Von himmlischen Freuden und Grausamkeiten: Hélène Grimaud und die Bamberger Symphoniker in der Philharmonie Essen

Die französische Pianistin Hélène Grimaud wurde 1969 in Aix-en-Provence geboren (Foto: Mat Hennek)

Ein scharfer Peitschenknall eröffnet Maurice Ravels Klavierkonzert G-Dur. Das für diesen erschreckenden Effekt notwendige Musikinstrument besteht aus zwei Holzlatten mit Griffen, die über ein Scharnier oder einen Riemen miteinander verbunden sind und zur Klangerzeugung gegeneinandergeschlagen werden.

In der Philharmonie Essen fällt dadurch der „Startschuss“ für die französische Pianistin Hélène Grimaud, die derzeit eine kleine Serie von acht Konzerten mit den Bamberger Symphonikern unter Chefdirigent Jakub Hruša gibt. Sie setzt mit quirligen Figurationen ein, deren gleichförmige Motorik sie mit eiserner Disziplin durchhält. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, hätten die Bamberger Symphoniker den rhythmisch vertrackten Beginn dieses übermütigen „Allegramente“ nicht so gründlich verpatzt. Wo die Partitur Präzision benötigt, damit alle Stimmen sich ineinanderfügen, wackelt und klappert dieser Beginn wie eine schlecht konstruierte Mühle.

Aber Hélène Grimaud lässt sich an diesem Abend nicht beirren. Ihr Zugriff auf Ravels Konzert, das in den Ecksätzen so wunderbar kurzweilig ist, setzt mehr auf französische Clarté als auf Jazz-Anleihen à la George Gershwin, wie sie sich in Blues-Klängen und im Aufjaulen der Klarinette bemerkbar machen. Ihr Klavierklang ist gläsern und unsentimental, ihr rhythmischer Drive zwingend. Im tiefgründigen zweiten Satz ist sie aber auch die große Poetin, die ebenso stille wie wehmütige Zwiesprache mit den Holzbläsern hält. Flöte, Englischhorn und Fagott begleiten sie denn auch wunderbar innig und elegisch. Indessen bleiben im Orchester Tempoprobleme bestehen, was umso erstaunlicher ist, als man den Taktstock von Chefdirigent Jakub Hruša zuweilen förmlich hören kann.

Es fehlt die Mahler’sche Morbidität

Mit abrupter Zeichengebung, die oft auf zackig getrimmt wirkt, leitet der Dirigent nach der Pause Gustav Mahlers 4. Sinfonie. Unter seinen zuweilen weit ausladenden Gesten erwächst eine Interpretation, die manches anreißt und zugleich viel vermissen lässt. Zwar sind die Einbrüche des Trivialen in der Partitur erkennbar, aber es fehlt die höhnische Schärfe, der wie ein Messer aufgleißende Spott.

Den schwelgerisch wiegenden Passagen der Streicher mangelt es am Herzenston. Obwohl das Poco Adagio über dem Puls der Bässe ins Schweben gerät, obwohl Oboe und Fagott in ihren Soli melancholischen Trauerflor tragen, fehlt die Mahler’sche Morbidität, der seinem Schönklang innewohnende Stachel der Vergänglichkeit. Der Orchesterklang fächert sich gegen Ende auf wie bei einer Orgel. Aber das kosmische Leuchten aus Mahlers weltabgewandten Weiten bleibt uns verwehrt.

Unter Hrušas Vorgänger Jonathan Nott haben die Bamberger Symphoniker eine ebenso hoch gelobte wie vielfach ausgezeichnete Gesamtaufnahme der Mahler-Sinfonien vorgelegt. Der seit 2016 amtierende Chefdirigent scheint Probleme zu haben, die Musikerinnen und Musiker zu motivieren und für sich zu gewinnen. Zuweilen wirkt er wie mit sich selbst beschäftigt. Das bekommt auch die Sopranistin Kateřina Kneziková zu spüren, die nicht auf größere Rücksichtnahme rechnen darf, wenn sie im Finale die „himmlischen Freuden“ besingt. Aber die sind, folgen wir dem Text aus „Des Knaben Wunderhorn“, auch nicht ganz frei von Grausamkeiten.




Vorfreude: Bamberger Symphoniker in Essen

Ahnen konnte ich es schon, dass man sich auf diese Gastkonzerte am 28. Mai und am 21. Oktober 2011 in der Essener Philharmonie wirklich freuen darf; dann nämlich, wenn die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott jetzt bald Gustav Mahlers 7. Symphonie und im Oktober Mahlers Vierte und Schuberts „Unvollendete“ aufführen werden. (Nebenbei: Jonathan Nott wird am 17.02.2012 noch einmal nach Essen kommen, zwar mit einem anderen Orchester, nämlich dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, aber wieder mit einer Symphonie Gustav Mahlers, dann mit der Zweiten.)

Inzwischen habe ich bemerkt, dass bei Tudor bereits eine beträchtliche Anzahl von CDs veröffentlicht worden sind, die die langjährige gute Zusammenarbeit der Bamberger Symphoniker mit ihrem derzeitigen Chefdirigenten eindrucksvoll bekunden. Die Mahler- und Schubert-Aufnahmen ziehen mich dabei besonders an, dennoch habe ich die Mahler-Aufnahmen vorerst noch ausgespart, um mich zunächst ganz auf den ja recht bald möglichen Live-Eindruck einlassen zu können. Da im Oktober Schuberts „Unvollendete“ und nicht die Große C-Dur-Symphonie auf dem Programm stehen wird, habe ich bei letzterer nicht länger gezögert. Seit meiner ersten Bekanntschaft mit dieser Symphonie zählt sie unbedingt zu den mir liebsten. Meine allererste Aufnahme war die auf einer Heliodor-Schallplatte mit Eugen Jochum und dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die vermochte mich sofort zu begeistern. Dennoch habe ich es mir nie nehmen lassen, gerade diese Symphonie unbedingt nur in voraussehbar guten Aufnahmen zu hören. Über Wilhelm Furtwängler, Karl Böhm, Sergiu Celibidache, George Szell, Günter Wand, Michael Gielen, John Eliot Gardiner und Charles Mackerras … kam da schon eine beträchtliche Reihe von guten, ja sehr guten Aufnahmen zustande – zu der ich nun die überaus gut durchhörbare, klangvolle Neuaufnahme der Bamberger Symphoniker unter Nott ohne zu zögern hinzufügen kann.

Zwar sei zuzugeben, dass ich bei erstrangigen Aufnahmen diese nur selten akribisch untereinander vergleiche; immerhin mag es schon ein Kriterium sein, dass ich beim Anhören einer bestimmten Interpretation mich nicht gleich schon wieder nach einer bestimmten mir bereits bekannten zurücksehne, sondern die je eigene Nuancierung der gerade von mir gehörten zu schätzen weiß und mich ihr ganz überlasse. Und bei der CD der Bamberger war es genauso; beim Hören habe ich zu keinem Zeitpunkt irgendetwas bereits Vertrautes vermisst. Im Gegenteil: Es handelt sich ganz sicher um eine Interpretation, die auch einen etwaigen Ersthörer dieser Symphonie für diese sofort gewinnen, ja erobern könnte.

Auch mit zwei anderen in der gleichen Koppelung von Dirigent und Orchester eingespielten CDs bin ich vollauf zufrieden, ja von der jeweiligen Aufnahme geradezu angetan: von Igor Stravinskys „Le Sacre du Printemps“ … und Leoš Janáčeks „Sinfonietta“ … . Außerdem habe ich unlängst per Zufall einen Ausschnitt aus dem zur Zeit anscheinend laufenden Beethovenprojekt Notts mit seinem bewährten Bamberger Orchester mitbekommen: Im Sender Deutschlandradio Kultur wurde gerade die Eroica gegeben, eine neue Aufnahme, die mich aufhorchen ließ.