„Intuitive Kommunikation wie in der Familie“ – Lambert Orkis ist seit 30 Jahren Klavierbegleiter von Anne-Sophie Mutter

Gastautor Robert Unger (Pressesprecher beim Kurt Weill Fest Dessau) im Gespäch mit Lambert Orkis, Experte für historische Instrumente und seit dreißig Jahren Klavierpartner der Geigerin Anne-Sophie Mutter:

Lambert Orkis ist ein international anerkannter Kammermusiker, Interpret zeitgenössischer Musik und Experte für Aufführungen auf historischen Instrumenten. Seit 1988 tritt er als Klavierpartner der weltbekannten Geigerin Anne-Sophie Mutter auf; über elf Jahre lang spielte er zuvor an der Seite des Cellisten Mstislaw Rostropowitsch. Am Donnerstag, 7. Juni 2018, tritt er gemeinsam mit Anne-Sophie Mutter im Konzerthaus Dortmund auf.

Lambert Orkis mit Anne-Sophie Mutter. (Foto: Deutsche Grammophon / Dario Acosta)

Lambert Orkis mit Anne-Sophie Mutter. (Foto: Deutsche Grammophon / Dario Acosta)

Frage: Herr Orkis, Sie sind den letzten Jahren mit bedeutenden Musikern, Orchestern und Ensembles aufgetreten. Haben Sie schon immer das gemeinsame Musizieren einer Solokarriere vorgezogen?

Lambert Orkis: Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich ein wenig ausholen. Aufgewachsen bin ich in einer einfachen Arbeiterfamilie. Mein Vater bekam jeden Monat einhundert Dollar, was nicht viel war. Dennoch unterstütze meine Familie, besonders meine Mutter früh schon mein musikalisches Talent. Diese auch immaterielle Unterstützung war ein großer Ansporn und ich war fest entschlossen, alles zu tun, um erfolgreich zu sein.

Sehr früh bekam ich die Chance, am Curtis Institute of Music zu studieren. Das Konservatorium war zu dieser Zeit eine der wenigen Hochschulen, die keine Gebühr verlangten, sondern im Gegenteil jedem Schüler ein volles Stipendium gewährten. Voll jugendlichen Elans und einer Portion Übermut dachte ich natürlich an eine große Solo-Karriere. Zu dieser Zeit studierte auch der junge David Cole am Curtis Institute. Eines Tages begannen wir einfach zusammen Musik zu spielen, und es war fabelhaft. Zu dieser Zeit realisierte ich das erste Mal, wie wunderbar und natürlich es sich anfühlt, mit anderen Musikern zu spielen, und wie viel man dadurch gewinnen kann. Ich lernte schnell, meinen musikalischen Partnern zuzuhören und auf sie einzugehen.

War das wie ein Geschenk für Sie?

Lambert Orkis: Auf jeden Fall. Viele Leute sahen in der damaligen Zeit keine große Möglichkeit, als Klavierbegleiter erfolgreich zu werden, aber mir war das egal. Mit 19 beendete ich das Studium und wusste nicht gleich weiter. Ich bekam dann das Angebot, als Klavierbegleiter Studenten bei ihren Abschlussprüfungen beizustehen. Im ersten Jahr waren es 47 Prüfungen. Es war eine fast schon verrückte Herausforderung: die unterschiedlichen Ansprüche an die Musik, die verschiedenen Rhythmen und natürlich auch die Vielfalt der Charaktere. Das war keine einfache, aber eine unglaublich gute Schule. Dadurch habe ich gelernt, andere Menschen besser „klingen“ zu lassen.

Eines Tages hörte mich Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch. Er kam nach dem Konzert zu mir und umarmte mich. Es fühlte sich an wie die Umarmung eines russischen Bären, warm und ganz flauschig, zugleich aber auch Respekt einflößend. Ich sollte für sein Orchester, das National Symphony Orchestra, spielen und mit ihm Duo-Partnern zur Seite stehen. Das war der Beginn einer wunderbaren Zeit.

Lassen Sie uns trotzdem kurz auf ihre Solo-Einspielungen schauen. Die „Appassionata“ von Ludwig van Beethoven haben Sie auf CD mit drei verschiebenden historischen Flügeln aufgenommen. Wie kam es zu diesem Projekt?

Lambert Orkis: Mit dieser CD bin ich selber auf eine Entdeckungsreise gegangen. Die historische Aufführungspraxis liegt mir sehr am Herzen und ich unterrichte seit vielen Jahren am Boyer College der Temple University in Philadelphia das Klavierspiel auf alten Instrumenten. Ich wollte mir selber bewusst machen, inwieweit der Flügel mit seiner ganz eigenen Mechanik das Klavierspiel, also Tempo, Dynamik, Rhythmik und vieles mehr, beeinflusst. Ich war selber davon überrascht, wie sehr mein Spiel durch die Instrumente beeinflusst wird. Das war eine einmalige Erfahrung!

Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr im Dortmunder Konzerthaus

Beim Klavier-Festival Ruhr spielen Sie gemeinsam mit Anne-Sophie Mutter in Dortmund. Seit 1988 treten Sie gemeinsam mit ihr als Klavierpartner in Rezitals auf, also mittlerweile seit 30 Jahren. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und wie hat sie sich über die Jahre entwickelt?

Lambert Orkis: Ja, wir feiern im Dezember diesen Jahr unser Jubiläum und ich freue mich darauf. Herbert von Karajan schlug Rostropowitsch für sein National Symphony Orchestra damals Anne-Sophie Mutter als Solistin vor. In einer Klavierprobe für das Konzert lernten wir uns kennen und fast schon erschreckenderweise klappte alles auf Anhieb. Nach dem Konzert hörten wir erst einmal nichts voneinander. Eines Tages kam Rostropowitsch auf mich zu und fragte, ob ich mich an Anne-Sophie erinnere. Er erzählte mir, dass sie einen Duo-Partner suche, und ich war sofort Feuer und Flamme.

Es gibt einen kleinen, aber feinen Altersunterschied zwischen uns (lacht). Ich konnte am Beginn unserer Zusammenarbeit meine Erfahrungen mit alter Musik und der historischen Spielweise an sie weitergeben. Ich muss sagen, dass unsere Zusammenarbeit immer angenehm und bereichernd ist. Natürlich sind wir auch nur Menschen und haben gute und schlechte Tage miteinander.

Über die Jahre ist unser Zusammenspiel sehr viel intuitiver geworden. In den Konzerten reichen die kleinsten Gesten, um miteinander zu kommunizieren. Wir ergänzen uns aber auch in den Proben. Ich bin eher der ruhige Typ, sie redet gerne über die Dinge. Es ist eine Art Kommunikation, die es vielleicht sonst nur unter Familienmitgliedern gibt. Ich höre ihr gerne und aufmerksam zu und dann versuchen wir es zusammen. Ganz bescheiden gesagt: Das Ergebnis ist hervorragend.

Sie spielen in Dortmund Johannes Brahms, André Previn, Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Krzysztof Penderecki. Ein unkonventionelles Programm, oder?

Lambert Orkis: Seine zweite Klaviersonate hat Penderecki für uns komponiert. Sie ist ein echter Meilenstein in unserer Zusammenarbeit. Das Werk ist komplex in seiner rhythmischen Varianz. Als klassischer Musiker muss man sich erst an die ungewöhnliche Struktur gewöhnen. Seit dem wir das Werk uraufgeführt haben, haben wir sehr hart daran gearbeitet und es auch ein wenig auf eigene Faust variiert.

Bei einem Konzert in Warschau war Penderecki anwesend. Ich kenne ihn schon lange, aber bei diesem Konzert habe ich ihn das erste Mal lächeln sehen. Er war sehr überrascht, aber auch glücklich mit unserer Interpretation. Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass unser „klassisches“ Publikum absolut fasziniert ist von diesem erst einmal sperrig wirkenden Werk. Das ganze Programm ist nicht einfach, aber wir brennen für die Musik. Die Menschen erwarten viel in unseren Konzerten. Das spornt uns an und wir versuchen, immer unser Bestes zu geben.

Bleibt ein Duo-Partner eher unbeachtet im Hintergrund?

Oft bekommt man das Gefühl, dass bei Tourneen bekannter Künstler wie Diana Damrau, Jonas Kaufmann oder auch bei Ihnen mit Anne-Sophie Mutter der Duo-Partner eher im Hintergrund steht und nicht wirklich zur Geltung kommt. Wie gehen Sie damit um? Nehmen Sie diesen Umstand überhaupt noch wahr?

Lambert Orkis: Ich habe über viele Jahre jede Kritik zu meinen Konzerten gesammelt. Es müssen mittlerweile mehrere Tausend sein. Beim Lesen der Artikel ist mir dieser Umstand natürlich immer wieder aufgefallen. Aber ich habe auch andere Erfahrungen gemacht. Anne-Sophie und ich gaben ein Konzert in New York. Zu diesem Konzert kamen fünf Kritiker. Jede Kritik zeigte ein anderes Bild. Eine lobte besonders das Spiel von Frau Mutter und ignorierte mich total. Eine andere Kritik schrieb, Frau Mutter könnte sich glücklich schätzen, einen so tollen Partner zu haben, sonst wäre der Abend ein Flop geworden. Ich spiele nicht für den großen Ruhm. Ich spiele für die Musik und liebe meinen Beruf. Die Musik zählt mehr als Aufmerksamkeit und Ruhm.

30 Jahre Klavier-Festival Ruhr, ist das auch für Sie ein Grund zur Freude? Kommen Sie gerne immer wieder ins Ruhrgebiet?

Lambert Orkis: Ich erinnere mich gerne an besondere Momente und die Atmosphäre beim Festival. Ich bin immer wieder beeindruckt vom Publikum. Es ist sehr aufmerksam, emotional und zeigt eine unglaubliche Offenheit für die Musik. Das Festival präsentiert für mich die Kunst des Klavierspiels in allen Facetten der Klassik – nicht nur das große Solo-Repertoire für Pianisten, sondern viel mehr die Entwicklung im Lied, in der Kammermusik und in anderen Gattungen, die das Klavierspiel und die Komposition für das Klavier vorangetrieben haben. Franz Xaver Ohnesorg und seine Partner haben für das Ruhrgebiet eine erstklassige Kulturinstitution geschaffen. Es ist für mich und wahrscheinlich auch für Anne-Sophie eine besondere Ehre, Teil des Festivals zu sein.

Karten für das Konzert am Donnerstag, 7. Juni (20 Uhr im Konzerthaus Dortmund), sind zu Preisen zwischen 35 und 125 Euro erhältlich bei den bekannten Vorverkaufsstellen, über die Tickethotline (01806/500 80 3) oder direkt und platzgenau im Internet unter www.klavierfestival.de




Stell Dich der Klassik! Die neue Dortmunder Konzerthaus-Saison fordert das Publikum heraus

Stell dich der Klassik (verschoben) 1

Das Nashorn, einst nettes Konzerthaus-Wappentier, will nun gezähmt werden. Geigerin Anne-Sophie Mutter nimmt’s mutig an die Kette. Foto: Konzerthaus Dortmund

Beginnen wir mit dem Nashorn. 2002 wurde es in Dortmunds Kulturleben heimisch, als Wappentier des Konzerthauses. Mit großen Ohren, den gewichtigen Attributen des Hörens, und zwei Flügeln. Ein trotz seiner Masse putziges Maskottchen, das durch Musikgenuss offenbar in der Lage sein soll, sich zu neuen Höhen aufzuschwingen. Bald waren in der Stadt diverse, mehr oder weniger geschmackvoll ausstaffierte Nachbildungen zu entdecken.

Doch nun ist Schluss mit niedlich. Im Internet-Trailer, zur Vorstellung der neuen Konzerthaus-Saison (2014/15), bricht das Urviech durch die Kulisse, wie wild geworden, als wollte es uns das Fürchten lehren. Dann taucht in großen Lettern der Satz auf „Stell Dich der Klassik!“. Und mancher im geneigten Publikum, der seine Stars sehen und sich mit gepflegter Musik unterhalten lassen will, dürfte zurückzucken – welche Herausforderung.

Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa, der nun diese neue, seine zehnte Spielzeit vorgestellt hat, unterfüttert die kantige Aufforderung, Stellung zu beziehen, mit weiteren markigen Worten: „Wir machen ein Programm für die Stadt, wollen das Publikum aber auch fordern.“ Es müsse an die Klassik herangeführt werden, doch gelte es zudem, den Menschen reinen Wein einzuschenken. Soll heißen: „Diese Musik ist komplex. Manches muss man sich erobern.“

Das ist nichts weniger als ein Paradigmenwechsel im Werben um die Hörer/Zuschauer. Denn das Prinzip, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen (ein so anbiederndes wie törichtes Anliegen), verliert nun seine Gültigkeit. Stampa spricht bewusst von einer Kampagne, die über mehre Jahre laufen soll. Die Vermarktung von Komplexität, das sei schließlich auch für den Veranstalter eine Herausforderung. Doch er gibt sich zuversichtlich: „Wir verkaufen Sinnlichkeit und Anspruch. Eine unschlagbare Kombination in der Welt des schnellen Konsums.“ So jedenfalls wird er zitiert, aus seiner Rede während einer Tagung von Konzerthaus-Intendanten in Heidelberg.

Stampa kann sich diese klaren Worte erlauben. Und dem Publikum ein entsprechend exquisites, facettenreiches, auch schwieriges neues Programm zumuten. Denn das Konzerthaus ist eine Größe im Dortmunder Kulturleben. Die Auslastung kreist seit einigen Jahren konstant um die 72 Prozent, die Abos verkaufen sich außergewöhnlich gut, die Reihe „Junge Wilde“ hat die Nachwuchsnische längst verlassen, ist zum Renner geworden. Stampa sagt: „Wir können es uns inzwischen leisten, Künstler und Programm zusammenzudenken.“ Dass also ein „Star“ lediglich das Programm seiner jüngsten CD abspult, dürfte bestenfalls als Ausnahme durchgehen.

Der Dirigent und Dortmunder Exklusivkünstler Yannick Nézet-Séguin wagt den Ritt.

Der Dirigent und Dortmunder Exklusivkünstler Yannick Nézet-Séguin wagt den Ritt. Foto: Konzerthaus Dortmund

Vom Allgemeinen zum Konkreten, das viel Besonderes in sich birgt: Die neue Konzerthaus-Saison beginnt am 10. September 2014 mit einem Gastspiel der Staatskapelle Dresden unter dem Dirigat Christian Thielemanns. Gleich hier das erste Ausrufezeichen: Gidon Kremer wird das 2. Violinkonzert der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina spielen, einer Avantgardistin, die sich etwa auf Schostakowitsch oder Alfred Schnittke beruft. Und ausklingen wird der Abend mit Bruckners hymnischer, gottesfürchtiger 9. Symphonie.

Nehmen wir weitere Herausforderungen: Ivan Fischer und das Budapest Festival Orchestra widmen sich der monumentalen Turangalila-Sinfonie des französischen Mystikers Olivier Messiaen. Oder die beiden Zeitinseln: Die erste gilt dem Russen Sergej Prokofjew. Gespielt werden an einem Abend alle fünf (!) Klavierkonzerte, tags darauf die Oper „Die Verlobung im Kloster“ (konzertant), zum Abschluss die mächtige (Film)-Musik „Ivan der Schreckliche“. Um authentische Wiedergabe werden sich Chor, Orchester und Solisten des Mariinsky-Theaters bemühen, allen vorweg Valery Gergiev. Die zweite Zeitinsel wiederum ist dem Jazzposaunisten Nils Landgren gewidmet.

Natürlich wird dem Publikum Mozart, Beethoven oder Brahms nicht vorenthalten. In den Auftritten des dirigierenden Exklusivkünstlers Yannick Nézet-Séguin erklingen etwa Brahms’ 2. Klavierkonzert (Solist: Lars Vogt) oder dessen 3. Symphonie. Andererseits aber wird, mit dem Konzerthaus-Debütanten namens Philadelphia Orchestra, die Geigerin Lisa Batiashvili das erste Violinkonzert von Schostakowitsch interpretieren (Die bekenntnishafte Musik des Russen steht übrigens nicht selten auf dem Spielplan). Und wenn Nézet-Séguin mit Dortmunder Chören Carl Orffs beliebte „Carmina Burana“ realisiert, steht die etwas sperrige Fassung für zwei Klaviere und Schlagwerk auf dem Programm. Zuvor gibt’s die Sonate für zwei Klaviere und Perkussion von Béla Bartók.

Aug' in Aug' mit dem Urviech: Dirigent Valery Gergiev.

Aug‘ in Aug‘ mit dem Urviech: Dirigent Valery Gergiev. Foto: Konzerthaus Dortmund

Die Linie also ist klar: Das Konzerthaus will sein Publikum fordern, mit Qualität, berühmten Künstlern und vielversprechendem Nachwuchs. Dabei nimmt es den geneigten Hörer so fürsorglich wie wiederum anspruchsvoll unter seine Fittiche. Etwa mit einer neuen Auflage der Vorlesungsreihe des Dortmunder Musikwissenschaftlers Michael Stegemann, die sich ganz Werken des 20. Jahrhunderts zuwenden wird. Auch hier darf  Intendant Benedikt Stampa durchaus zuversichtlich sein: Stegemanns aktuelle Reihe über das Ende der Klassik, die Romantik und die aufkeimende Moderne läuft blendend – der Saal des Orchesterzentrums ist stets proppevoll.

Noch einmal zum Nashorn: Wenn es sich uns also herausfordernd in den Weg stellt, sollten wir ihm die Stirn bieten. Wie das gelingen kann, zeigt die kernige Werbekampagne mit reizenden Bildern. Die Geigerin Anne-Sophie Mutter nimmt den Dickhäuter einfach an die Kette, Dirigent Valery Gergiev zeigt, mit dem Urviech Aug’ in Aug’, keine Furcht, Yannick Nézet-Séguin wiederum setzt sich drauf zum wagemutigen Ritt. Wenn das keine Vorbilder sind!

Das komplette Programm für die Saison 2014/15 findet man unter www.konzerthaus-dortmund.de

 




Frust und Tumult in der Philharmonie: Anne-Sophie Mutter musste absagen

Mutter oder gar nichts. Vor dem Konzert des Klavier-Festivals in der Essener Philharmonie spielten sich tumultuöse Szenen ab. Geld zurück, forderten vornehme Damen barsch, denn Anne-Sophie Mutter, die Geigerin mit Kult-Status, war nicht da! Die Damen am Info-Tisch des Klavier-Festivals wurden sogar rüde beschimpft, selbst Intendant Franz Xaver Ohnesorg musste einschreiten. Der Grund: Anne-Sophie Mutter hatte am Morgen anrufen lassen, sie sei ernstlich erkrankt und könne am Abend auf keinen Fall spielen.

Wer die Künstlerin kennt, der weiß: Sie würde nie ohne triftigen Grund absagen. Doch die Enttäuschung mancher Mutter-Fans saß so tief, dass die Fassade kultivierter Contenance unter dem Ansturm von Frust und uneingelöster Erwartung zerbröckelte. Hatte man sich doch so auf den einzigartigen Event gefreut!

In solchen Augen zählte das Wunder nicht, das die Disposition des Klavier-Festivals vollbracht hat: Binnen weniger Stunden waren Julia Fischer und ihre Klavierpartnerin Milana Chernyavska als Einspringer zur Stelle. Fischer hat zwischen Salzburg, München, Berlin und London eine Traumkarriere hinter sich, die von ihrer musikalischen Ernsthaftigkeit voll gedeckt wird. Von „Ersatz“ zu sprechen, wäre abwegig. Mutter und ihre Kollegin können sich auf Augenhöhe treffen.

Das zeigen Fischer und Chernyavska – deren Mentor Alfred Brendel saß im Publikum – selbst unter den ungünstigen Vorzeichen. In Claude Debussys g-Moll-Sonate herrscht nach glühend-dunklem Beginn ein leidenschaftlicher, vielfach schattierter Ton vor: lauernd, brüchig, unheimlich gespannt, schmelzend gelöst. In Camille Saint-Saëns‘ d-Moll-Sonate mit der berüchtigten Fingerakrobatik im letzten Satz scheint Julia Fischer dem Publikum zeigen zu wollen, dass sie sich vor keiner geigerischen Herausforderung fürchtet. Verdienstvoller: Sie hält Saint-Saëns frei von dem ihm immer unterstellten Parfüm.

Der erste Teil des Konzerts stand unter weniger gutem Stern: Bei Mozart (B-Dur Sonate KV 454) und in Schuberts „Rondeau brillant“ bleiben Fischer und die in den Noten klebende Chernyavska unter ihren Möglichkeiten. Da fordert das Einspringen wohl doch seinen Tribut. Jubel und eine sanft verklärte Tschaikowsky-Zugabe.




Stil und Geigenspiel – Ritual mit Robe

Stil und Musik - die Geigerin Anne-Sophie Mutter. Foto: Klavier-Festival Ruhr

Wenn Anne-Sophie Mutter die Bühne betritt, weht stets ein leises Raunen durchs Publikum. Die hochgewachsene, schlanke Geigerin mit dem aristokratischen Habitus ist eben nicht nur exzellente Musikerin, sondern auch Stilikone. Spätestens seit Beginn der 90er Jahre hat sie hehre Kunst und edle Mode nebeneinander gestellt. Die Robe wurde Bestandteil eines Rituals, das sich Konzert nennt.

Ihr jüngster Auftritt beim Klavier-Festival Ruhr macht da keine Ausnahme. Gleichwohl behält der Satz „Hier gilt´s der Kunst“ seine Gültigkeit. Es gehört eben alles zusammen: die luxuriös anmutende Erscheinung und die Ernsthaftigkeit des Spiels, das kühl erstrahlende Lächeln und die bisweilen klanglich fahlen Interpretationen.

Das Wunderkind Anne-Sophie Mutter begann einst mit Mozart, als sie 1976 von Karajan entdeckt und gefördert wurde. Das junge Mädchen und der weltberühmte Dirigent – es klingt ein wenig nach Märchen, doch die rasche, unaufhaltsame Karriere der Geigerin spricht eine sehr reale Sprache. Mit dem wachsenden Erfolg ging zudem die Verbreiterung ihres Repertoires einher. Längst ist Mutter zur bedeutenden Interpretin der musikalischen Moderne geworden.

Beim Klavier-Festival indes, in Essens Philharmonie, wagt sie sich nur bis zur spätimpressionistischen Klangwelt Claude Debussys vor. Ausgesprochen spröde wirkt dessen Violinsonate, äußerst fragil und seltsam konturlos. Mutter pendelt zwischen zartem Nebelklang und deftigem Legato. Das Werk löst sich auf ins Nirgendwo – so reizvoll, so unbefriedigend.

Überhaupt fällt auf, das gilt hier vor allem für die Mozart-Sonate, dass die Solistin offenbar manch larmoyanten Ton abgestreift hat zugunsten einer herberen Ausdruckswelt. Die Musik gewinnt an Frische, mitunter auch an Witz. Sie wirkt andererseits, in Mendelssohns F-Dur-Sonate, in all ihrer Romantik entschlackt. Schön und gefühlvoll vorgetragen, ohne unangenehme Süße.

Natürlich gibt es auch Anne-Sophie Mutter, die Virtuosin. Obwohl sie das, im Bewusstsein des Vornehmen, niemals zur Schau stellt. Ihr Furor, mit dem sie sich Pablo des Sarasates „Carmen“-Fantasie nähert, ist ein Stück ernsthaft-konzentrierten Musizierens. Ein brillantes Zückerchen für Publikum, allemal seriös verpackt.

Die Künstlerin, die heuer ihr 35jähriges Bühnenjubiläum feiert, zählt den Pianisten Lambert Orkis zu den treuesten Begleitern ihrer Karriere. Hier in Essen agiert er sehr aufmerksam, pointiert und mit großer Klangsensibilität. Vieles steuert er dazu bei, den jeweiligen Werken eine stilkonforme Atmosphäre zu verleihen.

Das Publikum jubelt beseelt. Anne-Sophie Mutters Auftritt mag professionell durchkalkuliert sein, was durchaus zu spüren ist. Am Ende aber entpuppt sich die Stilikone als Herrin über die Musik, über Klänge, die uns nicht gleichgültig sind. Alle Inszenierung dient der Kunst. Das gibt es nicht alle Tage.