Auf den Spuren des Unnahbaren – Karl Ove Knausgard über Anselm Kiefer

Mit seinem sechsbändigen autobiografischen Roman-Projekt „Mein Kampf“ wurde Karl Ove Knausgard zu einem der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart. Der norwegische Autor hat wohl kaum je eine Zeile geschrieben, die nicht auf seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen beruht und ein Spiegel seiner Gedanken und Wünsche ist.

Als er in London eine Retrospektive mit Werken von Anselm Kiefer besucht, ist er erschüttert und zugleich fasziniert. Wie kann es sein, fragt sich Knausgard, dass Bilder von blutbefleckten Schneelandschaften, dunklen Wäldern und leeren Äckern, bedeckt mit Stroh und Asche, von Blei übergossen, mit krakeligen Schriftzeichen versehen, Bilder, in denen keine Menschen vorkommen, „trotzdem randvoll mit dem Menschlichem aufgeladen“ sind? Wo kommen all die verstörenden Werke her, die einem das Gefühl geben, „die Existenz an sich zu sehen“? Was treibt den Künstler an, wo ist „Kiefer in seiner Kunst?“

Fünf Jahre lang auf der Suche

Fünf Jahre wird Knausgard versuchen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, sich dem Unnahbaren zu nähern und einen Zusammenhang zwischen Leben und Werk zu suchen. Von 2015 bis 2020 wird Knausgard den Künstler immer wieder interviewen, mit ihm durch seine gigantischen Ateliers in Paris und Barjac schlendern, ihm beim Erschaffen seiner Werke beobachten, ihn bei Vernissagen treffen, bei seinen Vorträgen im Saal sitzen, er wird seine früheren akademischen Lehrer befragen und mit Kiefer die Orte der Kindheit aufsuchen. Fünf Jahre wird Knausgard brauchen, bis er endlich eine Form findet für seinen Artikel, der im „New York Times Magazine“ erscheinen und Grundlage des Buches wird, das Titel „Der Fluss und der Wald“ trägt.

Kiefer ist nicht nur in einer von Wäldern und Flüssen geprägten Landschaft rund um Donaueschingen aufgewachsen, in einem Land, das alles daran setzte, die verbrecherische Vergangenheit in Schweigen zu hüllen. Dass Kiefer mit einer Kunst-Provokation bekannt wurde, als er in den einst von Nazi-Truppen besetzten Gebieten den Hitler-Gruß zeigte und die verdrängte Vergangenheit in einer umstrittenen Performance heraufbeschwor, war vielen unbequem. Dass in seinen Werken der Wald für das Unbewegliche und Geheimnisvolle, der Fluss für das Veränderliche und Grenzenlose steht, könnte, muss aber nicht sein.

Mit dem Fahrrad durch Kunst-Lagerhallen

Was legt der Künstler, der mit dem Rad durch seine Kunst-Lagerhallen von einem angefangenen Bild zum anderen radelt, der in seinen mit Fundstücken vollgestopften Ateliers wohnt und die Orte seiner Kunst selbst zu Kunstwerken macht, von sich und seinem Leben in die Kunst hinein? Was verraten die Wälder und Wiesen seiner Kindheit oder die Tatsache, dass der kleine Anselm jahrelang bei seiner Großmutter und nicht bei seinen Eltern wohnte, über sein Werk, in dem die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufgehoben ist?

Nach vielen Begegnungen und Gesprächen meint Knausgard, dass Kiefers Kunst außerhalb dessen ist, was er sagt und denkt: Sie ist „der Ort, in den er hineingeht, wenn er Schicht auf Schicht aus Farbe, Blei, Stroh, Asche auf die Leinwand aufträgt. Ein Ort, der in ihm und außerhalb von ihm ist. Ein Ort, an dem Mythologie, Geschichte, Religion, Literatur, Dinge und Landschaften zusammengeführt werden, und der Sinn, der dabei entsteht, ist unendlich, denn er wird von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen aktiviert, der und die ihn sieht.“

Karl Ove Knausgard: „Der Wald und der Fluss. Über Anselm Kiefer und seine Kunst.“ Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2023, 186 S., 25 Euro.




Heimkehr von den Irrfahrten – Christoph Ransmayr und Anselm Kiefer schufen ein Buch, das überdauern wird

Odysseus ist müde und ausgelaugt, viel zu lange war er unterwegs, hat unzählige blutige Schlachten geschlagen, sich auf der Suche nach der verlorenen Heimat heillos verzettelt und ist durch das Labyrinth der Menschheitsgeschichte geirrt. Die sich um ihn und seine endlose Reise rankenden Mythen und Märchen sind ihm nur noch schnuppe und können seine Sehnsucht nicht mehr stillen.

Ausgezehrt liegt der listenreiche Städteverwüster in irgendeinem Krankenhaus, lässt seine Blutwerte noch einmal checken, wartet auf seine Entlassungspapiere und seinen Pass, sieht bereits das Meer wieder vor sich „und auf seinem Spiegel / ein gleißendes Gespinst möglicher Routen, / ein Knäuel von Routen der Heimkehr, / die am Ende vielleicht / alle zurückführen / in die Ruinen von Troja.“

Mit einem durch Zeit und Raum, Realität und Utopie irrlichternden „Odysseus“ eröffnet Christoph Ransmayr seinen neuen Band mit Gedichten und Balladen, in dem Schönheit und Schrecken, Poesie und Politik, Dichtung und Malerei sich vermählen und zu einem göttlichen Kunstwerk vereinen. „Unter einem Zuckerhimmel“ lautet der fast idyllische Titel dieses schillernden Crossover-Projekts, zu dem der renommierte Künstler Anselm Kiefer zahllose Aquarelle beigesteuert hat.

Mit Tusche, Bleistift und Kohle hat Kiefer, dessen Werk schon oft um blutige Abgründe, verdrängte Kriege und vergessene Mythen kreiste, seine Farb-Fantasien den poetischen Visionen gegenübergestellt. Was Kiefer auf Gips und Karton getupft und gespritzt hat, bebildert und kommentiert nicht die Balladen und Gedichte, sondern spricht eine eigene künstlerische Sprache, lässt mal eisig blaue, mal blutig rote Farbe auf einen Malgrund tropfen, zieht schwarze Linien und kindlich gekritzelte Buchstaben durch die erdig und steinig wirkende Landschaft.

Christoph Ransmayr lebte Jahrzehnte aus dem Koffer, machte das Unterwegs-Sein zur Lebens-Philosophie, war stets auf der Suche nach einem überraschenden Gedanken und schönen Gedicht, durchquerte Wüsten, stieg auf hohe Berge und reiste zum Nordpol, war immer ein Reisender und Suchender, der „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ und „Die letzte Welt“ besang, „Eine kurze Geschichte vom Töten“ und den „Atlas eines ängstlichen Mannes“ beschwor.

Jetzt scheint Ransmayr zur Ruhe gekommen und lebt wieder in Wien. Doch umso dringlicher erinnert er an den ruhelos durch die Geschichte irrenden „Odysseus“, sendet uns „Nachrichten aus der Höhe“ und erzählt vom „Trost des Steinschleifers“, der sich oft stundenlang verliert in den Tiefen kristalliner Strukturen und in ihnen „ein geheimnisvolles, laut- und zeitloses Bild der Welt“ sieht, „das ihn alle Sensationen und Schrecken / der Geschichte des organischen Lebens / vergessen lässt / und ihm verspricht: / Etwas von dieser Arbeit / wird überdauern. / Nicht für immer, aber länger, / viel länger als alles, / was welken, faulen / und schmerzen kann.“

Der Dichter als Steinschleifer: Auch die Balladen und Gedichte des heimatlos durch Gedankenwelten reisenden Poeten werden überdauern, noch lange weiter leben und uns den Weg dahin zeigen, wohin wir doch alle immer wieder zurück kehren wollen: nach Hause. In der „Ballade von der glücklichen Rückkehr“ ist der ziellos um den Globus reisende Dichter das Unterwegssein leid:

„Genug! Genug. Eines Tages ist es genug. // So weit sind wir gegangen, / so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher, / bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte, / in die Wolken, nur noch ins Leere“.  Erduldet hat er „Orkan. Hunger. Wunden. / Höhenwahn. Fieber. Angst. / Die Erschöpfung oder das Heimweh.“

Doch jetzt reicht es: „Eines Tages kehren wir unseren Träumen / den Rücken / und machen uns auf den Weg in die Tiefe, / zurück zu den Menschen“, wollen nur noch „nichts wie weg. / Wir wollen nach Hause!“ Doch das Zuhause muss kein Ort, kann auch eine Erinnerung sein: an die „Buchstabensuppe, deren Lettern auf dem Tellerrand von meiner Mutter zu Zeilen angeordnet wurden“, den Gedanken, dass „Verse und gesungene Strophen die vollendete Form einer Geschichte“ sein und Balladen den Krieg besingen, aber nicht bannen können:

„Wir spielen / unter einem Zuckerhimmel / Krieg, // nennen flackernde / Strohfeuer / Ewigkeit // und jede Katastrophe / einen Sieg. // Was immer auf uns niederfährt: / Wir nehmen es gelassen, / heiter // und spielen / und spielen weiter / unter einem Zuckerhimmel Krieg.“

Dass Autor und Maler sich lange schon kennen und schätzen, Ransmayr dem Freund ein literarisches Denkmal setzte („Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer“), der sich jetzt sich mit zeitlos-schönen Bildern revanchierte, darf man getrost einen Glücksfall nennen. Ein Prachtband zum Verweilen und Träumen, ein Buch, das man immer wieder neu lesen und anders betrachten kann. Ein Buch, das überdauern wird.

Christoph Ransmayr: „Unter einem Zuckerhimmel. Balladen und Gedichte“, illustriert von Anselm Kiefer. S. Fischer Verlag, 208 S., 58 Euro.

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Infos:

Christoph Ransmayr, geboren 1954, lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Romane „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die Letzte Welt“, „Morbus Kitahara“, „Der fliegende Berg“, „Cox oder Der Lauf der Zeit“, „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“ und „Atlas eines ängstlichen Mannes“ erhielt der Autor zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen. „Unter einem Zuckerhimmel“ ist der zwölfte Band seiner Buch-Reihe „Spielformen des Erzählens“. (FD)

Anselm Kiefer, geboren 1945, zählt zu den bedeutendsten und innovativsten Künstlern der Gegenwart. Mit Malerei, Bildhauerei, Fotografie, Film und Installation versucht er immer wieder, sich der jüngeren deutschen Geschichte zu stellen, das „Nichtdarstellbare“ zu erfassen und Motive und Themen aus Philosophie und Literatur, Wissenschaft und Religion in Bilder zu verwandeln. 2008 erhielt er (als erster bildender Künstler) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. (FD)




Einöden der Historie – Werkschau von Anselm Kiefer in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Jahrgang 1945, und schon eine nennenswerte Werk-Rückschau – Anselm Kiefer, Schüler des einstweilen noch berühmteren Joseph Beuys, ist schon ein Jemand in der Kunstwelt. 50 Gemälde, zumeist in den Kiefer-typischen Riesenformaten, dazu 100 Aquarelle, Gouachen und Buchobjekte zeigt jetzt die Düsseldorfer Kunsthalle (bis 5. Mai, Katalog 30 DM).

Kiefer bezieht seine Stoffe teilweise aus heiklen Bezirken: Germanische Mythen, deren Umformung durch Richard Wagner, „hehre“ Historie: Auf einem Bild namens „Wege der Weltweisheit“ werden führende Köpfe deutscher Geistesgeschichte zu einem mythischen Reigen rund um eine Feuerstelle arrangiert: Dichter und Denker, die (Kiefer zufolge) die „Hermannschlacht“ des Cheruskers immer wieder zum Zentrum nationaler Identifikation gemacht haben.

Gegen Kiefer ist wiederholt der Vorwurf erhoben worden, „faschistische Kunst“ zu produzieren. Auch mir fällt es schwer, unmittelbare und entschiedene Brechungen des skizzierten Themenkreises auszumachen. Vielleicht ist Kiefers Kunst tatsächlich faschistisch (miß)deutbar. Große Vorsicht ist aber geboten, wendet sich Kiefer doch z. B. auch frei nach Theodor Fontane dem „Märkischen Sand“ oder biblischen Motiven zu. Außerdem sollte zu denken geben, daß gerade israelische und französische Aussteller weniger Berührungsangst zeigen: Jerusalem und Paris sind weitere Stationen der Retrospektive.

Auf dem Bild „Vater, Sohn, Heiliger Geist“: drei Stühle, von lodernden Flammen besetzt. Auch auf zahlreichen anderen Bildern wiederkehrend: Feuer, leerer, erdfarbener Raum, zur Mitte zentriert, den Betrachter gleichsam dorthin „einsaugend“.

Weiteres Schlüsselwerk: „Malerei dcr verbrannten Erde“ – eine Palette schwebt in versengter Landschaft. Auch hier, wie so oft bei Kiefer, hingeworfene Schriftzüge. Sie schweben in menschenleeren Räumen oder verlassenem Gelände, durchziehen (u.a. mittels Ankokeln der Bildoberfläche) aufgerauhte, verwüstete Landschaftsformationen. Endzeitbilder einer Einöde, welche die Geschichte hinterlassen und aus der sich der Mensch verabschiedet hat?