Der Zweite Weltkrieg und die kleine Stadt Kamen

Ein Beitrag von Gastautor Heinrich Peuckmann:

Es ist erstaunlich, welchen Anteil Menschen aus der kleinen Stadt Kamen, in der ich geboren wurde und immer noch lebe, am Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatten. Vier Beispiele:

Berühmte Dresdner Brücke, genannt „Das blaue Wunder". (Foto vom September 2003: Bernd Berke)

Berühmte Dresdner Brücke, genannt „Das Blaue Wunder“. (Foto vom September 2003: Bernd Berke)

„Blaues Wunder“

Ein Kamener, hörte ich erst kürzlich, sei für die Rettung der Brücke in Dresden, des sogenannten „Blauen Wunders“, kurz vor Kriegsende verantwortlich. Die Dresdner sind noch immer dankbar für diese Rettung. Als ich mich umhörte, kam heraus, was ich von Anfang an geahnt hatte. Ich kenne diesen Mann, es ist der alte Herr Erhards, der seit Ewigkeiten am Alten Markt wohnt und früher ein Elektrogeschäft betrieb.

Die Geschichte stimmt nur etwa zur Hälfte, aber immerhin das. Er sei bei der Elitetruppe „Hermann Göring“ gewesen, erzählte er mir, als ich ihn darauf ansprach. In den letzten Kriegstagen hätte die Truppe am Ostufer der Elbe in Dresden gelegen. Die Brücke sei ihre letzte Fluchtmöglichkeit nach Westen gewesen, um den russischen Truppen zu entgehen.

Er war abkommandiert, um Material über die Brücke hin und her zu schaffen. Bei einer dieser Fahrten habe er bemerkt, wie sich Soldaten an den Brückenpfeilern zu schaffen machten. Auf seine Frage hin, was sie da machten, hätten sie geantwortet, dass sie Sprengstoff anbrächten, um die Brücke zur Sprengung vorzubereiten. Er hat sofort seinen Kommandanten, der auf einer Anhöhe residierte, informiert und der hat dann, nicht zuletzt aus Eigennutz, die Sprengung verhindert. Immerhin, er war zwar nicht der Hauptverantwortliche, aber ein kleines Rädchen bei der Rettung dieser schönen Brücke, die die Dresdner bis heute erfreut, war er doch.

Einer aus seiner Einheit hätte darüber mal einen Artikel in einer Kölner Zeitung geschrieben, erzählte er mir. Um alle Fakten zu kennen, sei er nach Kamen gekommen und hätte ihn, seinen Frontkameraden Erhards, nach letzten Details befragt. Den Artikel hätte er noch, aber den Journalisten würde ich bestimmt nicht kennen. Als er mir eine Kopie zeigte, las ich den Namen des Verfassers. Es war Dieter Wellershoff, der über die letzten Kriegstage nicht nur diesen Artikel, sondern sogar ein Buch geschrieben hat. Ich war es dann, der ihn aufklärte, wer sein alter Kriegskamerad gewesen war, mit dem zusammen er im Schützengraben gelegen hatte. Einer der besten Autoren der Nachkriegszeit.

Über die Brücke hat sich die Einheit, der Erhards angehörte, dann tatsächlich aus dem Staub gemacht.

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Stauffenbergs Tasche

Hermann „Hermi“ G. ist wahrscheinlich der biologische Vater meiner alten Freundin Gabi gewesen. Ihre Mutter hat ihr den Namen des Mannes, der sie als junge Kriegerwitwe Anfang der fünfziger Jahre  schwängerte, niemals verraten. Aber aus den wenigen Angaben, die sie dann doch machte, habe ich Gabis Vater nach Befragen von Altersgenossen ausfindig machen können.

Bei der Machtergreifung 1933 war er blutjung gewesen und damit leicht formbar zum fanatischen Nazi. Im Krieg wurde er zur Wolfsschanze abkommandiert und machte genau an jenem Tag Dienst, als Stauffenberg dort mit der Bombe in der Tasche ankam. „Hermi“ hat später immer wieder erzählt, dass er Stauffenberg, dem nach einer Kriegsverletzung die rechte Hand amputiert wurde und dem an der linken Hand zwei Finger fehlten, angeboten hat, die Tasche zu tragen. Jene mit der Bombe darin.

„Darf ich Ihnen Ihre Tasche tragen, Herr Oberstleutnant?“, hat er hilfsbereit gefragt. Stauffenberg hätte nicht reagiert und erst, als er die Frage zum zweiten Mal hörte, gereizt geantwortet:  „Meine Tasche kann ich selber tragen.“

Tatsächlich bestätigen Quellen, dass „ein paar junge Offiziere“ Stauffenberg diese Frage gestellt haben. Hermi war wohl einer von ihnen gewesen. In seinen Erzählungen hat er später ehrlich hinzugefügt, dass er Stauffenberg ganz sicher, hätte er gewusst, was in der Tasche war, verraten hätte. Er gehörte zu den Verführten. Später wurde er zuerst Journalist und danach, bis zu seinem frühen Tod, Pressesprecher bei einem Autokonzern.

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Zur Siegesfeier auf dem Roten Platz

Mein alter Freund Hans, der kürzlich gestorben ist, hat auf der anderen Seite gekämpft. Nur wenige unter unseren Freunden wissen, dass er einer Adelsfamilie entstammte. Er ließ sich nur mit seinem schlichten Nachnamen anreden, aber ich habe mir früher gerne den Spaß erlaubt und ihn mit „Herr von und zu“ angeredet. Alle anderen haben dann gegrinst, aber wir beide haben uns zugeblinzelt, denn wir wussten, dass es kein Gag war.

Er stammte aus einer alten Militärfamilie. Sein Großvater war Stadtkommandant einer süddeutschen Stadt gewesen, sein Vater war ebenfalls Offizier gewesen. Als der Vater im Krieg irgendwann auf Urlaub nach Hause kam, hat er seinen Sohn Hans zur Seite genommen. „Wenn du demnächst die Nachricht kriegen solltest, dass ich an einer Lungenentzündung oder etwas Ähnlichem gestorben bin, glaube ihnen nicht. Dann haben sie mich erschossen.“

Hans schloss daraus, dass sein Vater irgendwie in das Attentat vom 20. Juli eingeweiht war. Welche Rolle er dabei gespielt hat, hatte er ihm nicht verraten. Tatsächlich kam einige Zeit später die scheinheilige Nachricht von seinem Tod. Hans kämpfte damals an der Ostfront und schon beim nächsten Angriff der Russen hat er sich überrollen und gefangen nehmen lassen. Für die Mörder seines Vaters wollte er nicht weiter kämpfen. Die Sowjets fanden den Brief in seinem Gepäck und verstanden sofort die Hintergründe. Ob er nicht bei ihnen mitkämpfen wolle, um die Mörder seines Vaters zu besiegen, haben sie ihn gefragt. Hans wollte.

Als es darum ging, die Weichsel zu überqueren, gehörte Hans als stellvertretender Führer zum Stoßtrupp, der den Brückenkopf schlagen sollte. Sein Truppenführer fiel schon beim ersten Angriff durch Bauchschuss, also musste Hans die Verantwortung übernehmen. Er hatte gleich gemerkt, dass ihnen auf dem anderen Ufer eine Eliteeinheit der Nazis gegenüber stand und hat seine Truppe deshalb mit Booten flussabwärts treiben lassen, um von dort aus überzusetzen, die Nazieinheit zu umgehen und sie aus ihrem Rücken heraus anzugreifen. Der Plan ist aufgegangen, mein Kamener Freund Hans ist ursächlich mitverantwortlich, dass der kriegswichtige Übergang der Roten Armee über die Weichsel geklappt hat. Wäre sein Plan misslungen, das weiß er, hätten die Sowjets ihn wegen Nichtbefolgens des Befehls sofort erschossen.

So aber gehörte er zu den Auserwählten seiner Truppe, die bei der Siegesfeier auf dem Roten Platz an Stalin vorbeifahren durften. Immer nur ein paar aus jeder Einheit wurden dafür ausgesucht, Hans gehörte dazu. Bei dieser Vorgeschichte hätte er in der DDR garantiert Karriere machen können, aber er wollte nicht. Er ist in den Westen gegangen, wo er in einem nur halb fertigen Haus im Süden von Kamen lebte, umgeben von viel Viehzeugs, das er aufopferungsvoll pflegte. Nichts sollte mehr gequält werden, das ihn umgab. Das war die Schlussfolgerung, die er aus seinen Kriegserlebnissen gezogen hat.

Er hatte dieses merkwürdige Haus selber bauen wollen, aber seine Frau verließ ihn gerade zu jener Zeit zusammen mit den drei Kindern. Danach gab Hans auf, zog noch eine Außenmauer hoch und wohnte seither in einer Halbruine. Erst nach dem Fall der Mauer war er zu seiner alten Einheit, die in der Nähe von Berlin stationiert war, zurückgekehrt, um zu sehen, wie es den Soldaten der Roten Armee nun ergeht. Sie hatten ihn respektvoll empfangen, erzählte er, aber Hans war trotzdem enttäuscht gewesen. „Derselbe Gehorsam, dieselbe Hierarchie“, hat er geurteilt. „Sie haben nicht viel gelernt seit dem Krieg.“

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Gewissenlos Hitlers Finanzen geregelt

Derjenige unter den Kamenern, der das „größte Rad“ in der Nazizeit drehte, hat nie in dieser Stadt gelebt. Aber er war hier oft zu Besuch bei seinen Verwandten von Plettenberg, die in dem Wasserschloss im Vorort Heeren leben und er ist hier nach seinem Tod 1977 auf dem kleinen Schlossfriedhof begraben worden.

Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigh, genannt Lutz, war Hitlers Finanzminister. In all den Jahren, in denen Hitler an der Macht war,  hat er ihm die Finanzen geregelt, hat dem Mörder also die Waffen in die Hand gegeben. Pflichtbewusst, so wie er Pflicht auffasste, hat er das getan, nichts hat ihn an dieser Tätigkeit zweifeln lassen. Nicht die Entfesselung des Krieges mit zig Millionen Toten, nicht der Genozid, einfach gar nichts. Ludwig Johann hat ausdauernd die Finanzen geregelt.

Dafür ist er später als Kriegsverbrecher angeklagt und zu 10 Jahren Haft verurteilt worden. Das Verbrechen, das man ihm hauptsächlich vorwarf, war die Plünderung des Eigentums deportierter Juden durch die von Schwerin von Krosigh geleiteten Finanzämter. Die gerechte Strafe für eine falsche Schuld, soll er später – immerhin – geurteilt haben. Die eigentliche Schuld sei sein eingeschläfertes und abgestumpftes Gewissen gewesen.

Nach Hitlers Tod und der Machtübernahme durch Dönitz war er für 5 Tage leitender Minister, also auch so etwas wie der Außenminister. Er war es schließlich, der über den Sender Flensburg die bedingungslose Kapitulation verlas. Viele Filme über den Zweiten Weltkrieg enden also mit seiner Stimme, mit der Kapitulationserklärung, die er verlas.

Nicht einmal zwei Jahre hat er von seiner Strafe absitzen müssen, schon Anfang 1951 ist er aus der Haft entlassen worden. Danach ist er als Journalist tätig gewesen.

 

 

 

 

 

 

 

 




Im Chaos der Gerüchte und Nachrichtenfetzen: Der Angst nicht noch mehr Raum geben

Vom schrecklichen Münchner Amoklauf, Attentat (oder wie man es nun nennen soll) am Olympia-Einkaufszentrum habe ich erst gestern Abend erfahren und kann mich natürlich nur kläglich subjektiv äußern.

Fürwahr ein schwacher Trost - und doch beruhigt der Anblick des Meeres. (Foto: BB)

Fürwahr ein schwacher Trost – und doch beruhigt seit jeher der Anblick des Meeres. (Foto: BB)

Ein argloser Nachmittag

Wieder einmal wurden Brechts berühmte Gedichtzeilen wahr: „Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen.“

Auf dem Ausflugsschiff, auf dem wir nachmittags arglos und ahnungslos fuhren, saß auch ein vor Selbstgewissheit strotzender Mann im Trikot von Bayern München, der breitesten Dialekt sprach. Auch er konnte noch nicht wissen, was in seiner Heimat vorfallen würde. Zunächst hatte ich ihn noch scherzhaft anpflaumen wollen – von wegen „Schluss mit Bayern-Meisterschaften“ und so weiter. Aber ach, wie bedeutungslos war das dann alles, welch eine Petitesse. Im Nachhinein war ich froh, kein Wort gesagt zu haben. Wer weiß, welche Ängste er später ausgestanden hat.

Die Stunde der Welterklärer

Abends habe ich lange der Versuchung widerstanden, mich über die chaotischen Informations-Brocken hinaus in den unaufhörlichen Nachrichten- und Gerüchtestrom einzuschiffen. Ganz bewusst habe ich in jenem „sozialen Netzwerk“ lediglich ein nachmittags aufgenommenes Foto vom beruhigenden blauen Meer eingestellt, dies- und jenseits aller rasenden Spekulationen über Tathergang, Opferzahl, mögliche Motivationen etc.

Wie rasch waren manche wieder mit Zuschreibungen bei der Hand. Es ist widerlich, wie einige notorische Welterklärer versuchen, in solchen Fällen sofort die Deutungshoheit zu gewinnen, und zwar unabhängig vom (un)politischen Lager.

Versuchung zum Eskapismus

Die Versuchungen zum Eskapismus oder gar zum Eremitentum sind dieser Tage groß. Man möchte sich mitunter in den hinterletzten Winkel flüchten, quasi biedermeierlich genügsam leben und den eigenen Garten pflegen, wie Voltaire einst schrieb. Schweigen und Rückzug wären so angemessen. Aber wohin?

Ausufernde „Tagesthemen“

Schließlich habe ich doch noch den Livestream der „Tagesthemen“ aufgerufen, ganz nach dem Leitsatz: Man kann sich ja nicht komplett ausklinken. Selbst der sonst so souveräne Thomas Roth wirkte hilflos. Er musste die Sendung über Stunden hinweg in einer Art Endlosschleife absolvieren. Immer wieder sah er sich genötigt zu betonen, man könne nur spekulieren – und spekulierte dann mit Hilfe des unvermeidlichen Terrorexperten zwangsläufig drauflos. Aber man musste ja auf Sendung bleiben, sonst hätte es ebenfalls Vorwürfe gegen die ARD gehagelt. Eine journalistische Zwickmühle, aus der es kein Entrinnen gab.

Auch ein Amateurvideo, das zunächst partout nicht richtig laufen wollte, kam dabei zum zweifelhaften Einsatz. Es war jenes, auf dem der mutmaßliche Täter auf einem Dach steht und ruft, er sei in Deutschland geboren, in der Hartz-IV-Gegend… Die Süddeutsche Zeitung entschied sich derweil dafür, nur Standbilder aus dem Film zu zeigen. Recht so.

Unbegriffenes Geschehen

Ich möchte so etwas eigentlich nicht mehr tun, möchte mich nicht mehr anhand von atemlosen Live-Tickern und Minutenprotokollen auf ein völlig unübersichtliches, unbegriffenes Geschehen einlassen. Es bedeutet, dass man der Sinnlosigkeit, dem Chaos und der Angst unnötig breiten Raum gibt. Gewiss: Für Münchner und alle, die um Freunde oder Verwandte in München gebangt haben, wird es sicherlich sinnvoll gewesen sein, auf jede erdenkliche Weise möglichst nah an den Ereignissen zu bleiben – wie wildwüchsig auch immer. Bei Facebook und Twitter gab es unterdessen auch viele tröstende, aufmunternde Worte. Auch das muss einmal gesagt sein.




Kurz und abgeschmackt: der ARD-„Brennpunkt“ über den Anschlag in Paris

Das war wirklich ausgesprochen dürftig: Die ARD hat heute ab 20:15 Uhr einen gerade mal 17 Minuten langen „Brennpunkt“ zum ruchlosen Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ erübrigt. Mit mancher mittelschweren Wetterkapriole hat man sich schon länger aufgehalten.

Oben rechts befindet sich der Ausschaltknopf. (Foto: BB)

Oben rechts befindet sich der Ausschaltknopf. (Foto: BB)

Schlimmer noch: Der Einstieg war ungemein abgeschmackt. Moderator Markus Preiss, bis vor kurzem noch selbst in Paris eingesetzt, hielt es für nötig, uns den Schrecken des Attentats vor Augen zu führen, indem er salbungsvoll sagte, Paris sei ja sonst für das Schöne im Leben bekannt: für die Liebe, für Kunst, für gutes Essen… Man bewundere den Eiffelturm und manche andere Sehenswürdigkeit, doch heute…

Ja, ist es denn zu fassen? Wie fühllos können Fernsehleute sein, die solche erbärmlichen Texte hinfetzen?

Schon die ersten Sätze der Sendung waren abgründig. Moderator Preiss behauptete, man habe lange überlegt, ob man diesen Untertitel (hinter ihm eingeblendet: „Blutbad in Paris“) nehmen sollte. Aber dann habe man sich dafür entschieden. Soll man wirklich glauben, dass über die Wortwahl lange diskutiert worden ist? Die Schlagzeile klingt jedenfalls nach Schublade und nach kläglicher Katastrophen-Routine. Und so war die Sendung dann auch.

Gebührenwerte Grundversorgung geht irgendwie anders.




Mythos Kennedy: Wie gut, dass man nicht alles wusste

Am liebsten würden uns TV-Beiträge wie „Kennedy – Das Geheimnis der letzten Tage“ (ZDF) wohl direkt vors Schlüsselloch der Weltgeschichte setzen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Und gar manches muss Spekulation bleiben. Aber gerade so entstehen Legenden.

Eins steht allerdings für so ziemlich alle Zeiten fest: Wer immer damals schon bei wachem Bewusstsein war, für den ist Kennedy bis heute ein Mythos geblieben. Dieser strahlende, offenbar so kraftvolle US-Präsident, der der (westlichen) Welt so viel Hoffnung gegeben hat. Diese Ikone der frühen 60er Jahre – und dann sein tragischer Tod…

Sexsüchtig und ernsthaft krank

Nicht erst jetzt, fast genau 50 Jahre nach den tödlichen Schüssen von Dallas (22. November 1963), wissen wir leider etwas mehr. John F. Kennedy war ein geradezu sexsüchtiger Präsident, dem man rund 2000 (!) Affären nachsagt. Seinerzeit war das Thema für die Presse tabu. Heute sagt Mimi Alford, damals 19jährige Praktikantin im Weißen Haus, sie habe im Schlafzimmer der First Lady Jackie Kennedy ihre Unschuld verloren.

Offenbar strotzend vor Kraft: John F. Kennedy bei seiner Ankunft im Weißen Haus am 19. Januar 1961. (© ZDF/Abbie Rowe)

Offenbar strotzend vor Kraft: John F. Kennedy bei seiner Ankunft im Weißen Haus am 19. Januar 1961. (© ZDF/Abbie Rowe)

In Annette Harlfingers Film für die historische Reihe ZDFzeit wurden solche pikanten Befunde noch einmal weidlich, um nicht zu sagen genüsslich ausgekostet. Die Zeitzeugen-Befragungen waren mal wieder purer Standard, sie scheinen seit Jahr und Tag immer nach demselben Muster gefertigt zu werden.

Fatales Stützkorsett

Auch blätterte man abermals in der Krankenakte von JFK: Der Mann habe schon in seinen Zwanzigern an einer schweren Darmkrankheit gelitten, später kamen gravierende Nieren- und Rückenleiden hinzu. Mit Amphetamin-Spritzen („Speed“) wurden seine chronischen Schmerzen bekämpft. Er war also quasi drogenabhängig.

Mit Mitte 50, so mutmaßt man, wäre Kennedy an seinen Leiden höchstwahrscheinlich gestorben. Zeitweise ging er an Krücken, zudem trug er unterm Anzug ein Stützkorsett, das ihn fatalerweise aufrecht hielt, als die tödlichen Schüsse von Dallas fielen. So konnte er sich nicht wegducken.

Bewegende Trauer der US-Bürger

Wie gut, dass wir all das damals nicht einmal geahnt haben. Wir hätten uns in der Kuba-Krise noch viel mehr Sorgen gemacht als ohnehin schon. Und die Sowjets wären sicherlich viel dominanter aufgetreten.

Für eine wirklich fundierte Analyse war der Film zu kurz, er geriet hin und wieder ins ungute Hecheln. Die nachdrücklichsten Aufnahmen, noch heute ungemein bewegend, waren jene, die die tiefe und aufrichtige Trauer der US-Bürger nach dem Attentat zeigten. Da starb auch viel vom Optimismus einer Nation.

Der hohe Preis der Offenheit

Den zahlreichen Verschwörungstheorien, die über den Mord von Dallas kursieren, saßen die Filmemacher immerhin nicht auf. Während damalige US-Bodyguards sich bis heute mitschuldig fühlen, meinte ein deutscher Experte, nach Lage der Dinge habe Kennedy selbst einen hohen Preis für seine sträflich offenherzige Wahlkampftour durch Texas bezahlt.

Ausdrücklich bestand Kennedy (trotz mancher Warnungen und Drohungen) darauf, im offenen Wagen zu fahren, um dem Volk nahe zu sein. Die Personenschützer hatten derweil strikte Anweisung, sich zurückzuhalten und auf Abstand zum Präsidenten zu gehen. Was will man da machen?




Das zwiespältige Phänomen John F. Kennedy – eine neue Biographie von Alan Posener

Die Welt am Rande des Nuklearkrieges, politisches oder auch militärisches Desaster in Kuba und Vietnam, massive Rassenunruhen im Inneren des eigenen Landes und schließlich der Bau der Berliner Mauer, der den Fall des Eisernen Vorhanges für Jahrzehnte besiegeln sollte: Eine solche Bilanz scheint eigentlich nicht geeignet, einen Mythos zu begründen. Warum John F. Kennedy bis zum heutigen Tage dennoch wie ein Säulenheiliger betrachtet wird, damit befasst sich Alan Posener in seiner Biographie über den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Eine Spurensuche. Dabei drängt sich unweigerlich die Frage auf: Kann der Autor, Korrespondent bei der „Welt“-Gruppe, der schon Monographien u.a. über Franklin D. Roosevelt, John Lennon und William Shakespeare verfasst hat, Altbekanntem überhaupt etwas Neues hinzufügen? Darauf hebt Posener auch gar nicht ab, ihm geht es um das Phänomen Kennedy, dem er sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähert. Eben diese verschiedenen Betrachtungsweisen auf das Wesentliche zu konzentrieren, zusammenzuführen und sich nicht in Verschwörungstheorien über den Mord vom 22. November 1963 zu verheddern oder Kennedys Frauenaffären weidlich auszubreiten, genau darin liegt die Stärke des Buches.

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Aus dem familiären Hintergrund filtert Posener sehr anschaulich heraus, welchem Anspruchsdenken „Jack“ Kennedy durch seinen ehrgeizigen Vater ausgesetzt war: Nur die Sieger zählen, niemals die Nächstplatzierten. Dieses Denken sei, so der Autor, tief im Bewusstsein des Präsidenten verhaftet gewesen. Als die Demokraten ihn als Kandidaten für das höchste Staatsamt auf den Schild heben, hat er es zuvor geschafft, sich als „Politiker neuen Typs“ zu positionieren, der über Fraktionskämpfen und Interessengegensätzen steht. In ihm und seinen politischen Zielen, welche es auch immer sein mögen, können sich viele Amerikaner wiederfinden.

Das Bild von Kennedys Amtsführung, das der Nachwelt erhalten bleibt, ist, wie der Autor hervorhebt, ebenfalls von einem Kurswechsel geprägt, einer neuen Kultur, die mit dem Präsidenten und seiner Frau Jackie Einzug ins Weiße Haus hielt. Hier ist nicht mehr nur Platz für den politischen Führungszirkel, sondern vor allem auch für Intellektuelle und Persönlichkeiten aus Film, Musik und Wirtschaft.

Im kollektiven Gedächtnis erhalten ist von Kennedy, dass er die Kuba-Krise zu meistern wusste, den Berlinern das Gefühl verlieh, der mächtigste Mann der Welt sei einer von ihnen („Ich bin ein Berliner“), und dass er den Schwarzen versicherte, ihr Kampf sei ein gerechter. Poseners Buch ist aber auch durchaus eine Fundgrube für gegenteilige Positionen, stand doch die Welt 1962 am nuklearen Abgrund, reagierten die USA sehr spät auf den Mauerbau und schließlich: War nicht Kennedys Eintreten für die Rechte der Schwarzen vor allem wahlkampftaktischem Kalkül geschuldet?

In der Frage der Vietnampolitik besteht für Posener kein Zweifel, dass Kennedy ein hohes Maß an Verantwortung für die Eskalation des Krieges getragen hat. Sicherlich sei bei ihm eine gewisse Skepsis gegenüber einer Militärhilfe noch in den 50er Jahren erkennbar gewesen, aber die Sichtweise habe sich später geändert. „In Kennedys Denken spielt Südvietnam also für Asien eine ähnliche Rolle wie West-Berlin für Europa“. Dass Kennedy im Falle einer Wiederwahl einen Rückzug aus Indochina angestrebt habe, gehört für Posener in das Land der Legenden.

Zur Wahrheit über Kennedy zählt nach den Ausführungen von Posener nicht zuletzt auch dessen Medikamentenabhängigkeit. Ohne Arzneien hätte er seine Rücken- und Magenprobleme und schließlich auch seine Antriebslosigkeit nicht beherrschen können. Für den Autor eine Dimension, die angesichts der Machtfülle eines Präsidenten Angst mache – auch in einer historischen Rückschau.

Bedenklich stimmt zudem das „Herrschaftssystem“, das nach den Ausführungen von Posener mit Kennedy verbunden war. Es passt so gar nicht in das Bild eines liberalen Politikers und vorbildlichen Demokraten. Neid, Missgunst, Intrige und Machtmissbrauch gehörten laut Autor zum Alltag. Doch Kennedy habe es sehr geschickt verstanden, sich selbst in Szene zu setzen.

Zum Nimbus des Präsidenten habe sicherlich, erläutert der Autor, auch das Attentat auf ihn beigetragen. Es bot Anlass für eine Fülle an Mutmaßungen über mögliche Hintermänner und internationale Verflechtungen. Was aber hätte es zur Folge, wenn Harvey Oswald nichts anderes als ein (verwirrter) Einzeltäter war? Kennedys Tod wäre dann eben nicht von Castro oder Chruschtschow in Auftrag gegeben worden und somit auch kaum geeignet, ein Heldenepos zu schreiben. Schlicht- statt Lichtgestalt.

Alan Posener: „John F. Kennedy. Biographie“. Rowohlt-Verlag, 200 Seiten, 18,95 Euro