Für das Echte gibt es keinen Ersatz: Bochums Theater verzichtet auf digitale Hamsun-Premiere

Lang entbehrt, nicht zu ersetzen: Blick ins Bochumer Schauspielhaus, nach Ende der Vorstellung. (Aufnahme vom November 2018: Bernd Berke)

Es war eine unscheinbare Mail, die uns heute aus dem Schauspielhaus Bochum erreicht hat – und doch ist sie in gewisser Weise bedeutsam. Inhalt: Die ursprünglich für den 29. Mai angekündigte Bochumer Theaterpremiere nach Knut Hamsuns Roman „Mysterien“ wird abgesagt.

Interessant ist die Begründung. Zitat aus der Presseinformation: „Wie sich im Laufe des Probenprozesses gezeigt hat, kann die Aufführung mit ihrer visuellen Einbeziehung des Theaterraums auf dem Bildschirm nicht ihre volle Wirkung entfalten.“

Die Premiere war als Streaming-Ereignis geplant, doch just diese (neuerdings oftmals erprobte) Form der Präsentation hat eben offenkundig ihre Grenzen. Ohne weitere Details zu kennen, darf man davon ausgehen, dass der jetzigen Absage redliche künstlerische Erwägungen zugrunde liegen. Regisseur Johan Simons und sein Team konnten es offenkundig nicht verantworten, für eine Online-Darbietung zu viele Kompromisse einzugehen. Das Stück soll zu Beginn der nächsten Spielzeit als analoge Premiere gezeigt werden.

Auch im Museum geht nichts über Präsenz

Und was lernen wir daraus? Nochmals und wie zur Bekräftigung das, was wir eigentlich schon längst gewusst haben: Die vielbeschworene Digitalität ermöglicht zwar Ausweichmanöver in Krisenzeiten, sie ist oft weitaus besser als gar nichts. Aber sie ist keineswegs geeignet, das klassische Theatererlebnis zu ersetzen. Das mag man auslegen, wie man will, mir erscheint es als Hoffnungszeichen – und als weiterer Beleg dafür, wie sehr wir der unmittelbaren Präsenz in Theatern und sonstigen Kulturstätten bedürfen.

Ähnliches gilt auch für andere Kunstsparten. Nur ein Beispiel: Jüngst hat das Museum Ostwall im „Dortmunder U“ den Versuch unternommen, die bereits geschlossene Retrospektive über Rainer Fetting quasi als Online-Aufzeichnung mit 360-Grad-Rundumsicht fortbestehen zu lassen. Sicher, da kann man sich nach und nach durch die Räume klicken und sozusagen virtuell vor die Bilder hinstellen, aber es wirkt doch eher wie die hilflose Parodie eines Rundgangs.

Wie lautete doch einst jener Werbespruch: „Für das Echte gibt es keinen Ersatz.“




Sie sind unter uns – Aussteiger des digitalen Zeitalters

Zum Erstaunen des mit dem üblichen Maschinenpark mobiler Endgeräte ausgestatteten Endverbrauchers geschieht es immer wieder: Inmitten einer telefongrafierenden Menge stemmt jemand eine voluminöse Sucherkamera vors Gesicht und setzt mit Betätigung des deutlich hörbaren Auslösers eine Reihe weiterer Schnapp- und Klickgeräusche aus der Frühzeit des Menschen in Gang – bis hin zum Summen des Motors, der den Rücktransport der Filmspule nach der letzten Aufnahme untermalt.

Analoge Telefonie (Ward "Charging-Bull", 10, Foto web)

Analoge Telefonie (Ward „Charging-Bull“, 10, Foto web)

Abhängig vom Lebensalter reicht die Reaktion der Umstehenden vom interessierten „Was machst du da?“ der im digitalen Zeitalter Aufgewachsenen bis zur nostalgischen Rührung ihrer Vorfahren, die mit derlei mechanischen Tonfolgen Erinnerungen verbinden: Der Geruch von Filmdöschen, Fixierbad, von Staub grillenden Diaprojektoren, die haptischen Feinheiten von Baryth-Papier, sowie die erlesene Schönheit reich geschmückter Umschläge von Fotoalben.

Analoge Bürokommunikation (Graham "Rheinmetall", 03, Foto web)

Analoge Bürokommunikation (Graham „Rheinmetall“, 03, Foto web)

Auf ihre liebenswerte Fortschrittsverweigerung angesprochen führen die analogen Felsen in der Pixelbrandung eine überschaubare Palette von Argumenten an: An erster Stelle die Sinnlichkeit des Materials und die der manuellen Arbeit im Labor, die Spannung der Zeitverzögerung durch das Einschicken von Farbfilmen nebst der Überraschung angesichts der Ergebnisse, sowie die disziplinierende Wirkung der Beschränkung auf eine gegebene Anzahl kostspieliger Aufnahmen.

Und diejenigen, die diese Eigenschaften für kein Alleinstellungsmerkmal analoger Fotografie halten (schließlich treten am Bildschirm ähnliche Probleme auf) zücken die apokalyptische Keule: Alles hat einmal ein Ende, nur digitale Medien haben zwei – degenerierende Dateien und zerbröselnde Speichermedien. Als vorbildliches Gegenbeispiel verweist man auf Nega- und Positive, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts verlustarm erhalten haben (sprich restauriert wurden), wohingegen ungezählte geistige Errungenschaften der letzten paar Jahrzehnte auf elektronischen Speichermedien – alle mit der Haltbarkeitsdauer von Milch – begraben liegen.

Beschwörungen der Nachhaltigkeit des Althergebrachten gegenüber dem programmierten Verfall jeweils zeitgenössischer Produktion kehren seit Beginn der Industrialisierung in Gestalt der Arts & Crafts-Bewegung über das Weimarer (!) Bauhaus1 bis zu postmodernen Design-Positionen rhythmisch wieder. Und eben diese Argumente für die Überlegenheit des Unterlegenen werden auch beim derzeit standhaften Beharren auf analoger Foto- und Filmtechnologie angeführt.

Dean "Filthy Weather", 1998, (Kreide auf Schultafel), Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Filthy Weather“, 1998, (Kreide auf Schultafel), Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Aus der Fraktion der digitalen Refuseniks greife ich eine Künstlerin heraus, deren Gesamtwerk – Ton- und Filminstallationen, Fotografie, Objekte, Texte, Zeichnung – sich durch die sprichwörtliche Einheit in der Vielfalt auszeichnet.

Hauptsächlich im Bereich des 16 mm-Films arbeitend, gehört Tacita Dean zu den eloquentesten Verfechterinnen analoger Bilder und Töne. Eine zusammenfassende Beschreibung ihrer Filme wäre an dieser Stelle so hilfreich wie ungerecht. Deren Wirkung verweigert sich nämlich der Nacherzählung, weil ein zentrales Merkmal im ruhigen Aufzeichnen subtiler Prozesse in Natur, Kreatur und Architektur besteht. Die sich der Betrachtenden übertragende Konzentration der langen Einstellungen verdankt sich einer Fokussierung auf Feinheiten – eine mikroskopische Wahrnehmungsschulung, die das Sehfeld wie ein Zoom aufzieht.

Dean "Bubble House", 1999, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Bubble House“, 1999, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

 

Der investigative Blick, der visuelle Subtexte bizarrer Landschaften und skurriler Artefakte offenlegt, richtet sich auch auf Personen, und zwar in einer Weise, die das metaphorische Potential alltäglicher Handlungen sichtbar macht, wodurch die umher schlendernden, kramenden und plaudernden ProtagonistInnen ihre eigenen Denkmäler werden. Frei von aller „Jetzt erzählen Sie mal“-Rhetorik folgt die Kamera den Koryphäen in ihrem angestammten Habitat, das sich bei der damit hervorgerufenen näheren Betrachtung als äußerst vielsagend erweist.

Apropos vielsagend: All das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, sondern vielmehr Tacita Deans Feldzug zur Rettung des 16 mm-Films schildern.

Nachdem sie seit Jahren den Niedergang der analogen Foto- und Filmindustrie in Wort und Film begleitet hatte, veröffentlichte Dean Anfang 2011 anlässlich der Schließung des letzten auf 16 mm-Film spezialisierten Labors in Großbritannien einen Artikel im Guardian. Dabei war die Popularität analoger Medien unter KünstlerInnen durchaus gestiegen. Auf der letzten Berlin-Biennale beispielsweise lag der Anteil analoger Filme doppelt so hoch wie der digitaler. Da aber eine solche Gegenreaktion keine Geschäftsgrundlage ist, und 16 mm-Filme vorwiegend zu dokumentarischen oder künstlerischen Zwecken Verwendung finden, nicht aber für Spielfilme, wurde die Produktion eingestellt.

Dean "Opening-Swell", 1998, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean „Opening-Swell“, 1998, Foto Institute of Contemporary Art, Pennsylvania

Dean erklärt ihre Vorliebe für das Format mit dem Hinweis, ihre Filme seien Malerei näher als Kino. Die Verwandtschaft von 16 mm-Film und bildender Kunst beruhe u.a. auf der Tatsache, dass Lichtempfindlichkeit des Auges wie der fotografischen Trägermedien gemeinsame Grundlage sei. Da digitale und analoge Verfahren einander nicht über- oder unterlegen sondern schlicht verschieden sein, plädierte sie für das Aufrechterhalten von Wahlmöglichkeiten.

Freiwillige Selbstkontrolle (Beckett, Filmstill, 1964, Foto web)

Freiwillige Selbstkontrolle (Beckett, Filmstill, 1964, Foto web)

Kopfschüttelnd merkt sie gern an, der Siegeszug digitaler Medien verdanke sich dem erstaunlich bereitwilligen Verzicht auf die nahezu perfekte – nämlich analoge – Wiedergabe der Realität zugunsten trägen Masse entstellender Pixel.

Und überhaupt sei „analog“ letztlich die Sammelbezeichnung für „alles, was mir lieb und teuer ist.“

Wie dem auch sei – der volle pädagogische Wert dieses Appells wird hauptsächlich Unbedarften wie mir zuteil, die spätestens an dieser Stelle zugeben müssen, Unterschieden analoger und digitaler Medien bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Zumindest das werden wir ändern.

1(und nur das Weimarer – nicht etwa das der nachfolgenden Phasen)




Lang lebe das Lichtbild

Weil es in diesem Beitrag etwas dauert, bis ich zum Punkt komme, hier eine kurze Einordnung: Es geht um einen Lichtbild-Vortrag der Bochumer Gruppe „Dunix“ mit dem Titel „Sex & Schimmel oder als Oma noch laufen konnte“, kürzlich zu sehen im Sissikingkong, und um Dia-Karaoke im Rasthaus Fink am Nordmarkt – zwei gelungene Versuche, eine sterbende Form der gepflegten Abendunterhaltung, eben die Dia-Schau, am Leben zu erhalten. Eingeflochten sind dabei Betrachtungen über die (Dia-)Fotografie im Allgemeinen und Besonderen. Und los geht’s!

Dia aus der Dunix-Schatzkiste

Glückliche Kindheit, dokumentiert im Dia - aus der Dunix-Schatzkiste

Es gibt eine Menge Erlebnisse, die unsere Kindern vermutlich vorenthalten werden. Zum Beispiel der Moment, in dem man ungeduldig noch im Laden die zugeklebte Tüte mit den selbst fotografierten, frisch entwickelten Fotos aufreißt. Zum Beispiel das Bezahlen solcher Fotos. (Wie, jedes einzelne Foto hat Geld gekostet?) Zum Beispiel das Gefühl, mit anderen mehr oder weniger interessierten Bekannten in einer Diashow zu sitzen, ermüdend schlecht fotografierte Landschaftsimpressionen zu betrachten und das Klicken des Projektors als hochwillkommene Abwechslung vom langatmigen Vortrag des Fotografen zu empfinden.

Dia-Shows! Für jüngere Leser: Das funktioniert so ähnlich wie eine Slideshow im Internet. Oder nein: So, als würde man sich mit einem Beamer auf die Leinwand geworfene Fotos anschauen, nur dass die Dia-Positive jeweils in kleinen Plastikrähmchen stecken und in einem Karussell auf Knopfdruck weiter und weiter, bis ins Licht befördert werden. Manchmal steckten die Dias auch falsch herum im Karussell, dann musste der Dia-Vortragende sie erst umdrehen. Manchmal war ein Steckfach leer, dann konnte man sich die feinen Unebenheiten und Kratzer auf der Linse ganz genau auf der Leinwand anschauen. „Die praktischen Vorteile des Diafilms liegen vor allem in der hohen Schärfe und Farbtreue sowie dem großen Tonwertumfang des Diapositivs. Diese Vorteile treten in der Projektion klar zu Tage“, weiß Wikipedia. Es ist nicht überliefert, ob die  fotografierende Menschheit in ihrer Masse in den 1960er, 1970er Jahren von diesen Vorteilen wusste. Überliefert ist nur, dass sie massenhaft Dias produzierte, vermutlich aus einem anderen Grund: Weil man dann so prima Dia-Shows veranstalten konnte. So kommt es, dass sich auf Flohmärkten und in Trödelhallen heute sorgfältig sortierte Dias in ihrem zierlichen Plastikrahmen in Holz- oder Plastikkisten stapeln.

Sport oder Trinken? Sporttrinken. Aus der Dunix-Schatzkiste.

Sport? Trinken? Sporttrinken - aus der Dunix-Sammlung.

Gottseidank gibt es Menschen, die damit noch etwas anzufangen wissen. Mindestens zwei Veranstaltungsreihen im Revier beleben derzeit das Format Dia-Show neu. Die Bochumer Alex Schwegl und Florian Biedermann haben irgendwann damit begonnen, Flohmarkt-Dias zu sammeln und zu sortieren – in Kategorien wie „Urlaub“, „Tiere“, „Weihnachten“ oder „Menschen vor Blumen“. Dann haben sie Serien zusammengestellt, Dramaturgien ersonnen und Musik dazu ausgesucht. Schon seit Jahren zeigen sie ihre Shows, bevorzugt im Dortmunder Sissikingkong und in Bochumer Kneipen und Cafés. Die aktuelle Show heißt „Sex & Schimmel oder als Oma noch laufen konnte“ und zeigt genau das: privatpornografische Aufnahmen aus der Zeit vor Youporn, feucht gewordene und angeschimmelte Dias (die, auf die Leinwand projiziert, von ganz erstaunlich abstrakter Originalität sind, sowohl farblich als auch kompositorisch) und Dias, in denen die Fotografen familiäre Ereignisse rund um Krankheit und Tod festhielten. Außerdem eine sensationelle, mit Avantgarde-Musik unterlegte Serie von der Riesen-Baustelle Brasilia, der futuristischen Hauptstadt Brasiliens, aufgenommen während der Bauarbeiten Ende der 1950er Jahre. Gequatscht wird während des Dunix-Lichtbildvortrags nicht – dazu ist die liebevoll ausgewählte Musik auch viel zu laut. Wenn Death Metal zu Bildern von Buffet-Schlachten läuft oder ein Liebeslied aus den 1920er Jahren zu den Szenen einer Rentner-Ehe, braucht es keine weiteren Erläuterungen.

Das ist beim Dia-Karaoke, einer Erfindung des Rasthaus Fink auf dem Dortmunder Nordmarkt, ganz anders. Hier ist das Quatschen Programm, hier kann man damit sogar einen Preis gewinnen. Dia-Karaoke ist keine durchkomponierte Show, jeder Abend verläuft anders. Dia-Serie an die Wand geworfen, die allen Anwesenden völlig fremd ist. Fremde Menschen in einer nicht näher bestimmten Zeit tun Dinge an einem unbestimmten Ort. Dazu improvisiert der Vortragende nun spontan eine Geschichte, so überzeugend, wie er nur kann. Gleiches tun die anderen Kandidaten mit Zunächst braucht es einige Freiwillige, die gegeneinander antreten wollen. Dann wird eine jeweils anderen Dia-Serien. Am Ende entscheidet das Publikum, wer die überzeugendste, verrückteste, unterhaltsamste Geschichte ersonnen hat.

Beide Veranstaltungen sind toll – weil sie Erinnerungen zurückholen und sie zugleich ironisch brechen. Und weil sie vor Augen führen, dass der Wandel von der analogen zur digitalen Fotografie weit mehr bedeutet als nur eine technische Neuerung.

Wer um 1900 fotografierte, schuf mit der Fotografie sein Bild für die Ewigkeit – ein Foto war so teuer (und so umständlich herzustellen), dass es mit heiligem Ernst zelebriert wurde. Als das Fotografieren in den 1950er Jahren erstmals für den Normalbürger bezahlbar wurde, änderte sich das Fotografierverhalten nur langsam. Zwar wurde nun viel mehr fotografiert, doch der Gedanke dahinter war der Alte geblieben: Fotografieren ist Verewigen. Fotos konnte sich zwar jedermann leisten, doch hinter jedem „Klick“ lag noch immer eine bewusste Entscheidung, eine Komposition („Stell dich mal da hin!“). Ich hinterlasse der Nachwelt ein Bild von mir und meinem Leben, so wie ich von anderen gesehen werden möchte.

So erklären sich all die Aufnahmen von Landschaften und Städten (Seht her, dort war ich!), von Ehemännern und -frauen, Kindern und Haustieren vor bunten Blumen (So harmonisch ist mein Familienleben!), von Statussymbolen wie Autos, Wohnwagen, Fernsehern und Schrankwänden (Das kann ich mir leisten!) und Feierlichkeiten (So beliebt bin ich, so lustig ist mein Leben!).

Wer ist das? Und wieso so bunt? Aus der Dunix-Schatzkiste.

Der Umbruch, den die digitale Fotografie mit sich bringen wird, ist vielleicht noch revolutionärer als der zwischen den Anfängen der Fotografie und ihrer Massentauglichkeit. Wenn man für Bilder nicht mehr zahlen muss und Speicherplatz fast unbegrenzt vorhanden ist, wird viel, viel, viel mehr fotografiert. Gleichzeitig sind die Fotografien erst mal nicht greifbar, sondern bleiben Daten in privaten Speichermedien – so lange, bis sie zum Beispiel in Communities veröffentlicht werden. Dass diese Umstände Auswirkungen auf die Motivwahl, auf das Fotografieren selbst haben, liegt auf der Hand. Welche, das werden wir vielleicht in einem halben Jahrhundert erfahren. Dann, wenn unsere Enkel oder Urenkel unser Fotomaterial kreativ weiterentwickeln.




Digitales Leben ohne Lustaufschub – Abschied von Fotografie auf Film hat Folgen für die alltägliche Wahrnehmung

Von Bernd Berke

Die Nachricht klingt nüchtern: Der japanische Kamerahersteller Nikon will nur zwei herkömmliche Modelle im Programm behalten. Ansonsten verlegt er sich völlig auf digitale Apparate. Die wirtschaftliche Entscheidung setzt allerdings ein markantes Zeichen der Zeit.

Bei Canon und anderen Firmen wird es über kurz oder lang kaum anders sein. Es erhebt sich die Frage, wie lange es die Fotografie auf Film überhaupt noch gibt. Vielleicht wird sie demnächst eine sündhaft teure Sache für Spezialisten und Freaks.

Jedenfalls lässt sich daran die wachsende Geschwindigkeit in unserem Alltag ermessen. Früher konnte die Spannung, nachdem man einen belichteten Film im Fotoladen abgegeben hatte, über Tage hinweg anschwellen. Dann kamen Schnellentwickler („fertig in einer Stunde“) und Polaroid-Fotos, die noch etwas zögerlich und klebrig aus dem Gerät krochen. Jetzt drückt man halt auf den Auslöser, sieht das Resultat direkt auf dem Computer, versendet es weltweit per e-Mail oder aufs Handy und stellt es ins Internet. Toll! Aber auch ein wenig betrüblich.

Auch der Frust hat sich beschleunigt

Es gibt nämlich keinen Lustaufschub mehr. Damit schwindet wohl auch die wahre Leidenschaft, weil alles umstandslos verfügbar ist und man es gleich haben kann. Dies wiederum kommt einer ziemlich weit verbreiteten Konsumhaltung entgegen: „Ich will alles – und zwar jetzt!“ Allerdings: Auch enttäuschende Ergebnisse sieht man nun sofort. Der Frust hat sich ebenfalls beschleunigt.

Vom geradezu poetischen Erlebnis im heimischen Fotolabor, wo das Motiv zunächst schemenhaft und wie von Geisterhand auftauchte, wollen wir gar nicht weiter reden. Schon das Wort „Entwicklung“ signalisierte ja einen Reifungsprozess. Wie prosaisch erscheint hingegen eine Speicherkarte. Zack auf dem Chip, zack gelöscht.

Zugegeben: Man hat ja selbst die „gute alte Zeit“ des Bildermachens verlassen. Ich hantiere mit zwei Digitalkameras, während die analoge Spiegelreflex kaum noch zum Einsatz kommt. Der Mensch kann’s eben nicht abwarten, das Leben ist kurz.

Die technischen Möglichkeiten und Effekte sind ja auch verlockend. Kaum „geknipst“, schon am Computer nachbearbeitet – und ver(schlimm)bessert. Baumkronen mit Rot- oder Blaustich? Kein Problem. Sofortige Umwandlung in Negativ-, Sepia- oder Schwarzweiß-Darstellung? Nur ein Mausklick.

Schneller und raffinierter lügen

Dies alles bedeutet freilich auch: Man kann mit Fotoapparat und Computer immer besser montieren, manipulieren und also lügen. Willentlich veränderte Fotos etwa aus der sowjetischen Ära wirken dagegen plump.

Es beschleicht einen bei all dem ein leises Unbehagen; ganz so, als hätte man„natürliches“ Verfahren aufgegeben und sich der Künstlichkeit verschrieben.

Aber vielleicht ist ja nicht aller Tage Abend. Manche glauben gar, dass es irgendwann eine Renaissanc des Zelluloid-Films geben könnte. Nach Einführung der Musik-CD (die nun ihrerseits unter Bergen von i-Pods und MP3-Dateien verschwindet) haben wir’s erlebt: Nicht wenige Leute haben sich wieder dem angeblich „wärmeren“ Klang der alten Vinyl-Scheiben zugewendet oder halten sich eben beide Abspielmöglichkeiten offen. Man muss ja nicht gleich zur Schellack-Scheibe zurückkehren.

Doch was soll die „Maschinenstürmerei“? Man sollte die älteren Techniken nicht vergöttern und die neueren nicht verteufeln. Wie groß war einmal die Aufregung, als die Fotografie erfunden wurde und alsbald der Malerei den Rang streitig zu machen drohte –anfangs zumindest auf dem Felde realistischer Darstellung. Längst existieren beide recht friedlich nebeneinander. Und auf beiden Gebieten gibt es Kunst, aber auch Quatsch.

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HINTERGRUND

Markt verändert sich rapide

  • Schätzungen besagen, dass 2006 in Deutschland voraussichtlich rund acht Millionen Digitalkameras verkauft werden – und nur noch etwa 1 Million herkömmliche Apparate.
  • Immerhin: In 80 Prozent der deutschen Haushalte gibt es derzeit noch analoge Fotokameras.
  • Beispiel Nikon: Herkömmliche Kameras machen nur noch drei Prozent des Umsatzes in der Fotosparte aus.
  • Die Traditionsmarke Leiça geriet mit analogen Geräten in die roten Zahlen und hofft nun auf Erfolge mit digitalen Modellen.
  • Auch Filmhersteller wie Kodak und llford haben den Vormarsch der Digitalfotografie schmerzlich zu spüren bekommen. Agfa ging sogar pleite.