Gedrängtes, bedrängtes Dasein – Folkwang-Museum in Essen zeigt Arbeiten auf Papier von Max Beckmann

Von Bernd Berke

Dem Lebendigen ist alles lebendig, sogar Anzeichen der Langeweile kommen ihm aufregend vor. Selbst wenn Max Beckmann (1884-1950) eine Gruppe von Gähnenden zeichnete, geriet ihm dies zur halbwegs dramatischen Szenerie. Jede Figur gähnt anders, eine offenbar lauter als die Andere, als sei’s ein Wettstreit. Und alle zusammen wirken sie wie ein kakophones Gähn-Orchester. Oder gar wie Bestien, die einander mit weit offenen Mündern fressen könnten.

„Spektakel des Lebens“ heißt die neue Ausstellung im Graphischen Kabinett des Essener Folkwang-Museums. Sie versammelt 64 Beckmann-Arbeiten auf Papier; Zeichnungen und Aquarelle also. Diese eher intimen Genres dienten Beckmann als Proben auf die eigene Wirksamkeit. Die Blätter waren nicht zur Publikation gedacht, er behielt sie für sich. Erst viel später gerieten sie auf den Kunstmarkt. Irgendwann gehörten sie dann zur prachtvollen Privatsammlung Volhard, aus deren Fundus die Schau bestritten wird.

Die spontane Lust am Augenblick

Spontane Lust am Augenblick leuchtet da auf, doch auch ein nervös-fahriger Gestus wird sichtbar, der den wechselvollen Dingen des Lebens seismographisch nachzittert. Kein modulierend fließendes Licht besänftigt diese Beckmann-Darstellungen, die Umrisse treten meist hart und fest hervor. Es ist der direkte Weg zum Bild. Ohne Umschweife. Ohne symbolische Umwege.

Die Themen schöpfte Beckmann mitten aus dem prallen Menschenzirkus. Karnevaleskes Chaos steht neben schwülen Bordell-Szenen. „Die Schauspieler“ (1940) versprechen dem Künstler ebenso vitale Erregung wie das hektische „Redaktionszimmer“ (1924). Kriegslüsternheit („Die Letzten“, 1919) bricht sich so unvermittelt Bahn wie sexuelle Phantasien („Traum“, 1927) oder würgende Alpträume („Frauenkämpfe 1947). Düster drohende „Indianer in der Stadt“ (um 1949) erobern die Straße. Sogar gleich nach einer Beerdigung geht’s schrecklich heiter weiter: Lüstern winken die Trauergäste der am Straßenrand liegenden Hure zu. Spaßgesellschaft anno 1946, gleich nach dem Kriege…

Frontstellung zwischen den Geschlechtern

Ein Grundthema Beckmanns ist die manchmal gewaltsam ausartende Frontstellung zwischen Mann und Frau, die aus verschiedenen, einander feindlich begehrenden Weiten zu stammen scheinen. Umarmungen wirken verzweifelt und allemal unerfüllt, nicht etwa zärtlich. Auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet, bleiben sich die Geschlechter fremd.

Wahrscheinlich rührt die ganze Misere aus biblisch-unvordenklichen Zeiten her. Eine geradezu in wilder Wut hingeworfene Zeichnung zeigt die aus dem Bauche Adams hervor schießende Eva, die sich bereits eitel gebärdet. Mit Schmerzen hat es also schon begonnen, könnte man folgern. Vielleicht war’s ja der Zorn des abgewiesenen Liebhabers Beckmann, der hier künstlerisch verrauchte. Doch Schluss mit der Küchenpsychologie.

Und hin zum Seh-Erlebnis: So dicht miteinander verzahnt und voneinander durchdrungen äußert sich hier das Leben, so ineinander gepresst, dass es zuweilen den Atem raubt. Gedrängtes, bedrängtes Dasein.

Max Beckmann: „Spektakel des Lebens“. Arbeiten auf Papier. Folkwang-Museum, Essen. Bis 7. April. Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 24,50 €.




Picasso – der zweite Schöpfungsakt

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Bei manchem Meister der Moderne muß man längst Ausstellungen zu ganz speziellen Werk-Aspekten zusammenstellen, um noch Aufsehen zu erregen. Bei Pablo Picasso (1881-1973) ist die Kunstwelt hingegen immer noch dabei, das immense, ja schier unerschöpfliche Werk überhaupt erst einmal in seiner Breite und Fülle zu sichten.

Vor zwei Jahren war Picassos plastisches Werk das Ausstellungsereignis in der Düsseldorfer Kunsthalle. Jetzt, wiederum zusammengestellt von Kunstprofessor Werner Spies und wiederum eine Art „Offenbarung“, sind über 200 „Arbeiten auf Papier“ in der Kunstsammlung NRW zu bewundern.

Die unglaubliche Anzahl von etwa 26 000 Picasso-Zeichnungen, Gouachen, Pastellen, Aquarellen und Collagen auf Papier verzeichnen die in internationalen Inventare. Höchst gewagt wäre es also die Behauptung, hier seien, nun wirklich die allerbesten Stücke versammelt. Fest steht, daß Werner Spies Leihgeber in aller Welt bewegen konnte, wirkliche Spitzenstücke schweren Herzens auf die Reise nach Tübingen (190.000 Besucher!) und jetzt – 20 Bilder wurden ausgetauscht – nach Düsseldorf gehen zu lassen. Die Besorgnis ist verständlich: Zeichnungen von Picasso werden auf Werte um 600 000 bis 1 Mio. DM „pro Blatt geschätzt“. Spies konnte nach und nach die Bedenken ausräumen. Das „Musée Picasso“ (Paris) und das „Museum of Modern Art“ (New York) gehören ebenso zu den Leihgebern wie das „Museu Picasso“ in Barcelona. Aus Konservierungsgründen hängen die kostbaren Stücke selbstverständlich unter Glas – den Spiegeleffekt muß man in Kaufnehmen.

Die chronologisch gehängte Ausstellung reicht von ersten Akademiestudien (1894) über Picassos sogenannte „blaue“ und „rosa“ Periode, es folgen die Pionierzeit des Kubismus,, die Rückkehr zu neoklassizistischen Formen, das bisher selten gewürdigte zeichnerische Spätwerk. Ein ganzer Formen-Kosmos entfaltet sich da, ein souveränes Verfügen über zahllose Traditionen und Formen, das immer erkennbar Picassos „Handschrift“‚ trägt, sich aber auf gar keinen Stil festlegen läßt.

Die Papier-Arbeiten können bei Picasso nicht als Nebenwerke gelten, eher ist das Gegenteil der Fall: Da er seine Arbeiten immer in einer durch schöpferische Ungeduld bestimmten Zeitspanne abschloß, hat er die Zeichnungen oft detaillierter ausgeführt als Gemälde.

Ob Picasso durch Verzerrung von Körpern oder durch Farbgebung psychologisiert („Der Verrückte“, „Die Frau mit dem Raben“ – 1904); ob er einfach Freude an Licht und Bewegung ausdrückt („Gauklerfamilie“, 1905); ob er die Figuren kubistisch zerlegt („Stehender weiblicher Akt“, 1909/10) oder schwellend-klassizistische Formen typisierend gestaltet („Sitzende Frau“, 1921) – das Ergebnis wirkt stets „gültig“, fast wie ein – Urtraum des Künstlers – zweiter Schöpfungsakt.

Im zeichnerischen Werk finden sich, in einem „ewigen Experiment“ beinahe unendlich variiert, alle Techniken und Themen Picassos dicht beieinander. Nur, daß der Künstler hier fabulierfreudiger war als im Malerischen. Daraus ergeben sich, insbesondere im Spätwerk, Notate zu Picassos psychischer Befindlichkeit, manchmal gar Seelendramen. Vor allem Atelier-Situationen werden im Spätwerk wieder aufgegriffen: hier das sinnliche Modell, dort der Künstler, offenbar einer ganz anderen Welt angehörend, ganz Aufnehmender, ganz Auge. Oder sogar ein mickriger Voyeur.

14. Juni bis 27. Juli. Wegen des erwarteten Andrangs geänderte Öffnungszeiten: Täglich 10-20 Uhr, montags geschlossen. Katalog (Hatje-Verlag), 39 DM, Plakat 12 DM.