Neuproduktion ohne Ecken und Kanten: Neo Rauch und Rosa Loy tauchen „Lohengrin“ in Bayreuth in vieldeutiges Blau

Blau ist die bestimmende Farbe der Bühne von Neo Rauch und Rosa Loy. Foto: Enrico Nawrath

Blau ist die bestimmende Farbe der Bühne von Neo Rauch und Rosa Loy. Foto: Enrico Nawrath

Blau – die Farbe des Himmels, die Farbe Gottes und der Harmonie. Blau – eine kalte Farbe und nach Leonardo da Vinci die metaphysische Mischung des Sonnenlichts mit der Schwärze der Weltfinsternis. Blau – die Farbe der Nacht, der Ruhe, der romantischen Sehnsucht. Blau aber auch die Farbe, die niederländische Künstler für ihre Keramikkacheln verwendeten, die sich ab dem 16. Jahrhundert in ganz Europa verbreiteten.

Von diesem Delfter Blau hat Neo Rauch – so macht er selbst glauben – seine Inspiration für den neuen Bayreuther „Lohengrin“ empfangen. Diese Farbe bleibt so deutungsoffen wie die Bühne, die Rauch gemeinsam mit seiner Frau Rosa Loy für die diesjährige Premiere der Festspiele entwickelt hat. Ein traditioneller Rundhorizont mit schweren Wolken und durchbrechenden Lichtstrahlen, im Zentrum ein merkwürdiges Gebäude, eine Mischung aus Transformatorenhaus und Erinnerung an einen romanischen Architekturblock mit Rundbogenfries und Rosette, mit Isolatoren auf dem Dach und Leitungen zu einem angejahrten Strommast. Davor wimmelt die Menge des brabantischen Volkes in der Tracht, wie sie uns niederländische Maler auf ihren Genrebildern vertraut gemacht haben: Wämser, Häubchen, Schürzen, Schnürmieder. Es ist kein Land vor dem Hunnensturm, sondern das Land der Reformation, des Zeitalters der Glaubenszweifel.

Zwischen Whales‘ „Frankenstein“ und Böcklins „Toteninsel“

Zu dem anachronistischen Prozess, der da vor den König kommt, wird eine an zwei Seilen gefesselte Frau geführt. Elsa, in Blau, mit viel zu kleinen Flügelchen wie eine putzige Engelsfigur aus einer Kitschporzellansammlung, an einen Isolator gefesselt, erträumt ihren Retter. Lohengrin erscheint unter blitzenden Entladungen. Die Lichtbögen erinnern an James Whales „Frankenstein“-Film: Lohengrin als der „neue Prometheus“, der Lichtbringer für die Menschen? Seine graublaue Montur eröffnet breite Deutungsmöglichkeiten zwischen Luftschiffer, Elektriker oder dem einst die Sowjetunion „elektrifizierenden“ Lenin. Jubel vor dem Trafo und zwischen den Schatten hoher Zypressen, die wie aus Arnold Böcklins „Toteninsel“ drohen. Im Kampf verliert Telramund einen seiner Insektenflügel und kriecht nur noch am Boden: Motten lösen die Neuenfels’schen Ratten ab. Schon ein bekannter deutscher Satiriker wusste: Tiere auf der Bühne machen sich immer gut.

Lohengrin, zweiter Akt: Die Harmonie zwischen Lohengrin (Mitte: Piotr Beczala) und Elsa (rechts: Anja Harteros) scheint gefestigt, aber mit Ortrud (Hintergrund: Waltraud Meier) droht der Zweifel. Foto: Enrico Nawrath

Lohengrin, zweiter Akt: Die Harmonie zwischen Lohengrin (Mitte: Piotr Beczala) und Elsa (rechts: Anja Harteros) scheint gefestigt, aber mit Ortrud (Hintergrund: Waltraud Meier) droht der Zweifel. Foto: Enrico Nawrath

Neo Rauch behindert auch im zweiten und dritten Akt den Freiflug des assoziativen Bild-Symbol-Denkens nicht: Eine hohe Wolkenszenerie, auf den Tüllvorhang projiziert, versetzt die Szene zwischen Ortrud und Elsa in eine unwirkliche Landschaft. Die Figuren bewegen sich in einer dunklen Zone wie in einem Schilfgürtel, herausgeschält nur durch die Lichtspots Reinhard Traubs. Bleiben wir im Brabant der Reformation, sind Ortrud und Telramund durch ihre Kostüme als Vertreter einer älteren Ordnung gekennzeichnet: Er im gegen neue Waffen wirkungslos gewordenen Harnisch alter Rittersleut‘, sie im voluminösen Medici-Kragen und einem Rock, der an steife spanische Hofmode erinnert. Nun ja: Die beiden stehen für Radbods alten Fürstenstamm.

Schon im zweiten Akt tritt eine neue Farbe hinzu, die durch Rot ins Orange gebrochene Komplementärfarbe zu Blau: Gelb, die schwefelfarbige mittelalterliche Chiffre für den Außenseiter und das Böse. Der Turm, in dem Elsa und Lohengrin ihre Hochzeitsnacht feiern sollte, ist intensiv orange ausgeleuchtet; Elsa selbst schon – im Futter ihrer Robe – von blassem Orange infiziert. Die Farbe des Zweifels?

„Hervorstülpungen“ des Inneren

Wie eigentlich stets bei Neo Rauch, sind diese „Hervorstülpungen“ seines Inneren, entwickelt in sechs Jahren stetiger Umrahmung seiner Atelierarbeit durch Wagners Musik (so Rauch in einem Interview) ambivalent, auch nicht auf ein tradiertes Repertoire von Symbol-Bedeutungen oder Bild-Chiffren festzulegen. Aber, wie das sonst recht regietheaterverliebte deutsche Feuilleton in seltsamem Erstaunen mehrfach notiert hat: Sie sind einfach schön, und in ihrer geheimnisvollen Gegenständlichkeit reizvoll rätselhaft zu betrachten.

Sie kehrt nach 18 Jahren noch einmal auf den Hügel zurück, um ein letztes Mal Ortrud zu singen: Waltraud Meier (Mitte) mit Tomasz Konieczny als Telramund. Foto: Enrico Nawrath

Sie kehrt nach 18 Jahren noch einmal auf den Hügel zurück, um ein letztes Mal Ortrud zu singen: Waltraud Meier (Mitte) mit Tomasz Konieczny als Telramund. Foto: Enrico Nawrath

Nun ist Form ohne Inhalt, Schönheit ohne Begriff eine hohle und schnell ermüdende Angelegenheit. Der Erfolg der Leipziger Schule, soll er nicht bloß Schall und Rauch sein, sollte sich nicht auf puren Ästhetizismus, auf von ach so viel Abstraktion und Gedankenkunst ermüdete Augen stützen. Im Falle des Theaters sitzen wir nicht in einer riesigen Gemäldegalerie, sondern einem Raum, der durch Aktion, Darstellung und im Fall der Oper durch Musik mehrdimensional gedacht ist.

Bewegte Körper sind „willkommen“

Hier kommt nun die Inszenierung ins Spiel. Eigentlich, so Neo Rauch in einem Interview mit der „Zeit“, brauchen seiner Bilder die Bewegung des Körpers im Raum, die Kostüme und die Musik, gar nicht. Man könne auch aus der reinen Betrachtung des statischen Materials Genuss ziehen, bewegte Körper seien aber „willkommen“. Dafür zeichnet in Bayreuth Yuval Sharon verantwortlich, der in seiner Heimat, den USA, mit experimentellen Opern-Projekten auf sich aufmerksam gemacht hat und 2014 mit John Adams‘ problematischem Musiktheater „Doctor Atomic“ quasi aus dem Nichts heraus in Karlsruhe in der deutschen Regielandschaft eingeschlagen hat. Im Dezember 2016 hat Sharon eine „Walküre“ in Karlsruhe inszeniert und kurz darauf anstelle des von der offenen deutschen Flüchtlingspolitik vergrätzten lettischen Regisseurs Alvis Hermanis den Bayreuther „Lohengrin“ übernommen. Eine von Anfang an harmonische Zusammenarbeit, wie Rauch, Loy und Dirigent Christian Thielemann übereinstimmend bestätigen.

Trotzdem: Viel eingefallen ist Sharon zum Thema „Lohengrin“ in den eineinhalb Jahren nicht. Weder vertieft er die Figuren psychologisch, noch macht er deutlich, was an Wagners Konzept aktuell sein könnte. Die Ansätze sind da: Lohengrin als Prometheus, Lohengrin als präfaschistische Führerfigur ohne Geschichte und ohne politischen Rechtfertigungsdruck. Oder Lohengrin als „Berührung einer übersinnlichen Erscheinung mit der menschlichen Natur“, wie Wagner schrieb – die Oper also als Transzendenzproblem. Dergleichen ist höchstens in Ansätzen zu beobachten, wenn etwa, als Lohengrin zum „Gral“ zurückkehrt, die kraftvoll gemalten Lichtstrahlen von oben intensiv aufleuchten. Im Zusammenhang einer betulichen Personenregie, die in der Kirchenszene des zweiten Aktes wie aus einem früheren Reclam-Libretto wirkt, gewinnen solche Details kein Gewicht.

Christian Thielemanns intensive Steigerungskurven

Sowohl das Emanzipationsthema (Elsa, die starke Frau) als auch die Umwertung Ortruds, die den letztlich notwendigen Zweifel sät, sind schon szenisch überzeugender erzählt worden. Stattdessen wiegen sich die Köpfe der brav aufgestellten Chöre wacker hin und her, wenn im dritten Akt Elsa in knalligem Orange trotzig die Erklärung des Gralsritters entgegennehmen muss. Mag sein, dass die Reminiszenzen an alte Wolfgang-Wagner-Arrangements akustisch günstig sind. Genutzt haben sie wenig; der Chor Eberhard Friedrichs lag – „Steh ab vom Kampf!“ – mehr als einmal in ungewohntem Clinch mit der Präzision und erntete am Ende ein paar böse Buhs.

An Christian Thielemann konnte das nicht liegen: Der Festspiel-Musikdirektor dirigierte mit „Lohengrin“ die letzte der zehn Opern aus dem an sich unsinnigen Kanon der festspielwürdigen Wagner-Werke. Und da waren sie wieder, die Momente, in denen Thielemann den Streicherklang magisch samtig ausbreitet. Die Stellen, in denen Bläser und Streicher in luftig strahlender Transparenz ineinander verwoben zu schweben scheinen. Die intensiven Steigerungskurven im Finale des zweiten Aktes, die Thielemann ganz typisch mit einem kaum merklichen Rubato noch verstärkt. Aber da war auch der fehlende Biss im Vorspiel zum dritten Akt, das Fehlen einer belebenden rhythmischen Kantigkeit. Und im schimmernden Vorspiel wurden die Bläserstimmen keineswegs aus dem Nichts in das Flirren der geteilten Violinen hineingeboren, sondern setzten beinahe analytisch deutlich ein.

Gefeierte Waltraud Meier

Mit Piotr Beczała setzte Bayreuth endlich wieder einmal Lohengrin-Maßstäbe. Der polnische Tenor sang anstelle von Roberto Alagna, der vor ein paar Wochen plötzlich bemerkte, dass er keine Zeit zum Lernen der Rolle habe, mit viel Fortüne. Die italienische Fülle des Klangs stützte eine ausgezeichnete Artikulation, aber die nicht anstrengungsfreie Höhe zeigte auch, dass der „Lohengrin“ für Beczała eine Grenzpartie ist. Eine solche Grenze gilt auch für Anja Harteros als Elsa: So flexibel und innig ist „Einsam in trüben Tagen“ nicht eben häufig zu hören; in den dramatischen Momenten der Auseinandersetzung mit Ortrud hat die Stimme glanzvolles Volumen und entschiedene Attacke; im Duett des dritten Akts zeigt das zunehmend flackernde Vibrato, dass ihr die Ausdauer fehlt, die Phrasen konsequent durchzustützen.

Gefeiert wurde Waltraud Meier. Nach 18 Jahren kam die Sängerin, die in so vielen Partien Maßstäbe gesetzt hat, für ihre letzte Ortrud noch einmal nach Bayreuth zurück. Man spürt ihre Erfahrung in jeder stimmlichen Geste, aber auch in jedem Moment ihrer Bühnen-Aktion. Ihre Ortrud ist keine grelle Hexe, keine sich wild gebärende Furie, sondern eine lauernd-verhalten singende, überlegende und überlegene Regisseurin eines Masterplans, der ihr am Ende dann doch aus den Händen gleitet. Waltraud Meier kann durch Erfahrung gestalten, wo sich junge Stimmen mit Frische und Energie ihren Weg bahnen; ihre „Entweihten Götter“ strahlen immer noch eine gleißende Gefährlichkeit aus, die heute noch subtiler gefärbt wirkt als im Ungestüm früherer Jahre.

Nach der Ära des Regietheaters

Bei Georg Zeppenfeld gibt es das Problem, dass er stets so souverän gestaltet, so zuverlässig rund und makellos den Ton formt, dass die Gewöhnung das Außerordentliche einer solchen Leistung beinahe als selbstverständlich sehen will – was es keinesfalls ist, wie Tomasz Konieczny als Telramund mit teils forciert verfärbten Vokalen, teils gewaltsamer Tonbildung und Emission demonstriert. Egils Silins ergänzt die Solistenriege als zuverlässig standfester Heerrufer, den die Regie weitgehend unauffällig zur Nebenfigur verurteilt. Der Beifall war gewaltig, bei Konieczny und dem Chor mit einigen markigen Buhs durchsetzt. In die Inszenierungsgeschichte des „Lohengrin“ am Grünen Hügel könnte der Abend als musikalisch glücklich gelungenes Beispiel eines aneckungsfreien Nach-Regietheater-Ära eingehen.




Düstere Schwermut, strahlender Sieg: Anja Harteros und der Dirigent Gustavo Gimeno in der Philharmonie Essen

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Anja Harteros. Foto: Marco Borggreve

Richard Wagner und Claude Debussy in einem Konzert zu kombinieren, ist eine passende Idee. Der Franzose, der vor 100 Jahren starb, war der dominierenden musikalischen Größe aus Deutschland zeitlebens mit merkwürdiger Hassliebe zugetan. Es wäre noch passender gewesen, hätte das Orchestre Philharmonique de Luxembourg zu Beginn seines Konzerts in der Philharmonie Essen Ausschnitte aus „Parsifal“ gespielt: Wagners mystisches Spätwerk hat Debussy über alles geliebt.

So also „Tannhäuser“, in einer Hochglanz-Version des Spaniers Gustavo Gimeno. Ein eleganter, nicht zu dekorativ-gestenreicher Dirigent. Ein edel schimmernder, lyrisch geprägter, fast möchte man sagen nazarenischer Wagner, ohne untergründige Erregung, ohne das prickelnde Fieber des Venusbergs, das am besten mit dem altmodischen Wort „Inbrunst“ beschrieben wäre. Eine gedämpfte Impulswelt also, die erotische Hochspannung von einer gewissen Contenance beruhigt. Das Orchester gefällt, kein raues Geschürfe stört den leuchtenden Glanz.

Zwischen Verschmelzung und eigenständiger Kontur

Das technische Niveau des Orchesters aus Luxemburg lässt keine Zweifel aufkommen, nur die Lautstärke könnte hin und wieder dem Saal angemessener dosiert sein. Aber die kleinteiligen rhythmischen Geflechte in den beiden Orchesterwerken Claude Debussys, „La mer“ und „Ibéria“, der zweiten Suite aus den „Images“, ereignen sich klar artikuliert; die Balance und die Staffelung der Klänge stimmen: Sie finden das richtige Maß zwischen Verschmelzung und eigenständiger Kontur. Dieser Debussy zerfällt nicht in lauter Mikro-Ereignisse, er verschwimmt aber auch nicht zu dem ungreifbaren Geflirr, das wir auf den Gemälden der Impressionisten so zauberhaft finden.

Chefdirigent Gustavo Gimeno malt mit kräftigeren, kantigeren Farben, lässt die Solisten Details ausmodellieren. In „Ibéria“ wehen die „Düfte der Nacht“, vom unwirklichen Ton der Celesta getragen, in verfließenden Formen und schattenhaften Klängen durch den Raum. Das wirkt nicht nur nächtlich-geheimnisvoll, sondern hat in den gedämpften Fragmenten von Melodien, in den fahlen Fetzen ferner Tänze, im Verfließen der Formen etwas Unheimliches an sich. Nicht umsonst beschäftigte sich Debussy mit Edgar Allan Poe – in Frankreich durch Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé bekannt gemacht – und seinem „Fall of the House of Usher“.

Offenbar kein „Mathematiker der Musik“

Diese gestalterischen Finessen, mehr noch aber das Spiel der Farben und Schatten in „La mer“ haben Debussy den Ruf eines „Impressionisten“ eingebracht, gegen den er sich wehrte, indem er sich zum „Mathematiker“ der Musik stilisierte. Doch die subtilen, schillernd-sprühenden Klänge in den drei „symphonische Skizzen“ wollen das Bonmot ständig Lügen strafen. Vom Flageolett-Nebel der Violinen über die bebenden Repetitionen des gedämpften Blechs bis hin zur variativen Koloristik, die Debussy an die Stelle einer Form-Entwicklung setzt, lassen sich die Luxemburger von keiner spieltechnischen Herausforderung schrecken.

Kritiker ätzten damals, das Stück enthalte nur „Geräusch“. Recht hatten sie – in gewisser Weise –, denn Debussy fängt das Unregelmäßige, Spontane, auch das Gewaltige und Gewalttätige der Naturprozesse ein, ohne ein musikalisches Imitat zu gestalten. Er mimt das Meer nicht musikalisch – wie es etwa Arnold Bax meisterhaft geglückt ist –, sondern er stellt uns die Idee des Meeres vor das innere Ohr.

Anja Harteros beglaubigt mit Wagners „Wesendonck-Liedern“ ihren Spitzenplatz unter den Sopranen unserer Tage. Sie setzt nicht bloß auf den leuchtenden Ton, sie braucht nie technischen Tricks, wenn sie die Stimme zurücknimmt und färbt. Vor allem in den weiten Entwicklungen, in den Bögen und im Aufleuchten einer groß gedachten Phrase gefällt ihre Stimme: frei gebildet der Ton, mühelos gesteigert der Klang, wundervoll abgetönt die Farben. Die Instrumentierung Felix Mottls unterstreicht noch die Nähe zu „Tristan und Isolde“. Aber auch Anja Harteros betont Tristan-Schwermut und Sieges-Strahlen: Da verstummt tatsächlich die Lippe in staunendem Schweigen.




Herkules oder Sisyphos – Hein Mulders stellt sein erstes Philharmonieprogramm vor

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Hein Mulders, neuer Intendant der Essener Philharmonie und der Aalto-Oper. Foto: Philharmonie Essen

Der Held ist noch etwas müde. Langsam nur schwingt er sich auf, um mehr und mehr im Glanz zu erstrahlen. Es ist ein satt orchestrales Leuchten, das uns über Lautsprecher geboten wird, Richard Strauss’ sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“, als Introduktion zur Präsentation des neuen Philharmonie-Programms in Essen. Und wer mag, darf sich die Frage stellen, inwieweit der neue „Superintendant“ der Stadt, der Niederländer Hein Mulders, ein Held ist angesichts der gewaltigen Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Jedenfalls ist es in NRW einmalig, dass der Chef der Philharmonie zugleich die Oper, hier das Essener Aalto-Theater, führt. Vergleichbares würden Dortmund, Düsseldorf oder Köln wohl weit von sich weisen. Mulders aber will den Kraftakt wagen, mit der Zeit wird sich dann herausstellen, ob er als tatkräftiger Herkules oder als stressgeplagter Sisyphos gelten darf. Eines jedoch scheint schon jetzt festzustehen: Der neue Mann will in seiner ersten Saison, der Spielzeit 2013/14, wenn die Philharmonie zehn Jahre alt wird, klotzen und nicht kleckern.

Denn mit avisierten 130 konzertanten Eigenveranstaltungen legt Mulders im Vergleich zu seinem Vorgänger Johannes Bultmann noch eine ordentliche Schüppe drauf, einem Plus von etwa 25 Prozent entsprechend. Zehn thematische Reihen enthält das neue Programm, zwischen 14 Abos kann das geneigte Publikum wählen. Gleichwohl gilt, dass auch der „Superintendant“ das Rad des Musikbetriebs nicht neu erfinden kann. Gutes bleibt, etwa die höchst erfolgreiche Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“, anderes wird erweitert – wie das sehr avancierte Neue-Musik-Projekt „NOW!“, das sich in der neuen Saison dem Phänomen des Klangs im Raum widmet.

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Keine Spielzeit ohne „Stars“. Ein Konzerthaus muss Namen bieten, um das Publikum zu locken. Und damit wird in Essen wahrlich nicht gegeizt: Nehmen wir nur die neue Residenzkünstlerin, die Sopranistin Anja Harteros. Oder berühmte Dirigenten wie Riccardo Muti, der mit dem Chicago Symphony Orchestra gastiert, Lorin Maazel, der die Münchner Philharmoniker leitet, nicht zuletzt Valery Gergiev und das London Symphony Orchestra. Eröffnet wird die Saison 13/14 übrigens mit dem Gespann Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Am 5. September 2013 erklingen dann zwei Schlüsselwerke der klassischen Moderne – Bartóks Konzert für Orchester und Lutoslawskis gleichnamiges Opus.

Im Mittelpunkt aber steht die Programmmusik und mit ihr das Oeuvre Richard Strauss’, dessen 150 Geburtstag im nächsten Jahr ansteht. Dann erklingen diverse Symphonische Dichtungen wie eben auch „Ein Heldenleben“, das kaum zu hörende Festliche Präludium für Orgel und Orchester, zudem Lieder und Opernszenen. Strauss dirigierte im übrigen 1904 zur Eröffnung des Essener Saalbaus seine „Sinfonia domestica“ – ein Werk, das 2014 die Philharmoniker der Stadt mit ihrem neuen Chef, Tomás Netopil, interpretieren werden.

Vieles mehr wäre hier zu nennen: etwa die neuen Formate „Wege zu Bach“, „Piano lectures“ oder „Entertainment“. Doch da sei den Neugierigen die Lektüre des güldenen Spielzeitbüchleins oder das Studium der Internetseiten (www.philharmonie-essen.de) empfohlen. Verwiesen sei zudem auf Hein Mulders zweite Pressekonferenz über die neue Opernspielzeit. Erste Verzahnungen werden gewiss erkennbar sein. Für die Philharmonie aber gilt, dass der „Superintendant“ wohl auch an der Marke von 75.000 Besuchern gemessen wird, die Vorgänger Johannes Bultmann zuletzt erreichen konnte. Wir sind gespannt.




Sternstunde des Strauss-Gesangs: Anja Harteros im Konzerthaus Dortmund

Anja Harteros erntete als Strauss-Interpretin Ovationen (Foto: Pascal Amos Rest/Konzerthaus Dortmund)

Manch gefeierte Gesangsstimme unserer Tage gleicht ja einem Stück Haute Couture: Das Material ist luxuriös, die Verarbeitung aufwändig und der Zuschnitt perfekt. Es gibt aber auch Stimmen, die trotz aller Gesangstechnik im Kern natürlich geblieben sind. Stets gefährdet und gerade dadurch kostbar, lassen sie den durchgestylten Gala-Glanz mühelos erblassen.

Eine solche Stimme besitzt Anja Harteros, die jüngst im Konzerthaus Dortmund mit Liedern von Richard Strauss zu erleben war. Begleitet wurde die Sopranistin vom Concertgebouw-Orchester Amsterdam, das aufgrund einer Erkrankung seines Chefdirigenten Mariss Jansons unter der Leitung des 27-jährigen Franzosen Alexandre Bloch spielte.

Für die Tournee mit den „Königlichen“ hat die Sängerin sechs Lieder mit melancholischem Grundton ausgewählt. So beschwören „Waldseligkeit“ und „Zueignung“ die Einsamkeit des Liebenden, „Allerseelen“ und „Morgen!“ gar die Wiedervereinigung im Jenseits. Die Harteros taucht das in flammende, üppig changierende Farben der Wehmut. Weit und mühelos greift ihr Sopran ins Mezzo-, ja sogar ins Alt-Register aus. Ihre langen Legato-Bögen, die selbst im Mezzopiano unangestrengt über das Orchester hinweg schweben, erreichen im „Wiegenlied“ eine delikate, silbrige Zärtlichkeit. So sehr sie „Morgen!“ in fahle Transzendenz taucht, so glühend lässt sie die Emotionen in der „Zueignung“ überströmen. Jedes Wort kann sich aus dem Munde dieser Sängerin unversehens zum Himmel weiten, jede harmonische Rückung kann neue Welten eröffnen. Anja Harteros begegnet der hohen Liedkunst von Richard Strauss mit Bescheidenheit und Größe, mithin als überragende Interpretin.

Vor großen Herausforderungen stand der junge Einspringer Alexandre Bloch. Nach der brillanten, schwungvoll musizierten Ouvertüre „Der Widerspenstigen Zähmung“ aus der Feder des Niederländers Johan Wagenaar hatte der Dirigent zwei Schwergewichte der Orchesterliteratur zu bewältigen: Jörg Widmanns „Teufel Amor“, inspiriert von einem Gedichtfragment von Friedrich Schiller, sowie die Tondichtung „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss. Beide Mammut-Partituren zeugen von rauschhafter Instrumentierungskunst und behandeln das Orchester äußerst virtuos.

Beherzt schöpft Bloch aus den Klangmöglichkeiten, die ihm das Amsterdamer Spitzenensemble bietet. In Jörg Widmanns 2011 entstandenen Sinfonischen Hymnos spielt er mit Registern, als habe er eine große Orgel vor sich. Bloch arbeitet sich vom grüblerisch-bedrohlichen Dröhnen der Blechbläser vor, steigert das Werk zu Apotheosen, die wiederum ins Geisterhafte abgleiten. Selbst im robusten Dauer-Forte legt er viele spannende Schichten frei. Im Herzen bleibt er dabei ein Romantiker, der uns Widmanns Werk als Fortschreibung von Traditionslinien zeigt, die von Richard Strauss und Gustav Mahler in die Zukunft weisen. In „Tod und Verklärung“ setzt er der schleppenden, nachtschwarzen Einleitung ein leidenschaftliches Aufbegehren entgegen, das immer neu auflodert. Die Verklärungsmusik klingt indes überraschend diesseitig. Den letzten Perspektivwechsel, der alles zuvor Erklungene wie von oben herab betrachtet, enthält Alexandre Bloch uns an diesem Abend vor.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)