Sehnsüchte und Selbsttäuschungen: Mit Peter Eötvös‘ Oper „Tri Sestri“ nach Tschechow wächst das Theater Hagen über sich hinaus

„Drei Schwestern“: Dorothea Brandt (Irina), Maria Markina (Mascha), Lucie Ceralova (Olga). (Foto: Leszek Januszewski)

Bis in die siebziger Jahre hinein waren sie in Mode und in jedem gepflegten Haushalt anzutreffen: Runde Deckchen, gehäkelt oder bunt bedruckt, schmückten Tischchen, Vitrinen, Buffets. Die Familie Prosorow macht es sich in Friederike Blums Inszenierung der Oper „Tri Sestri“ von Peter Eötvös im Theater Hagen auf einem solchen Accessoire der Gemütlichkeit bequem.

Eine mehrdeutige Chiffre mitten in der kargen Raffinesse von Tassilo Tesches Bühne. Sie steht für den trügerischen Schein des Äußerlichen, für den vergeblich gesuchten Schutzraum vor den Stürmen der Welt und der eigenen Gefühle, für Sehnsüchte und Selbsttäuschungen. Andrej, der gescheiterte Bruder der „Drei Schwestern“, wird sich darin einhüllen wie in einen Schutzmantel.

Mit Peter Eötvös‘ erster abendfüllender, vor 25 Jahren in Lyon uraufgeführter und 1999 an der Rheinoper Düsseldorf in Deutschland erstmals gespielter Oper „Tri Sestri“ ist das Theater Hagen über sich selbst hinausgewachsen und hat einen Abend präsentiert, an dem einfach alles stimmt. Möglich wird dieser Kraftakt durch den Fonds Neues Musiktheater des Landes Nordrhein-Westfalen und die Kunststiftung NRW.

Geld macht aber noch keinen künstlerischen Erfolg aus: Der ist gleichermaßen zuzuschreiben der wohltuend unspektakulär erarbeiteten Inszenierung Friederike Blums, der Klang- und Rhythmuspräzision des Philharmonischen Orchesters Hagen und dem Ensemble Musikfabrik, Hagens GMD Joseph Trafton und seinem Co-Dirigenten Taepyeong Kwak und dem in allen Partien glänzenden Sängerensemble mit seinen Gästen. Eine runde Leistung auf einem Niveau, das auch ein mit Mitteln reicher gesegnetes Theater in einem solch ambitionierten Stück nicht ohne weiteres erreicht.

Auf Tassilo Tesches Bühne bleibt sichtbar, dass die Oper zwei Orchester fordert: Die 18 Mitglieder des Ensembles Musikfabrik spielen im Graben; das Hagener Theaterorchester ist auf der Bühne platziert und bildet eine (Klang)-Landschaft, die mit Spiegeln im Hintergrund vielfach gebrochen, aber auch ins Spiel mit einbezogen wird. Für die drei „Sequenzen“ der rund 100minütigen Oper wird das weiße Deckchen jeweils neu ausgelegt. Die szenische Geste unterstreicht, dass Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg von der linearen Erzählweise Anton Tschechows abweichen und den fragmentierten Stoff des Schauspiels aus der Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha betrachten.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Keine Tragödie für Olga

Olga, die dritte Schwester, hat keine eigene Sequenz: Sie hat, so sagt der Komponist, „keine Tragödie“, sie macht pragmatisch ihre Sehnsucht an der Welt fest, die sie vorfindet. Lucie Ceralová gestaltet sie als strenge Person, die nicht versteht, wie ihre Schwester Mascha ihrer Zuneigung zu einem Mann nachgeben kann, der die Ordnung ihrer Ehe mit dem sanften, aber farblosen Kulygin (Dong-Won Seo) stört. Mascha (Maria Markina) und der Offizier Werschinin (Insu Hwang) lassen – beide sensibel singend – in ihrem Duett den einzigen Moment anklingen, in dem zwei Menschen tatsächlich zueinander finden könnten, aber das innige Verstehen wird abrupt beendet, als mit der Tee servierenden alten Amme Anfisa (Igor Storozhenko) die gesellschaftliche Konvention einbricht.

In dieser, aber auch in der starken Abschiedsszene zwischen Mascha und dem mit seiner Einheit abziehenden Offizier zeigt die Regie, wie nahe das Schicksal dieser beiden Menschen einer Tragödie kommt, ohne deren Unbedingtheit zu erreichen: Ihre Träume bleiben für das Handeln folgenlos, bedeuten Sehnsucht und Flucht, nicht aber Motiv oder gar Ansporn. Tragische Züge finden sich auch in der Gestalt des Bruders der drei Schwestern, Andrej: Er, der zu Beginn seiner Sequenz eine Sanduhr aufstellt, treibt in der verrinnenden Zeit dahin und erreicht nichts – weder die erstrebte Professur, noch die Liebe seiner überdrehten Frau Natascha (Vera Ivanovic), der Eötvös geradezu obszöne Sprünge und exaltierte Koloraturen geschrieben hat. Kenneth Mattice ist ein melancholisch gebrochener Andrej, weltverloren in seiner wehmütigen Verkrümmung in sich selbst.

Kenneth Mattice als Andrej. (Foto: Jörg Landsberg)

Lichtgestalt Irina

Irina dagegen, weiß gekleidet wie eine Lichtgestalt und durch den leuchtenden Sopran von Dorothea Brandt charakterisiert, versucht als erste, aus der im eröffnenden Terzett der Schwestern – mit seinen langgezogenen Phrasen und engen Intervallen ein musikalischer Spiegel lastender Langeweile –  angesprochenen Angst vor dem Verfließen der Zeit auszubrechen. Doch als sie sich endlich entschließt, dem pragmatischen Rat ihrer Schwester Olga zu folgen und den smarten Baron Tusenbach (Dmitri Vargin) zu heiraten, ist es zu spät: Der junge Soldat fällt im Duell mit seinem Konkurrenten um die Liebe Irinas, dem durch aggressive Pauken gekennzeichneten Soljony, mit der nötigen offensiven Power gesprochen und gesungen von Valentin Ruckebier aus dem Opernstudio der Deutschen Oper am Rhein. Der jungen Frau bleibt nur die Sehnsucht „nach Moskau“, der Stätte ihrer Kindheit – eher der Begriff eines unbestimmten Erinnerns an einen Zustand des Glücks als ein realer Ort.

In Hagen gelingen diese an sich handlungträgen Abläufe atemberaubend spannend und gleichzeitig in einer lähmend bleiernen Atmosphäre, die dem Stück Tschechows eingeschrieben und hier kongenial in die Oper übertragen ist. Wesentlichen Anteil daran haben die Musiker der beiden Orchester, darunter allein vier Schlagzeuger, die Eötvös‘ musikalisches Spektrum in allen Farben leuchten lassen, vom dumpfen Pianissimo-Pochen bis zu gellenden Bläser-Aufschrei, von der kammermusikalischen Finesse der einzelnen Figuren zugeordneten Instrumente bis zum harmonisch verdichteten Arioso. Eine herausragende Leistung des scheidenden Hagener GMD Joseph Trafton, der keine Wünsche bei rhythmischem Zugriff und klanglicher Balance offen lässt.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Sänger der Rollen, die nicht im Mittelpunkt stehen: Anton Kurzenoks burlesker Doktor, der in der Oper nicht die tragende Rolle des Tschebutykin in Tschechows Vorlage hat, Ilja Aksionov, Student an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf, als schönstimmiger Rodé und Robin Grünwald als Fedotik.

Vorstellungen von „Tri Sestri“ am 20., 29. April, 21. Mai, 14. Juni 2023, Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/drei-schwestern-1562/0/show/Play/

 




Man fühlt schon, wie der Winter naht – Tschechows „Kirschgarten“ im Theater Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. „Unser Leben ist verdammt dumm“, denn: „Wir spielen uns voreinander auf.“ Anton Tschechows Drama „Der Kirschgarten“ enthält Sätze, von denen sich mancher ertappt fühlen müßte. In Oberhausen hat sich nun Thomas Goritzki (Regie) dem modernen Klassiker genähert.

Die Gutsbesitzerin Ranevskaja (Elenor Holder) kehrt, von Leben und Liebe enttäuscht, nach langen Jahren aus Frankreich ins ach so rückständige Rußland zurück. Doch auch dort ist nichts mehr so, wie es war. Ihr Verwalter Lopachin (Andrea Bettini), aufgewachsen noch als Sohn eines Leibeigenen, zieht inzwischen die geschäftlichen Fäden. Er stellt die Dame von Welt vor die Wahl: Entweder, die Ranevskaja lasse ihre überschuldeten Güter freiwillig parzellieren und stückweise an Sommerfrischler verkaufen, oder das Ganze müsse in einem Rutsch zwangsversteigert werden. Jedenfalls habe man den ökonomisch nutzlosen Kirschgarten in Kürze abzuholzen. Geld kommt, Schönheit stirbt. Und mit ihr die Erinnerung an glücklichere Zeiten im Garten.

Die langen Momente des Stillstands

Das Stück zeigt die langen Momente des Stillstands vor dem Vergehen. Die Zeit zieht vorüber, aber sie will nicht wirklich voran. Die bittere Wahrheit wollen diese Leute nicht wissen. Sie warten, aber worauf denn eigentlich noch? Man redet, ißt, trinkt, träumt und tanzt ein wenig und – spielt sich voreinander auf.

In der Oberhausener Inszenierung äußert sich die Hilflosigkeit der Menschen angesichts der gesellschaftlichen Verwerfungen nicht zuletzt in Umstandskrämerei bis zum Slapstick. Anfangs scheint es, als werde hier das Stück verjuxt, wenn etwa einer um den Tisch herumgeht und ungeschickt alle Stühle umwirft. Doch dabei bleibt es nicht: Es ist mehr zum Weinen. Denn derlei Komik ist nur vordergründig, dahinter lauert ersichtlich das Menschenweh, lauern Melancholie, Überdruß und ein Hauch von Hysterie. Den Nuancen und Zwischentönen derart gemischter Gefühle spürt man in Oberhausen mit staunenswerter Trennschärfe nach.

Die Regie bleibt variabel in der Staffelung der zahlreichen Gruppenszenen (kein leichtes Handwerk, fürwahr). Darsteller, die gerade keinen Text sprechen, stehen also nicht einfach abwartend herum, sondern spielen mimisch und gestisch weiter. Immer wieder gelingen Augenblicke von solcher Eindringlichkeit, daß man die Lebenswege der Figuren – gleichsam verlängert in die imaginäre Zeit vor und nach dem Stück – plastisch vor sich sieht.

Man glaubt zu wissen, was aus ihnen wird: aus dem ewigen, dem Selbstmord zugeneigten Pechvogel Epichodov (Jeffrey R. Zach); aus der zwitschernd munteren Tochter Anja (Simone Kabst); aus der altjüngferlichen, streng gewissenhaften Pflegetochter Varja (Kornelia Lüdorf); aus dem nervösen Zimmermädchen Dunjasa (Sabine Maria Reiß); aus dem Studenten Trofimov (Mark Oliver Bögel), der von Menschenstolz palavert und hochmütig „über der Liebe stehen“ will – und worauf es mit all den anderen hinauslaufen könnte.

Jahreszeiten, Seelenstimmungen: Das Stück, das im Frühling beginnt, endet im Herbst. Und man spürt schon, wie der Winter naht…

Nächste Termine: 15., 25., 29. Oktober (jeweils 19.30 Uhr). Karten: 0208 / 85 780.