Ohrwürmer im Tongebirge: Bochums Jugendsinfonieorchester spielt ein Benefizkonzert für sich selbst

Die Schwestern Naomi und Mika Cichon (v.l.) waren im Anneliese Brost Musikforum Ruhr die Solistinnen in Mozarts „Sinfonia Concertante“ für Violine, Viola und Orchester. (Foto: Claudia Jaquet)

Die Notenpulte hätten sich an diesem Konzertabend eigentlich biegen müssen. Schwere Brocken des Repertoires landeten darauf, Orchesterwerke in massiver Besetzung, halbe Tongebirge spätromantisch-impressionistischer Natur. Von ihnen eingerahmt, fand sich das heitere Hochplateau von Mozarts „Sinfonia Concertante“ (KV 364), die vor Ideenreichtum schier überquillt.

Vielleicht wollte das Jugendsinfonieorchester (JSO) der Musikschule Bochum ja zeigen, warum es alle Unterstützung wert ist, die ihm aus dem Erlös dieses Abends im Anneliese Brost Musikforum zugutekommt. Unter der Leitung seines langjährigen Dirigenten Norbert Koop spielte es bereits zum 13. Mal ein vom Lions Club Bochum-Hellweg organisiertes Benefizkonzert, gewissermaßen für sich selbst. Das Geld soll Orchesterfahrten und Auslandsreisen ermöglichen, die Anschaffung neuer Noten und die Erneuerung und Verbesserung des Instrumentenbestands. Es soll aber auch die Kinder und Jugendlichen weniger gut betuchter Familien unterstützen, damit das JSO für alle zugänglich bleibt.

Zum Auftakt gibt es spanisches Kolorit: Die Suite Nr. 2 aus Manuel de Fallas Ballettmusik „Der Dreispitz“. Nach etwas zögerlichem Beginn entwickelt der „Tanz der Nachbarn“ Anmut. Ornamente von Flöte und Piccoloflöte schimmern silbrig. Im Tutti rauscht der Orchesterklang, als würde eine große Gitarre geschlagen. Ein kraftvolles Horn-Signal weist für den „Tanz des Müllers“ den Weg: Der stampft vorwärts, mit archaischer Wucht. Der Schlusstanz, eine so genannte Jota, gerät zur ausgelassenen Fiesta. Die Holzbläser schwirren, die Blechbläser trumpfen auf, Becken und Kastagnetten machen die Schlusstakte vollends explosiv.

Zwei JSO-Mitglieder treten an diesem Abend solistisch hervor. Die Schwestern Mika Cichon (Violine) und Naomi Cichon (Viola) müssen den Gleichklang in Mozarts „Sinfonia Concertante” nicht erst suchen. Von Beginn an ist zu hören, wie tief ihre innere Verbindung reicht und wie einig sich die beiden in der Auffassung des Werks sind. Auch ihre Gestaltungsgabe ist ähnlich hoch ausgeprägt: Beide phrasieren natürlich und mit feiner Tongebung.

Blumen für die jungen Künstlerinnen: Naomi und Mika Cichon (v.l.) bei ihrem Auftritt mit dem Jugendsinfonieorchester Bochum. (Foto: Dirk Cichon)

Da wird das Zuhören zum Vergnügen. Die Oktavparallelen beim ersten Einsatz: blitzsauber intoniert. Die Dialoge zwischen Bratsche und Geige: stets beredt und munter. Die Bogentechnik: ausgefeilt und variantenreich. Wer sich von der Optik nicht beeinflussen lassen will und die Augen schließt, hört Anmut und Spielfreude. Das Presto gerät wunderbar grazil und spritzig.

Die große Nagelprobe für die Musikalität ist natürlich der langsame Satz. Die Schwestern gestalten das Andante im ruhigen Fluss, ohne Anzeichen von Nervosität. Den sonoren Ton der Bratsche umspielt die Geigerin in den hohen Lagen der Violine mit delikaten Girlanden. Die Enkelinnen des Bratschisten Teisuke Shiraga (Bochumer Symphoniker) und Nichten der zu früh verstorbenen Pianistin Fumiko Shiraga tragen das musikalische Erbe der Familie eindrucksvoll fort.

Nach der Pause stemmt das JSO einen tönenden Monolithen mit Ohrwurm-Qualitäten: Die Sinfonie d-Moll des Franzosen César Franck, ein zentrales Werk der Spätromantik, das mit seiner Mischung aus französischem Parfüm und deutscher Strenge zu den Favoriten des Konzertpublikums zählt. Die eigenwilligen harmonischen Wendungen des Werks stellen das Orchester vor Herausforderungen. Francks Mäandern durch die Tonarten, sein zuweilen enervierendes chromatisches Geschiebe führt da schon mal zu schwerem Fortissimo-Gewühl. Zugleich wird das Publikum Zeuge eines imponierenden Kraftakts, eines Sturmlaufs voller Dramatik und hymnischer Höhepunkte. Ob die Spendengelder wohl sinnvolle Verwendung finden ist eine Frage, die nach diesem Abend niemand mehr stellen dürfte.

(https://musikschule-bochum.de/ensemble/jugendsinfonieorchester/)




Die Kraft der Musik ist zurück: Rudolf Buchbinder beim Klavier-Festival Ruhr in Bochum – unter teils surrealen Umständen

Sehr spezieller Moment nach Rudolf Buchbinders Konzertauftritt: Die Blumen-Übergabe erfolgte diesmal per Roboter. Die Apparatur ist eine Entwicklung des Lehrstuhls für Produktionssysteme im Fachbereich Maschinenbau der Ruhr-Uni Bochum (Prof. Bernd Kuhlenkötter). (Foto: Sven Lorenz)

Gastautor Robert Unger über den Wiederbeginn des Klavier-Festivals Ruhr – unter teilweise surreal anmutenden Bedingungen:

„Endlich sind Sie wieder da!“, begrüßte der Intendant des Klavierfestivals Ruhr, Franz Xaver Ohnesorg, die Konzertbesucher. Voller Spannung wartete das Publikum auf dieses Live-Erlebnis.

Betritt man das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum für das erste Konzert des Festivals in seiner nun arg verkürzten Spielzeit, fühlt man sich eher wie in einer Quarantänestation. Mit großem Abstand und unter strengen Hygieneregeln verteilen sich im 952 Plätze fassenden Konzerthaus knapp 200 Besucher. Das Foyer, bei den meist ausverkauften Konzerten im Musikforum sonst stets ein proppenvoller, summender Bienenstock, ist an diesem Tag sehr übersichtlich belegt. Hier und da stehen zwei, drei, vier Musikfreunde mit Abstand beisammen, plaudern, begrüßen sich. Dabei ist gerade in schwierigen Zeiten eigentlich das Bedürfnis groß, lebendige Konzertmomente zu erleben. So war das Publikum voller Spannung; eine Reihe von Besuchern ließ auch die Dankbarkeit dem Klavier-Festival Ruhr gegenüber spüren, endlich wieder einem Konzert beiwohnen zu können.

Es scheint wie eine glückliche Fügung, dass das Klavier-Festival Ruhr mit dem renommierten Beethoven-Spezialisten Rudolf Buchbinder und den „Diabelli Variationen“ sowie mit der deutschen Erstaufführung von elf „Neuen Diabelli Variationen“ in die Saison starten konnte. 1819 hatte der Musikverleger Anton Diabelli an bekannte Komponisten seiner Zeit einen simplen Walzer mit der Bitte um eine Variation geschickt. Johann Nepomuk Hummel, Franz Kalkbrenner, der erst elf Jahre alte Franz Liszt, Franz Schubert und einige andere lieferten. Beethoven ließ sich Zeit, schrieb aber dann gleich 33 „Veränderungen“, die als op. 120 in seinen Werkkanon eingingen. 200 Jahre später fragte Buchbinder mit Blick auf das anstehende Beethoven-Jahr zeitgenössische Komponisten nach neuen Variationen. Elf folgten dem Kompositionsauftrag eines Reigens von europäischen Konzerthäusern, unterstützt von der renommierten Ernst-von-Siemens-Stiftung.

Nicht nur schön, sondern auch wahrlich geräumig: das Anneliese Brost Musikforum Bochum. (Foto: Sven Lorenz)

Elf „Neue Diabelli Variationen“

Frappierend genial wirkt der Walzer aus der Feder des Wiener Musikverlegers nicht. Genial war allerdings Diabellis Marketing-Strategie, das Stück den prominentesten Tonsetzern, Virtuosen und Musikhonoratioren des Kaiserreichs zur Bearbeitung vorzulegen. Leider beginnt das Konzert nicht (wie auf dem Programmzettel angekündigt) mit dem Original-Walzer, sondern gleich mit der ersten neuen Variation „Diabellical Waltz“ der einzigen Komponistin in der Liste, Lera Auerbach. Die Neukompositionen zu Beethovens 250. Geburtstag wirken wie ein globales Stilpanorama. Mit dabei sind der Russe Rodion Schtschedrin, der Australier Brett Dean, der Chinese Tan Dun, der Japaner Toshio Hosokawa, der Brite Max Richter und der Deutsche Jörg Widmann. Ob schräg, witzig oder meditativ – immer ist der kreative Umgang mit Diabellis harmlosem „Schusterfleck“ herauszuhören.

Christian Jost nannte seinen Beitrag schlicht „Rock it, Rudi!“, was sich Rudolf Buchbinder denn auch nicht zweimal sagen ließ. Und zu den amüsantesten zeitgenössischen Beiträgen gehört sicher der von Jörg Widmann: Er scheint sich zu fragen, ob das seltsam zackige Thema Diabellis überhaupt das Zeug zum Walzer hat, erkennt dann eine eklatante Verwandtschaft mit dem Radetzky-Marsch und lässt es zu guter Letzt noch zum Boogie-Woogie mutieren. Andere emotionale und sphärische Klänge erklingen bei Hosokawas „Verlust“. Diese erste Hälfte des Konzertes wird im Klang auch beeinflusst durch den fast leeren Saal. Das Klavierspiel von Rudolf Buchbinder wirkt oft laut und stampfend. Ein nicht allzu fernes Echo scheint die ganze Zeit durch den Raum zu strömen.

Kritische Momente beim „Lebens-Motiv“

Nach einer kurzen Pause beginnt für den Pianisten und die Zuhörer die eigentliche Herausforderung. Hans von Bülow nannte die Diabell-Variationen einmal so knapp wie treffend einen „Mikrokosmos des Beethovenschen Genius, ja, sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt“. Beethoven widmete dem einfachen Walzer nicht nur eine Bearbeitung. Er nahm das Thema und versah es mit virtuosen Umspielungen, zerlegte es gnadenlos in seine banalen Einzelteile, aus denen er dann ganz Neues baute, etwa einen pompösen Marsch oder eine dreistimmige Doppelfuge. Diese Welt betritt Buchbinder an diesem Abend mit sehr vehementem Schritt. Töne verschwimmen, die Raffinesse Beethovens will sich nicht einstellen.

Buchbinder, der im Rahmen seines Zweiklangs aus neuer CD-Aufnahme und Buchveröffentlichung sagt, „manchmal habe ich den Eindruck, er sitzt neben mir“ (und damit meint er Ludwig van Beethoven), beschäftigt sich seit vielen Jahren akribisch mit dem Werk Beethovens. Die Diabelli-Variationen, die er bereits zum dritten Mal eingespielt hat, nennt er selber sein „Lebens-Leitmotiv“. Ein Lebensmotiv, das er ohne Zweifel durch die Idee der Neukompositionen bereichert hat, aber der Ursprung wirkt dabei an diesem Abend wenig inspiriert. Kaum Tempovarianten bei raschem Spiel bestimmen den Ablauf der 33 Variationen. Nicht immer gelingen das Austarieren der Crescendi, die homöopathisch dosierten Rubati, die harschen Lautstärke-Kontraste.

Aber sind solche kritischen Momente im Konzert das Entscheidende dieses Abends? Wenn sich am Ende der Variationen das Publikum begeistert zu „Standing Ovations“ erhebt, verspürt man eine erleichterte Freude beim Musiker und seinem Publikum über das gemeinsam Erlebte. Nach monatelanger Stille in den Konzertsälen und sich endlos anfühlendem Warten der Musiker auf den nächsten Auftritt kann man dem Klavier-Festival Ruhr und Rudolf Buchbinder nur Respekt zollen für diesen mutigen Auftakt und den Vorstoß in unbekannte Verhältnisse. Die Kraft der Musik kann letztlich nur im Live-Erlebnis ihren Zauber entfalten. Zugleich darf man aber auch weiterhin gespannt sein, wie sich dieser Zauber in luftig gefüllten Sälen mit Abstandsregeln und Mundschutz in den nächsten Wochen entwickeln wird.

Weitere Konzerte in Dortmund, Düsseldorf, Herten

Das Klavier-Festival Ruhr schaut nach Auftritten von Jan Lisiecki in Dortmund und Essen und einem trotz aller Corona-Beschränkungen stimmungsvollen Konzert mit Anika Vavic auf Schloss Gartrop in Hünxe (Niederrhein) voraus auf den mit Spannung erwarteten Abend mit Igor Levit am 18. Juni im Konzerthaus Dortmund). Weiterhin auf dem Programm: Alexander Krichel (24. Juni, Anneliese Brost Musikforum Ruhr), Olli Mustonen (25. Juni, Gebläsehalle im Landschaftspark Nord, Duisburg) und Kit Armstrong (29. und 30. Juni, Schloss Herten).

Am 1. Juli wird in der Philharmonie Essen der Grandseigneur des Tastenspiels, Sir András Schiff, die enge Verbundenheit Bachs und Beethovens im Kontrapunkt aufzeigen. So finden sich im Programm etwa gleich zwei Werke des Kontrapunktikers Bach, darunter die hochvirtuose „Chromatische Fantasie und Fuge“, deren Echo in der epochalen letzten Klaviersonate Nr. 32 von Beethoven widerhallt. Der Höhepunkt ist dann wohl im Juli der Auftritt von Elisabeth Leonskaja am 6. Juli in Düsseldorf. Auf dem Programm die drei letzten Sonaten op. 109 bis 111, der Gipfel des Beethovenschen Klavierschaffens und eine Hommage an den Wiener Großmeister, die nur schwer vergessen lässt, dass eigentlich das Gesamtwerk Beethovens für Klavier solo in diesem Jahr beim Klavier-Festival Ruhr hätte erklingen sollen.

Über sämtliche Konzerttermine und die aktuellen Programme informiert das Klavier-Festival Ruhr tagesaktuell unter www.klavierfestival.de. Dort finden sich auch Informationen über etwaige neue, die Konzerte des Klavier-Festivals Ruhr betreffende behördliche Verordnungen. Um Karten zu erwerben, trägt man sich am besten online in die Warteliste für das jeweilige Konzert ein.