Andris Nelsons in Essen: Bruckners Achte mit einem grandiosen Orchester zum perfekten Produkt aufpoliert

Andris Nelsons beim Konzert in der Philharmonie Essen. Foto: Saad Hamza

Andris Nelsons beim Konzert in der Philharmonie Essen. Foto: Saad Hamza

Bleiben wir zunächst beim Orchester, auch wenn es das Marketing vielleicht gerne anders hätte: Es ist die reine Freude, dem Leipziger Gewandhausorchester zuzuhören. Ein vollkommener Genuss, könnte man sagen, wäre dieser Begriff nicht untertrieben, weil er heute nicht im klassischen Sinn als eine Übereinstimmung des Wahren, Guten und Schönen aufgefasst wird, sondern eher als Umschreibung einer sinnlich-hedonistischen Überwältigung.

Nun eignet sich Anton Bruckner nur bedingt dazu, klippenlos strömenden musikalischen Genuss zu bereiten; dazu sind seine aufgetürmten Akkordgebirge dann doch zu störrisch, seine Lyrismen zu wenig eingängig, und zum Mitsingen hat zumal die Achte Sinfonie wenig Material zu bieten. Die kontrapunktischen Verschachtelungen sind eine Sache für passionierte Analytiker, die auch in der Frage, wie sich formale Zäsuren begründen lassen, bis heute uneins sind. Mit seinen Kontrasten, seinen Schroffheiten und seiner komplexen formalen Detailarbeit rückt Bruckner hier im Jahr 1890 nahe an Gustav Mahler, der ihn – und seine Misserfolge – noch vor seinem Tod mit seinen ersten beiden Sinfonien beerben sollte.

Das Licht, mit dem das Leipziger Spitzenorchester Bruckners Gefilde überzieht, ist das eines strahlenden, glanzvollen Sommertags. Schon das erste Thema in den tiefen Streichern strebt nicht aus herbstnebligem Dunst hervor, sondern sonnt sich in samtigem Glanz. Ideal ausbalanciert steigert sich das Orchester in den ersten klanglichen Triumph. Hörner und Oboe leuchten, der Einsatz der Tuben gelingt ohne eine Spur von Härte, beglückend frei schweben die Stellen, an denen Bruckners Satz sich auflichtet. Groß und klar das erste Auftürmen, organisch pulsiert das Metrum. Das Blech breitet Wagner-Samt aus, keine Fehlfarbe, keine ungeschickte Naht stört den Zauber. Im zweiten Satz artikulieren die Violinen im Piano so leicht, so luftig und dennoch so genau, dass sie die blühende Schönheit, die verhaltene Delikatesse dieser leisen Momente mit purem Glück erfüllen. Und wenn sie im dritten Satz auf die tiefen Saiten gehen, klingen die Töne wie dunkel funkelndes Öl. Man möchte auf Kundry anspielen: Hilft dieser Balsam nicht, dann birgt die Musik nichts mehr zum Heile.

Unerhörte Transparenz und Präzision

Was für ein Klangkörper also, mit dem die Philharmonie Essen gleich zu Saisonbeginn – und nach einem ersten Höhepunkt mit Bruckners Sechster und dem Gustav Mahler Jugendorchester unter Herbert Blomstedt– wieder ein Glanzlicht aufsteckt! Nicht umsonst zählt dieses 1743 gegründete älteste bürgerliche Sinfonieorchester der Welt unter das Dutzend weltweiter Top-Orchester. Nach Essen hat es seinen seit 2018 amtierenden, also durchaus noch „neuen“ Gewandhauskapellmeister mitgebracht: Andris Nelsons, internationaler Dirigierstar aus Riga, gleichzeitig Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra, mit dem er 2016 schon in der Philharmonie zu erleben war. Als Exklusivkünstler des Dortmunder Konzerthauses war er dort 2018/19 vier Mal mit dem Gewandhausorchester zu erleben. Kein seltener Gast also an der Ruhr.

Nelsons ist der Garant für unerhörte Transparenz und eine Präzision, die sich selbst in Momenten extremer Verdichtung, wenn Bruckner in der Coda des letzten Satzes vier Hauptthemen übereinander schichtet und miteinander verwebt, nicht erschüttern lässt. Er ist auch der Meister der Tempi, die sich weder in einer langgezogenen, falschen Feierlichkeit noch in gerne für zeitgemäß verkaufter Hast verlieren. Nelsons steht aber auch für einen musikalischen Stil, der an eine Photoshop-Ästhetik erinnert: bearbeitet unter der Maxime einer makellosen Politur, überzogen mit fleckenloser Schönheit, wohlgeformt in der Proportion, mit reiner, ungestörter, idealer Oberfläche.

Und so klingt sein Bruckner auch, berührungslos über allen Schründen des Lebens schwebend, in perfekter Schönheit sich ergießend, widerstandsfrei strömend. Das ist auf seine Weise transzendent, von allem Irdischen ungerührt. Nelsons liefert ein perfektes Produkt, das Bruckners Erdung vergisst, ja verleugnet. Da fährt nichts dazwischen, da gibt es keine Irritationen, da geraten schmerzende Abbrüche nicht zum Ereignis. Und die Steigerungen haben nichts Bohrendes, keine Anspannung, keinen dramatischen Biss. Wenn sich Flöte und Kontrabass treffen, reißt kein Spannungsraum auf; es bleibt alles wohliger Klang. Und der Glanz der Blechbläser strahlt auch im Finale unverstört. Bruckner, in makelloser Perfektion misslungen.




Bruckner unter Spannung, Mahler weltabgewandt – Herbert Blomstedt und Christian Gerhaher setzen in Essen Maßstäbe

Herbert Blomstedt, der jung gebliebene Senior unter den Dirigenten. Foto: Martin Lengemann

Zuallererst muss vom Dirigenten die Rede sein. Von Herbert Blomstedt, der mit 92 Jahren noch immer am Pult steht, hoch aufgerichtet, mit kleinen, gleichwohl intensiven Bewegungen sowie punktgenauen Einsätzen. Der nichts von Strenge hat, vielmehr natürliche Autorität ausstrahlt. Der also ein Orchester verlässlich zu führen versteht. Dem Manier, Theatralik oder gar Egozentrik völlig fremd sind.

Blomstedts Auftritt in der Philharmonie Essen ist außerordentlich, ein kostbares Geschenk, das sich, zur Eröffnung der neuen Saison (2019/20), als Paukenschlag erweist. Weil der Dirigent, gehüllt in eine Aura väterlicher Güte, dem Gustav Mahler Jugendorchester betörende Klangschönheit entlockt, es atmen lässt und so der Musik, den fünf Rückert-Liedern Mahlers, zudem Anton Bruckners 6. Sinfonie, teils Größe verleiht, teils fragile Intimität zuordnet. Blomstedt formt mit Bedacht, das junge Ensemble spielt mit Liebe, in höchster Konzentration und außerordentlich präzise. Ein Glücksfall.

Als wäre dies alles nicht genug, gesellt sich Christian Gerhaher, bester Bariton seiner Generation, dessen Stimme sich auf jede Gefühlsnuance von Mahler einlässt, zu den Interpreten. Todesfahl kann das klingen oder kantig und harsch, bisweilen bittersüß. Manche Ansätze tragen etwas von Sprechen in sich – dem Kunstlied wird gewissermaßen ein kerniger Realismus übergestülpt. Anderes gewinnt nahezu opernhafte Kraft, wenn der Solist die dynamische Entäußerung sucht. Und seine Registerwechsel können gespenstische Wirkmacht entfalten.

Mahler hat die Lieder eher sparsam instrumentiert, in transparentem Satz, bisweilen asketisch klar. Gleichwohl hören wir, vom Orchester luzide aufbereitet, den typischen, mal schlichten, mal resignativen oder schmerzhaften Mahlerton. Der Komponist wendet sich ganz nach innen, feiert die Ruhe, die sich indes zu bestürzender Leere ausweiten kann. Dies alles kulminiert im 5. Lied, dem berühmten „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, eine stille Abkehr von irdischen Mühen hin zum Eremitendasein, letztlich zur erlösenden Transzendenz. Das „Ewig, ewig…“ aus dem „Lied von der Erde“ lässt grüßen.

Bariton Christian Gerhaher kostet bei Malers Rückert-Lieder jede emotionale Nuance aus. Foto: Sony Classic/Jim Rakete

Christian Gerhaher, der hier den Fluss der Zeit gleichermaßen einfriert, damit eine Stimmung herbeizaubert, die zwischen grenzenloser Traurigkeit und wärmender Friedfertigkeit pendelt, wählt als Zugabe das kurze „Urlicht“ aus Mahlers Auferstehungssinfonie. Jede Phrase davon ist sorgfältig, ja geradezu skrupulös gestaltet, mündend in die leidenschaftliche Aufwallung „Ich bin von Gott…“. Ein Bekenntnis, das nicht zuletzt auf den durch und durch religiösen Anton Bruckner verweist, dessen 6. Sinfonie ebenfalls vom weltlichen Mühen und Plagen weiß, von Leere wie von der Inbrunst des Glaubens.

Bruckner bedient sich freilich anderer musikalischer Mittel, schon die opulente Besetzung steht in harschem Kontrast zum spärlichen Mahler-Klang. Zudem das Orchester an diesem Abend mit einem massigen Streicherkorpus aufwartet, der über alle Maßen glänzt und funkelt, schroffe Markierungen setzt oder feurig glüht; der den (nervösen) Puls der vier Sätze vorgibt, andererseits die lyrischen Themen schwelgerisch aussingt. Darüber türmen sich bisweilen die Blechbläser in faszinierenden Schichtungen. Holzbläser, bisweilen auch Horn und Trompete, steuern kantige Einwürfe bei. Jedes Solo ertönt mit gewissermaßen offenem Visier. Brüche tun sich auf und gehörige Spannungsfelder.

Herbert Blomstedt setzt eher auf dezente Tempi, um eben jene Spannung zu transportieren. Doch fällt er damit nicht in musikalische Blockbildung. Wichtig ist ihm der stete musikalische Fluss, die organische Entwicklung. Mag auch der gottesfürchtige Bruckner stets mitgedacht werden, zelebrieren Dirigent und Orchester gleichwohl kein Hochamt. Hymnische Höhepunkte ergeben sich aus dem Vorherigen. Prachtvoll sind sie trotzdem.

Am Ende Jubel, jede Menge Glücksgefühle. Das Orchester der Jungen und der Senior unter den Dirigenten geben allen Grund dazu. Die Saison hat gerade erst begonnen, und schon ist ein erster Höhepunkt zu vermelden. So schnell kann das gehen.




Buchstabierter Bruckner und „exotischer“ Ravel bei den Essener Philharmonikern

Fremde Worte, flirrende Klänge, freche Rhythmen, fließendes Melos: Der Exotismus hatte das musikalische Europa im Griff, als der junge Maurice Ravel mit den „Großstadtindianern“ der Gruppe „Les Apaches“ durchs nächtliche Paris zog.

Die Mezzosopranistin Julie Boulianne. Foto: Julien Faugère

Die Mezzosopranistin Julie Boulianne. Foto: Julien Faugère

Auch Griechenland war im Sinne des faszinierend Fernen „exotisch“: Ravel lernte durch einen Apaches-Freund, den griechischstämmigen Michel-Dimitri Calvocoressi – dem er „Alborada del gracioso“ gewidmet hat – die Melodien kennen, die von der Insel Chios stammen sollen. Er umkleidete sie mit einer zart-farbigen Instrumentierung und harmonisierte sie satt von Chromatik und prickelnd spannungsreichen Akkorden.

Die Lied-Miniaturen „Cinq mélodies populaires grecques“ eröffneten das Siebte Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker und Julie Boulianne ließ sich nicht auf vordergründig folkloristischen Ton ein: Sie hält ihren Mezzosopran neutral in der Farbe, gestenarm in der Artikulation, ohne rhetorische Effekte. Da war der distanzierte Ton zu vernehmen, wie ihn etwa Teresa Berganza pflegte, wenn sie spanische Lieder sang: eine verhaltene Glut im Stimmklang, delikates Sfumato, aber eben keine naive Erzählhaltung.

Auch Ravels „Shéhérazade“-Gesänge – Reflexe auf eine geplante Oper, von der nur eine fertiggestellte Ouvertüre zeugt – bleiben frei von Effekt. Julie Boulianne singt sie wie eine noble Arie von Cherubini, nicht wie Miniatur-Theaterszenen. Das ist letztendlich eine Frage des Geschmacks: Eine Sängerin von anderem Temperament würde sicher das Doppelbödige, die feine Ironie, auch die erotische Innenspannung von „L‘ indifférent“ schmeichlerischer, rhetorischer zum Ausdruck bringen.

Die Essener Philharmoniker sind sensible Partner in der fragilen Balance von Stimme und Instrumentalklang, ob in schwebendem Pianissimo der Streicher oder in den Dialogen von Flöte und Oboe mit der Singstimme.

Die Sinfonie findet nicht zu sich selbst

Hans Graf, Gast am Pult der Philharmoniker, hatte für Ravels ziselierte Klanglandschaft eine glücklichere Hand als für das sinfonische Hochgebirge aus seiner Heimat Österreich, Anton Bruckners Dritte Sinfonie, leider wieder einmal in der verbreiteten, für das Gastiergewerbe wohl daher idealen dritten Fassung von 1889, die dem Musikwissenschaftler Egon Voss zufolge „unübersehbar pragmatischen Charakter trägt“. Es drängte sich der Eindruck einer routiniert einstudierten Aufführung auf, die weder en detail ausgearbeitet noch gar mit einer persönlichen Signatur versehen war.

Schon der Beginn mit den punktierten Achtelgruppen der Violinen, den leisen Wellen der Bratschen, den weiten Holzbläserlinien, dem sanften Horn-Einsatz und der Solo-Trompete mit ihrer thematisch wichtigen Triole startet nicht „misterioso“, sondern so laut, dass die Crescendo-Wirkung zum fortissimo-marcato Höhepunkt lasch bleibt. Die weit geschwungenen Streicher bleiben spröde, auch wenn das „Gewirk“ der Polyphonie von Graf durchhörbar gehalten wird. Dem Rhythmus fehlt der Impetus, der ihm einen drängend-dynamischen Charakter geben könnte; erst im hymnischen Höhepunkt der Durchführung und mit der Reprise stellen sich Bezüge ein, die so etwas wie eine innere Logik hörbar machen.

Der innige Beginn des zweiten Satzes gelingt ruhevoll und durch eine behutsame Betonung der tiefen Streicher apart üppig; auch das allmähliche Anwachsen innerer Bewegung vermittelt Graf sinnig. Dann aber gerät der Satz – bei durchaus schlüssigem Tempo – zu sehr ins Buchstabieren disparat wirkender Teile. Das Scherzo hat mehr Temperament und eine von abwechslungsreicher Dynamik gestärkte Kontur; im Finale triumphiert der Wille zum Brachialen, weniger zur Beleuchtung der zerrissenen Gegensätze von Polka und Choral. Verrauchter Glanz im Blech beendet eine Sinfonie, die nicht zu sich gefunden hat.

Im April bringt das 8. Sinfoniekonzert am 4. und 5. April in der Philharmonie Essen Werke von Hans Werner Henze, Georg Muffat und Antonio Vivaldi; am 25. und 26. April stehen Carl Orffs „Carmina burana“ mit dem Collegium Vocale Gent unter Ivor Bolton auf dem Programm. Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de




Freudiger Schluss, verklärte Wonne: Duisburger Philharmoniker und Axel Kober erkunden die Romantik

Ob Anton Bruckners Siebte Symphonie tatsächlich einer „romantischen Vision“ entspringt, wie der Titel des Sechsten Philharmonischen Konzerts der Duisburger Philharmoniker andeutet, sei dahingestellt: Der Begriff der Romantik ist in der Musik unscharf – und Bruckners gewaltiges Gebilde ließe sich aus guten Gründen ebenso als komplexe Weiterentwicklung formaler Prinzipien der „klassischen“ Komponisten lesen.

Axel Kober, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein und Chefdirigent der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Axel Kober, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein und Chefdirigent der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Selbst der „sehr feierliche“ und „sehr langsame“ zweite Satz verbirgt hinter seinen Wagner-Anklängen einen Sonatensatz, ist also weit mehr als deskriptive Musik von Trauer und Trost.

Aber genau jener zweite Satz, den Bruckner unter dem Eindruck von Wagners Tod am 13. Februar 1883 vollendete, schlägt die Brücke zu Carl Maria von Webers Romantik: Die besteht ja auch nicht nur aus eingängigen Melodien, behutsam dosierter Chromatik, Laut- und Stimmungsmalerei – das beherrscht François Adrien Boieldieu in seiner „Dame blanche“ auch –, sondern aus satztechnisch anspruchsvoller thematisch-motivischer Arbeit. Und die beweist Weber selbst in einem Konzert wie demjenigen in f-Moll für Klarinette, geschrieben für einen der größten Virtuosen aller Zeiten, Heinrich Joseph Bärmann.

Technische Brillanz und Empfindungstiefe

Mit diesem Konzert stellte sich ein junger Solist vor, der seit 2016 Erster Soloklarinettist der Duisburger Philharmoniker ist: Christoph Schneider. Und er erfüllte Webers Komposition mit einer technischen Brillanz und Empfindungstiefe, die eine musikalische Beschreibung schnell an ihre Grenze führt: Das Höhere, Andere, das E.T:A. Hoffmann mit seinem Bonmot vom Ende der Sprache mit romantischem Pathos ausdrücken wollte: Hier ist es spürbar. Der Begriff des „Romantischen“ in der Musik: Hier ist er unmittelbar zu erfahren.

Christoph Schneider. Foto: Duisburger Philharmoniker

Christoph Schneider. Foto: Duisburger Philharmoniker

Bleiben wir also beim dürr beschreibenden Handwerk des Kritikers und bewundern wir den klaren, schwerelosen, aus dem Nichts keimenden Ton im Beginn des Konzerts, der an eine geheimnisvolle Opernszene erinnert. Oder die Läufe, die nicht nur makellos geformt, sondern dazu noch unterschiedlich charakterisiert werden. Oder den ariosen Atem, der manchem Opernsänger blanken Neid ins Herz pflanzen könnte. Den Adagio-Satz, im Tempo treffend, adelt ein ätherisch weicher Ton, ein delikates Piano, schattierungsreicher Klang und eine scheinbar endlos ausgespannte Phrasierung. Und der letzte Satz, ein „Rausschmeißer“ à la Rossini, ist mit Verve gestaltetes Virtuosen-Futter. In der Zugabe, einem Adagio von Bärmann, zeigt Christoph Schneider noch einmal, was mit „Geschmack“ vielleicht ein wenig altmodisch, aber treffend beschrieben werden kann.

Zu Beginn des Konzerts hätte man sich eine der weniger populären Ouvertüren Webers gewünscht, aber diejenige zum „Freischütz“ steht nicht nur emblematisch für die Romantik, sondern verbindet sich durch den Einsatz der Bläser (Hörner, Klarinette) mit dem Solo-Konzert und Bruckners Siebter, in der die „Wagner-Tuben“ eine prominente Rolle spielen. Die Philharmoniker zeigen keine Schwächen im füllig-seidigen Hörnerklang; Chefdirigent Axel Kober lässt allerdings die tiefen Streicher nicht markant genug hervortreten. Das Ganze schließt, wie von Weber vorgesehen, freudig.

Bruckners Satzkunst klar ausmodelliert

In Bruckners Siebter zeigt sich Kober als formsensibler Dirigent. Er nutzt den Klang nicht als Ausrede für mangelnde Artikulation oder nachlässige Ausformung der kontrapunktischen Teile, verfällt aber auch nicht der Gefahr, Bruckners Satzkünste unsinnlich vorzuführen. Im ersten Satz stellt Kober die Themen deutlich vor, macht ihre Gliederung erlebbar und markiert deutlich etwa den Übergang vom ersten zum zweiten Komplex oder den Abbruch vor dem dritten.

An den Höhepunkten, an denen Klang und thematische Dichte kulminieren, drängt sich der Eindruck auf, die Mercatorhalle neige dazu, die Konturen weich zu zeichnen, aber der zweite Satz, das berühmte Adagio, legt nahe, dass auch das Orchester zu wenig entschieden modelliert. Den Höhepunkt mit dem Beckenschlag bereitet Kober dynamisch sorgfältig vor und erklärt ihn damit für strukturell notwendig, nicht lediglich durch den Effekt motiviert. Im schnellen dritten Satz mit dem betonten Trompetenthema und dem frühlingshaft durchsichtig beginnenden, kontrastreichen vierten Satz wählt Kober stimmige Tempi und hält den Blick aufs Geschehen klar.

Die Philharmoniker zeigen schon im aufstrebenden Cellothema zu Beginn, dass sie Bruckner nicht dumpf-massiv, sondern kammermusikalisch leicht, ja bisweilen mit wienerischer Eleganz zu nehmen beabsichtigen. Den Streichern gelingt das ausnehmend schön im zweiten Thema des ersten Satzes und in lyrisch gelösten Momenten des vierten. Die Wagner-Tuben wirken bei ihrem Auftritt eine Spur zu zurückhaltend, aber ihr spröder Ernst wandelt sich im Cis-Dur des ausklingenden zweiten Satzes zu verklärter Wonne.

Beim nächsten Philharmonischen Konzert am 6. und 7. März in der Mercatorhalle Duisburg erklingt Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem mit Christoph Pregardien als Dirigent. Info: https://duisburger-philharmoniker.de/Konzerte/mozarts-requiem-7pk-2018-19




Im Dienste der Deutlichkeit: Christoph Eschenbach dirigiert Bruckners Siebte in der Philharmonie Essen

Anton Bruckners monumentale Sinfonien fordern neben einem souveränen formalen Überblick von Orchestern und Dirigenten, sich in der Dynamik eisern zu disziplinieren. Zu verführerisch verleiten die Blechbläser-Batterien dazu, mit Bravour und Bombast abgefeuert zu werden. Dann ist das Fortissimo schnell zu laut und verdirbt den überlegten Aufbau eines dynamischen Spannungsbogens.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Dieser Verlockung hat Christoph Eschenbach in der Essener Philharmonie bei seinem Konzert mit dem SWR Symphonieorchester in Anton Bruckners Siebter Symphonie erfolgreich widerstanden. Auch seine Tempi bezeugen, dass er sich intensiv mit Fragen der Interpretation befasst hat.

Bruckner gibt oft eher Stimmungs-Hinweise als tatsächliche Tempoangaben, und wer „sehr schnell“ und „sehr langsam“ allzu wörtlich nimmt, gerät in Extreme, die der Musik nicht gut tun. Eschenbach neigt zum Langsamen, aber nicht, um die Musik mit Pathos aufzuladen, sondern um Bruckners Streben nach „Deutlichkeit“ zu erfüllen.

Der Klang des aufgrund heftig umstrittener, von vielen als skandalös eingeschätzter Kürzungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk 2016 neu formierten Orchesters kommt dem entgegen: Das wundervolle Cello-Thema des Beginns löst sich aus dem sehr sachlich gefassten „Urnebel“ der Violinen schwerelos atmend, der Zwischensatz lässt plastisch kontrapunktische Arbeit hervortreten.

Die Balance zwischen den Streichern und dem ausgezeichneten, wenn auch in der Philharmonie eher hart als füllig wahrnehmbaren Blech stimmt. Bruckners thematische Scharniere bewegen sich gut geölt und sind hörend nachvollziehbar. Eschenbach nimmt immer wieder zurück, so dass der Einsatz des dritten Themas wirklich leise erfolgen kann.

Statt nebulöser Ausdrucksmusik bietet Eschenbach im „sehr feierlichen“ zweiten Satz klare Entwicklungskonturen. Die Wagner-Tuben haben ihren düster grundierten Auftritt, die Streicher zeichnen mit einem Motiv aus Bruckners „Te Deum“ ein mild-tröstliches Gegenbild. Erst jetzt, in gigantischer Steigerung nach C-Dur, entfesselt Eschenbach großartig das dreifache Fortissimo. Im dritten Satz betont er die strukturelle Funktion des Trompetensignals zu Beginn; der oft kritisierte vierte Satz zeigt in solcher Durchleuchtung, dass er sich vor den anderen nicht verstecken muss. Reizvoll ist, wie Eschenbach hier, aber auch schon am Ende des ersten Satzes, die klangliche Nähe zu Wagner demonstriert.

Eröffnet wurde das Konzert mit Mozarts A-Dur-Klavierkonzert, in dessen Allegro-Satz sich Christopher Park mit wattiertem Klang und manchmal hastiger Artikulation nicht glücklich einführt. Aber je dichter das Geflecht von Solist und angemessen luftig agierendem Orchester wird, desto klarer und klangsinniger lässt Park die melodischen Erfindungen Mozarts sprechen. Den Mittelsatz spielt er weltverloren wie ein Chopin-Nocturne, romantisch-sensibel im Anschlag, mit stets spannend erfüllter Linie. Im lebhaften Finalsatz fallen wieder nicht deutlich genug ausgeformte Passagen auf. Originell: Für die Zugabe treten zwei Musiker aus dem Orchester und spielen mit dem Pianisten zusammen einen Satz aus Mozarts „Kegelstatt“-Trio.

Bemerkungen zur Fusion der SWR-Orchester

Die von der Musikwelt heftig bekämpfte Fusion der beiden früheren SWR-Orchester in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg, vom 2016 wiedergewählten Intendanten Peter Boudgoust forciert und vom Rundfunkrat abgenickt, wurde koordiniert vom früheren Intendanten der Essener Philharmonie, Johannes Bultmann. Er ist seit Januar 2013 „künstlerischer Gesamtleiter“ der Klangkörper und Festivals des Südwestrundfunks.

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Im April 2017 ist es Bultmann gelungen, den „Dirigenten des Jahres“ 2016, Teodor Currentzis, als ersten Chefdirigenten des fusionierten Orchesters zu verpflichten. Currentzis, der von kurzem erst im Dortmunder Konzerthaus und in Baden-Baden Giacomo Puccinis „La Bohème“ dirigiert, lässt sich auf der Webseite des SWR zitieren, es sei für ihn von besonderer Bedeutung, „den Reichtum beider Ensemble-Traditionen aufzugreifen und das neue Orchester aus dem Besten der beiden Klangkörper zu gestalten“. Zu Beginn der Spielzeit 2018/19 wird er sein Amt antreten; zuvor, am 21. Januar 2018, dirigiert er in Freiburg bereits Bruckners Neunte.

Die 1945 und 1946 – wahrlich nicht in finanziell üppigen Zeiten – gegründeten Orchester hatten unter renommierten Chefdirigenten in jahrzehntelanger Arbeit unterschiedliche Profile entwickelt; das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg etwa prägte sich aus zum gefragten Klangkörper für Uraufführungen und zeitgenössische Kompositionen. Der Musikjournalist Gerhard Rohde kommentierte 2013: „Die von Intendanz und Hörfunkdirektion des Senders in die Wege geleitete Fusion mit dem Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester wird beide Klangkörper in ihrer künstlerischen Eigenart und spezifischen Qualität auslöschen.“

Mag sein, dass Currentzis der richtige Mann ist, um aus dem traditionslosen Orchester etwas Neues zu formen, das künstlerisch Bestand hat. So scheint es jedenfalls Bultmann zu sehen: „Teodor Currentzis hat neue Ensembles gegründet, geformt und in kürzester Zeit international künstlerisch an die Spitze geführt.“




Ein Guss, ein Fluss: Andris Nelsons dirigiert Anton Bruckners 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund

Der lettische Dirigent Andris Nelsons ist Residenzkünstler in Dortmund und designierter Gewandhauskapellmeister (Foto: Marco Borggreve)

Mehrfach erlitt die Partitur von Anton Bruckners 5. Sinfonie Verschlimmbesserungen. Bei der Grazer Uraufführung im Jahr 1894 präsentierte der Bruckner-Schüler und Dirigent Franz Schalk das monumentale Werk in einer völlig verstümmelten Bearbeitung.

Selbst Gustav Mahler erlaubte sich Kürzungen, als er das Werk 1901 in Wien einstudierte. Er eliminierte einige der von Bruckner gesetzten Pausen mit der Begründung, sie würden den musikalischen Fluss zerschneiden.

Wer jetzt erleben konnte, zu welch grandiosem Gesamtkunstwerk sich Bruckners Originalfassung im Konzerthaus Dortmund rundete, wird Gustav Mahler selbst als eingefleischter Anhänger Unrecht geben müssen. Verantwortlich für diese Augen und Ohren öffnende Interpretation waren das in London ansässige Philharmonia Orchestra und der lettische Dirigent Andris Nelsons, Musikdirektor in Boston und aktueller Residenzkünstler in Dortmund.

Es ist die reine Wohltat, Bruckners Musik einmal nicht als rumpelndes Geschiebe erratischer Blöcke zu erleben. Vielmehr beginnt mit Takt 1 ein großer Fluss zu strömen, der die nach Beethoven an einen Endpunkt gelangte Gattung der Sinfonie in die Zukunft trägt. Vier weit ausgreifende sinfonische Sätze verschmelzen zu einer einzigen Welt. Was diese im Innersten zusammenhält, scheinen Nelsons und die Musiker mit untrüglichem Instinkt zu wissen.

Den zahlreichen Generalpausen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Sie sind an diesem Abend nicht trennende, sondern verbindende Elemente: nie scharfer Abbruch einer Entwicklung, sondern ein gespanntes Hineinhorchen in das, was kommen mag. So visionär und aufregend das ist, so entspannt und edel klingt das Philharmonia Orchestra. 1945 von Walter Legge gegründet und vielen als „Schallplattenorchester“ bekannt, bietet es den Ohren berauschenden Wohlklang, vom mysteriös raunenden Naturlaut bis in die zackig auffahrenden Fortissimo-Gipfel. Dass trotzdem nichts auf Hochglanz poliert klingt, ist das nächste Wunder dieses Abends. Wir hören einen souveränen Klangkörper, der in höchster Konzentration und Geschlossenheit auf dem schmalen Grat balanciert, der rustikale Vitalität und schicksalhafte Wucht voneinander trennt.

Der Ansturm auf den letzten Gipfel beginnt, wenn alle Themen der vorangegangenen Sätze im Finale durch den großen Fugen-Häcksler geschickt werden. Nun bleiben Beethoven-Zitate und Schubert-Anklänge endgültig zurück. Hier, im titanischen Ringen disparater Kräfte, beginnt etwas Neues, das zwar weniger Schmerzensschärfe besitzt als bei Gustav Mahler, aber wie bei diesem in eine alles überstrahlende Apotheose mündet.

Wie mühevoll der Weg dorthin ist, beschönigen Nelsons und das Philharmonia Orchestra nicht. Umso grandioser wirkt die Coda mit ihrem Choral, der im dreifachen Fortissimo über uns hinweg fegt. Es ist ein Triumph, der Anton Bruckner und Gustav Mahler unvermutet als Brüder im Geiste erscheinen lässt. Dies ist die letzte und vielleicht erstaunlichste Einsicht dieses Abends. Grenzenloser Beifall.

(Informationen zur Residenz von Andris Nelsons: https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/263/ Ticket-Hotline: 0231/22 696 200)




Ohne Gedünst: Philippe Herreweghe versachlicht in Essen Bruckners Fünfte

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Die Bruckner-Kritik bedient sich seit etwa einer Generation gerne bestimmter Begriffe, um einen neuen Zugang zu den schwer erklimmbaren Gipfeln des Spätromantikers zu markieren: Bruckner müsse man, so heißt es, vom „Weihrauch“ befreien, seine Klangmassen entschlacken, Pomp und Prunk seiner monumentalen Setzungen aufbrechen, ihn gar entmythisieren oder entkatholisieren.

Da ist was dran; Michael Gielen etwa hat es in seinen Aufnahmen exemplarisch und manchmal verstörend nüchtern gezeigt. Aber der Verdacht, mit solchem bilderstürmerischen Elan von einer in die andere Ideologie zu driften, lässt sich nicht ausräumen. Beispiel „Pomp“: Was soll man davon halten, wenn Bruckner im Finale seiner Fünften Symphonie für den Blechbläserchoral fortissimo bis zum Ende vorschreibt? Damit will er wohl nicht nur die Bedeutung des triumphierenden Hauptthemas aus dem Kopfsatz flankieren – dazu, rein strukturell gedacht, bräuchte er die Bläser nicht feierlich monumental bis an ihre physischen Grenzen fordern. An solchen Stellen darf wohl jenseits aller kompositorischen Notwendigkeit auch an einen Moment des Bekenntnisses gedacht werden – wie auch immer dieses wiederum zu deuten wäre: doch sicher kein leerer, auf bloße Überwältigung hin konzipierter „Pomp“.

Die Fünfte kommt den Vorstellungen, wie Bruckner zu klingen habe, überhaupt nicht entgegen. Er selbst hat sie sein „kontrapunktisches Meisterstück“ genannt und Simon Sechters Kontrapunkt-Abhandlungen lassen aus jedem Satz grüßen. Als wolle er trotzig seine Kritiker zum Schweigen bringen, demonstriert Bruckner wie nie mehr sonst, wie souverän er Sätze konzipiert und miteinander vernetzt.

Die große Klammer des Kopfsatzthemas ist ja nur die auffälligste dieser motivischen Verwandtschaften, die sich bis ins Detail hinein nachweisen lassen. Ganz zu schweigen von den Kombinationen von Formprinzipien wie Sonate und Fuge oder von der strukturellen Bedeutung des Rhythmus für die Wandlung von Themen.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Mit den Essener Philharmonikern macht Philippe Herreweghe durchaus deutlich, wie strukturbetont Bruckner in seiner Fünften denkt. Transparenz ist das Gebot der achtzig Minuten in der nahezu ausverkauften Essener Philharmonie. Die Orchestergruppen sind scharf herausseziert; kein Klanggedünst verschleiert wichtige Nebenstimmen. Selten dürfte sich die Doppelfuge des Schlusssatzes so deutlich konturiert verfolgen lassen. Herreweghe scheint in den Proben jedes Detail herauspräpariert, jeden Verlauf durchmodelliert zu haben. So kann er im Konzert gelassen und ohne Stab mit sparsamen Bewegungen führen. Hier gibt es keine pathetische Parade eines Dirigenten.

Auch die stetigen Tempi kommen dieser Lesart entgegen. Herreweghe meidet Schwankungen, die vermeintlich Höhepunkte markieren; er hetzt nicht und gibt der Polyphonie gebührend Raum. Daran liegt es, dass bei dem derzeitigen Artist-in-residence der Essener Philharmonie das Erhabene nicht in – falsche – Emphase driftet. Die Dynamik kostet Herreweghe aus: Der Gegensatz der sehr leise, aber deutlich markierten Pizzicati des Beginns mit der auffahrenden Fanfare und dem ersten Tutti-Hohepunkt ist ausgeschöpft, aber nicht übertrieben gespreizt. Kontraste sollten auch in den folgenden Sätzen heftig betont werden.

Bei Harmonia Mundi hat Herreweghe mehrere Bruckner-Symphonien aufgenommen, darunter auch die Fünfte.

Bei Harmonia Mundi hat Herreweghe mehrere Bruckner-Symphonien aufgenommen, darunter auch die Fünfte.

Was die Noten betrifft, ist also alles bestens für eine exzeptionelle Aufführung disponiert – selbst wenn das Blech manchmal nicht ganz intonationsrein scheint. Die Probleme beginnen jenseits der Noten – und sie führen dazu, dass Herreweghes Bruckner-Zugang, wie schon in seiner Aufnahme mit dem Orchestre des Champs-Èlysées, nicht befriedigt. Vor allem in den Mittelsätzen baut der Dirigent keine Spannung auf, gestaltet er keine Ereignisse, sondern reiht Zustände und Entwicklungen aneinander.

Es ist kein Widerspruch zu einer strukturell bewussten Sichtweise, etwa die basslosen Streicher einmal leuchten zu lassen; es schadet dem Blick durch das symphonische Geflecht nicht, einer Bläserstimme gestalterischen Atem zu gewähren. So schleppt sich das Adagio ohne Spannung dahin, bleiben die Ländler des Scherzos ohne Charme und tänzerischen Schwung.

So sympathisch bescheiden die Dirigierweise Herreweghes wirkt: Die Essener Philharmoniker machen den Eindruck, als bräuchten sie hin und wieder eine animierende, befeuernde Geste, als wünschten sie sich einen Ausbruch aus der Leisetreterei, hin zu einem Blühen des Klangs und zu einer expressiven Bewegung, die mit Passion das „vivace“ des Satzes erfüllt. Kein Weihrauch, wahrlich nicht, aber mit ihm hat Herreweghe der Fünften auch das Aroma weggelüftet.




Der Einzelne und die Gewalten: Gubaidulina und Bruckner unter Thielemann in Köln

Christian Thielemann am Pult der Dresdner Staatskapelle. Foto: Matthias Creutziger

Christian Thielemann am Pult der Dresdner Staatskapelle. Foto: Matthias Creutziger

Ein Orchester mit traditionsreichem, golden fülligem Klang, ein Dirigent mit einem Faible für die deutsche Romantik und ein Komponist, der wie kein zweiter für das Abendleuchten der ungebrochenen Tonalität und für einen Höhepunkt der Symphonik steht: Die Sächsische Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann und Anton Bruckner – diese Verbindung muss einfach funktionieren. Und das tut sie auch: Das Konzert in der Kölner Philharmonie, das heute (10. September) zur Saisoneröffnung im Konzerthaus Dortmund wiederholt wird, ließ die drei vollendeten Sätze von Bruckners Neunter in vollendeter Meisterschaft erklingen.

Solche Höhepunkte sind selten – und dennoch entfachte nicht Bruckners monumentaler Abschied von der Welt das innere Brennen dieses Abends. Sondern Sofia Gubaidulinas tief bewegendes Zweites Violinkonzert „in tempus praesens“ („in der gegenwärtigen Zeit“), gespielt von Gidon Kremer, einem langjährigen Weggefährten der tatarischen Komponistin, die 1992 in die Bundesrepublik ausgewandert ist. Ein Werk, das Anne-Sophie Mutter gewidmet und auch von ihr 2007 uraufgeführt worden ist. Kremer hatte Gubaidulina stets ermuntert und auch ihr erstes Violinkonzert „Offertorium“ 1981 uraufgeführt – damals ein Paukenschlag, der die bescheidene, tiefreligiöse Frau aus dem Osten von jetzt auf nachher bekannt gemacht hat.

Sicher gibt es im Zweiten Violinkonzert, in dem Gubaidulina nach einem Verhältnis von Solist und Orchester jenseits der Tradition sucht, den Aspekt der Konfrontation des Einzelnen mit dem Gesamten. Mag sein, dass es um das Individuum und die Gesellschaft – oder, wie man bei Schostakowitsch interpretiert – um die Macht des Staates geht. Vor dem christlichen Hintergrund der Komponistin lässt sich dieses Verhältnis aber auch religiös deuten: Der Mensch sucht sein Verhältnis zu den „Mächten und Gewalten“, jenen göttlichen Kräften, die nicht mit Gott selbst zu identifizieren sind, die aber Weg und Schicksal des Einzelnen begleiten. So wirkt das Orchester: kommentierend, begleitend, dominierend, erschreckend gewaltig herausfordernd oder sanft tragend. Die Geige kommuniziert mit diesen klanglichen Manifestationen, gibt ihnen Themen vor, erschrickt vor ihren Reaktionen, flieht oder kämpft. Und entschwebt am Ende in einem einsamen Ton.

Christian Thielemann und Gidon Kremer in der Kölner Philharmonie. Foto: Matthias Creutziger

Christian Thielemann und Gidon Kremer in der Kölner Philharmonie. Foto: Matthias Creutziger

Gidon Kremer beschönigt nichts. Keine saftigen Klangergüsse, keine schmelzende Süße, keine melodramatischen Sonorität. Das steckt alles drin in Gubaidulinas Noten – Anne-Sophie Mutter hat es in ihrer Aufnahme prächtig ausgebreitet. Kremer geht einen anderen Weg: den des herben, ernst gesammelten Tons, den der expressiven Reduktion des Klangs, den einer spröden, endlos differenzierten Artikulation. Und die Dresdner reagieren unter dem zurückhaltend schlagenden Christian Thielemann mit einer wundervollen Aura ebenso differenzierter Klanggebilde: von der geräuschhaften, perkussiven Grelle zur gespenstisch anmutenden Verschleierung, vom runden, leuchtenden Tutti zur fragilen Balance miniaturisierter Gesten, von massiver Gewalt zu schillernder Transparenz. Am Ende: Ergriffenheit. Das Publikum ist nicht in der Stimmung für Jubel oder Enthusiasmus.

Die dynamische und klangliche Flexibilität der Dresdner, der souveräne Blick der Musiker auf die Noten und ihr Gehör füreinander garantieren einen Bruckner von außerordentlicher Klasse. Das Orchester ist mit der Sprache des frommen Mannes aus Ansfelden wohl vertraut; Christian Thielemann hat mit der Staatskapelle bereits einen Bruckner-Zyklus absolviert. Der Star so mancher Konservativer befleißigt sich jedoch nicht, Bruckner als orgelblockschichtenden Pathetiker zu präsentieren. Er hält die Zügel lange, lässt die Musiker frei agieren, sorgt so für einen gelösten Ton und lockere Metrik – manchmal freilich auch für nicht ganz passgenaue Einsätze, für die Thielemann dann doch die Hand heben sollte.

An den Stellen, die ihm wichtig sind, beschwört er seine Musiker mit gestrecktem Zeigefinger, mit Dynamik- und Phrasierungshinweisen der Hand. Vor allem lässt er nicht durchgehen, was einige Tage zuvor Christoph Eschenbach in Essen zu wenig beachtet hat: Thielemann baut die Dynamik der Entwicklung überlegt auf. Seine Violinen nehmen sich zurück, pflegen einen sanft leuchtenden, fast zerbrechlichen Ton mit leicht geführtem Bogen – und die Kontrabassgruppe zeigt sich homogen und intonationssicher wie in kaum einem anderen Orchester. Im richtigen Moment sind die Streicher dann mit ihrem goldleuchtenden Klang präsent. Wenn dann im ersten Satz das Thema im Blech apotheotisch auffährt, ist ein wirklicher Höhepunkt erreicht.

Thielemann entwickelt solche Gipfelpunkte mit Energie und Spannung, fängt aber das Abebben danach auf, führt die berüchtigten Bruckner’schen Neuansätze weiter, ohne den Faden zu kappen. So stellt er die Zusammenhänge her. Dass ihm, dem passionierten Wagner-Dirigenten, die erhabenen Momente wie der Beginn des Adagios besonders am Herzen liegen, ist hörbar. Aber Thielemann behandelt sie – anders etwa als früher bei Beethoven – nicht isoliert als wichtige „Stellen“, sondern sieht sie stets in ihrer Rolle im großen Ganzen. Ein Abend, der den Anspruch des Orchesters unterstreicht, unter die weltweit führenden Klangkörper zu zählen.




Philharmonie Essen: Klang-Erkundungen mit Wolfgang Rihms Zweitem Klavierkonzert

Wolfgang Rihm und Essen: Das ist eine ausdauernde Geschichte, die ihren Höhepunkt 2008/09 hatte, als die Philharmonie dem Komponisten von Weltgeltung mit 17 Konzerten eine umfassende Hommage bereitete. Unter anderem wurde damals sein 11. Streichquartett uraufgeführt.

Im Juni dieses Jahres dann erneut eine Uraufführung: „Verwandlung 6“, eine „Musik für Orchester“, geschrieben zum zehnjährigen Bestehen der neuen Philharmonie. Jetzt wäre es beinahe zu einer deutschen Erstaufführung gekommen: Rihms Zweites Klavierkonzert erklang im Rahmen einer Tournee des Gustav Mahler Jugendorchesters unter Christoph Eschenbach, die am Sonntag in Köln endete.

In Salzburg uraufgeführt: das Zweite Klavierkonzert Wolfgang Rihms. Auf dem Foto: Solist Tzimon Barto, Dirigent Christoph Eschenbach und Mitglieder des Mahler Jugendorchesters. Foto: Marco Borelli / Lelli

In Salzburg uraufgeführt: das Zweite Klavierkonzert Wolfgang Rihms. Auf dem Foto: Solist Tzimon Barto, Dirigent Christoph Eschenbach und Mitglieder des Mahler Jugendorchesters. Foto: Marco Borelli / Lelli

Es ist noch keine vierzehn Tage her, dass Tzimon Barto als Solist das neue Werk in Salzburg uraufgeführt hatte. Seither hatte er es in Deutschland in Hamburg, Lübeck und Dresden gespielt, gemeinsam mit den jungen Musikern des 1986 von Claudio Abbado gegründeten Orchesters. Unter ihnen sind auch zwei aus Essen: der Trompeter Lukas Müller und der Fagottist David Schumacher. Beide studieren an der Folkwang Hochschule der Künste.

Rihm nennt das neue Werk bewusst sein „Zweites Klavierkonzert“: Er komponiert mit Blick auf die Geschichte der Gattung. „Rondo“ nennt er etwa den zweiten Satz, bezieht sich damit auf ein klassisches Formmodell. Doch er ahmt nicht nach. Sondern er erfindet neu, während er zurück blickt. Das macht seine Musik zugleich fasslich und ungreifbar, vertraut und enthoben.

In den Mini-Dialogen des Klaviers mit den wunderbaren jungen Solisten des Orchesters streifen sich Klänge wie feine Fäden von Dunst; in transparent schimmernden Flächen und delikat ausbalancierten Verdichtungen verschmelzen sie zu still tönenden Seen. Oft sagt man, die Qualität eines Orchesters zeige sich im „piano“: Mit den tausend Schatten von „Leise“ in Rihms Konzert hat sich das Jugendorchester das beste Zeugnis ausgestellt. Solist Tzimon Barto erwies exquisiten Klangsinn und die Demut, sich einbinden zu lassen in geduldige Klangerkundungen.

Barto, der in seiner Jugend gern den amerikanischen Strahlemann gab, ist zu einem höchst sensiblen Künstler gereift. Mit der geforderten Delikatesse füllt er die Bögen, die ihm Rihm im pianissimo für das Klavier schreibt. Klarinetten und Bassklarinette antworten ihm, setzen ein behutsames sforzando wie eine flüchtige Nuance auf den Ton. Rihm lässt den Klang changieren, führt ihn, getragen von schwebenden Streichern, über das Fagott zum Horn.

Erst nach 90 Takten ist ein erster dynamischer Akzent erreicht, markiert von der Posaune und beantwortet von einem glänzenden Bogen und feinnervigen Skalen des Klaviers. Und erst weitere 70 Takte später blitzt der volle Orchesterklang auf, wenn Hörner, Blechbläser, Vibraphon und Röhrenglocken, umschwirrt von der Harfe, einen dynamischen Gipfel erreichen. Nach dichten Passagen des Klaviers, teils solistisch, teils im sensiblen Dialog mit dem Orchester, verklingt das Konzert nach einer halben Stunde still: Das Pianissimo des Klaviers mischt sich mit den leisen Kontrabässen; zwei Atemzüge, dann verweht ein einsam ersterbendes „Fis“ im Raum.

Freute sich über seine Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen": der Komponist Wolfgang Rihm. Mit Dirigent Tomás Netopil genießt er den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Freute sich über seine Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“: der Komponist Wolfgang Rihm. Mit Dirigent Tomás Netopil genießt er den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Rihms Konzert prunkt nicht mit seiner technisch-kompositorischen Raffinesse. Es fordert den Hörer. Es will in seinen feingesponnenen Verästelungen, in seinem Gespinst von nuancierten Klängen erlauscht werden. Ein denkbar schroffer Kontrast zum lärmenden Gestampfe der geräuschhaften Hörverschmutzung um uns herum – und auch ein Gegenprogramm zu jenen zeitgenössischen Strömungen in der Musik, denen ein halbes Dutzend voll zuschlagender Perkussionisten noch kaum genug sind.

Dass es im Mahler Jugendorchester auch laut zugehen kann, bewies es mit Bruckners Siebter Symphonie. Hat Christoph Eschenbach sich bei Rihm mit sorgsamen Zeichen in den Dienst des delikaten Sensualismus gestellt, ließ er bei Bruckner die Zügel los: Viel zu rasch waren dynamische Höhepunkte erreicht, viel zu eilig explodierten die berühmten, von den Blechbläsern getoppten Tutti. Zudem zelebrierte Eschenbach die Tempi extrem langsam, legte etwa das „sehr schnelle“ Scherzo breit und schwer an. Und das Adagio fiel an den „schönen Stellen“ in dumpfklingende Lethargie.

Leuchtende, unangestrengte Natürlichkeit suchte man vergebens – und die majestätischen Bruckner-Apotheosen waren verschenkt, weil dem Effekt schon vorher lautstark der Druck abgelassen wurde. Am Orchester lag es nicht: Die jungen Musiker begeisterten, etwa in Celli, Violinen und Holzbläsern, mit wundervollen Details. Dass sie sich nicht zum Ganzen fügten, ist ihnen nicht anzurechnen.