein Bein traf

So dass er nicht mehr
segeln konnte, nie mehr
er, der doch das Meer
so liebte

Ach Bruder, es war
mein Neffe
Bruder ach, es war
dein Sohn

Der Bruder schwieg
was konnte er auch anders
tun als schweigen, er,
den Jules so dringend brauchte

Er, den der Bruder
liebte, der Jules`
Texte las und
korrigierte

Ich brauch dich
Bruder und der Neffe
er geht in eine Anstalt
vierzig Jahre lang

Kein Wort nach
außen über ihn
kein Streit nach
innen zwischen uns

Ja, das ist Bruderliebe.
Drum stelle dich ins Tor
und denk an sie
an Jules und seinen Bruder

Und ihre Liebe füreinander, denk
aber auch an den Neffen, denke:
vierzig Jahre! Dann geh ins
Haus, in den Salon

Um dort zu lesen aus
dem Roman, deinem Roman
Jules wartet schon.
Mit strengem Blick hört er

dir zu, dort oben an der Wand
und streng dich an, denn
heute musst du ihm gefallen
ihm, Jules Verne.

Viele Bilder im Kopf

Nun kenne ich Amiens. Es ist nicht mehr ein kleines Schildchen unter dem Ortsschild von Dortmund. Es ist nicht mehr die nichtssagende Schrift, die ich lese, wenn ich in Dortmund einfahre. Ich habe viele Bilder von Amiens im Kopf, und ich weiß, ich werde dorthin zurückkehren. Werde zurückkehren zu seiner Kathedrale, zu Godin, zu Jean Paul Dekiss und meinen französischen Schriftstellerkollegen. Und zu Jules Verne, von dem ich hoffe, dass ihm der Ausschnitt aus meinem Roman gefallen hat.




Von Zaubertafeln und explosiven Salzstreuern – Französische Zeichnungen der Gegenwart im Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Armer „Kartoffelschäler“. Auf dem gleichnamigen Bild des Franzosen Fabrice Hybert sitzt der krumm und grau gewordene Mann, ganz in sich zusammengesackt, auf einem kleinen Hocker.

Links neben ihm türmt sich ein gigantischer Berg ungeschälter Erdäpfel, und mit dem stattlichen Hügel rechts von sich scheint er auch noch nicht weit gekommen zu sein. Der Alptraum von einer Arbeit, die sich kaum noch bewältigen lässt, gemahnt fast an den Mythos von Sisyphus.

Das Bild gehört zu einer beachtlichen Auswahl von rund 80 Zeichnungen, die jetzt das Dortmunder Ostwall-Museum präsentiert. Sie stammen von zehn französischen Gegenwarts-Künstlern und gehören zum offenbar reichen Fundus des „Frac Picardie“. Das Kürzel Frac steht, für einen Fonds zur zeitgenössischen Kunst in der nordfranzösischen Provinz. Angesiedelt ist die Sammlung in Amiens, Dortmunds Partnerstadt seit gut 40 Jahren.

Doch was heißt hier „80 Zeichnungen“? Zum einen werden auch Grenzbereiche dieser Gattung erkundet, jene Bezirke also, wo das Zeichnerische fließend übergeht in andere Genres. Außerdem stimmt auch die Zahl nicht ganz. Denn allein Marc Couturiers Serie „Das Unendliche auf der Erde in einem gegebenen Raum“ umfasst 4032 jeweils 15 mal 10,5 Zentimeter große Einzelstücke. In Dortmund sind „nur“ 1500 zu sehen. Es scheint, als habe der Künstler alle nur denkbaren Schraffuren erproben wollen. Die Gesamtwirkung des wandfüllenden Gewimmels ist schon famos.

Wird die Familie jemals zum Essen kommen?

Völlig anders geht Stéphane Lallemand zu Werke. Als geradezu triviales zeichnerisches Medium nutzt er kleine „Zauber“-Täfelchen, wie sie in Spielwarenläden zu finden sind. Staunenswert, wie er es vermag, nur durch das Bewegen zweier kleiner Knöpfe im engen Koordinatenraster der Tafel klassische Akte zu erzeugen. Sogar eine passable Version der berühmten „Nackten Maya“ Von Goya ist dabei.

Seitenwechsel: Annette Messager ist ersichtlich schlecht auf die Männer zu Sprechen. Ihre Bilder mit Buchstaben-Initialen zeigen in die Lettern verkeilte, fiese Kerle, die gleich beschimpft werden: „I“ steht für Idiot, „M“ für Macho, „Z“ für Zéro, womit der Typ als „Null“ abgetan wäre. Ein kleines Alphabet des Geschlechterhasses.

Nahezu lieblich wirken hingegen die bunten Szenen von Christophe Vigouroux. Doch es sind derbe oder geisterhafte Entgleisungen und Menetekel des Alltags, zudem Inbilder der Einsamkeit: Ein Mann pinkelt heimlich ins Waschbecken, eine Mutter brüllt verzweifelt „à table“ (also „Essen kommen!“), als sei die Familie schon längst für immer fort.

In eine ähnliche Richtung weisen auch die rätselhaften Erfindungen der Anne-Marie Schneider. Ihre Kohlezeichnung zweier Salzstreuer lässt fürchten, die an sich harmlosen Dinger könnten im nächsten Moment explodieren. Der international vielleicht ruhmreichste Teilnehmer heißt Jean-Charles Blais. Seine Serie mit Kopf-Fragmenten ist ein subtiles Experiment mit der Verteilung schwarzer und weißer Zonen im Bildgeviert, es handelt sich also um Kunst für Kenner, die feinste formale Nuancen auslotet. Etwas handfester wirken jene Bilder menschenleerer Hafen-Ecken, deren Melancholie Yvan Salomone eingefangen hat.

„Frac“-Direktor Yves Lecointre sagt, in Frankreich sei das Genre der Zeichnung längst nicht so anerkannt wie in Deutschland. Dafür aber hat es sich, nimmt man die Dortmunder Schau zum Maßstab, sehr facettenreich entfaltet.

6. Februar bis 9. April. Di-So 10-17, Do 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 4 DM, Katalog 29 DM