Im Gespinst des Irrealen: Aribert Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Aribert Reimann, Die Gespenstersonate: Dietrich Volle (Hummel) und Anja Silja (Die Mumie). Foto: Wolfgang Runkel

Phantome in der Oper: In Frankfurt haben sie Fleisch und Bein, wenn auch nur Glasknochen und morbides Gewebe. Im Bockenheimer Depot wehen sie durch Aribert Reimanns „Gespenstersonate“.

Die Kammeroper, 1984 bei den Berliner Festwochen uraufgeführt, radikalisiert August Strindbergs gleichnamiges Drama mittels einer Musik ohne Grund und Boden: geisterhaft irrlichternde Motivfetzen, schwebende Flageoletts, nebulöse Streicher-Piani, unwirklich schwebende Cluster, dazwischen Fragmente handfest definierter Akkorde, genau umrissene, grelle Bläsereinwürfe, polyphoner Tumult. Und dann die faulige Süße des Harmoniums, ein Ton wie aus dem Geisterhaus im Disneyland.

Reimann setzt diese Mittel virtuos ein: die klanglichen Chiffren des Gespenstischen, des Unheimlichen, wie wir sie aus entsprechenden Filmen kennen. Die Kraft der ins Unendliche geweiteten tonalen und atonalen inneren musikalischen Bezüge. Die immer wieder bezwingende Ausdrucksdichte seiner Erfindung, wie sie von „Lear“ bis „Medea“ seine Opern zu Fixpunkten der Musiktheater-Geschichte der letzten vierzig Jahre macht.

Das Drama – vom Komponisten gemeinsam mit Uwe Schendel eingerichtet – ist ein merkwürdiger Zwitter, erinnert an die psychologisch aufgeladenen Sozialdramen, aber auch an den in Mystizismus und Okkultismus versinkenden späten Strindberg. Die Frankfurter Inszenierung von Walter Sutcliffe leugnet das nicht. Kaspar Glarners Bühne, ein Talboden zwischen den beiden Abhängen der einander gegenübergebauten Besuchertribünen, mimt im kalten Licht Joachim Kleins ständig Realismus – und bricht ihn immer wieder ins Absurde. Die Villa Direktor Hummels steht als fein detailliertes Gebäude da, entlarvt sich aber als abgründiges Modell eines von unwirklichen Gestalten bewohnten Hauses. Sessel und Möbel fahren auf und ab, werden aus dem Untergrund ausgespuckt und verschwinden im Irgendwo. Ein Schrank dient als Habitat, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt; bewohnt wird er von einer „Mumie“. E.T.A. Hoffmann ist amalgamiert mit Maurice Maeterlinck und Alice im Wonderland.

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns "Die Gespenstersonate" an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Tod im Hyazinthen-Gitter: Szene aus Reimanns „Die Gespenstersonate“ an der Oper Frankfurt. Alexander Mayr als Student Arkenholz, Barbara Zechmeister als Fräulein. Foto: Wolfgang Runkel

Schein oder Sein: Die Frage bleibt unbeantwortbar. Das Libretto, eine obskure Geschichte aus gespenstischen Täuschungen, Schein-Realitäten, beziehungsreich verrätselten Erläuterungen, monströsem Trug und symbolistischem Raunen. Die Handlung, eine nicht nacherzählbare Verstrickung der Personen in eine mörderische Vergangenheit, in Unsagbares, Verdrängtes, Irreales, Pathologisches. Die Personen selbst, Untote, Vampire, Wiedergänger, halbreale Irrende zwischen Räumen und Zeiten.

Sutcliffe bemüht sich um größtmögliche Klarheit, ohne die klebrige Geheimnislast des Gespinstes wegaufklären zu wollen. Absurdes kommt daher, als sei es alltäglich real; banale Vorgänge werden weggesogen in eine unheimliche Sphäre des Irrealen. Als „Mumie“ etwa, im grauen Glanz brüchigen Kleidergespinstes, setzt Anja Silja ihre ganze Bühnenerfahrung ein, changiert zwischen dem erbarmungswürdigen psychischen Elend einer verlebten Frau, dem grotesken Irrsinn einer Greisin und der schrankenlosen Wahrhaftigkeit eines desillusionierten Lebensrückblicks.

Direktor Hummel, Intrigant, Mörder und Verdränger, erinnert bei dem auch stimmlich großartigen Dietrich Volle eher an die patriarchalischen Sozialstudien Strindbergs aus seiner naturalistischen Phase – mit einem Dreh ins Fantastische, der die unheimlichen Seiten der Figur noch verstärkt. Brian Galliford als Oberst gehört auch in diese Kategorie der Väter, deren wohlanständig gesetzte Fassade Abgründe verdeckt. Martin Georgi (Konsul) und Nina Tarandek (Dunkle Dame) lassen durch ihr überlegtes Spiel im Gespenster-Souper erfahren, dass sie nur noch als geisterhafter Nachhall einer einst gelebten Existenz durch den Raum des Spiels klingen.

Einen dämonischen Zug bringen die „dienstbaren Geister“ mit: Bengtsson, der wissende Bediente des Oberst, aalglatt gespielt und schmierig gesungen von Björn Bürger; Johansson, das unterwürfige Faktotum Hummels, von Hans Jürgen Schöpflin als undurchschaubare Gestalt angelegt; die Köchin, Stine Marie Fischer, die sich als unheilvolle Vampirin als Gegenprinzip zum Leben profiliert, das im „Hyazinthenzimmer“ zaghaft zu keimen versucht. Auch das Milchmädchen, angeblich einst Opfer Hummels, gehört in diese Reihe: Kristina Schüttö gibt es als zerbrechliches Zwischenwelt-Wesen.

Verlorene Zeichen der Hoffnung

Beziehungsreich das Bild des Hyazinthenzimmers im dritten Bild, eine weiße Gitterstruktur, halb Gefängnis, halb Zufluchtsort. Die Blumen, in der herkömmlichen Floral-Symbolik für Lebensfreude, Genuss und Zukunftsglück, stehen hier als verlorene Zeichen einer Hoffnung, die sich nicht erfüllt. Nicht für das Fräulein, wieder einmal brillant gestaltet von Barbara Zechmeister, das sich nicht aus dem unheilvollen Trug ihrer Existenz lösen kann, ohne sein Leben zu verlieren. Und auch nicht für den Studenten Arkenholz, dessen hybriden hohen Tönen – diese Grenzüberschreitungen der Stimme sind eine expressiv sein wollende Marotte Reimanns – Alexander Mayr sich mit verzweifelt gebildeten Falsett-Bemühungen zu stellen versucht. Der junge österreichische Tenor ist auf den Spuren der alten, vergessenen Technik der „voce faringea“, hat aber ohrenscheinlich ihr Geheimnis noch nicht entschlüsselt.

Das Kammerorchester aus achtzehn Solisten führt Karsten Januschke ebenso wie die Sänger sicher durch Reimanns Partitur-Irrgarten. Der atmosphärische Klang, das scheinbar improvisierend hingeworfene Detail, die präzise Reaktion auf eine bewusst „unnatürliche“ Phrasierung sind bei ihm in besten Händen. Reimanns „Gespenstersonate“ – in der Region bisher in Köln, Münster und Bonn erschienen – könnte in dem seltenen Genre eine Chance haben, sich auch dreißig Jahre nach der Uraufführung im Repertoire zu verankern – neben Philip Glass „Fall of the House of Usher“, Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ und den leider immer noch unterschätzten frühen Ausformungen der Geisteroper, Heinrich Marschners „Der Vampyr“ und „Hans Heiling“.




Metapher des Zufalls: Sergej Prokofjews „Der Spieler“ in Frankfurt

Dostojewskis „Spieler“ ist eine existenzielle Figur, die ein Thema der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zusammenfasst, nämlich die Frage, wie sich der Mensch im Spannungsfeld von Mächten verhält, die er nicht beeinflussen kann. Oder die auf seine Aktionen unberechenbar reagieren. Tolstoi hat den historischen Zufall in seiner ganzen Absurdität in „Krieg und Frieden“ ausführlich thematisiert. Wie heißen die Alternativen? Gottergebenheit oder Nihilismus?

Schon die Bibel wusste, dass sich Gott nicht zu einem für den Menschen einsichtigen Sinnzusammenhang zwingen lässt: Den Guten kann es schlecht, den Schlechten gut gehen. Selbst für den gläubigen Menschen, falls er nicht vollkommen naiv ist, bleibt der dunkle, unerklärbare Rest der Geschichte, das strukturell Böse jenseits des moralischen Übels. Und Sergej Prokofjews „Der Spieler“ ist eine Oper, die das Schicksal auf den Spieltisch schleudert – selbst, wenn die Figuren in diesem Reigen vordergründig logisch triumphieren oder scheitern.

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Wer triumphiert in diesem Stück, das an der Oper Frankfurt eine bezwingende Neuinszenierung erfuhr? Nicht die Liebe, nicht das Glück, nicht die Berechnung. Die Kugel auf der riesigen leuchtenden Roulette-Scheibe von Hans Schavernoch rollt gleichmütig und unberührt. Nur die alte Babuschka, eine jener grotesk-unheimlichen Frauen aus Russlands literarischem Erbe, könnte als Siegerin durchgehen, weil sie der Kugel ihren Tribut zollt: Sie befeuert den blinden Zufall, indem sie ihr ganzes Vermögen verspielt statt es zu vererben.

Ein anderer Schein-Sieger ist der Spieler selbst, Alexej, der Hauslehrer des bankrotten Generals. Seine Glückssträhne – 20 Mal Rot hintereinander – aber ist die grelle Ouvertüre zum letzten Akt seines existenziellen Unglücks: Da scheitert mehr als die Liebe zu seiner Schülerin Polina, da scheitert ein Mensch im Angesicht des Ungreifbaren: Schicksal und Liebe sind unverfügbar, Geld rettet und richtet nichts.

Das Leben - ein Roulette: "Der Spieler" in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Das Leben – ein Roulette: „Der Spieler“ in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Die Bühne braucht einen solchen Kenner menschlicher Tiefen wie Harry Kupfer, um aus der spröden Konversationsoper das packende Stück zu schaffen, das in Frankfurt zu sehen war. Mit seiner auf die Personen konzentrierten Regie bespielt Kupfer das illustrierend-kommentierende Bühnenbild mühelos: Hans Schavernoch erinnert an Klinikflure und geheimnisvoll gläserne Paläste, zeigt die glamourösen Sterne der Halbwelt und die lautlosen Gefahren der Außenwelt. Die Katastrophe des Spielers Alexej beschränkt sich nicht aufs Individuelle: Als er am Ende die Pistole auf seine Schläfe richtet, schlägt ein Komet auf der Erde ein – wie in Lars von Triers „Melancholia“.

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews "Der Spieler" an der Oper  Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews „Der Spieler“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

In Frank van Aken weckt Harry Kupfer den Darsteller und führt ihn zu großer Klasse: Van Aken liefert sich an die Riesenpartie aus, singt sie psychologisch durchdringend, gestaltet sie spannungsreich in ihrer Ambivalenz, zwischen aussichtlos – und daher erst recht vorbehaltlos – Liebendem und grotesk im Spielrausch Versinkendem. An der Seite dieser grandiosen Sängerleistung kann kaum jemand bestehen, obwohl Kupfer mit den allesamt vorzüglichen Frankfurter Darstellern bewundernswert scharf beobachtete bizarre Typen formt.

Nur eine zieht gleich: Anja Silja als Babuschka, an den Rollstuhl gefesselt, kostet ihre Macht aus, auch wenn sie nur eine negative ist. Ihr Geld bekommt niemand, eher überlässt sie es dem blinden Lauf der Kugel: In dieser Szene triumphiert die absurde Sinnlosigkeit des Geldes. Siljas Auftritt ist eingehüllt von der Magie einer Bühnenlegende – und dieser auratische Glanz stimmt das Gehör für den Rest ihrer Stimme milde und aufmerksam.

Später, wenn Frank van Aken seinen Gewinn über sich abregnen lässt und in einem Haufen Papiergeld sitzt, wird dieser Gedanke szenisch noch einmal überhöht und präzisiert: Polina, das prätentiöse, undurchschaubare und in der Regie wohl bewusst uneindeutig belassene Weibchen, wirft dem hoffnungslos verliebten Alexej sein Geld an den Kopf – einer der unverwechselbaren Auftritte der wie immer in ihrer Rolle lebenden Barbara Zechmeister.

Dank Kupfers Regiekunst wirken die farcenhaft stilisierten Nebenfiguren nie übertrieben. Sie sind in ihrer Gier, ihrem Wahn, ihrer Verfallenheit grotesk komisch (die diversen Damen der Gesellschaft mit Claudia Mahnke als zynisch abgedrehter Blanche), lächerlich tragisch (der alte General Clive Bayleys) oder schmierig undurchsichtig (Martin Mitterrutzner als Marquis oder Sungkon Kim als Mr. Astley). Die Kostüme von Yan Tax, changierend zwischen historischen Anklängen und flirrender Eleganz, unterstreichen die Charaktere.

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Mit dem Frankfurter Orchester bewegt sich Sebastian Weigle wieder einmal auf dem Niveau, das er durch seine Wagner-Interpretationen, aber auch mit Humperdincks „Königskinder“ oder Korngolds „Die tote Stadt“  markiert hat. Prokofjew schenkt den Musikern nichts: Seine Musik kann hitzig und auftrumpfend sein, bewegt sich aber oft in komplex konstruierten Klangmixturen, in denen solistische Präsenz und ein unbestechliches Gehör für die Partner-Instrumente im Orchester nötig sind. Weigle lässt diese rhythmisch verstörten Farbgemische so bunt vorüberziehen wie die Lichter in Schavernochs Bühnenprojektionen (realisiert von Thomas Reimer). Prokofjew kann sarkastisch kommentieren, aber die Musik löst sich auch vom Geschehen und hat dann einen Zug zu Hindemith’scher Autonomie.

Dass diese Oper so selten gespielt wird – in der Rhein-Ruhr-Region etwa in einer Regie Bohumil Herlischkas 1980 in Düsseldorf – ist nicht recht verständlich. Man darf auf eine Wiederaufnahme in Frankfurt hoffen, nachdem die sieben Vorstellungen ausverkauft waren. De Nederlandse Opera, die im Moment Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ spielt, kündigt den „Spieler“ für die kommende Saison an: Premiere der Inszenierung von Andrea Breth ist am 7. Dezember 2013.

 




Stocksteife „Mahagonny“-Oper: Holzfäller erscheinen im Frack

Von Bernd Berke

Duisburg. Wer „seinen“ Brecht in- und auswendig zu kennen glaubte, bekam ihn jetzt wieder einmal überraschend anders gewendet.

Was vorgestern in der Duisburger Mercatorhalle und gestern im Festspielhaus Recklinghausen als „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ firmierte, war, was die Stimmlage der Gesangsdarbietungen angeht, eine eher konventionelle Oper. Als „Oper“, die freilich die Gattungsgrenzen gesellschaftskritisch hätte sprengen sollen, hatten Bert Brecht und Kurt Weill „Mahagonny“ in der Tat gedacht.

Beteiligt waren das Kölner Rundfunkorchester (Leitung: Jan Latham-König), das Vokalensembles der Staatlichen Musikhochschule Köln, ein Sprecher und acht Gesangssolisten, darunter die besonders als Wagner-Interpretin bekannt gewordene Anja Silja als Hure „Jenny“. Harald Banter produzierte im Rahmen des Rheinischen Musikfests ’85 für den WDR, Regle führte Adolf Dresen. Übermenschliche Regieanstrengungen waren freilich kaum vonnöten, handelte es sich doch um eine konzertante Aufführung ohne Bühnenbild und gespielte Handlung.

Musikalisch war das zweifellos aller Ehren wert und selbst für orthodoxe Brecht-Enthusiasten zumindest interessant, weil so ganz anders als in der Song-Tradition umgesetzt. Die Geschichte mit den Holzfällern aus Alaska, die in der Stadt Mahagonny ein himmlisch-höllisches Genußparadies vorfinden (einzige Todsünde ist es dort, kein Geld zu haben, sonst ist „alles erlaubt“), von zwangsläufig stocksteifen Akteuren in Fräcken vortragen zu lassen, wirkt aber doch reichlich seltsam. Im Vordergrund standen ganz eindeutig die schönen Klänge, kaum einmal ein distanziertes „Vorzeigen“ des Textes im Sinne Brechts.

Ohne szenische Elemente wirkte die Aufführung über lange Strecken blutarm und „ausgedünnt“. Hier eine hilflos unterstreichende Geste der Solisten, dort ein paar aufgesetzte Gags (heftige Betätigung einer Windmaschine, horrender Pistolenknall) sowie Diaprojektionen können das fehlende Drumherum lediglich vage herbeizitieren.

Am Sonntag, 9. Juni, strahlt der WDR die Produktion von 20.15 bis 23 Uhr in seinem 3. Hörfunkprogramm aus.