Das schrille Krähen der Apokalypse – Thomas Ostermeiers Berliner „Nora“-Inszenierung gastiert bei den Ruhrfestpielen

Von Bernd Berke

Marl. Brütende Hitze herrscht in der Marler Eisenlagerhalle Victoria 1/2, dieser industriellen Stätte der Ruhrfestspiele. Doch was soll’s. Hier sieht man ein gepriesenes Hauptereignis der Theaterspielzeit: Henrik Ibsens „Nora“ in Thomas Ostermeiers Berliner Schaubühnen-lnszenierung lohnt manchen Schweiß.

Der moderne Klassiker von 1879 ist ein heimliches Stück der Saison. Viele Bühnen, darunter Dortmund, haben das dramatische Prägemuster weiblichen Aufbegehrens ins Programm genommen. Doch die Berliner Fassung im kühlen Bauhaus-Ambiente, das vom vorläufig wachsenden (aber stets bedrohten) Wohlstand kündet, dürfte bei weitem unerreicht sein. Dem frisch ernannten Bankdirektor Helmer (Jörg Hartmann) geht die Karriere so sehr über alles eheliche Maß, dass er Nora jederzeit opfern würde.

Gewaltphantasien wie aus Horrorfilmen

Bei Ostermeier flackern allerlei jetzige, vorwiegend medial aufgepeitschte Krisen-Gespenster durchs Geschehen. Es ist wie ein schrilles Krähen der Apokalypse: Eingestreute Slapstick-Nummern beschwören krude Gewaltphantasien wie aus Video-Ballerspielen oder blutigen Horrorfilmen herauf. Die Machtfrage zwisehen den Geschlechtern wird zuweilen körperlich drastisch ausgetragen: Nicht nur ihr Besitz ergreifender Gatte, dieses Laptop- und Handy-Monster, sondern auch der erpresserische Krogstad und der todkranke Hausfreund Dr. Rank geben sich so unverfroren, als sei Noras Leib durchaus „verfügbar“ wie der eines sadomasochistischen Pornostars. Erschreckend: All das kommt einem ziemlich plausibel vor. Ostermeier webt das Stück vom Tod der Emotionen ins Heute hinein, er zerrt es nicht bloß herüber.

Die anfangs so sorglos-flatterhafte Nora (umwerfend präsent: Anne Tismer) wirkt zunächst wie ein Plappermäulchen vom Schlage einer Verona F.: atemlos konsumgierig, über alles hinweg trappelnd.

Der Weg führt nicht ins Freie

Unter steigendem Leidensdruck wirft sich Nora in (hilflose) Posen der Selbstbehauptung, als wolle sie wenigstens aufrecht durchs Martyrium staksen. Zugleich wachsen Hysterie und Selbstentfremdung: Entgeistert betrachtet sie ihre Hände, die ein seltsames Eigenleben führen. Bin ich das noch. die da handelt?

Schließlich handelt sie ungeheuer haltlos! Sie geht nicht einfach fort, sondern feuert kaltblütig ein Pistolenmagazin auf ihren Mann ab: ein grotesker, gurgelnder Tod im heimischen Aquarium. Als Nora die Haustür hinter sich schließt, führt der Weg nicht ins Freie, sondern in ein Niemandsland fortwährender Verzweiflung.

Termin: Heute, 31. Mai (19 Uhr). Karten: 02361/92 180.




Ringen mit dem Zeitgeist – Stück von Botho Strauß und Thomas Hürlimann beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb

Von Bernd Berke

Mülheim. Es gibt Leute, die nicht an Zufall, sondern nur an Bestimmung glauben. Die Würden bedeutungsvoll raunen und den Kopf wiegen, wüßten sie dies: Gleich in zwei Dramen des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs „stücke 99″ kahl jener Taschenschirm mit dem putzigen Namen „Knirps“ vor. Ob sich daraus eine Aussage übers Gegenwartstheater gewinnen ließe?

Mal im Ernst: Mit Botho Strauß‘ „Der Kuß des Vergessens“ sowie Thomas Hüriimanns „Das Lied der Heimat“ (beide in Mülheim vom Züricher Schauspiel gezeigt) ist der Wettbewerb in die Zielgerade eingcbogen – und beide Autoren erwähnen nun mal beiläufig den kleinen Regenschutz.

Das Paar als Maß aller Dinge

Bei Strauß rückt ein roter Schirm am Schluß gar in den Blickpunkt: Unter seinem Dach findet sich (wundervoll gespielt von Otto Sander und Anne Tismer) jenes Paar zusammen, um das das ganze Stück kreist. „Versuchen Wir’s!“ sagen sie am Ende zaghaft. Und was wollen sie versuchen? Das Zusammenbleiben, die Dauerhaftigkeit, gar über den Tod hinaus. Zuvor hat Strauß jene „Zufalls“-Bekannten Ricarda und „Herrn Jelke“ durch ein Lebens-Labor der Liebesversuche gesandt.

Strauß ringt um den überzeitlichen Mythos des Paares, das er „Vierfüßer“ nennt. Er stellt diesen Mythos gegen alles Geschwätz der Gegenwart, gegen den flüchtigen Zeitgeist der umtriebigen Gesellschaft, in der das Paar freilich immer wieder zu versinken droht. Als „unzertrennlich und unvereinbar“ zugleich empfinden sich die Liebenden. Damit knüpft Strauß fast nahtlos bei Loriot an, der uns aufs komischste nahegelegt hat, daß Männer und Frauen eigentlich nicht zueinander passen…

Natürlich geht Botho Strauß ungleich dringlicher zu Werke. Gerade weil er den gängigen Jargon unserer Jahre verachtet und daher angewidert, aber genau hinhört, formt er ihn so trefflich nach wie kein anderer. Überdies gibt er auch dem Körper-Theater Raum. Nicht nur wortstark ist sein Text, er hat auch einen Leib.

Große Lebenslügen eines kleinen Landes

Die Inszenierung hat Matthias Hartmann besorgt, der designierte Nachfolger Leander Haußmanns als Bochumer Intendant. Er weckt abermals die schönsten Hoffnungen, treibt er doch Strauß‘ Text das Hochfahrende aus, ohne die Bedeutung zu schmälern oder Nuancen zu verschenken.

Strauß wäre somit ein Anwärter auf den Preis. Und Thomas Hürlimann? Nun, der hat sich „seine“ Schweiz als solche vorgeknöpft, die großen Lebenslügen eines kleinen Landes. „Das Lied der Heimat“, wie Hürlimann es vernimmt, klingt vorwiegend falsch.

Es beginnt mit dem Nationaldichter Gottfried Keller und seinen nach 1848 bitter enttäuschten liberalen Hoffnungen. Die Schweiz, so grantelt Keller als Greis, sei nur noch ein Basar, keine wahre Republik. Die wie ein Lied mit Refrains komponierte Handlung gipfelt in einem Vorfall des Jahres 1942: Eine vor den Nazis geflüchtete Polin gerät in ein Schweizer Internierungs-Lager. Ausgerechnet sie, noch dazu glühende Anhängerin des Neutöners Arnold Schönberg, komponiert gezwungenermaßen ein verlogenes Schweizer Heimatlied, mit dem sich der Lagerkommandant nach dem Krieg krumm und dumm verdient.

Jetzt greifen die Damen ein

Das kurze, in Werner Düggelins Inszenierune auch kurzweilige, gelegentlich kabarettistisch getönte Streiflicht-Stück kommt harmlos daher. Vielleicht ist Hürlimann ja besonders durchtrieben, indem er seinem Reigen erst ganz zum Schluß Bedeutsamkeit einflößt. Doch die Szenen wirken wie aufs Geratewohl aus dem Baukasten zusammengestückelt. Allerdings gibt der Text genug her, um auch hier exzellente Züricher Schauspielkunst (Fritz Lichtenhahn, Mathias Gnädinger, Verena Buss) vorzuführen.

Nachdem bisher sechs Herren den Wettbewerb bestritten haben, greifen nun die Damen ein: Es folgen noch Theresia Walsers „King Kongs Töchter“ (heute, 19.30 Uhr) und Elfriede Jelineks „er nicht als er“ (Samstag, 16 und 19.30 Uhr). Karten: 0208/455-4113.