Über Digitalisierung – einige grundsätzliche Überlegungen zum Internet und seiner künftigen Gestaltung

Wie und nach welchen Prinzipien soll das Internet der Zukunft gestaltet werden? Unser Gastautor Michael-Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, hat dazu einen grundlegenden Text geschrieben:

̈Wäre das menschliche Auge nicht sonnengleich, es könnte die Sonne nicht sehen. Wenn das menschliche Gehirn kein Computer wäre, könnte es keine Computer bauen. Die Erfindung des Computers ist ein zwanghafter, zwangsläufiger Akt der Auto-Mimesis. Das Internet ist das bislang größte mimetische Projekt des Menschen; digitale Höhlenmalerei.

Mimesis ist nicht nur ein auf Erkenntnis abzielender Kunstvorgang, jedenfalls kein auf Kunst begrenzter Vorgang: Mimesis ist ein biologisch-geistiger Reflex, ein Grundprinzip der Evolution. Zwei, drei Dinge, die man ganz generell zu „Digitalisierung“ sagen muß. Die Digitalisierung krempelt die gesamte Kultur der menschlichen Spezies um. Kein Bereich des menschlichen Lebens bleibt davon unberührt: Ökonomie, Politik, Gesellschaft, Privatleben, der Öffentliche Raum, Ästhetik, Kunst und Kommunikation. Es wird nichts mehr geben, kein Merkmal und keinen Raum und keine Äußerungsform menschlicher Existenz als Species und intelligibler Zivilisation, der von diesem Prozeß nicht erfaßt und prinzipiell umgestellt, umgebaut, in grundlegender Weise strukturell verändert wird.

Digitale WEltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Digitale Weltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Die digitale Revolution ist die am schnellsten wachsende Infrastruktur seit Menschengedenken. Dieser Prozeß ist unumkehrbar, und dieser Prozeß ist unabsehbar, und er verläuft in einer exponentiellen Wachstumskurve. Wir stehen am unteren Ende dieser Kurve.

Die Digitalisierung ist eine neue, ist die aktuelle Periode der menschlichen Evolution. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der Digitalisierung.

Es gibt 3 Gesetze der Digitalität:
Simultaneität
Ubiquität
Konvergenz

Alle drei Werte tendieren zum Absoluten, akzeptieren keine Endlichkeit, keine Begrenzung. Ein digitaler Content ist prinzipiell überall verfügbar. Das heißt: überall, wo es menschliche Zivilisation und digitale Technik gibt, also so gut wie überall auf diesem Planeten und außerdem außerhalb dieses Planeten überall dort, wo Menschen digitale Technik hinschicken; also auch in Räumen und an Orten, wo keine Menschen sind! Dieser content ist überall gleichzeitig präsent, und Gleichzeitigkeit ist immer Zeichen für und Anzeichen von absoluter, sich selbst absolut setzender Macht.

Herrschaftsanspruch und strukturelle Gewalt

Simultaneität ist Herrschaftsanspruch. Ubiquität und Simultaneität gepaart symbolisieren und repräsentieren eine große materielle Machtfülle und strukturelle Gewalt. Und die Urheber solcher Gewalt wissen um ihre Macht. Um das an einem historisch frühen und vergleichsweise simplen Beispiel zu verdeutlichen, erinnere ich an die erste internationale Währung der Menschheitsgeschichte, an die Standard-Silbermünze, die Alexander der Große in seinem Imperium prägen ließ. Trotz eines gewissen Variantenreichtums legte er großen Wert auf unmißverständliche Wiedererkennbarkeit seines Konterfeis, ikonographischer Ausweis der Omnipräsenz, der Militanz und der wirtschaftlichen Potenz seiner Herrschaft.

Konvergenz bedeutet in diesem Zusammenhang das tendenzielle und progressive Konvergieren vieler unterschiedlicher Medien: Einem digitalisierten Content ist es egal, ob er auf einem großen Screen erscheint, auf einem normalen Computer, einem Tablet, einem Smartphone oder einer Uhr. Er kann an jedem beliebigen Ort als Fernsehbeitrag, CD/DVD/Diskette, als Zeitungsartikel, Buch oder Plakat erscheinen; kann sich also auch wieder in rein analoge oder gemischte (analog-digitale) Medien zurück verwandeln.

Um auch die Grenzbereiche des Analogen zu erwähnen: Ein optischer Content kann als Projektion erscheinen, ein akustischer Content als reines Schallereignis. Content switcht zwischen analogen und digitalen, materiellen und immateriellen Welten und ist in diesen Welten (also an verschiedenen Orten) inclusive der Zwischenwelten gleichzeitig. Darin ähnelt er dem Verhalten von Teilchen im Quantenbereich.

Im Prinzip funktioniert also jegliche Digitalität nach diesen 3 Grundprinzipien, und um sie philosophisch zu fassen, bedarf es keines weiteren Prinzips. Der Rest sind Akzidentien und Anthropologie: Sozialverhalten, Biologie, Evolution. Kein Konzern hat diese 3 Prinzipien besser, umfassender und konsequenter in Produktstrategien und Konnektivität, in Image und Produktprestige umgesetzt als APPLE.

Verlust an Kulturtechniken

Die Digitalisierung sorgt in vielen Bereichen für einen Verlust an Kulturtechniken, kulturellen und zivilisatorischen Standards, für deren Entwicklung die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat. Europa war an der Entwicklung dieser Techniken und Standards maßgeblich beteiligt, verteidigt diese aber nicht. Beispiele: Das Navigationsgerät verdrängt die Kunst des Kartenlesens. „Whatsapp“ ist der Ruin der Rechtschreibung, des Briefeschreibens, der Intimität und der Vertraulichkeit; zumindest für ein, zwei, drei Generationen.

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Das Gefährliche an der gefälligen „usability“ von digitalen Endgeräten ist die enorme Leichtigkeit der Prozeduren, sind die vielen Automatismen, das Leicht-Fertige. Digitalisierung ist anthropologisch gesehen tendenziell regressiv. Sie erleichtert die Befriedigung atavistischer Instinkthandlungen wie jagen, sammeln, Beute machen; alles vom Sofa aus, jederzeit, an jedem Ort, mühelos.

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist gekoppelt an die des aufrechten Gangs, die gleichzeitige Evokation von Sprache und dies beides wiederum an die Evolution der menschlichen Hand. „Begreifen“ als Weltaneignen ist immer ein Doppeltes: Das reale Tun, die Mechanik der Hand, das Anfassen und die Verarbeitung der so zustande kommenden Objektwelt als innere Landkarte auf der Metaebene/Datenverarbeitung des Gehirns.

Bei digitalen Geräten ist der Kontakt des Menschen mit dem Objekt auf ein paar Quadratmillimeter Fingerkuppe reduziert; das ist kein „Begreifen“ mehr. Trotzdem verfügen wir mittels dieser Geräte über prinzipiell unbegrenzte Macht: Macht über Menschen, Geld, Dinge, Prozeduren, Sprache. Das ist verführerisch, das schmeichelt unserer kindlichen Omnipotenz, unserem Narzißmus; es ist regressiv, und wir geben dem allzugern nach. Je jünger wir sind, desto gefährdeter sind wir. Wir brauchen eine europäische Ethik des Digitalen. Der Umgang mit digitalen Geräten muß normativ gelenkt und gelernt werden und gehört in ein Unterrichtsfach und an die Universitäten.

Wo bleibt der Einspruch im Sinne der Aufklärung?

Das alles sind reale Gefahren, die durchaus auf ein kulturelles und zivilisatorisches Verblassen der menschlichen Spezies hindeuten. Und es sind reale Gefahren, weil wir Europäer nichts unternehmen, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Digitalisierung ist nicht aufhaltbar und sie ist im Großen + Ganzen unumkehrbar. Aber man kann sie gestalten, einiges kann + sollte man sogar zurücknehmen.

Es entspricht europäischer, aufgeklärter Vernunft, nicht alles zu tun, was man – technisch gesehen – kann. Im Moment versäumen wir den Einspruch aufklärerischer Vernunft, überlassen die Entwicklung von Algorithmen und damit die kulturelle Prägung von Alltagsprozeduren/Kommunikation/ Marktverhalten etc. den Amerikanern und die Produktion von Geräten den Asiaten.

Es entspricht standardisiertem amerikanischem Denken und einem anthropologisch, kulturell naiven Verständnis der techne, zu sagen: „If it’s makeable, we make it!“ Das ist falsch; das ist auf lange Sicht sogar unökonomisch, weil es aufgrund seiner Priorität (technische Machbarkeit) die Grundlagen von Ökonomie tendenziell zerstört: die Balance von Mensch und Ressourcen. Dieses Denken hängt mit der spezifisch amerikanischen Raumerfahrung zusammen, und die hypostasiert einen prinzipiell unendlichen Raum für Bewegung, Planung und Existenzausdehnung. Dieser Raum ist sowohl real wie auch – im amerikanischen Protestantismus – theologisch aufgehoben und existenzbettend.

Die Sorge um das einzelne Subjekt

Der europäische Begriff von „Ökonomie“ beginnt auf begrenztem Raum beim „oikos“, dem einzelnen Haus und seinen Bewohnern und bei einem prozessualen, dialogischen, dynamischen Ausgleich zwischen Individuum, oikos und der polis als der zusammengehörenden Vielzahl der Häuser; europäisches Denken hebt an mit dem Begriff der Differenz, seine Sorge gilt dem Einzelnen, dem Subjekt: Dem großen Ganzen der Polis geht es gut, wenn es dem Einzelnen in seinem Haus gut geht und umgekehrt.

Diese einfachen existentiellen, komplementären Prinzipien bilden den Kern europäischer Identität und des großen, genuin europäischen Projekts AUFKLÄRUNG, aus ihnen resultieren die regulativen ethischen Werte (Freiheit, Solidarität, Gleichheit, Toleranz usw.) für die man Europa weltweit respektiert, woran Millionen von Menschen in anderen Erdteilen sich orientieren, wenn sie gegen staatliche Willkür, Despotismus, religiöse Intoleranz und Korruption kämpfen.

Diese Sorge ums begrenzt Individuelle, das sein Selbst-Bewußtsein und seine Identität geradezu daraus gewinnt, daß es sich den Verführungen der Entgrenzung klug und verantwortungsvoll verweigert, ist – verkürzt gesprochen – den Algorithmen von KINDLE, AMAZON, FACEBOOK, GOOGLE, WHATSAPP & Co. fremd. Diese Algorithmen zielen auf grenzenlosen Konsum, grenzenlose Kommunikation und grenzenlose Kontrolle und Verfügung bei gleichzeitig grenzenloser Mobilität und Ubiquität.

Rückbesinnung auf europäische Werte

Deswegen plädiere ich für die Rückbesinnung auf die zentralen Werte und Normen europäischen Denkens und für die „Übersetzung“, sozusagen für die „Migration“ europäischer Kategorien in die Sprache und Prozeduren der Digitalität. Das Zeitalter der Digitalität hat gerade erst begonnen, es ist keineswegs zu spät, um mit dieser Aufgabe der Europäisierung der digitalen Revolution zu beginnen.

Digitalität ist eine Technik. Als techne ist sie – so lehrt uns europäisches Denken und so kriegt man die Sache vielleicht auch in den Griff – dem Menschen, seinen Zielsetzungen, seinen Absichten und Zwecken untertan. Zwar ist das leichter gesagt als getan; aber es ist so. Es ist nicht das erste Mal, daß die Geister, die einer neuen Technik innewohnen, sich über den Menschen erheben, ihn verführen oder ihm Angst machen und ihn beherrschen. Es war immer wieder schwierig und manchmal auch langwierig, solche Verkehrungen vom Kopf auf die Füße zu stellen; und es beginnt immer mit diesen zwei Wörtern: Sapere aude!

Ceterum censo:
Schaffen wir eine Digitalisierung mit europäischem Antlitz! Nach meinem Dafürhalten gehört diese Aufgabe ins Ruhrgebiet. Es gibt hier eine Menge Menschen + Institutionen, die an dieser Aufgabe partizipieren könnten und es sicher auch gern täten.




Wie die Kirche aufklären wollte – „Komm in meinen Wigwam“ im Dortmunder Schauspiel

Komm in meinen Wigwam

Ein beschwingter Moderator, ein irritierter Knabe (Ekkehard Freye und Leon Müller) im übermächtigen Blümchensex. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Das sittliche Wohlergehen des jungen Menschen ging ihnen über alles. Beschützt und behütet sollte er seinen Weg in die Welt der Erwachsenen finden. Wenn da nur diese fluchwürdige Sexualität nicht gewesen wäre, die ja irgendwie zum Leben dazugehört, aber doch mächtig stört. Zumal sie den jungen Menschen beiderlei Geschlechts ablenkt vom Pfad der Tugend. Oder vom Pfad des Herrn, der tunlichst ein katholischer sein sollte.

So hat sich die Kirche in vergangenen Zeiten viel Mühe gegeben, Pubertierenden samt ihren „schmutzigen Gedanken“ mit einer Vielzahl von Jugendbüchern hilfreich zur Seite zu stehen. Und eine Fülle von Peinlichkeit hervorgebracht, die ihresgleichen sucht und großen Unterhaltungswert hat.

Ein besonders bemühter und produktiver Verfasser kirchlicher Jugendschriften war in den frühen 50er Jahren der Päpstliche Ehrenprälat Berthold Lutz, der 2013 im gesegneten Alter von 90 Jahren dahinging und dessen reiches Schaffen nun Widerhall in einem Theaterstück findet. „Komm in meinen Wigwam“ heißt es, im Studio des Dortmunder Theaters erlebte es seine Premiere.

Komm in meinen Wigwam

Der Prälat (Heinrich Fischer). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Autor und Regisseur des Stücks ist Wenzel Storch, der vordem unter anderem als Filmemacher („Sommer der Liebe“, „Die Reise ins Glück“) oder Kolumnist („Der Bulldozer Gottes“) in Erscheinung trat. Ihn drängt es auch im fortgeschrittenen Alter noch, Lächerlichkeit und passagenweise auch Schlüpfrigkeit jener „Aufklärungsschriften“ aus den frühen 50er Jahren zu entlarven.

Das Stakkato unsäglicher Zitate indes, das mancher vielleicht erwartete, bleibt in der Inszenierung aus. Eher betulich wird das Eine oder Andere aus dem Leben des Prälaten berichtet, werden andeutungsschwere Buchtitel und Textpassagen mit anscheinend unfreiwilligem (homo-)erotischem Inhalt präsentiert, wirkt etwa ein Kapitel über ein Zeltlager mit dem Kaplan plötzlich wie eine nicht mehr ganz jugendfreie Verführungsgeschichte. Worte bekannter Dichter mit eindeutig erotischer Konnotation gelangen zu Gehör und zeigen eine verblüffende thematische Nähe zu den Hervorbringungen Berthold Lutz’.

Komm in meinen Wigwam

Thorsten Bihegue (links) sorgt als „Wissenschaftler“ für größte Heiterkeit auf der Bühne. Ob er das Alter Ego von Wenzel Storch ist oder nicht, diskutierte das Publikum nach der Vorstellung kontrovers. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

All dies geschieht in einer Bühnenshow, in der ein geschniegelter Entertainer (Ekkehard Freye) sein Publikum zur „Pilgerreise in die wundersame Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur“ (Untertitel) einlädt. Weitere Mitwirkende sind ein Mädchen und ein Knabe (Jana Katharina Lawrence und Leon Müller), zwei Meßdiener(Finnja Loddenkemper und Maximilian Kurth) und der Kaplan selbst, dem Heinrich Fischer aus dem Seniorenclub des Schauspielhauses mit seinem urwestfälischen Zungenschlag starken Charakter einhaucht. (Er bleibt nur viel zu sympathisch).

Den größten Anteil am Unterhaltungswert dieses Abends jedoch hat ohne Frage Thorsten Bihegue, der als „Wissenschaftler“ dabei ist und mit pennälerhaft-schlaksiger, ungemein lebhafter Körpersprache für Heiterkeit sorgt. Wenn er als Zerrbild eines Showmasters verdruckste Jugendbuchtitel enthusiastisch präsentiert, ist das ein komödiantischer Höhepunkt des Abends.

Weiterhin wirken Damen und Herren des Dortmunder Sprechchores mit – mal als Nonnenchor, mal als wunderbar dekorierte bunte Blumen, Blüten, Samendolden, Fruchtstempel usw. (Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert). Ja, es geht um Sex, doch immer in der Light-Version, dramatische Spitzen bleiben aus. Man unterhält man sich gut in diesen 80 Minuten, die von einer vergangenen Zeit erzählen und augenzwinkernd in ihr verharren.

Weder nimmt das Stück ausdrücklich Bezug auf die zahlreichen Mißbrauchsskandale der Gegenwart, noch zeigt es uns Menschen, die unter sexuellen Übergriffen der Geistlichkeit leiden oder zerbrachen. Beides hätte ja nahe gelegen. Nein, Wenzel Storch beschränkt sich darauf, Unzulänglichkeit, Lächerlichkeit und Verkrampftheit bloßzustellen und das Weiterdenken dem Publikum selbst zu überlassen – über die Zusammenhänge zwischen Unterdrückung von Sexualität in der Pubertät und sexuellen Gewalthandlungen im Erwachsenenalter beispielsweise.

Komm in meinen Wigwam

Die Welt ist voller Blümchensex, den der Dortmunder Sprechchor in passender Kostümierung stilvoll auf die Bühne bringt. Die phantasievollen Dekorationen stammen von Pia Maria Mackert (Bühne und Kostüme). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Zudem legt das Stück nahe, sich gesellschaftliche Kontinuitäten der Adenauer-Zeit vor Augen zu führen. Wie etwa konnte wenige Jahre nach der Menschheitskatastrophe Zweiter Weltkrieg sich eine (katholische) deutsche Erwachsenenwelt schon wieder anmaßen, die Jugend so erbarmungslos zu erziehen und zu formen? Welche eigenen Ängste und Gelüste wollten die oft traumatisierten Erwachsenen in ihrer Kindererziehung bekämpfen? Gedanken wie diese beim Publikum zu belassen und sie nicht als laut auftrumpfendes, hoch emotionales Theater zu inszenieren, macht den Dortmunder „Wigwam“ zu einer klugen, geschmeidigen Inszenierung, die gleichwohl ohne Tragik nicht ist. Schließlich auch fragt man sich, was einen Künstler wie Wenzel Storch zu so obsessiver, lebenslanger Beschäftigung mit seinem Thema veranlaßt.

Herzlicher Applaus.

Infos: http://www.theaterdo.de/detail/event/829/?not=1

Der Beitrag ist in ähnlicher Form im Westfälischen Anzeiger (Hamm) erschienen.




„Darüber spricht man nicht“: Mit erprobtem Stück gegen neue Prüderie

Von Bernd Berke

Dortmund. „Darüber spricht man nicht“ ist ein Stück, bei dem Aktionen und Reaktionen der Zuschauer genauso wichtig sind, wie die Arbeit der Darsteller. Ein ruhiges Publikum würde jede Aufführung mißraten lassen. Weil aber das Kindertheater in Dortmund das spontanste Publikum hat, konnte gar nicht viel „anbrennen“.

Um Platz fürs Mitspielen zu schaffen, war man ins Dietrich-Keuning-Haus umgezogen, dessen Saal mehr Bewegungsfreiheit bietet, als das Theater am Ostwall. Das annähernd zehn Jahre alte Stück der „Roten Grütze“, steht gerade rechtzeitig auf dem Spieplan. Da sich allenthalben eine neue Prüderie breitzumachen droht, hat der Stoff kaum etwas von seiner Bedeutung verloren; es überrascht heute höchstens der fröhliche Optimismus der Vorlage. Die Spielhandlung dreht sich ums „Liebhaben und Streicheln, ums Schmusen und Anfassen, ums Kindermachen und Kinderkriegen“ (Programmheft) und vor allem darum, daß man offen über alles reden sollte.

Die über 100 Kinder, die zur Samstagspremiere (Inszenierung: Klaus D. Leubner) gekommen waren, brachten sicherlich unterschiedliches Vorwissen mit. Trotzdem waren, vor allem bei den Kleineren, im Verlauf des Stücks die Fortschritte unverkennbar. Nach anfänglicher Scheu äußerten sie sich – mit einer Ausnahme kurz vor der Pause – zunehmend unbefangener. Ein Verdienst der Schauspieler, die für die entsprechende Atmosphäre sorgten. Übervorsichtige hatten schon vor der Aufführung Unsauberes gewittert. Zur Beruhigung: Den Kindern wird keine Information aufgedrängt, es wird vielmehr in einem Frage- und Antwortspiel auf ihre Bedürfnisse eingegangen.