Zwischen Goethe, Mafia und Mercedes – Andreas Rossmanns sizilianisches Tagebuch „Mit dem Rücken zum Meer“

Meine Lieblingsgeschichte aus dem sizilianischen Tagebuch ist die mit der Brücke: Wenn der Bürgermeister von Villarosa nach Caltanissetta in die Hauptstadt der Nachbarprovinz möchte, benutzt er dafür zwei Autos. Mit dem einen fährt er bis zur Brücke über den Salso, die seit einem Erdrutsch für Pkw gesperrt ist, geht zu Fuß auf die andere Seite und steigt dort in den geparkten Zweitwagen. So spart er 116 Kilometer.

Der Bürgermeister ist nicht der Einzige, der das so macht – viele Einwohner des Städtchens im Landesinnern (von den Studenten bis zum Apotheker) behelfen sich auf diese Weise.

Die Anekdote aus dem Jahr 2015 ist typisch für Andreas Rossmanns etwas anderes Reisetagebuch „Mit dem Rücken zum Meer“ über Sizilien. Denn es beschreibt pragmatisches Improvisationstalent, organisatorische Schwächen der Behörden und eine Unbeirrtheit von alledem, die die Mentalität der Sizilianer ausmacht – oder die Vorstellung davon aus der Sicht der Deutschen.

Allerdings kann man sich diese Praxis an der schon ewig in Reparatur befindlichen Autobahnbrücke auf der A 57 zwischen Düsseldorf und Köln hierzulande wirklich nicht vorstellen – den schlechtgelaunten Stau, den das hervorrufen würde, hingegen nur allzu gut.

Anekdote vom 29. April 1787

Tatsächlich hatte schon Goethe, der das deutsche Italienbild begründete bzw. prägte, Probleme mit genau diesem Fluss, erzählt Rossmann, der seine Reiserlebnisse gerne mit historischen Anekdoten verknüpft. Und zwar am 29. April 1787: „Regenwetter war eingefallen und machte den Reisezustand sehr unangenehm, da wir durch mehrere stark angeschwollene Gewässer hindurchmussten. Am Fiume Salso, wo man sich nach einer Brücke vergeblich umsieht, überraschte uns eine wunderliche Anstalt. Kräftige Männer waren bereit, wovon immer zwei und zwei das Maultier mit Reiter und Gepäck in die Mitte fassten und so durch den tiefen Stromteil hindurch (…) führten“.

Mehr als 200 Jahre später reist Andreas Rossmann, der Feuilletonredakteur der FAZ für Nordrhein-Westfalen, nicht mit der Kutsche, sondern mit dem Flugzeug nach Sizilien – zwischen 2013 und 2017 jedes Jahr – und beginnt schon an Bord, die Geschichten seiner Reisegenossen zu recherchieren. Denn nicht wenige dieser Sizilianer lebten oder leben in Deutschland, arbeiten hier und urlauben dort und betrachten nüchtern die Vor- und Nachteile beider Länder.

„Das Städtchen Mirabella Imbaccari“ schreibt Rossmann, „ist der Ort mit der höchsten Mercedes-Dichte, wenn nicht von ganz Italien, so doch von Sizilien. In den Siebzigerjahren sind mehr als die Hälfte der siebentausend Menschen, die damals hier lebten, nach Deutschland ausgewandert, um bei Daimler-Benz zu arbeiten.“

Neue Wege der Migration

Doch seitdem haben sich die Wege der Migration verändert: In Sizilien arbeiten viele Nordafrikaner, Rossmann unterhält sich mit den Putzfrauen im Agriturismo, wo er auf seinen Rundreisen quer durchs Land immer absteigt – meist familiär geführte Unterkünfte mit hervorragender Küche. Eine der Frauen stammt aus Marokko, Fremdenfeindlichkeit erlebe sie in Italien eigentlich wenig.

In Trapani, nördlich von Marsala an der Küste, trifft Rossmann ein Ehepaar aus Turin auf Urlaub: „Früher sind wir immer nach Lampedusa gefahren. Die Isola die Conigli ist der schönste Strand, den ich kenne. Aber, wenn ein Flüchtlingsboot gekentert ist, liegen dort hundert Leichen. Da kann man nicht mehr Urlaub machen.“

Griechisches Amphitheater in Syrakus

Natürlich besucht der Theaterkritiker aus dem Westen auch auf Sizilien ein Theater und zwar das Griechische Amphitheater in Syrakus. „Die Frösche“ von Aristophanes stehen auf dem Spielplan: Xanthias und Dionysius werden von Valentino Picone und Salvo Ficarra gespielt, politischen Kabarettisten aus Palermo, die zu den „bekanntesten Komikerpaaren Italiens gehören.“ Und der Mond ist nicht aus Pappe und die Bäume sind echte Bäume – jetzt weiß man, warum Rossmann sich nach seinem ersten Buch übers Ruhrgebiet „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Sujet für das zweite eine südlichere Gegend ausgesucht hat. Die Fotos im Band sind allerdings wieder von der FAZ-Fotografin Barbara Klemm. Sie zeigen ein schwarz-weißes, ungeschöntes Sizilien, dunkle Ecken, karge Landschaften, verfallenen Charme.

Corleone und die Mafia

Und die Mafia? Was ist aus der eigentlich geworden? Rossmann fragt viel und erhält ausweichende Antworten. Nein, in diesem Dorf gebe es keine Mafia, im Nachbarort schon…Corleone ist ein adrettes Städtchen, von amerikanischen Touristen auf den Spuren des „Paten“ bevölkert. In Sizilien sei die Mafia auf dem Rückzug, zitiert Rossmann Thomas Grüßner, den Leiter einer Sprachenschule in Bagheria bei Palermo. „Von den fünfzig meistgesuchten Mafiosi sind 49 im Gefängnis. Mitte der 80er Jahre gab es in Sizilien zwei- bis dreihundert Mafiamorde im Jahr, 2013 sind es drei oder vier.“

Trotzdem werden an Touristen Stadtpläne der Anti-Mafia-Initiative „Addiopizzo (Tschüss, Schutzgeld) verteilt, die auf Lokale und Geschäfte hinweist, die sich weigern, Schutzgeld zu bezahlen und sich offen dazu bekennen.

Im Krankenhaus

Mit einem weiteren Vorurteil räumt Rossmann gründlich auf: Mit dem über das italienische Gesundheitssystem. Wegen einer Unpässlichkeit von der Ärztin an seiner Seite zum EKG geschickt, erlebt der Autor einen Tag im Ospedale Sant’Antonio Abate in Trapani. Die technische Ausstattung ist auf dem „allerneusten Stand“, er wird von äußerst kompetentem Personal komplett durchgecheckt und erhält zur Entlassung zwei engbedruckte Seiten mit Rundumdiagnose. Kaum zu glauben, das alles kostet nichts. „Sie bezahlen gar nichts“, belehrt ihn die behandelnde Ärztin, „solche medizinischen Leistungen sind in Italien kostenlos“.

Die Klimaanlage bei 45 Grad Hitze funktioniert tadellos. „Es gibt weniger angehnehme Möglichkeiten, den ersten heißen Sommertag zuzubringen“, schreibt Rossmann. Kultur, Geschichte und vor allem der Alltag Siziliens werden in seinen Reisereportagen plastisch – man hat nicht übel Lust, ins Flugzeug zu steigen und dem trüben Winter ebenfalls zu entfliehen.

Andreas Rossmann:Mit dem Rücken zum Meer. Ein sizilianisches Tagebuch.“ Mit Fotografien von Barbara Klemm. Verlag Walther König, Köln. 195 Seiten, 18 Euro. Lesung am 24.1. in Essen.




Rauchzeichen, später: Andreas Rossmann erkundet das Ruhrgebiet

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Sein Revier beginnt hinter der Ruhrtalbrücke, von auswärts mit dem Auto kommend. Hier fährt der NRW-Feuilletonkorrespondent in einen wichtigen Sektor seines Berichtsgebiets ein. Kunst und Kultur dieser Region sind Gegenstand seiner Reportagen und Rezensionen, die er seit über 20 Jahren für die FAZ verfasst. Nun hat Andreas Rossmann eine Auswahl davon unter dem Titel „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Buch im Verlag der Buchhandlung Walther König herausgebracht.

Der „Reiseführer fürs Handschuhfach“ ist illustriert mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Archiv von Barbara Klemm, entstanden zwischen 1974 und 1999, die dem Paperback einen eigenwilligen Retro-Charme verleihen. Gegliedert ist der Band nach Städten von B wie Bochum bis W wie Waltrop. Selbst versierte Ruhrgebietsbewohner können beim Nachbarn noch Neues entdecken.

„Der Rauch verbindet die Städte“ schrieb Joseph Roth 1926, doch seit er sich zum großen Teil in frische Luft aufgelöst hat, wo ist da das verbindende Element dieser zerklüfteten, postindustriellen und mit zahlreichen Kulturinstitutionen besiedelten Region? Was macht sie aus und wo scheitert sie? Mit großer Sympathie für ihre rauen Seiten und einem Scharfblick, der sich nicht scheut, zwischen Qualität und Kitsch zu unterscheiden, beschreibt Rossmann auf seiner Expedition im Land der aufgegebenen Fördertürme und Industriebrachen die Auswirkungen des vielbemühten Strukturwandels auf die kulturelle Identität des Ruhrgebiets.

Wenn es sein muss, macht sich der Kritiker auch zu Fuß auf den Weg, um auf Halden zu klettern oder Landmarken abzuwandern: „Oben angekommen, sieht der Wanderer sich einem unbekannten Ort ausgesetzt. Doch erst im dialektischen Umschlag vollendet sich die Kunst der Landmarke: Sobald der Besucher dem Hochpunkt, den sie einnimmt, den Rücken kehrt, eröffnet sich ihm ein Panorama des Ruhrgebiets, das auf den nur von hier aus möglichen zweiten Blick seine Zerrissenheit und Unfertigkeit, sein Pathos und seine Grandeur offenbart: Seine ,andere‘ Schönheit“, schreibt Rossmann.

Die Textstelle zeigt, was das Buch ausmacht: Der intellektuell-literarische Blick auf eine Kunst, bei der sich der Ruhrgebietsmensch oft weigert, sie als seine eigene oder für ihn geschaffene wahrzunehmen. Die er mitunter misstrauisch beäugt wie beispielsweise Serge Spitzers Spirale auf dem Kennedyplatz in Essen, die viele Bürger „weg haben“ wollten, weil sie sie hässlich fanden. Nach dem Motto: Das alte Eisen, da haben wir früher mit malocht, das soll jetzt Kunst sein?

So führt denn auch Rossmanns Lesung im Lehmbruck-Museum in Duisburg unweigerlich zu einer Diskussion unter den Zuhörern um das Selbstverständnis des Reviers und seiner Bewohner. Ist es nicht Zeit, endlich mit dem Montanindustrie-Kitsch Schluss zu machen? Ein Zuhörer fragt: Warum werde nicht mal die Architektur der Ruhruniversität Bochum als einem der größten Arbeitgeber der Stadt gewürdigt statt immer Zeche Zollverein, die überall als mediales Wahrzeichen herhalten müsse? So regiere das Klischee, das auf die Vergangenheit verweise und Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Strukturwandel in der Gegenwart verhindere.

„Warum wohnen Sie eigentlich nicht im Ruhrgebiet, sondern in Köln?“, möchte eine andere Zuhörerin von Rossmann wissen. Sie selbst ist gebürtige Kölnerin, die es unfreiwillig ins Revier verschlagen hat. Der Autor begründet dies mit seinen Anfangszeiten als Kultur-Kritiker, als er sich strategisch günstig zum WDR positionieren wollte. Einer seiner ersten Ruhrgebietsbesuche führte ihn allerdings zu einem Bewerbungsgespräch als Dramaturg ans Theater Dortmund. „Die haben mich zum Glück aber nicht genommen“, gibt er selbstironisch zu.

Doch vielleicht ist ja gerade eine Fernbeziehung in diesem Fall nicht das schlechteste: Mit ein wenig Abstand liebt es sich neugieriger, man teilt nicht den langweiligen, zuweilen schäbigen und profanen Alltag. Die angebetete „Metropole“ bleibt interessant, ihre Veränderungen aufregend, ihre Kapriolen energiestiftend – vor allem, wenn man sich schon so lange kennt.

Andreas Rossmann: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen. Mit Photographien von Barbara Klemm. Verlag der Buchhandlung Walther König, 260 Seiten, 14,80 Euro