Indonesien auf der Buchmesse: Ein kleiner Verlag präsentiert einen Roman über Bali

Ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt "Indonesien" der Frankfurter Buchmesse: Lothar Reichels Roman "Insel der Dämonen" entführt den Leser nach Bali. Buchcover: Verlag Peter Hellmund

Ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt „Indonesien“ der Frankfurter Buchmesse: Lothar Reichels Roman „Insel der Dämonen“ entführt den Leser nach Bali. Buchcover: Verlag Peter Hellmund

Die edelsten Perlen finden sich tief unten im Meer. Die indonesischen Perlentaucher wissen das. Der deutsche Buchmarkt, dessen große Verlage derzeit auf der Frankfurter Buchmesse ihre Neuerscheinungen präsentieren, taucht nicht immer so tief. Dort grast man gerne die Oberfläche ab, wo wächst, was sich geschmeidig der Strömung anpasst. Und so kommt es, dass eine schüchterne Perle in einer winzigen Nische zu finden ist. Ein Glück, dass es solche wagemutigen Verleger noch gibt.

Das Buch ist ein deutscher Beitrag zum Schwerpunkt „Indonesien“ der diesjährigen Buchmesse. Es widmet sich Asiens Ferieninsel Nummer eins: Bali. Vier Millionen Besucher jährlich beschäftigen ein Fünftel der Bevölkerung und tragen einen wesentlichen Teil zum Bruttoinlandsprodukt bei.

Die reiche Kultur Balis zog in den siebziger Jahren esoterisch angehauchte Backpacker an. Die sich offen gebenden Menschen, die farbenprächtigen Feste und Riten begeisterten sie. Der geheimnisvolle Zauber der Gamelanmusik, der Dämonenfratzen und der Bilder naiver Maler lassen die Besucher nicht unberührt. Auch wer Sprache und Kultur nicht versteht, wird bezaubert und erlebt Bali als faszinierend „exotisch“.

Auch Autor Lothar Reichel konnte sich der geheimnisvollen Anziehung der Insel mit ihren Vulkanen und Stränden nicht entziehen: Aus einer Reise als junger Mann wurden viele; aus ersten Eindrücken und Bildern wurde ein vertieftes Eindringen in balinesische Religion, Literatur, Mentalität. Dabei traf Reichel auf den in Russland geborenen deutschen Maler und Musiker Walter Spies, eine farbige Persönlichkeit mit intimen Kenntnissen balinesischer Kultur. 1942 kam er als Internierter ums Leben, als die Japaner das Schiff versenkten, das ihn mit 400 anderen Deutschen nach Ceylon bringen sollte. Außerhalb Balis vergessen, hat Spies der modernen Malerei der Insel, aber auch dem balinesischen Drama wichtige Impulse gegeben.

Der Maler Walter Spies. Foto: Paul Spies, Collectie Stichting Nationaal Museum van Wereldculturen. Leiden

Der Maler Walter Spies. Foto: Paul Spies, Collectie Stichting Nationaal Museum van Wereldculturen. Leiden

Spies ist eine der Personen, um die es in Reichels Roman „Insel der Dämonen. Eine Geschichte von Liebe und Tod auf Bali“ geht. Aber schon der Titel ist eine Anspielung: Die deutsche Autorin Vicki Baum hatte 1937 ihren Roman „Liebe und Tod auf Bali“ veröffentlicht. Bis heute gehört er zur Pflichtlektüre für Bildungstouristen – und er ist seither das einzige bekannte auf Deutsch geschriebene literarische Werk über Bali geblieben.

Auch Vicki Baum spielt in Reichels neuem Roman eine entscheidende Rolle: In einem fiktiven Bericht klärt sie auf, wie es damals wirklich gewesen ist, als sie auf der unerschlossenen Insel mit Spies zusammenkam und ihren Roman skizzierte.

Doch das ist die zweite Ebene des Buches. Die erste beginnt, wie Tausende schnell lesbarer Unterhaltungsschinken einsteigen könnten: Studiendirektorengattin Amanda, beflissen auf der Suche nach kulturellen Kicks, Impressionen der Fremde und ein bisschen nach sich selbst, hat ihre Tochter Lena zum Urlaub auf Bali überredet. Die ist eine Kunsthistorikerin in der zweiten Blüte der Jugend, auf der Suche nach einem Job und auch ein bisschen nach sich selbst. Bei ihrem ersten Besuch am Strand taucht wie ein Ungeheuer aus dem Meer ein dicker Mann aus den Fluten: ein zwielichtiger Kunsthändler. Auch er auf der Suche – nach einem verschollenen Bild von Walter Spies, seinem letzten und wichtigsten. Lena soll ihm bei der Recherche helfen. Und so kommt eine Handlung in Gang, an deren Ende nichts mehr so ist, wie es anfangs war oder zu sein schien.

Der Rest des Unerklärbaren

Reichel verknüpft die beiden Erzählebenen kunstvoll miteinander: Die eine erklärt Gedanken oder Geschehnisse auf der anderen, Ereignisse hier treiben die Handlung dort voran. Man erkennt den passionierten Krimi-Autor – Reichel hat bereits fünf Regional-Krimis über die fränkische Industriestadt Schweinfurt publiziert – im spannenden Aufbau des Plots. Wobei Reichel nicht auf das Wer-ist-der-Täter-Schema verfällt, sondern manches verrät, um den Leser dann in die umso packendere Welt der Motive, Gründe und Ursachen zu entführen.

Dass es dabei aus aufgeklärt-rationalistischer europäischer Sicht nicht immer mit rechten Dingen zugeht, liegt auf der Hand: Bali, geheimnisvoll und mystisch, gilt als ein Ort, wo übersinnliche Kräfte walten, bis hin zur schwarzen Magie. Eine Insel der Götter und Dämonen eben. So bleibt auch in Reichels Buch manches ungeklärt. Daraus resultiert – zum Glück – keine mystifizierende Esoterik.

Den Rest des Unerklärbaren auf Bali, das übrigens selbst höchst seriöse Wissenschaftler bestätigen, lässt Reichel gekonnt in der Schwebe: Wie steht es um die hinduistische Vorstellung der Wiedergeburt? Gibt es den Einfluss okkulter böser Mächte? Gibt es Schadenszauber oder durchdringt eine verborgene zweite Welt die sinnlichen Eindrücke der ersten? Darüber wird so geschrieben, dass dem Leser stets der Weg der Interpretation offen steht: Der europäische Verstand wird nicht beleidigt.

Sonnenuntergang über den Reisfeldern von Blimbing. In Reichels Roman wird auch über die Schönheit Balis reflektiert. Foto: Visit Indonesia Tourism Office

Sonnenuntergang über den Reisfeldern von Blimbing. In Reichels Roman wird auch über die Schönheit Balis reflektiert. Foto: Visit Indonesia Tourism Office

Dennoch öffnet das Buch auf lebendig geschilderte Weise Einblicke in die balinesische Kultur. Reichel meidet es, die Distanz des Europäers durch vordergründige Räucherstäbchen-Esoterik zu vernebeln; er lässt durchblicken, dass er stets mit den Augen des Fremden auf eine Kultur schaut, die sich wohl nie restlos erschließen lässt. Aber er öffnet Zugänge. Etwa, wenn er als einen entscheidenden Ausgangspunkt der Handlung die Feier einer Leichenverbrennung schildert – halb Volksfest, halb touristisches Spektakel, bei dem die Balinesen trotz der Menge von Gaffern auf diskrete Weise unter sich bleiben.

Mit Ironie betrachtet Reichel aber auch den europäischen Hang, sich auf Fremdes einzulassen und es erfassen zu wollen: seit alters her ein Impuls europäischer kultureller Entwicklung. Der trägt bei der höchst interessierten Amanda feine komische, im Falle Lenas irritierend ambivalente Züge.

Man erfährt viel über Bali, ohne dass Reichel seiner Erzählung den Drive nehmen würde. Seine Sprache hält dem Leser stets den Faden vors innere Auge, an dem er sich weiterhangeln kann: Da bewährt sich der erfahrene Journalist – Reichel ist als Radioredakteur in Würzburg tätig. Dass der Schreiber in bisweilen üppiger Sprache seine Belesenheit demonstriert, stört nicht: Reichel versteht es, von Goethe bis Hofmannsthal, vom „Faust“ bis zum „Rosenkavalier“ Zitat-Gemeinplätze geschickt zu platzieren und ironisch zu konterkarieren. Keine Bildungsschwere!

„Insel der Dämonen“ ist auch ein wunderschönes Buch geworden, weil der Buchverlag Peter Hellmund keinen Aufwand gescheut hat: Den Umschlag ziert ein Bild von Walter Spies, der Satzspiegel wirkt edel, das feine Papier und ein Lesebändchen sind liebevolle Details, mit denen ein Buch zum sinnlichen Greifen einlädt. Und Bali-Besucher dürften nun zu Vicki Baums Roman künftig ein zweites Buch in ihr Gepäck zu schnüren haben.

Lothar Reichel: Insel der Dämonen. Eine Geschichte von Liebe und Tod auf Bali. Buchverlag Peter Hellmund, Würzburg. 480 Seiten, 24,00 Euro. ISBN 978-3-939103-60-8.




Mäuse, Schweinchen, Feen und Pinguine: Sehenswerte Trickserien für Vorschulkinder

Mit Kindern lernt man nahezu zwangsläufig auch Kinderfernsehen kennen – alles in Maßen und sorgfältig ausgewählt, versteht sich. Und immer sollte das Vorlesen das Flimmern bei weitem überwiegen. Das musste auch mal wieder gesagt werden, nicht wahr?

Doch es gibt eben phantasievolle Trickserien, die auch im Sinne einer frühen „Medienkompetenz“ wirken dürften und gleichwohl vor allem unterhaltsam sind. Episoden sind reichlich im Internet zu finden und können also zur gefälligen Wunschzeit betrachtet werden. Ich habe hier einige Beispiele verlinkt, und zwar nur aus Produktionen, die ich für empfehlenswert halte; sofern man sie zusammen anschaut und bei Bedarf darüber redet.

Ben und Holly im Vorspann einer Episode von "Ben & Holly's Little Kinddom". (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=NSwNiZidAbA)

Ben und Holly mit Gaston, dem Marienkäfer – im Vorspann einer Episode von „Ben & Holly’s Little Kingdom“. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=NSwNiZidAbA)

So weit die pädagogische Pflicht. Und nun die Kür:

An erster Stelle gehört natürlich „Die Sendung mit der Maus“ hierher, bei deren Sachgeschichten man selbst auch noch jede Menge lernen kann, jüngst beispielsweise über den Alltag in der Weltraumstation ISS. Die Lachgeschichten (im Wechsel zwischen „Käpt’n Blaubär“ und „Shaun das Schaf“) sind geradezu erlesen, wobei Shaun oft eher aufs Vergnügen der Erwachsenen abzielt.

Sonntägliches Ritual

Bei vielen Familien gehört die Maus (ARD und KiKa) jedenfalls zum Sonntagsritual. Doch vor dem vierten Lebensjahr sollte man damit nicht anfangen. Manche Beiträge sind sogar erst für Grundschüler der zweiten oder dritten Klasse geeignet. Jede Wette, dass viele Erwachsene zu den Stammzuschauern gehören – selbst ohne Kinder im Haus.

Sind die Kinder noch keine vier Jahre alt, so empfiehlt sich besonders die liebenswerte Animationsreihe „Pingu“, die mit einer – zuweilen fast finnisch klingenden – Phantasiesprache auskommt und ihre prägnanten Geschichten nonverbal erzählt. Wenn er sich aufregt (und das tut erhäufig), ruft „Pingu“ übrigens lauthals „Noog-Noog“, wobei sich sein Schnabel trompetenartig verformt.

Dramen im Polargebiet

Kleine, kindgerechte, oft ziemlich chaotische Alltagsdramen spielen sich da im Polargebiet ab, die der titelgebende Pinguin mit seiner (manchmal als lästig empfundenen) jüngeren Schwester, den recht rabaukenhaften Schulkumpanen und den ziemlich strengen Eltern besteht. Hier kommen eigentlich alle Situationen aus dem wirklichen Kinderleben vor.

„Pingu“ ist keineswegs „alternativlos“. Gute Ergänzungen sind die vom einfachen Anspruch her vergleichbaren Erlebnisse des kecken Eselchens „Trotro“ (französische Trickschöpfung, auch in deutscher Fassung) und die niedlich bunte britische Reihe „Maisy Mouse“, die auch noch mit etlichen vorsprachlichen Elementen daherkommt und wohl auch daher offenbar noch nicht eingedeutscht worden ist. Da man ohnehin dabei sitzt, streut man halt ein paar ganz simple Übersetzungen ein. Wobei sich vieles auch für Kinder wie von selbst versteht. Die englische Satzmelodie zu hören, kann sicherlich auch nicht schaden.

Nicht ohne Zeigefinger

Fürs Alter etwa ab vier Jahren ist die französisch-kanadische Zeichentrickserie „Bali“ gedacht, die auch in deutscher Synchronisation vorliegt und Folge für Folge ebenfalls so ziemlich alle Lebenslagen kleinerer Kinder durchspielt – allerdings nicht selten mit sämig tröpfelnder Moral und erhobenem Zeigefinger. Dennoch machen die Erlebnisse der putzig gezeichneten Mäusefamilie Mut zu so mancher Unternehmung der frühen Jahre. Fahrrad fahren, Schwimmen lernen, angstfrei zum Zahnarzt gehen – derlei Prüfungen werden am Ende stets mit einer traumhaften Extraportion Zuversicht bestanden. Sei’s drum.

Unsere Tochter wird bald fünf Jahre alt und hat die meisten der erwähnten Figuren gleichsam hinter sich gelassen. Neuerdings schauen wir ab und zu in zwei englische Zeichentrickserien hinein, die nun wirklich allerliebst sind. Ich gestehe, dass ich quasi Fan geworden bin und mich jeweils darauf freue.

Wo der Marienkäfer bellt

Ich rede von „Peppa Pig“ (deutsch: „Peppa Wutz“), dem Töchterchen einer herrlich schrägen Schweinefamilie, die mit Hasen, Zebras, Elefanten etc. befreundet ist. Der Kindergarten wird von Madame Gazelle geleitet, die mit französischem Akzent spricht, was allein schon den einen oder anderen komischen Effekt zeitigt. Jede Folge ist eine liebevolle kleine Groteske für sich, quiekbunt und grunzlustig.

Die Schweinefamilie in "Peppa Wutz" (v. li.): Mama Wutz, Peppa, George, Papa Wutz. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=XeNOxKHPCP0)

Die Schweinefamilie in „Peppa Wutz“ (v. li.): Mama Wutz, Peppa, George, Papa Wutz. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=XeNOxKHPCP0)

Womöglich noch skurriler und mit echt britischem Humor durchtränkt ist die Serie „Ben & Holly’s Little Kingdom“ („Ben & Hollys kleines Königreich“). Hinter dichten Brombeerhecken leben lauter winzig kleine Wesen – allen voran der Elf Ben und die Fee Holly mit ihren Familien. Holly kann, angeleitet von ihrer Nanny, schon ein wenig zaubern und ist Tochter des manchmal etwas tumben Königs. Ben ist so stolz auf seine Herkunft, dass er immer gleich ins griffbereite Horn stößt, wenn das Wort „Elf“ fällt. Eine Fülle weiterer Figuren (darunter ein bellender Marienkäfer – „Gaston the Ladybird“) fächert die an running gags reiche Handlung so vielfältig auf, dass sie fast schon shakespearesche Zauberwald-Dimensionen annimmt. Nun gut, das ist etwas übertrieben. Aber es ist auf jeden Fall eine ganz und gar prachtvolle Kinderserie.

Beiden zuletzt genannten Produktionen gemeinsam sind – neben blühendem Einfallsreichtum – eine ausgefeilte Figuren- und stilsicher typisierende Charakterzeichnung sowie eine wohldurchdachte Dramaturgie. Doch diese Gerüste bemerkt man erst, wenn man partout darüber nachsinnen will. Zuallererst sind beide Reihen wunderbar leichtfüßig und unterhaltsam. Also gerade gut genug für aufgeweckte Kinder.




Was uns ins ferne Länder lockt – Cees Nootebooms „Schiffstagebuch“

Das kennen alle Menschen, die jemals von Fernweh ergriffen worden sind: Schon die bloße Nennung von Ländern und Städten oder ihr bloßer Anblick auf Landkarten kann einen dazu verführen, sich auf den Weg zu machen.

Auch Cees Nooteboom, einer der großen Reisenden der Gegenwartsliteratur, lässt sich auf diese Weise durch die Welt treiben: „…immer waren es Namen, die mich irgendwohin gelockt haben.“ Wer derart ins Ungewisse aufbricht, der will immer und immer hinter die jeweils nächste Wegbiegung schauen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendwann muss man aufhören, und sei’s mit der ganzen Lebensreise. Manches sehen heißt noch mehr versäumen. Und doch bleibt diese „Sehnsucht nach einer ewigen Bewegung ohne Ankunft und Aufbruch“.

Nootebooms „Schiffstagebuch“ ist längst nicht nur Wegbeschreibung und Ortserkundung, sondern eine reichhaltige Reflexion über Phänomene und Phantome des Reisens an sich. Der Schriftsteller gibt sich hier der langsameren Art der Fortbewegung, der allmählichen Näherung anheim, die zwangsläufig ein ruhigeres Schauen mit sich bringt. Die Fahrten führen beispielsweise rund ums Kap Hoorn bis Montevideo, zum Ganges, in den tropischen Nordwesten Australiens, nach Mexiko, von Mauritius bis Südafrika, von Spitzbergen nordwärts bis Hammerfest und schließlich nach Bali.

Hier ist kein landläufiger Tourist unterwegs, sondern ein geschulter Beobachter, der sich einige Zeit nehmen kann, der sich einlässt auf Menschen, Landschaften und Verhältnisse, vielfach auf rätselhafte, irritierende Momente und befremdliche Begegnungen.

Mehrmals hält in diesem Buch das Erzählen gleichsam den Atem an. An völlig entlegenen Orten gibt es jene Augenblicke oder besser Zeitflächen einer großen, überdeutlichen Stille, in die der Reisende dann und wann entrückt wird. Dort erfasst ihn das schiere Gegenteil seiner Existenzform: „Die Verlockung, zu bleiben, zu sehen, wie die Zeit verrinnt und wie man selbst verrinnt…“

Nooteboom, der wahrlich viel von der Welt gesehen hat, weiß, dass er ohnehin keine objektiven Befunde mitteilen kann, sondern mehr oder weniger flüchtige Eindrücke und Muster des Daseins. Fern liegt ihm der Gestus, eine Gegend zu „erobern“, doch auf seinen Nebenpfaden findet er ungleich mehr Sagenswertes als Draufgänger, die alle vermeintlichen Sehenswürdigkeiten mitnehmen.

Reisen, so zitiert Nooteboom den ungarischen Essayisten Béla Hamvas, sei „die rätselhafte Ausdehnung der Möglichkeiten nicht nur in die Richtung, in die man reist, sondern in alle Richtungen…“ Eine ungeheuerliche Herausforderung mithin, zuweilen auch Verunsicherung sondergleichen. Selbst wenn man – wie heute üblich – diverse Stätten aus Filmen kennt, so können sie einen doch mit aller Plötzlichkeit überwältigen, wenn man es denn zulässt. So steht denn Nooteboom fassungslos vor dem strömenden, brandenden Tumult des Lebens in Indien: „…nichts hat mich auf den Schock des Echten vorbereitet, auf meine Sprachlosigkeit.“

So sehr sich der Reisende auch bereitwillig einfühlen mag, so bleibt er doch ein bloßer Gast in jeder Fremde, nirgendwo heimisch. Immer wieder macht sich Nooteboom diese Kluft bewusst, die den Reisenden letztlich nie an ein Ziel kommen lässt. Die Anziehungskräfte der Namen und Karten erweisen sich als „Verlockung des Unmöglichen“.

Auch in der Übersetzung bleibt Nootebooms stupende Fähigkeit spürbar, seinen Texten etwas von den Konturen der Landschaften zu verleihen, die er bereist hat. Ganz so, als wären es Relief-Abdrücke wirklicher Formationen. So kann man die unendliche Leere Feuerlands ahnen, die tosende indische Überfülle, die einzigartige historische Patina der früheren Welt-Perlen-Hauptstadt Broome (Australien), die Zielpunkt eines japanischen Überfalls im Zweiten Weltkrieg gewesen ist und heute nur noch erloschen dahindämmert. Aber es gibt auch Landstriche, deren Lüfte gleichsam über und über angefüllt sind mit Dichtung. Über den Weg durch Chile und Argentinien nach Uruguay heißt es: „Ich bin von Neruda zu Onetti gefahren und von Onetti zu Borges und Gombrowicz, zu Ocampo und Bioy Casares und allen Dichtern dazwischen.“

Immer wieder kommen die Menschen zur Sprache, denen die Ländereien einst geraubt worden sind: Indianer im äußersten Südzipfel Amerikas, Maya in Mexiko, Aborigines in Australien. Überall finden sich Spuren gelebter und erlittener Geschichte, wie erstarrt auch immer. Historische Wunden, zerstörte Balancen, geschundene Natur. Wahrhaftiges Reisen bedeutet auf Dauer auch, lauter schmerzliche Verluste zu verbuchen.

Cees Nooteboom: „Schiffstagebuch“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Mit Schwarzweiß-Fotos von Simone Sassen. Suhrkamp Verlag, 283 Seiten, 19,90 Euro.