Ohne Sorgen in die Unterwelt: Neujahrskonzert der Essener Philharmoniker

Die Essener Philharmoniker mit GMD Andrea Sanguineti beim Neujahrskonzert in der Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok)

Einmal im Jahr ist es so weit. Da öffnen sich alle Türen und die Noten tanzen im Dreivierteltakt herein.

Silvester und Neujahr sind Strauß-Tage: Zahllose Konzerte weltweit lassen die Walzer, Polkas, Märsche und Quadrillen des „Walzerkönigs“ erklingen, beschwören vermeintliche Glanzzeiten, vergoldet von den Melodien von Johann Strauß Vater und Sohn und dessen Brüdern Josef und Eduard. Das Wiener Neujahrskonzert hat sich seit Beginn der Radio- und später Fernsehübertragungen 1959 zum weltweiten Ereignis entwickelt, das in diesem Jahr von über 100 Stationen ausgestrahlt wurde.

Johann Strauß in einer historischen Fotografie von Fritz Luckhardt

2025 bleibt’s nicht beim Jahreswechsel-Event: Wien feiert das ganze Jahr über die Musikerdynastie und ihren einflussreichsten Protagonisten Johann Strauß (Sohn). Der wurde vor 200 Jahren geboren und prägte von seinem ersten Auftreten 1844 bis zu seinem Tod 1899 die Wiener Tanz- und Unterhaltungsmusik. Sein größtes Verdienst, für das ihn Verdi und Wagner, Brahms und (der nicht verwandte) Richard Strauss schätzten: Er schrieb – wie sein Zeitgenosse Philipp Fahrbach zutreffend bemerkte – „Tanz-Compositionen zugleich fuer’s Gehoer und fuer die Fueße“. Der große Konzertwalzer erschließt also seinen Wert über das Hören; Strauß hat den einst argwöhnisch beäugten, derb-sinnlichen Tanz in die Regionen eines betrachtenden Musikgenusses erhoben – „Sphärenklänge“ eben.

Operette in Dortmund und Essen

Johann Strauß, der Tycoon der musikalischen Unterhaltungsindustrie Wiens, suchte den Erfolg aber auch in der damals aufsteigenden und Gewinn versprechenden Gattung Operette. Mit der „Fledermaus“ schuf er – gemeinsam mit dem oft unterschlagenen Richard Genée – vor 150 Jahren ein Meisterwerk des Genres, aus dessen Schatten auch seine übrigen 14 vollendeten Operetten nur schwer heraustreten können. In Dortmund läuft der Scherz mit dem Flattertier derzeit im Opernhaus. Dort durchbricht man ab 9. Juni das oft einfallslose Strauß-Potpourri-Einerlei mit der originellen Idee, gleich sechs „Sträuße“ zusammenzubinden: Götz Alsmann moderiert eine Gala, in der Musik von Johann Strauß Vater und Sohn, Josef und Eduard Strauß, aber auch dem herausragenden Satiriker Oscar Straus und dem Gestalter des Übergangs von der Spätromantik zur Moderne Richard Strauss erklingen wird.

Fritz Steinbacher und Tanja Christine Kuhn in der Dortmunder Inszenierung der „Fledermaus“. (Foto: Björn Heckmann)

Auch die Oper in Essen lässt es sich nicht nehmen, an Strauß zu erinnern: In der letzten Spielzeit stand seine „Nacht in Venedig“ noch einmal im Spielplan, ab 29. März zeigt das Aalto-Theater in vier konzertanten Aufführungen – in Kooperation mit „Johann Strauß 2025 Wien“ – die Operette „Der Karneval in Rom“ mit Nikolaus Habjan als Erzähler und musikalisch geleitet von Guido Mancusi, den man von den Seefestspielen Mörbisch und der Wiener Volksoper kennt.

Nur Populäres zu Neujahr

Recht konventionell dagegen liest sich das Programm des Neujahrskonzerts der Essener Philharmoniker: Populäre Werke von Johann Strauß Sohn dominieren, der Vater kommt lediglich mit dem „Venetianer-Galopp“ zu Gehör. Josef Strauß darf sich als Walzerkomponist nicht zeigen. Seine vier Polkas gewinnen ihren Reiz aus dem Spiel mit Kontrasten: Zu Beginn verbreitet die Schnellpolka „Ohne Sorgen“ übermütigen Frohsinn, während sich die „Tanzende Muse“ eher gemessen-gemütvoll dreht. „Die Libelle“, eines der bekannteren Werke Josefs, gibt der Harfenistin erste Gelegenheit, die Musik feinsinnig zu färben.

Das „Plappermäulchen“, im April 1868 in der „Neuen Welt“ in Hietzing unter dem Titel „Die Plaudertasche“ uraufgeführt, ist mit seiner kribbeligen Steigerungsdramaturgie und der köstlich penetranten Rassel ein musikalischer Scherz wie Johann Strauß‘ „Perpetuum mobile“. Die Essener Philharmoniker führen ihren Klangsinn vor, die Violinen schwirren, die Celli baden in Melodie, vom Piccolo bis zum Fagott, von der Pauke bis zum Gong hat alles seinen Auftritt, und GMD Andrea Sanguineti feuert den Jux temperamentvoll an, bis das „… und so weiter“ die wiederholungsfreudige Kette musikalischer Capricen abschneidet.

Natürlich fehlen andere „Gustostückerl’n“ aus der Strauß-Feder nicht: „Auf der Jagd“ mit Hörnerschall und Pistolenknall, „Im Krapfenwald’l“ mit Kuckucksruf und die „ungarische“ Polka mit dem Hochruf „Éljen“. Das alles klingt bei den Essenern flott und forsch, anfangs arg krachend, im Lauf des Abends geschliffener und mit mehr Sinn für Finessen, etwa, wenn das Publikum mit dem „Vergnügungszug“ pfeifend und schnaufend in die Pause fährt.

Die Walzer suchen ihren Meister

GMD Andrea Sanguineti sorgt für temperamentvolle Polkas und fesche Walzerrhythmen beim Neujahrskonzert. (Foto: Volker Wiciok)

Die Walzer sind die Meisterprüfung für Sanguineti, und er führt ins „Künstlerleben“ mit seinen reizenden Oboen- und Klarinettensoli vor flirrendem Hintergrund mit distinguierter Noblesse ein, lässt das Crescendo aufblühen, erfasst mit Sinn für Agogik die „weichüppige und elegante Form des österreichischen Walzerrhythmus“, lässt die Philharmoniker den gemütvoll-diskreten Ton für die Stimmungsmalerei der Einleitungen – auch im „Donauwalzer“ – ausspinnen. Manche langsame Stelle gerät ins Zögern, so im „Accelerationen“-Walzer, aber der eigentlich monotone Dreierrhythmus erklingt fesch und spritzig.

In den „Geschichten aus dem Wienerwald“ hat die Wiener Zithermeisterin Barbara Laister-Ebner einen herzwärmenden Auftritt. Nach einer dramatischen Einleitung, einem romantisierenden Hornruf und der bukolischen Flötenkadenz erinnert die Zither an die niederösterreichischen Wurzeln der Walzermelodien, die Sanguineti mit ein wenig zu extremem Ritardando und scharfem rhythmischen Impetus musizieren lässt. Der fröhlichen Musizierlaune der Philharmoniker fehlt hier – wie in mancher Polka – der letzte Schliff in der Balance und die Eleganz der Artikulation.

Eine ganz eigene Köstlichkeit serviert der langjährige Soloklarinettist der Essen Philharmoniker, Harald Hendrich, der jetzt ans zweite Pult rückt: Als Dank für die warmherzige Würdigung Sanguinetis spielt er eine Hommage an den Jubilar: „Ich begrüße Sie, Herr Johann Strauß“, aus der Feder von Béla Kovács (1937-2021), der lange in Budapest und Graz Klarinette unterrichtete. Ein kleines Virtuosenstück zwischen edlem Cantabile und spritzigen Rhythmen, erschienen in der Edition Darok und extra von Boris Gurevich für Streicher bearbeitet.

Mit „Donner und Blitz“ stürzt der Fluss der Musik schließlich in die Unterwelt, für die Strauß‘ kongenialer Pariser Kollege Jacques Offenbach seinen zündenden Can-Can erfunden hat, der Wien schon einen Monat nach der Uraufführung des „Orpheus in der Unterwelt“ als Strauß-Quadrille in Furor versetzte. Ohne Sorgen in die Unterwelt – wenn das mal kein Programm für 2025 ist!




Wege zu sich selbst: Frühwerke Puccinis zum 100. Todestag in der Philharmonie Essen

Giacomo Puccini ist vor 100 Jahren, am 29. November 1924, gestorben. Seine Heimatstadt Lucca hat ihm dieses Denkmal gesetzt. (Foto: Werner Häußner)

Die Suche nach dem Funken der Genialität berühmter Komponisten gehört zu den Standards einer glorifizierenden Geschichtsschreibung, die selbst im weit abgelegenen Jugendwerk noch die Ahnung des späteren Meisters erspüren will. Das funktioniert bei Wagner schon nicht und geht bei Giacomo Puccini vollends ins Leere.

Nichts deutet darauf hin, dass aus dem Kirchenmusikschüler aus Lucca und dem bequemen Mailänder Studenten Amilcare Ponchiellis einmal der Schöpfer einer „Tosca“, einer „Madama Butterfly“ oder einer „Turandot“ werden sollte.

Trotzdem ist es eine gute Idee, den 100. Todestag Puccinis (geboren am 22.12.1858 in Lucca, gestorben am 29.11.1924 in Brüssel) zum Anlass zu nehmen, einmal in seiner Jugend zu kramen. Zum einen, weil eine Größe wie Puccini kein Jubiläum braucht, um mit seinem reifen Œuvre im Musikleben der Gegenwart ausreichend präsent und gewürdigt zu sein. Zum anderen, weil gerade der Kontrast zwischen den eifrigen Jugendwerken und den so souverän wirkenden, tatsächlich aber unter unendlichen Mühen entstandenen Opern Aufschluss geben kann, wie der Komponist Puccini zu sich selbst gekommen ist. Es sind nicht die sicherlich unersetzlichen Bemühungen um Kontrapunkt, Harmonielehre oder historische Musik, die den Durchbruch anfeuern. Es ist der Funke, der aus dem Musikdrama springt, der die Fantasie des Autors entfacht und in höchste Höhen treibt.

Dieses zündende Moment ist vielleicht am ehesten in Puccinis „Messa di Gloria“ zu spüren – ein Werk, in dem eben schon Text zur Musik tritt und sich beide unzertrennlich verbinden. Puccini-Biograph Dieter Schickling nennt sie „zeitgenössische Konfektionsware“ und hat damit wohl recht. Hätte die am 12. Juli 1880 in Lucca mit einigem Erfolg uraufgeführte Messe irgendeiner der tüchtigen Zeitgenossen des jungen Puccini geschrieben, läge sie wohl immer noch unbeachtet in irgendeinem Archiv. Puccini selbst hatte kein Interesse mehr an dem Jugendwerk. Doch der Name des Autors bringt die Erlösung: 1952 wurde die Messe wieder ausgegraben.

Zweifelhafte Hymne für die Stadt Rom

Der Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

GMD Andrea Sanguineti ist zu danken, dass die Essener Gedenkfeier zum Tod Puccinis vor 100 Jahren nicht in irgendeinem geistlosen Highlight-Potpourri besteht. Er hat die „Messa a quattro voci con orchestra“ – so der korrekte Titel – ins Zentrum seines Vierten Sinfoniekonzerts mit den Essener Philharmonikern gestellt und das Programm mit Orchester-Frühwerken Puccinis aus seinen Studienzeiten in Lucca und Mailand ergänzt.

Sanguineti war aber auch mutig genug, den „Inno a Roma“ von 1919 ins Programm aufzunehmen, ein Stück Propagandamusik, wie sie auch Beethoven, Rossini, Verdi, Wagner und manch andere geschaffen haben. Und wie Wagners Musik in Deutschland, so wurde Puccinis martialische Hymne von den Faschisten vereinnahmt, deren Aufstieg der Maestro unpolitisch unbekümmert verfolgte, ohne seine eher konservativ patriotische Einstellung in Nationalismus oder gar Sympathie umschlagen zu lassen. Sanguineti ließ den „Inno“ richtig krachen und von Pathos triefen – und hat so mehr als in seiner wortreich entschuldigenden Erklärung dazu beigetragen, das Doppelgesicht dieser Musik und ihrer Missbraucher zu entlarven.

Entrückte Stimmung, melodischer Geschmack

Was zeigen die Orchesterwerke des jungen Puccini? Das „Preludio a Orchestra“, das er mit Achtzehn schrieb, steht in den vibrierenden Violin-Piani wohl unter dem Eindruck einer „Aida“-Aufführung, die er 1876 im Teatro Nuovo in Pisa miterlebt hat. Auf den tiefen Saiten intonieren die Geigen ein schmeichelndes Thema, in dem man das Material für eine Opernarie entdecken könnte. Aber von den späteren eleganten Übergängen ist noch nichts zu hören. Auch „Scherzo e Trio“, wohl um 1883 in Mailand entstanden, offenbart Puccinis melodischen Geschmack. Das „Preludio sinfonico“ atmet die entrückte Stimmung eines „Lohengrin“ und zeigt in den Holzbläserharmonien, wie sich Puccini für die Koloristik in der Musik interessiert.

Das bekannteste Werk aus dieser Zeit, das „Capriccio sinfonico“, genießt eine gewisse Bekanntheit, weil Puccini das Vivace daraus in „La Bohème“ wieder verarbeitet hat. „Sinfonisch“ im Sinne einer deutschen Tradition ist da wenig, die Struktur dieser frühen Heldentaten erinnern eher an die Themenreihungen von Opernouvertüren oder an locker gefügte sinfonische Dichtungen. Die Essener Philharmoniker haben diesen anregenden Einblick in die frühe Werkstatt des späteren Operngenies mit Lust und Spiellaune eröffnet.

Dramatisch und unkonventionell

Gedenktafel für Giacomo Puccini in seinem langjährigen Wohnort Torre del Lago. (Foto: Werner Häußner)

In der Messe findet sich keine Spur der späteren Opernmusik zu religiösen Momenten, etwa des falschen Pathos‘ des „Te Deum“ in „Tosca“. Dafür lassen sich zwei Beobachtungen machen: Puccini zeigt seine Stärken als Dramatiker, denn die schildernden Teile etwa des Credo wirken inspirierter als die reflektierend theologischen Passagen. Und er lässt sich nicht nur von Ausdruckskonventionen bestimmen. Das zeigt sich bereits im kontemplativen „Kyrie eleison“: Der Opernchor des Aalto-Theaters gibt ihm gemeinsam mit dem Philharmonischen Chor Essen pastorale Leichtigkeit, hebt aber auch den Kontrast zum „Christe eleison“ mit seinen Marcato-Männerstimmen heraus.

Man darf sich durchaus fragen, welche Gedanken Puccini hegt, etwa wenn er im Gloria das „in terra pax hominibus“ – also der weihnachtliche Wunsch nach Frieden auf Erden – zurücknimmt, als melde er seine leisen Zweifel an. Oder wenn er den Solo-Tenor – Alejandro del Angel singt die Stelle mit markig strahlender Stimme – den Dank an den König des Himmels („gratias agimus tibi“) vielfach wiederholen lässt. Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt, wird wieder in leuchtender „Aida“-Stimmung besungen.

Das Bekenntnis zum alleine Heiligen („Quoniam tu solus sanctus …“) erklingt dann ganz konventionell in hymnischem Ton, blechgewappnet und fanfarenbegleitet. Sanguineti dirigiert diese Stellen mit Verve und Energie, und die Essener Philharmoniker folgen ihm mit eindringlicher, aber nicht überzogener Wucht. Wobei einzelne Stellen, die wie Schönberg’sche Abweichungen klingen, darauf hindeuten, dass das mühsam überarbeitete Material keineswegs fehlerfrei ist. Und obwohl seine Lehrer den Arbeitseifer des Studenten Puccini bemängelten, zeigt die klassische „Cum sancto spiritu“-Fuge, dass er sich auch dieses Metier vertraut gemacht hat.

Der zweite Solist der Messe, Massimo Cavaletti, bestätigt im „Benedictus“ und im Duett mit dem Tenor im „Agnus Dei“ den Eindruck aus der neuen Aalto-Produktion von Verdis „La forza del destino“: Sein Bariton ist klangvoll, sicher positioniert und bei aller Wucht in der Lage, eine melodische Linie flexibel zu gestalten.

Mit den Chören haben Patrick Jaskolka und Wolfram-Maria Märtig ganze Arbeit geleistet: Ein paar schwummrige Stellen zu Beginn, ein paar Unebenheiten bei den Frauenstimmen in heikel zurückzunehmenden Momenten sind schnell vergessen, wenn der Chor im Credo konzentriert und klangstark agiert, beim Hinweis auf die Auferstehung der Toten die Apokalypse von Verdis „Requiem“ anklingen lässt, die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ in lichterfülltem Dolce besingt und das „Sanctus“ ohne triumphale Geste wie in verhaltenem Staunen ausdrückt. Es sind diese fast zärtlichen Augenblicke, in denen der Chor seine Stärke ausspielt.

Als die Messe ohne knallige Schlussakkorde zu Ende geht, zeigt das Publikum viel Sympathie in herzlichem Beifall, den Sanguineti, der Chor und Wolfgang Kläsener an der Orgel mit einer geistlichen Miniatur Puccinis, dem „Requiem alla memoria di Giuseppe Verdi“ von 1905 belohnen.




Reizendes Kaleidoskop: Anna Vinnitskaya ist Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie

Die Pianistin Anna Vinnitskaya. (Foto: Marco Borggreve)

Sergej Rachmaninow ist einer der Komponisten, zu denen Anna Vinnitskaya immer wieder zurückkehrt – und das dürfte nicht alleine daran liegen, dass sie einst am Rachmaninow-Konservatorium in Rostow am Don unterrichtet wurde. Mit dem eher selten gespielten Ersten Klavierkonzert in fis-Moll stellte sich die aus Russland stammende Pianistin als Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie dieser Saison im Alfried-Krupp-Saal vor, begleitet von den Philharmonikern unter ihrem GMD Andrea Sanguineti.

Anna Vinnitskaya hat sich für die laufende Saison einen gewichtigen Rachmaninow-Schwerpunkt gesetzt und wird in Essen und der Region viel Präsenz zeigen. Bevor sie am 4., 5. und 9. Februar 2025 mit Rachmaninows Dritten, dem d-Moll-Konzert, nach Münster kommt, spielt sie im November die vier Konzerte plus die Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 in zwei Konzerten mit der Dresdner Philharmonie unter Krzysztof Urbanski im Kulturpalast Dresden. Danach, am 6., 7. und 8. März 2025 tritt sie unter Joana Mallwitz mit den Berliner Philharmonikern mit dem Dritten Klavierkonzert auf. Prominente Engagements also für die Preisträgerin des renommierten Concours Reine Elisabeth in Brüssel, den sie 2007 als zweite Frau in der Geschichte des Wettbewerbs gewann und in dessen Jury sie im Mai 2025 sitzen wird.

Herbert Grönemeyer als Dirigent

In Essen ist Anna Vinnitskaya noch mehrfach in unterschiedlichen Formaten zu erleben. Die beiden Herbstkonzerte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen im RWE Pavillon liegen bereits hinter ihr, aber am 3. Oktober präsentiert sie in der Philharmonie mit Dmitri Schostakowitsch einen ihrer dezidierten Lieblingskomponisten: Mit dem Brahms Ensemble Berlin spielt sie das Klavierquintett op. 57, solistisch lässt sie sich mit den „Puppentänzen“ hören, die sie auch 2024 auf ihrem jüngsten Album „Piano Dances“ eingespielt hat.

Das Zweite Klavierkonzert Schostakowitschs erklingt dann mit dem Mahler Chamber Orchestra zum 50. Todesjahr des Komponisten 2025 – am 14. Februar in Dortmund, am 15. in Essen und am 16. in Köln. Noch einmal ist Anna Vinnitskaya am 22. März in der Philharmonie Essen Solistin eines Orchesterkonzerts, diesmal mit dem Tonhalle Orchester Zürich unter Paavo Järvi und dem a-Moll-Konzert Robert Schumanns, bevor sie am 14. Juni mit Rachmaninows populärem c-Moll-Konzert op. 18 und den Bochumer Symphonikern nach Essen zurückkehrt. Als Dirigent des Konzerts, das am 13. und 15. Juni auch in Bochum auf dem Programm steht, ist Herbert Grönemeyer angekündigt.

Leuchtende Frische für Rachmaninow

Mit dem Ersten Klavierkonzert, das Sergej Rachmaninow als Moskauer Konservatoriumsstudent 1891 schrieb und 1917 überarbeitete, bestätigte Anna Vinnitskaya ihren viel gerühmten Rang als Solistin: Mit dem oft unterschätzten Werk ließ sie ein reizendes Kaleidoskop der Stimmungen aufleuchten. Nach dem kraftvollen Statement des Beginns nimmt sie den Ton des weiträumig in den Streichern exponierten Themas auf, der sich bald in lockerer Spielfreude verliert. Kein Wunder, dass dieses Konzert so wenig beachtet wird: Man muss wie Anna Vinnitskaya Freude daran haben, die eher rhapsodisch gereihten Momente brillanter Leichtigkeit, sentimentalen Verträumens und melodischer Melancholie elegant, frei und natürlich darzustellen.

Die Pianistin versucht nicht, die Wechsel illustrativ einzufangen. Sie bewahrt einen stetigen, freundlich leuchtenden, eher frischen als elegisch verschatteten Ton – den gönnt sie sich, gewürzt mit feinsinnigen Rubati, nur im lyrischen Teil des letzten Satzes. Ihr kurzes Duett mit dem Fagott im zweiten Satz wird zum poetischen Zwiegespräch, die Energie des Finales wird zupackend, aber kontrolliert freigesetzt. Die Philharmoniker unter Andrea Sanguineti sind mal näher, mal weiter von der Pianistin entfernt, wollen sich aber nicht vordrängen, sondern begleiten mit Noblesse, feinen Abstufungen und stellenweise zu diskreten Holzbläsern. Ein bezaubernder Einstand, der gespannt macht auf die weiteren musikalischen Facetten dieses Porträts.

Weitere Infos:

https://annavinnitskaya.com/de/home

https://www.theater-essen.de/philharmonie/

 




Balkanien in Köln: Franz Lehárs „Lustige Witwe“ mit dem Essener GMD Andrea Sanguineti am Pult

Lieber Grisetten als das teure Vaterland: Adrian Eröd alias Graf Danilo in der Kölner „Lustigen Witwe“. (Foto: Matthias Jung)

Jetzt hat auch Köln seine „Lustige Witwe“. Es gibt wohl kein Theater in Nordrhein-Westfalen, in dem in den letzten Jahren niemand im Maxim intim gewesen und die „Weiber“ studiert hätte.

Nun gut, Intendant Hein Mulders wollte für das Ausweichquartier der Kölner Oper und in der (inzwischen erneut gefährdeten) Hoffnung auf rechtzeitige Eröffnung des Hauses am Offenbachplatz 2024 einen zugkräftigen Titel haben. Das ist Franz Lehárs Erfolgsoperette allemal noch – gehört sie doch zum Restbestand der Operetten-Monokulturlandschaft, die mit der „Fledermaus“, der „Csardasfürstin“ und dem „Orpheus in der Unterwelt“ des Kölner Operettenerfinders Jacques Offenbach weitgehend bestellt ist. Von den Dutzenden früherer Erfolgstitel ist kaum etwas geblieben; nur Paul Abraham darf sich im letzten Jahrzehnt über eine gewisse Renaissance freuen. Das Sterben der Operettenensembles, das Ausdünnen der Spielpläne, die generationenlang gepflegte Verachtung des jahrzehntelang lieblos abgenudelten Genres und der Hinschied des alten Operettenpublikums tragen Früchte.

Dem entgegenzuarbeiten ist eine reizvolle Aufgabe, der sich nicht nur Barrie Kosky früher an der Komischen Oper Berlin und die spezialisierten Häuser in Dresden, Leipzig und München widmen sollten. Insofern darf man hoffen, dass Hein Mulders in Köln, sonst eigentlich kein für Ideen verschlossener Kopf, auch einmal in die Tiefen des Repertoires der „leichten“ Muse greift. Immerhin: Dank der pfiffigen Regie von Bernd Mottl und einer beispielhaft schmähaffinen musikalischen Leitung des Essener GMD Andrea Sanguineti ist der Ausflug nach Pontevedro in Paris rundweg kurzweilig geraten.

Dialog von Wasserflecken an Neonröhren

20 Milliarden! Allein die Ansage lässt die Männer schmachten. Elissa Huber als Hanna Glawari und Herren des Chores der Kölner Oper. (Foto: Matthias Jung)

Pontevedro: Den Fantasie-Kleinstaat in Klischee-Balkanien verorten Friedrich Eggert (Bühne) und Alfred Mayerhofer (Kostüme) irgendwo im realsozialistischen Ambiente. Die großmustrigen braunen Tapeten erinnern an den biederen Charme Ost-Berliner Plattenwohnungen der siebziger Jahre. Über der Falttür rutschen die Porträts des pontevedrinischen Herrscherpaars in Schieflage. Der Vorraum ist mit Bauplastikplanen verhüllt, an der Decke prangt ein Dialog von Wasserflecken an kalten Neonröhren. Pontevedro zeigt sich so marode wie seine Staatskasse.

Und da kommt die Witwe ins Spiel: Deren 20 Milliarden sind das Kapital, das den fürstlichen Laden zusammenhält. Sie dürfen keinesfalls in die Hände eines leichtlebigen Franzosen geraten – etwa des in Brombeerfarbe hereinstelzenden Camille de Rosillon (Dmitry Ivanchey), des honeckerblau beanzugten Vicomte Cascada (John Heuzenroeder) oder eines gewissen Raoul de Saint-Brioche (Timothy Oliver). Die Milliarden selbst treten auf in aufreizendem Design in Schwarz, ein mondäner Gegensatz zu den schlicht geschnittenen Kleidern in gedecktem Bräunlichgrünlichblau der pontevedrinischen Hautevolee.

Elissa Huber ist eine hinreißende Hanna Glawari, die selbstbewusst und erfüllt vom Wissen um ihre Ausstrahlung verkündet, warum Witwen so begehrt sind, und später in wunderschön kitschiger Folklore-Ausstaffierung das Waldmägdelein im Vilja-Lied besingt. Ihr voller, samtig dunkel getönter Sopran strömt mit allem Charme und allem erotischen Prickeln, dem die Partie ihren Reiz verdankt.

Erst planen, dann bauen

Diese geldschwere Dame dem Vaterland zu erhalten, ist vornehme Aufgabe von Botschafter Mirko Zeta – und Ralf Lukas verkörpert ihn mit aller gewichtigen Pose, bedeutungsschwangere Deklamation eingeschlossen. Wäre da nicht die unsäglich gemusterte Krawatte, man könnte ihn gar für eine ernsthafte Person halten. Seine taktische Waffe heißt Graf Danilo: Adrian Eröd ist als Graf Danilo ein so souveräner Sängerdarsteller, dass er beinah zur heimlichen Hauptperson der ganzen Operette aufsteigt, wäre da nicht seine Noblesse, die der Diva stets den Vortritt gewährt. Er hat allerdings nicht die geringste Lust, dem Vaterland zuliebe ein Erbe zu erheiraten, zumal es mit einer Frau verbunden ist, mit der er eine unerfreuliche Vorgeschichte hat. Dass sich am Schluss die Liebe mit einem überraschenden Coup durchsetzt, ist dem Genre geschuldet. Tragische Operetten waren 1905 noch nicht im Blickfeld von Lehár.

Mottl inszeniert das Finale ohne derben Bruch, wie er dem Genre seinen Witz und seine Sentimentalität lässt. Nichts wird übertrieben, die Kalauer halten sich in Grenzen, der Herzschmerz auch. Beziehungen entstehen durch Gesten, Blicke, Pausen. Wenn Baron Zeta stolz den in nur einer Woche strahlend neu vergoldeten Saal seiner Botschaft preist, meint er, man habe erst geplant, dann gebaut. Da lachen die Kölner und denken an ihr Opernhaus. In den Choreographien von Christoph Jonas mischen sich Grisetten von „sämtlichen Ufern dieser Erde“, und die Tanzgruppe zitiert lustvoll alte Operettenklischees und baut mit leichtfüßiger Ironie daraus amüsante Körperwelten.

Zweifelhafte Zwitterwesen

Das Hin und Her zwischen diversen eifersüchtigen Paaren reduziert Mottl zugunsten des zentralen Konflikts, damit treten etwa Bogdanowitsch (Artjom Korotkov) und seine Frau Sylviane (Brigitta Ambs) ebenso in den Hintergrund wie Kromow (Zenon Iwan) mit seiner ewig des Seitensprungs verdächtigten Olga (Mariola Mainka). Dass die Romanze zwischen der „anständigen Frau“ Valencienne (Claudia Rohrbach als entzückendes Zwanziger-Jahre-Mädel) und dem trocken, aber passioniert die „Liebe aufglühen“ lassenden Camille (Dmitry Ivanchey) saftiger ausgespielt sein könnte, ist eine andere Sache.

Zwitterwesen von allen möglichen Ufern. Ralph Morgenstern (Njegus) und das Tanzensemble in der „Lustigen Witwe“. (Foto: Matthias Jung)

Ralph Morgenstern gibt dem Njegus nicht zuletzt dank einer langen, dürren Gestalt ein köstlich volatiles Profil jenseits des klassischen Operettenkomikers. Man glaubt ihm aufs Wort, dass er in die Pariser Art total vernarrt ist, vor allem, wenn ihn die „zweifellos zweifelhaftesten Zwitterwesen“ umschwärmen. Das alles wäre nur halb so animiert, würde nicht das Gürzenich-Orchester den mal samtig schmeichelnden, mal keck auffahrenden Lehár-Sound treffen und Andrea Sanguineti mit dezidierter Agogik und wundervoll pikanter Phrasierungsdramaturgie die Musik so gestalten, wie es die Operette braucht. Alles etwas altmodisch gedacht, aber vielleicht gerade deswegen so wundersam musikalisch, nostalgisch und hinreißend.

Weitere Vorstellungen: 16., 21., 23., 25., 27., 29., 31. Dezember.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-lustige-witwe/6634




Unsterblicher Mythos: Der künftige Essener Orchesterchef Andrea Sanguineti dirigiert Berliner „Don Giovanni“

Finale von Mozarts „Don Giovanni“ in der Deutung von Roland Schwab an der Deutschen Oper Berlin mit Mattia Olivieri (Don Giovanni), Lidia Friedman (Donna Elvira) und Tommaso Barea (Leporello). (Foto: Bettina Stöß)

Dem Mythos „Don Giovanni“ hatte sich Roland Schwab 2010 in Berlin genähert. Die Arbeit des Regisseurs, der am Aalto-Theater Essen mit Verdis „Otello“ und Puccinis „Trittico“ bildmächtige Inszenierungen geschaffen hat, stand an der Deutschen Oper wieder für vier Vorstellungen auf dem Kalender. Am Pult: der designierte Essener GMD Andrea Sanguineti.

Der Mythos Don Juan ist unerschöpflich. Nicht einmal über Faust wurde so viel gedacht und geschrieben wie über den vom spanischen Mönch Tirso de Molina in die literarische Welt erhobenen „Burlador de Sevilla“. Viriler Verführer, lustbetonter Eroberer, amoralisches Scheusal, Leidender in einer absurden Welt, zynischer Nihilist, scheiternder Gottsucher, Metapher des Bösen: In tausenderlei Gestalten tritt er uns entgegen. Der kluge, theologisch gebildete Dichter Lorenzo da Ponte hat ihn für Wolfgang Amadé Mozart in ein vielsagendes Libretto, der Komponist hat es in unsterbliche Musik gekleidet. Heute ist „Don Giovanni“ auf der Bühne vor allem in dieser Oper präsent. Entsprechend vielgestaltig sind die Deutungen.

Roland Schwab gelang vor gut zwölf Jahren mit einer von seiner Lehrerin Ruth Berghaus geschulten Hand, die innere Spannung von Mozarts „dramma giocoso“ zu inszenieren, ohne seine Kraftpole auszuschalten. Denn da ist die erzählte Handlung, eine Geschichte voller (Wort-)witz und bedeutungsvollen Momenten. Und auf der anderen Seite das Bewusstsein des Mythos, die Repräsentation einer Figur auf der Bühne, die unerschöpflich ist und ein zeitloses Geheimnis in sich trägt.

Schwab verzichtet mit seinem Bühnenbildner Piero Vinciguerra auf jeden Schauplatz. Und nicht ein einzelner Don Giovanni, nicht nur ein Leporello werden in ihren Konturen in der Schwärze der Bühne sichtbar: Sie vervielfachen sich, werden zum Kollektiv, oder, wenn man so will, zu einem Schwarm ihrer Erscheinungsformen im Lauf ihrer Geschichte. Auch der Komtur – am Ende nur noch dröhnend mahnende Stimme – schält sich als einer aus den Vielen heraus. Ein sinniges Bild für den Mythos, der sich in der Zeit vervielfacht hat, der, wenn er denn greifbar wird, nur einen Ausschnitt seiner ganzen Wirklichkeit kolportiert.

Ein Sisyphus der Lust

In Schwabs Deutung konkretisiert sich der Mythos aus purer Notwendigkeit im Individuum eines Don Giovanni (Mattia Olivieri) und seinem Leporello-Alter-Ego Tommaso Barea. Doch sie erinnern immer daran, dass sie keine Personen im klassischen Sinne sind. Auch die Kostüme von Renée Listerdal variieren die Konkretion immer wieder: In der komödiantischen Verwechslungsszene im zweiten Akt wird etwa das alte Mantel-und-Degen-Stück zitiert. Und wenn das Outfit der beiden Akteure sich immer deutlicher an Fetisch-Leder aus der SM-Szene annähert, entspricht das der ambivalenten Rolle des Don Giovanni: Er ist der Quäler der Menschen seines Umfelds und er wird gequält von seiner Existenz, die sich in der ständigen Wiederholung des Immergleichen erschöpft.

Schwab sieht offenbar Parallelen zu Sisyphus. Doch wenn der antike Steinroller zumindest bei Albert Camus‘ im Moment, in dem er die Absurdität seines Daseins annimmt, ein glücklicher Mensch ist, macht Schwab das Leiden seines Protagonisten deutlich: Geradezu flehentlich senkt er im ersten Finale den Kopf, um den Schwerthieb von Don Ottavio zu empfangen – aber sein Widersacher hat nicht das Format, um zuzuschlagen. Am Rand der Bühne strampelt derweil ein halbnackter Athlet auf einem Hometrainer – ein Fahrrad, das trotz größter Anstrengung nicht von der Stelle weicht.

Existenzieller Schmerz und Sehnsucht nach Erlösung. Szene aus dem ersten Finale von Mozarts „Don Giovanni“ an der Deutschen Oper Berlin (Aufnahme von 2015). (Foto: Bettina Stöß)

Zum genial komponierten musikalischen Chaos Mozarts drehen sich zwei Gestänge-Burgen wie gigantische Mahlwerke gegeneinander; eine davon erinnert an eine Parabolantenne, die Signale aus galaktischen Fernen empfangen könnte. Sie scheinen wie das magische Theater in Hermann Hesses „Steppenwolf“ alle zu verschlingen, nur Zerlina wandelt wie in Trance außen vorüber. Eine enge Pforte, einer Flughafenschleuse ähnlich, zitiert das Inferno-Motto Dantes: Lasst alle Hoffnung fahren. Eine bestürzende Umsetzung des Perpetuum-mobile-Kreiselns, das Mozart in der sogenannten Champagnerarie Don Giovannis musikalisch ausgeformt hat.

Der Butler stolpert über eine Leiche

In der letzten Szene überschlagen sich dann die Assoziationen: In den schemenhaft sich abzeichnenden Trümmern einer beständig gegenwärtigen Vergangenheit imitiert Leporello Freddie Frinton in „Dinner for one“, stolpert aber statt über den Tigerkopf übe die Leiche einer ermordeten jungen Frau. Don Giovanni füttert schwarze Gestalten wie Hunde, als säße er in Pasolinis „Salò – Die 120 Tage von Sodom“, Leonardos „Abendmahl“ wird heraufgerufen. Das Ende imaginiert Schwab wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Schicksal des bestraften „Wüstlings“, eines von allen humanen Bindungen freien Charakters, entzieht sich der Moral. Eine entscheidenden Abweichung, die den Mythos für unsterblich erklärt. Die Tortur des Sisyphus geht weiter.

Dirigent des Berliner „Don Giovanni“: der künftige Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

Musikalisch hinterlässt die Aufführung unter Andrea Sanguineti einen zwiespältigen Eindruck. Das liegt in erster Linie an einer akzentarmen, die Melodiestimmen betonenden Spielweise des Orchesters, der Sanguineti offenbar keine Impulse zu geben hat. Die Ouvertüre, schlank und ohne Abgründe, wirkt im Adagio eine Spur zu schnell, zu unverbindlich, wechselt mit dem Tempo im Allegro ihre musikalische Haltung nicht und bildet so keinen Kontrast aus.

Im Lauf des Abends zeigt sich Sanguineti als bedachter Begleiter der Sänger. Die reüssieren unterschiedlich: Mattia Olivieri singt „Fin ch’an dal vino“ vital und draufgängerisch, zeigt im Ständchen eine Stimmkultur, die es zu einem wehmütig-poetischen Intermezzo machen. Aber in den Rezitativen stößt er wie Leporello an seiner Seite die Silben heraus. Man mag diesen Verzicht auf elegante Formulierung dem Konzept der Figuren anrechnen, aber das forcierte Spucken der Silben macht wenig Freude und eröffnet in Tommaso Bareas „Registerarie“ keinen expressiven Zugewinn. Der Don Ottavio Giovanni Salas singt gepflegt, muss aber rollengemäß blass bleiben. Artur Garbas erfüllt die Erwartungen, die man an einen Masetto stellt, stimmlich mühelos, im Spiel zum Glück ohne übertreibende Möchtegern-Komik. Patrick Guetti darf als Commendatore aus dem Lautsprecher dröhnen.

Elvira ohne Schweißtropfen

Unter den Damen gebührt Lidia Fridman als Donna Elvira die Palme: Sie bewältigt den Umfang, die heiklen Sprünge und die heroinenhafte Attacke anstandslos, mit gleichmäßig geformten und verfärbungsfrei positionierten Tönen bei einwandfreier Artikulation. Endlich einmal eine Elvira, die der Partie ohne Schweißtropfen auf der Stimme gerecht wird. Elisa Verzier macht als Zerlina mit unverbrauchtem Timbre und sorgsamer Gestaltung auf sich aufmerksam. Flurina Stucki hat für die Donna Anna die Beweglichkeit und die melancholischen Töne, in dramatischen Momenten wirkt die Stimme im Kern zu klein und hilft sich mit aufgeblähtem Vibrato.

Roland Schwab hat mit dieser Arbeit die riskante Herausforderung bewältigt, den „Don Giovanni“-Mythos komplex chiffriert in all seinen Spannungen sinnlich erfahrbar zu machen; dass die Inszenierung nach zwölf Jahren noch so unmittelbar wirksam ist, dürfte auch der Spielleitung (Silke Sense) zu verdanken sein.

 




Papsttochter am Aalto-Theater: Donizettis „Lucrezia Borgia“ öffnet den Blick auf psychische Extreme

Marta Torbidoni, die gastierende Premierensängerin, als Lucrezia Borgia in Ben Baurs atmosphärisch gelungenem Bühnenbau. (Foto: Bettina Stöß)

In Bergamo, dem Geburtsort Gaetano Donizettis, gibt es in jedem Herbst ein Festival, bei dem sich kaum gespielte Opern als überraschend gegenwärtig erweisen. So im Herbst 2022 zum Beispiel Donizettis „L’aio nell‘ imbarazzo“ („Der Hauslehrer in Verlegenheit“), eine skurrile Studie über extreme – heute würde man sagen – Verhaltensauffälligkeiten. Hin und wieder haben Opern Donizettis abseits des Mainstreams aber auch in Deutschland eine Chance.

Das Aalto-Theater Essen zeigt als zweite Premiere der Intendanz von Merle Fahrholz eine noch von ihrem Vorgänger Hein Mulders programmierte und wegen der Corona-Pandemie verschobene, selten zu sehende Donizetti- Oper: „Lucrezia Borgia“.

Hauptperson ist die uneheliche Tochter Papst Alexanders VI.: Borgia, deren – heute historisch entkräfteter – Ruf als verruchte, ausschweifende Giftmischerin im 19. Jahrhundert für schaudernde Faszination sorgte. Donizettis Oper von 1833 wurde für Deutschland eigentlich erst 2009 wiederentdeckt, als Edita Gruberova an der Bayerischen Staatsoper München in der Regie von Christof Loy als Lucrezia debütierte. Trotz gelegentlicher Neuinszenierungen – so vor einigen Jahren in Halle/Saale – bleibt das Werk eine Rarität.

Das dürfte nicht an der stupend ausgearbeiteten Musik aus einer Hochphase des Schaffens Donizettis liegen, sondern am Sujet. Ähnlich wie „Parisina d’Este“ (1833) oder „Maria de Rudenz“ (1837) ist „Lucrezia Borgia“ ein Stück der psychischen Extreme. Mit den nachtschwarzen Liebesgeschichten des romantischen „melodramma“ und seinen Opfer-Heroinen hat es nichts mehr zu tun. Eher weist die Oper in die Richtung, die Giuseppe Verdi später mit „Rigoletto“ eingeschlagen hat. Das ist kein Wunder: Beide Opern basieren auf Dramen von Victor Hugo, der seine „Lucrèce Borgia“ bewusst als Gegenstück zu „Le roi s’amuse“, der Vorlage für „Rigoletto“, konzipiert hat.

Geächtete Menschen

Beide sind Menschen, die gesellschaftlich geächtet sind – der eine wegen seiner körperlichen Entstellung, die andere aufgrund ihrer moralischen Verkommenheit. Und beide sollen Mitgefühl erzeugen, ja den Zuschauer laut Hugo „zum Weinen bringen“: Rigoletto durch seine Zärtlichkeit als Vater, Lucrezia durch die Qual, die sie über ihr verbrecherisches Vorleben empfindet, und durch ihre reine Mutterliebe. Die inneren Widersprüche der Existenz interessierten Hugo wie Donizetti; spätere Generationen hielten solche Sujets eher für widerlich.

Im Gegensatz zu „Rigoletto“ bleiben die Personen bei Donizetti aber in einer Sphäre zwischen Traum und Realität befangen. Lucrezia hat einen Sohn, Gennaro, von dem nur sie alleine weiß, nach dem sie sich sehnt, der aber in ihrem Leben tatsächlich keinen Platz haben darf. Gennaro, ein erfolgreicher Soldat ohne Wurzeln – Vater unbekannt, Mutter verschollen – ist abhängig von der Obsession für ein überhöhtes Mutter-Ideal. Die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Lucrezia und Gennaro bleibt bis zum Ende unausgesprochen, bestimmt aber den tödlichen Verlauf der von fatalen Zufällen bestimmten Handlung. Gennaro fühlt sich von der unbekannten Dame unerklärlich angezogen. Die rätselhafte Zuneigung schlägt in Hass um, als am Ende des als „Prolog“ betitelten ersten Teils der Oper ihre Identität aufgedeckt wird: Sie ist das Monster „Borgia“.

Mutter und Monster: Diesen Gegensatz hat Victor Hugo konstruiert, um im besten romantischen Sinn die Rätselklüfte des Lebens aufzureißen, Extreme zu markieren, die sich nicht besänftigen, sondern nur schaudernd aushalten lassen. Felice Romani, der Librettist Donizettis, hat sie fokussiert auf nur wenige Personen und so die extremen Spannungen betont, die das Stück so schwer inszenierbar machen. Eine Herausforderung für jeden Regisseur, aber eine mit dem eigenen Reiz, zu der brillanten Musik Donizettis eine adäquate szenische Lösung zu finden.

Surreale Regie-Elemente

Immer wieder bricht Ben Baur die Szene ins Surreale auf, so wie hier mit einem Zug von Klerikern. Links: Davide Giangregorio als Don Alfonso, rechts Marta Torbidoni als Lucrezia. (Foto: Bettina Stöß)

In Essen hat sich Ben Baur an das Experiment gewagt und sich dabei stark an Victor Hugo orientiert. Er verzichtet auf die Schauwert-Schauplätze Venedig und Ferrara, baut auf der Bühne einen monumentalen, an florentinische Renaissance erinnernden Saal mit Ziegelwand, einem dominierenden Kamin und einem Vorhang, der das Element des Theaters unterstreicht und Raum und Szenen gliedert. Die kostbare goldgelbe Robe für Lucrezia ist eine der wenigen Reminiszenzen an die historische Papsttochter, die mit Donizettis Figur kaum etwas zu tun hat, aber durch das Gewand gleichzeitig überhöht wird.

Uta Meenens Kostüme bewegen sich ansonsten im Spektrum von konkreten Anspielungen – Mönchskutten, Klerikergewänder oder biedermeierliche Nachthemdchen für die Kinderstatisterie, die ein surreales Element in die Inszenierung einbringen sollen – und einer uneindeutigen Phantastik wie in den queeren, androgynen Entwürfen für die jungen Menschen in der Entourage Gennaros oder dem wie ein Bustier gestalteten Brustpanzer von Lucrezias Gatten Don Alfonso.

Baur ist ein Meister solcher fluider Zeichen und setzt sie ein, um den Raum als eine Seelensphäre zwischen Wachen und Träumen zu kennzeichnen. Mehrfach tötet Gennaro im Lauf des Stücks Erscheinungen Lucrezias, ein Motiv, das surreal rätselhaft bleibt, vielleicht zu lesen als vergeblicher Versuch des jungen Mannes, sich von der Zwangsvorstellung seines Mutterbilds zu befreien. Wie sehr ihn dieses dominierende Ideal am Leben hindert, zeigt sich in der Szene mit seinem Freund Maffio Orsini im zweiten Akt. „Mit dir immer, ob lebend oder tot“ beschwören die beiden im melodischen Schwung eines Liebesduetts eine Verbindung, die unübersehbar homoerotische Züge trägt. In Baurs Inszenierung tritt Orsini im Gewand der Lucrezia Borgia auf – ein Signal für das verzerrte Gefühlsleben Gennaros, der Liebe offenbar nur mit dem inneren Bild der „Mutter“ verbinden und so nicht zu einem authentischen Verhältnis zu Orsini finden kann.

Das Problem bei Baurs überlegtem Regie-Zugriff ist, dass die szenischen Signale zu naturalistisch wirken und nur peripher mit der verlaufsgetreu erzählten Handlung korrespondieren können. Gestorbene Kinder Lucrezias, blutüberströmte Gemeuchelte, ein Zug von Kardinälen mit dem Papst an der Spitze: Wo Baur die Handlung im Sinne einer Zeichen- oder Traumlogik aufbrechen will, wirkt das Surreale nicht; wo Transzendierung wirksam werden sollte, bleibt die Handlung zu fasslich. Dennoch: Die Intention Baurs, das Stück aus dem Korsett eines schwer nachvollziehbaren Narrativs zu befreien, führt in die richtige Richtung.

Glanzvolles Debüt

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

In Essen war jetzt erst die ursprünglich gedachte Besetzung zu erleben, mit der auch geprobt wurde: In der Premiere am 26. November mussten drei von vier Hauptrollen durch Gäste ersetzt werden. Auch jetzt grassiert die Krankheitswelle noch, wie sich vor allem im von Klaas-Jan de Groot einstudierten Chor bemerkbar macht. Endlich konnte aber Jessica Muirhead ihr Debüt als Lucrezia Borgia feiern – und sie hat die Anforderungen der Partie zwischen verträumter Lyrik („Com’e bello! Quale incanto …“), gefährlichem Auftrumpfen („Oh! A te bada … a te stesso pon mente“) und brennender Verzweiflung („Mille volte al giorno io moro“) glanzvoll ausgeschöpft. Muirheads leuchtender, bis auf ein paar Stützschwierigkeiten bei kurzen Noten in der Höhe sicher positionierter Sopran ist in der Lage, die emotionalen Spannungen in einer hinreißenden Gesangslinie auszudrücken. Das ist anders als die ziselierte Feinarbeit, mit der Gruberova die Schwächen ihrer Stimme in Expression verwandelte, anders auch als der dramatische Impetus, den Marta Torbidoni in der Premiere als Gast – sie hatte die Partie vorher in Bologna gesungen – mitgebracht hat.

Der giftige Wein der Borgia bringt den Tod. Marta Torbidoni (Lucrezia) und Francesco Castoro (Gennaro) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Bettina Stöß)

Francesco Castoro als Gennaro kann in der jüngsten Vorstellung überzeugender punkten als in der Premiere. Er führt seinen Tenor bewusst leicht und mit einem unangestrengten Ton fern von dem oft als „italienisch“ missverstandenen Aplomb. Auch wenn man spürt, dass ihm manche Passage Mühe bereitet: Castoro vermittelt einen Eindruck davon, was Belcanto im Sinne Donizettis bedeutet. Alles andere als Schöngesang bot dagegen Davide Giangregorio bei seinem Deutschland-Debüt als Don Alfonso. Weit weg von der eleganten Linienführung und der unangestrengten Attacke eines Kavaliersbaritons dröhnte er mit undifferenzierter, auf bloße Außenwirkung getrimmter Kraft und unsteter Tonbildung. Ein Schönsänger ist die Hausbesetzung Almas Svilpa zwar auch nicht, aber in seiner bewussten Gestaltung kommt er den stilistischen Erfordernissen des Singens näher als der Premierengast aus Bologna. Vokal glänzend und als Darstellerin überzeugend: Liliana de Sousa als Maffio Orsini.

Farben der Melancholie

Dass auch die kleineren Rollen nicht ohne Anspruch sind, demonstrieren Mathias Frey (Rustighello), Tobias Greenhalgh und das Quartett der Kumpane Orsinis, Edward Leach (Liverotto), Lorenzo Barbieri (Gazella), Timothy Edlin (Petrucci) und Joshua Owen Mills (Vitelozzo). Andrea Sanguineti, designierter GMD von Essen, hat in der Januar-Vorstellung das Tempo merklich angezogen, lässt das Orchester akzentuierter spielen, gibt den Cabaletten drängende Energie und den lyrischen Momenten die Farbe der Melancholie, die – etwa in der Einleitung – an die zwei Jahre später entstandene „Lucia di Lammermoor“ erinnert.

Die vielen Krankheitsfälle im Ensemble gehen allerdings nicht spurlos vorüber: Die Präzision leidet, die Koordination mit der Bühne wankt öfter, die Geigen der Essener Philharmoniker klingen – im Gegensatz zu den warmen Celli – kreidig-scharf. So ganz ist der Versuch, Victor Hugos sperrige Thematik in unsere Gegenwart zu übertragen, in Essen nicht geglückt. Aber diese „Lucrezia Borgia“ zeigt, dass ein ambitionierter Regisseur aus anachronistisch wirkenden Stoffen überraschende Einsichten gewinnen kann. Das ist nicht neu, hat sich an so manchem Opernhaus aber noch nicht herumgesprochen. Und Donizettis Musik ist es allemal wert, von stilsicheren Sängern und Musikern (und *innen natürlich auch) verlebendigt zu werden.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit am 14. Januar, 4. und 15. Februar und 10. März. Karten (0201) 81 22 200 oder www.theater-essen.de