Ungarisches Kolorit, asiatische Exotik: Paul Abrahams Operette „Dschainah“ in Berlin und Köln wiederentdeckt

Bogumil kennt das Gesellschaftsspiel – und Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda die Regeln, nach denen ein zündendes Operetten-Libretto funktioniert. Sie schrieben für Paul Abraham auch noch, als die Nazis den Berliner Operettenkönig der dreißiger Jahre entthront und ihn außer Landes gejagt hatten. 1935 komponierte er nicht mehr für die einst glamouröse deutsche Hauptstadt, sondern für Wien die Operette „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Besagter Baron Bogumil Barczewsky ist der bei Paul Abraham unverzichtbare ungarische Anteil in der Story: Er ist sozusagen der Not-Ehemann, der für seinen Freund einspringen muss, falls der nicht rechtzeitig zur Hochzeit anwesend ist. Der Freund heißt Pierre Claudel, ist von Beruf Marineoffizier, in seiner Freizeit Verfasser von Liebesromanen, und hat sich in die Tochter einer Madame Hortense Cliquot verliebt – da haben wir den Pariser Schauplatz.

Jetzt fehlt noch der ferne Osten: Eine plötzliche Versetzung des männlichen Helden nach Vietnam macht’s möglich und schürzt zugleich den dramatischen Knoten: Denn seine Braut Yvonne muss aus Erbschaftsgründen bis zu einem bestimmten Datum verheiratet sein. Bogumil also übernimmt seine Rolle im Gesellschaftsspiel und steht als Notfall-Bräutigam bereit, obwohl er lieber mit der flotten Musotte eine Affaire beginnen würde. Jetzt kommt „Dschainah“ ins Spiel, eine Art vietnamesischer Madama Butterfly, eine Edelkurtisane in einem „Sing-Song“-Haus. Der edle Pierre rettet sie durch Heirat davor, verkauft zu werden, und richtet sich mit dieser Frühform von Miss Saigon häuslich ein. Eine Rechnung, die er ohne Madame Cliquot gemacht hat: Die packt ihre gesamte Entourage ein und kommt nach Vietnam, um den gewünschten Schwiegersohn zurückzubeordern. Dschainah versinkt nicht in Tränen, sondern bekommt einen Maharadscha: Die heile Operettenwelt ist gerettet!

Der Operettenkönig arbeitet für den Kaffeekönig

Kaffeekönig Julius Meinl hatte Abraham den Auftrag zu „Dschainah“ gegeben, damit seine japanische Frau, die Sängerin Michiko Tanaga, in einer attraktiven Hauptrolle auftreten könne. Und das Theater an der Wien hoffte mit der Finanzspritze, die während der Weltwirtschaftskrise untergegangene Operetten-Seligkeit wieder zu beleben. Das mit der Rolle gelang prächtig. Das andere auch: „Es geht wieder hoch, bunt und luxuriös her wie einst an üppigen Marischka-Abenden. Exotik mit Straußenfedergarnierung, Melancholie mit Stepcomfort“, beschrieb Ludwig Hirschfeld die Uraufführung.

Die Rettungsaktion allerdings ging schief. Auch die 57 Aufführungen der Operette mit ihrem fernöstlichen Kolorit und ihren Paris-Einsprengseln konnten das Theater an der Wien nicht vor dem Konkurs retten. Abrahams „Dschainah“ blieb ohne Resonanz und wurde vergessen. Barrie Koskys unermüdlichem Wiedererweckungsdrang und der Komischen Oper Berlin ist nun die deutsche Erstaufführung zu verdanken – in der konzertanten Form der inzwischen zur Tradition gewordenen „Weihnachtsoperette“ mit spiellustigen Protagonisten in Kostüm.

Es gab zwei ausverkaufte Vorstellungen in Berlin, eine in Köln und am 22. März sogar noch ein Gastspiel in Fulda. Ähnlich wie bei den anderen bisher aufgeführten Abraham-Operetten könnten davon Impulse ausgehen: „Ball im Savoy“ und das bis dato völlig unbekannte „Märchen im Grand Hotel“ werden an mehreren Bühnen nachgespielt und schicken sich an, einen Platz im schmal gewordenen Repertoire zurückzuerobern. In Berlin geht die konzertante Abraham-Serie weiter, kündigte Barrie Kosky an: 2020 mit einer populären Operette – es muss sich um „Blume von Hawaii“ handeln – und zum Ende seiner Intendanz 2021 mit einer unbekannten ungarischen. Zur Auswahl stehen „Der Gatte des Fräuleins“ (1928, der erste Erfolg Abrahams), „Julia“ (1937) oder „Der weiße Schwan“ (1938).

Exotisches Schlagwerk gibt das Kolorit

Die „bühnenpraktische Rekonstruktion“ der „Dschainah“ erledigte in bewährter Weise das inzwischen zu Abraham-Spezialisten herangereifte Duo Matthias Grimminger und Henning Hagedorn. Letztere gab auf Anfrage auch Aufschluss über die Quellen und die musikalische Einrichtung, über die sich das Programmheft der Komischen Oper ausschweigt: Basis war ein Satz unbenutzter Orchesterstimmen in der Ungarischen Nationalbibliothek Budapest nebst Text- und Regiebuch, dazu ein handgeschriebener Klavierauszug auf finnischem (!) Notenpapier. Die Instrumentierung ist somit festgelegt; Abraham schreibt für das übliche Orchester plus Gitarre, Banjo, Klavier und ein reich besetztes, für exotische Wirkungen nötiges Schlagwerk mit Vibraphon, Glockenspiel und anderen Instrumenten.

Das Schlagzeug ist sparsam notiert, aber in der Berliner Aufführung lässt Dirigent Hendrik Vestmann den Solisten derart ausufernd und indiskret trommeln, dass die Wirkung der Musik nicht mehr den schmeichelnden, geschmeidigen Klängen entspricht, wie man sie von den Plattenaufnahmen der dreißiger Jahre kennt, in denen der Rhythmus von Banjo oder den Pizzicati der in Berlin leider schwach besetzten tiefen Streichern kommt. Vestmann lässt das Orchester auf der Bühne auch mächtig auftrumpfen, was den mikroportierten Sängern nichts ausmacht, den Klang aber oft zu massiv und zu wenig elegant auflädt. Was mitreißend funktioniert, sind die Rhythmen – es entzückt, wenn die asiatisch anmutende Pentatonik und die fremdelnde Klangexotik der Schlaginstrumente in einen swingenden Slowfox oder einen veritablen Tango münden, vom unverzichtbaren „ungarischen“ Idiom ganz abgesehen.

Präziser Sinn für Wortwirkung

Präzise und mit Sinn für Wortwirkung ist der Chor unter David Cavelius bei der Sache; auch die Solisten artikulieren meist verständlich und vor allem mit Witz und Charme. Stimmlich ragt Hera Hyesang Park als Dschainah Lylo heraus, ein Sopran mit sicherem, angenehm lockeren Klangkern und der für die Operette unabdingbaren Flexibilität. Bei Johannes Dunz als französischer Marineoffizier schleicht sich – soweit die Mikroports eine Einschätzung zulassen – eine sich verfestigende Härte in seinen Tenor.

Mirka Wagner (Yvonne) und Talya Lieberman (Musotte) wirbeln hindernisfrei durch ihre Partien; Dániel Foki aus dem Opernstudio zeigt Temperament und viel versprechende stimmliche Vorzüge. Unglücklich die Rolle der Madame Cliquot: Zazie de Paris, auch schon mal mit Gastrollen in der „Lindenstraße“ und im „Tatort“, bleibt wohl, weil die Dialoge durch einen Erzähler ersetzt sind, als Madame Cliquot eine marginale Figur. Klaus Christian Schreiber entledigt sich seiner Conférencier-Pflichten mit eher beschränktem Humor.

Jetzt käme es – wie bei „Märchen im Grand Hotel“ auf eine szenische Aufführung an, um zu beurteilen, wie lebensfähig Abrahams Wiener Exotin tatsächlich ist. Die Musik macht schon mal Spaß, auch über den Schlager „Ohne Liebe kann ein Herz nicht glücklich sein“ hinaus.

 




Operetten-Passagen (9): Paul Abrahams „Märchen im Grand Hotel“ wirft leise satirische Blicke auf das mondäne Leben

Hotels, die großen, mondänen, waren und sind bis heute Traumorte: Hier verkehren Menschen, die Geschichten mit sich tragen; hier gibt es Skandale und Geheimnisse; hier tummeln sich Verliebtheit und Verbrechen. Heute ist kaum mehr zu ermessen, was die Hotels der Vorkriegszeit bedeuteten: Man schlief und speiste nicht nur im Hotel, man vergnügte oder verbarg sich, man tanzte und träumte.

Tanzt erstklassig: Sarah Bowden in Paul Abrahams "Märchen im Grand Hotel" an der Komischen Oper Berlin. Foto: Robert-Recker.de

Tanzt erstklassig: Sarah Bowden in Paul Abrahams „Märchen im Grand Hotel“ an der Komischen Oper Berlin. Foto: Robert-Recker.de

Das Hotel war der magische Brennpunkt des luxuriösen Lebens, das der eine aus dem Vollen schöpfte, der andere wenigstens für ein paar Stunden erhaschte. Kein Wunder, dass es Menschen gab, die quasi im Hotel existierten. Ein letzter Spross dieser Hotelkultur war wohl der legendäre Opern-Erklärer Marcel Prawy, der hinter der Wiener Staatsoper im Hotel Sacher seine letzten Jahre verbrachte.

„Märchen im Grand Hotel“ – der Titel der kaum mehr bekannten Operette von Paul Abraham, die an der Komischen Oper Berlin wiederentdeckt wurde, ließ also zur Zeit ihrer Uraufführung 1934 eine ganze Lichterkette von Assoziationen aufgehen. Man wusste, wovon sie erzählt, oder man konnte es sich nach Vicki Baums 1929 erschienenem Roman „Menschen im Hotel“ – bereits drei Jahre später Thema eines mit dem Oscar geschmückten Films – irgendwie vorstellen. Und Abraham selbst, der Jahre seines Lebens in Hotels verbrachte, hatte wohl aus eigener Erfahrung einen sehr konkreten Begriff von Glanz und Elend der Nobelherbergen.

Paul Abraham freilich schildert nicht das vereinsamte, depressive Luxus-Treibgut, das sich in Baums Roman sammelt. Er überhöht das Etablissement – wie viele andere Operettenschreiber – zur Traumkulisse. Seine Hotelbewohner sind entweder fröhliche Angestellte wie der stets alerte Zimmerkellner Albert, oder sie sind exotisch-exzentrische Reizfiguren wie eine spanische Infantin im Exil nebst Zofe, ein mit jener verlobter Prinz und der Geldadel der neuen Welt, die Herrscher über die damals neuen Medien: ein Filmproduzent und seine selbstbewusst sorgenfreie Tochter. Figuren, die sich als Projektionsfläche für Wünsche, Träume und Begehrnisse bestens qualifizieren.

Träumen und Staunen mit Ironie

Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda, die anerkannten Operettenroutiniers, verknüpfen diese Typen nicht ohne satirischen Blick zu einer augenzwinkernd vorhersagbaren Story: Am Ende der unglücklichen Liebe zwischen Niedrig und Hoch findet sich ein toller Zufall, der alles gut werden lässt – und die neue mediale Illusionsfabrik, der Film, tut einen Teil dazu.

Dass solche Geschichten nicht in peinliche Banalität abrutschen, ist dem Talent der Macher zu verdanken, sich immer wieder mit Ironie zu distanzieren; leise genug, um ein vergnügungssüchtiges Publikum nicht beim Träumen und Staunen zu stören, aber ausreichend vernehmbar, um den Geist nicht mit dem erstbesten Groschenroman-Sujet zu betäuben.

Henning Hagedorn (links) und Markus Grimminger haben - wie bei anderen Abraham-Operetten auch - die noch auffindbaren Quellen ausgewertet und eine bühnenpraktische Fassung erarbeitet. Foto: Werner Häußner

Henning Hagedorn (links) und Markus Grimminger haben – wie bei anderen Abraham-Operetten auch – die noch auffindbaren Quellen ausgewertet und eine bühnenpraktische Fassung erarbeitet. Foto: Werner Häußner

Wortwitz ist eine Methode, musikalische Raffinesse die andere: Abraham zeigt sich in dieser nach seiner Vertreibung aus dem hakenkreuzdurchseuchten Berlin entstandenen Operette nicht ganz auf der Höhe seiner melodischen Erfindungsgabe, aber im Drive der Nummern, im Nervenreiz der Rhythmen, in der Eleganz und sprühenden Farbigkeit der auch bei diesem Werk wieder von Henning Hagedorn und Matthias Grimminger eingerichteten Instrumentation ist er ganz der Alte, wie wir ihn aus „Viktoria und ihr Husar“ oder „Ball im Savoy“ kennen.

Mit „Märchen im Grand Hotel“ hat die Komische Oper Berlin eine Reihe begonnen, die in den nächsten Jahren fünf Operetten von Paul Abraham vorstellen soll. Zu denken wäre an seine frühen Werke wie „Zenebona“ oder „Der Gatte des Fräuleins“ oder an seine ungarischen Operetten wie „Julia“, „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“, oder gar an „Tambourin“, jenes Schmerzenskind, an dem er im Exil in den USA arbeitete und das bisher nie aufgeführt wurde.

Punktgenau aufs Tempo der Operette eingeschworen

Leider sind vollständige Inszenierungen der unbekannten Trouvaillen nicht geplant, aber Hausherr Barrie Kosky weiß nur zu gut, dass eine „konzertante“ Aufführung einer Operette ein Unding ist. So richtet er auf der Vorderbühne – das Orchester sitzt dahinter – einen Spiel-Raum ein, den die von Kathrin Kath herrlich schrill kostümierten Darsteller mit flott choreographiertem Spiel ausfüllen. Den Chor ersetzt das Lindenquintett mit Arrangements á la Comedian Harmonists. Und weil Kosky einem seiner Operettenstars, Max Hopp, neben der Rolle des Albert auch die eines Conférenciers überlässt und sich die meisten Sprechtexte spart, haben die 90 Minuten auch ohne ausgebaute Szenerie das atemlose Tempo, bei dem keine Sekunde die Spannung verloren geht.

Dafür sorgen die Darsteller, allesamt hochprofessionell auf die Kunstform der Operette eingeschworen: flink, punktgenau, pointensicher, selbstironisch, aber dennoch voll in der Rolle drin. Das Manko ist nur: Das Singen ist ihre am wenigsten entwickelte Kunst. Ungeachtet der Frage, ob man in der Operette wirklich Microports verwenden sollte: Ohne Technik kämen wohl weder Max Hopp noch Sarah Bowden, die „Stars“ der Produktion, mit ihrer Stimme über die Rampe. Wie war das denn anno 1934? Vergessen wir die Frage schnell …

Nun hat es durchaus Qualitäten, wie Max Hopp, ein gescheiter Conférencier, eine wunderbar zugespitzte Sprache führt, aber für die „schönste Rose und ein Herz voller Liebe“ hätte man sich doch einen stimmbeherrschenden Operettentenor statt ein heiseres Falsettsäuseln gewünscht. Man sollte nicht jedes Unvermögen zum künstlerischen Mittel hochstilisieren.

Sarah Bowden (Marylou) ist ein anderer Fall: Sie tritt als Tanzsoubrette par excellence auf, hat Esprit und Glamour im Auftritt, kann sprechen, aber singt mit dem flach-nasalen Ton und dem aufgesetzten Vibrato, wie es im kommerziellen Musical heute üblich ist. Talya Lieberman bringt als Infantin Isabella dagegen eine sauber gestützte Stimme, ein angenehmes, vom Vibrato nicht zerschlagenes, sondern geadeltes Timbre und eine technisch abgesicherte Flexibilität mit – genau richtig für die sentimentalen Lieder, mit denen Abraham ihre Partie geschmückt hat.

Üppiger Schaum und ein wenig Pfeffer

Johannes Dunz, adrett im Auftritt, müsste sich wohl nicht elektronisch stützen lassen; sein frischer Tenor verspricht hinter dem technisch aufgepeppten Sound einen attraktiven „Natur“-Klang. Philipp Meierhöfer als Filmproduzent Sam Makintosh ein quirliger Lieferant eines musikalischen Running Gags und Tom Erik Lie als soignierter Hotelbesitzer und en travestie als überdrehte spanische Gräfin in ebenso herrlich überdrehter Robe pfeffern die Handlung mit genau dem richtigen Zuviel, das vor der Überwürze des Klamauks gerade noch gefeit ist.

Mit Adam Benzwi steht ein operettenversierter Dirigent am Pult des Orchesters der Komischen Oper, der weiß, wie die Rhythmen der damaligen Modetänze flexibel zu halten, wie instrumentale Details zu beleuchten, wie Tempo in Schmiss zu verwandeln ist. Da geht es oft um agogische Detailarbeit, um Präzision im Laissez-faire, um den treffsicheren Geschmack in der Phrasierung.

Die Bühne ist allerdings nicht der optimale Spielort für das üppig besetzte Orchester: Der Klang bleibt oft unbestimmt, Details sind im Raum nicht durchgezeichnet, die verstärken Stimmen übertönen die Finessen. Dennoch: Paul Abrahams mitreißend gemachte Musik garantiert schäumendes Vergnügen, das man gerne an anderer Stelle – und dann szenisch voll durchgearbeitet – noch einmal serviert bekommen würde.




Hier gilt’s nicht nur der Kunst: In Bayreuth präsentiert Barrie Kosky mit den „Meistersingern“ souveränes Deutungs-Theater

Die Meistersinger in Wahnfried. Szene aus dem ersten Aufzug der Neuinszenierung von Barrie Kosky. Foto: Enrico Nawrath

Die Meistersinger in Wahnfried. Szene aus dem ersten Aufzug der Neuinszenierung von Barrie Kosky. Foto: Enrico Nawrath

Hier gilt’s der Kunst allein: Was Siegfried Wagner nach den nationalbegeisterten Kundgebungen bei der Premiere der „Meistersinger von Nürnberg“ 1924 an die Türen des Bayreuther Festspielhauses schreiben ließ, was Wieland und Wolfgang Wagner 1951 zum Aushang brachten, um in „Neu-Bayreuth“ politische Diskussionen zu unterbinden, das könnte auch über dem letzten Bild von Barrie Koskys Bayreuther Neuinszenierung der „Meistersinger“ stehen.

Soeben hatte noch Hans Sachs – allein und dem Publikum zugewandt – die deutsche, echte, wahre Kunst gepriesen, die auch den politischen Zerfall überstehen würde. Da öffnet sich die Bühne nach hinten, ein Orchester fährt herein und Sachs dirigiert im Samtjackett und Barett Richard Wagners mit ausladenden Bewegungen den emphatischen Schluss.

Gilt’s also nur der Kunst? Ein verzweifelt affirmatives Plädoyer nach sechs Stunden lustvoll ausgespielten Beziehungs-Theaters, in dem es, ja sicher, um die Musik, doch mindestens ebenso um Biografisches, Politisches, Geschichtliches ging? Mag sein, dass die großartige Musik Richard Wagners alles heil macht, Dass sie über 155 Jahre Rezeptionsgeschichte triumphiert, die von frühen (jüdischen) Protesten gegen die Beckmesser-Figur über den Missbrauch als Festoper im Dritten Reich bis hin zur radikalen Zuspitzung zum Diskurs über die Kunst durch Katharina Wagner in Bayreuth 2007 reicht. Kosky lässt den Chor in schwarzem Orchesterdress die Instrumente bearbeiten – und lesen kann man daraus ein Bekenntnis oder eine Parodie.

Von Wahnfried bis zum Nürnberger Prozess

Die frisch renovierte Fassade des Festspielhauses. Foto: Werner Häußner

Die frisch renovierte Fassade des Festspielhauses. Foto: Werner Häußner

Von wegen Kunst allein also. Was schon im zweiten Akt der „Meistersinger“ aus dem Munde Eva Pogners nicht so recht zutrifft, stimmt ebenso wenig 1924 oder 1951 oder 2017. Ähnlich wie Stefan Herheim in seinem genialen Bayreuther „Parsifal“ zieht Kosky das Panorama weit, bezieht die Wirkung mit ein: Die Ouvertüre richtet den Blick in den von Rebecca Ringst detailreich nachempfundenen Salon der Villa Wahnfried, Ort einer der berüchtigten privaten Performances eigener Werke, die Richard Wagner so liebte. Er selbst ist gleich mehrfach anwesend, als Stolzing, Sachs, David. Schwarz und streng schreitet Cosima, migränebewehrt, durch die Reihen, nimmt am Kaffeetisch Platz. Schwiegervater Franz Liszts weiße Haare wehen nicht lange am Flügel: Der zappelig-quirlige Wagner, der zuvor Seidenwäsche und Schuhe ausgepackt hat, schubst ihn weg, greift selbst in die Tasten, demonstriert dem Dirigenten Hermann Levi, wie er seine Musik gespielt haben will. Selbst die Neufundländer Wagners haben ihren Platz: Zu Beginn führt er die schwarzen Hunde Gassi.

Doch die witzige, mit virtuoser Hand inszenierte Geschichte bekommt den ersten schalen Riss, als der deutsche Choral „Da zu dir der Heiland kam“ einsetzt. Hermann Levi, der jüdische Münchner Generalmusikdirektor und Uraufführungs-Dirigent des „Parsifal“, in die Rolle des Beckmesser gedrängt, wird zum Niederknien genötigt: Beginn einer Demontage, für die Kosky im Lauf des Abends bedrängende, irritierende, auch plakative Bilder finden wird.

Zunächst aber bevölkern die Meister in den prächtigen Renaissancekostümen Klaus Bruns‘ den Wahnfried-Salon. Die Merkerei wird aus Portraitbildern des jungen Wagner und Cosimas gebaut, die souverän gestalteten personenreichen Szenen sind komödiantisch überzogen und stets auf dem Punkt – Barrie Koskys operettengeschulte Hand versteht es, Pointen treffsicher zu setzen. Überraschend rückt der Tumult am Ende des ersten Akts in die Ferne: Wahnfried fährt nach hinten, der Raum schließt sich, und Hans Sachs, alias Richard Wagner, steht im Zeugenstand eines Gerichtssaals. Im letzten Licht – Franck Evin ist ein Meister der bedeutungsvollen Beleuchtung – erkennen wir: Es ist der Saal der Nürnberger Prozesse, an der Wand die Fahnen der vier Siegermächte.

Die Vertäfelung rahmt auch im zweiten Aufzug die Spielfläche. Gras sprießt überall – eine sinnreiche Anspielung – und die efeubewachsene Zeugenschranke wird zur Liebeslaube Stolzings und Evas. Die Wagner-Entourage picknickt, die Gewandungen mutieren ins Volkstümliche, Handwerkliche, Altdeutsche. Den Fliedermonolog und das Gespräch mit David setzt Kosky mit sensiblem Blick auf die menschlich berührenden Tiefen in Szene, aber der spannungsvolle Dialog zwischen Hans Sachs und Eva will mit seinen hintergründigen Anspielungen nicht so recht in die Gänge kommen: Koskys Interesse gilt nicht der werkimmanenten Psychologie der Personen.

Beckmesser (Johannes Martin Kränzle) in der Prügelszene am Ende des zweiten Aufzugs. Foto: Enrico Nawrath

Beckmesser (Johannes Martin Kränzle) in der Prügelszene am Ende des zweiten Aufzugs. Foto: Enrico Nawrath

Die Prügelszene rückt er in deutliche Nähe eines Pogroms – nicht naturalistisch durchgestaltet, sondern hochsymbolisch aufgeladen: Beckmesser wird ein gewaltiger Kopf aufgesetzt, der an die verzerrten Juden-Darstellungen antisemitischer Zeichnungen erinnert; parallel dazu bläht sich riesig und geisterhaft eine „Stürmer“-Judenkarikatur bühnenhoch auf. Sie richtet den giftigen Blick ins Publikum, bis sie zu den letzten Versen des Nachtwächters in sich zusammensinkt und nur noch die Kippa mit dem Davidsstern sichtbar bleibt.

Ein plakatives Bild – aber auch ein Hinweis darauf, was aus dem Antisemitismus Wagners erwachsen ist. Koskys Regie stellt jedoch, gegen den ersten Eindruck solcher starker Bühnen-Signale, keine vordergründigen Bezüge her. Er gibt sich auch nicht, wie derzeit der Castorf-Ring in Bayreuth, der frei schweifenden Assoziation hin. Er hat den „Meistersingern“ nichts übergestülpt, sondern entwickelt jeden Zug seiner Deutung aus dem Stück, aus Wagners Gedankenwelt und aus dem ideologischen Umfeld, das vom unkritisch bewundernden Wagnerianismus eben bis hin zur Wagner-Rezeption Hitlers und des Dritten Reiches führt.

Wagners verquere Theorien in der Konkretion einer Bühnenfigur

Inwieweit Beckmesser als Juden-Karikatur aufgefasst werden kann, ist ein bis heute umstrittenes Thema. Wer Wagners Hetzschrift „Das Judenthum in der Musik“ liest, kommt jedoch nicht umhin, in Beckmesser Wagners verquere Theorien in der Konkretion einer Bühnenfigur wiederzuentdecken: „Der Jude“, der „an sich unfähig ist … sich uns künstlerisch kundzugeben“, der in Musik redet, ohne etwas Wirkliches zu sagen, der nur wie Papageien nachplappert „ohne Ausdruck und wirkliche Empfindung“ – ist das nicht Beckmesser, der sich eines Lieds von Hans Sachs bemächtigt, es entstellt und verständnislos vorträgt? Hitler sagt es unverblümt und in offenbar direktem Bezug auf Wagner: „Was (das Judentum) auf dem Gebiete der Kunst leistet, ist entweder Verbalhornisierung oder geistiger Diebstahl.“

Alles, was Wagner diffamiert hat, findet sich bei Beckmesser wieder – und insofern ist Kosky, wenn er den demontierten Merker bis in die karikierend zappelnden Bewegungen des letzten Akts hinein als erniedrigte Person kennzeichnet, jenseits aller philologischen Debatten auf der Spur des authentischen Wagner. Wenn er im dritten Akt das Renaissancevolk über die Bänke des Nürnberger Schwurgerichtssaals fegen und die Fahnen schwingen lässt, hebt er freilich die plakative Eindeutigkeit auf: Er schlägt den Bogen aus dem historischen spätmittelalterlichen Nürnberg, das seine Judengemeinde ausgerottet hat, über das idealisierte Alt-Nürnberg Wagners in die Villa Wahnfried als Chiffre für einen Ort, an dem sich Glanz und Elend des 19. Jahrhunderts verdichten. Und er markiert mit dem szenisch-räumlichen Bezug zu den Nürnberger Prozessen den Horizont, in dem die Geschichte zu lesen ist.

Michael Volle als Hans Sachs im Dritten Akt. Foto: Enrico Nawrath

Michael Volle als Hans Sachs im Dritten Akt. Foto: Enrico Nawrath

Gälte es nur der Kunst, wie es noch Wolfgang Wagner in seinen letzten, unübertrefflich biederen Bayreuther „Meistersingern“ nahegelegt hat, wäre Richard Wagner verharmlost, die Geschichte negiert und die Bedeutung von Musik um einen wesentlichen Aspekt beschnitten. Barrie Kosky hat mit Bewusstsein um die Probleme, mit virtuosem Regie-Handwerk und nicht zuletzt mit einem Seitenblick auf die ursprüngliche Intention der „Meistersinger“ als einer „komischen Oper“ ein Beispiel souverän konzipierten Deutungs-Theaters geschaffen, das allen Brüchen und Fragen zum Trotz in sich konsistent eine sinnlich erfassbare Position zu den „Meistersingern von Nürnberg“ entwickelt, die dem Anspruch des Stücks und dem Anspruch Bayreuths, wie mit Wagners Werk umzugehen sei, Genüge tut.

Kein Blech-Pathos aus dem Orchestergraben

Wenn Oper als Gesamtkunstwerk und als Beitrag zu einem philosophischen Diskurs aufgefasst wird, steht die Musik oft in Gefahr, in der Kritik an die zweite Stelle abzurücken. Dem muss ausdrücklich widersprochen werden – und die Bayreuther Neuproduktion dieses Jahres macht es einem leicht. Mit Philippe Jordan, dessen Berufung zum Musikdirektor der Wiener Staatsoper ab 2020 zur zweiten „Meistersinger“-Vorstellung bekannt gegeben wurde, gab es auch aus dem Orchestergraben einen neuen Ton: Das Blech-Pathos war ausgetrieben, der dicke Saft der Streicher ausgepresst. Die Ouvertüre hat darob nichts an Auftritts-Majestät verloren, aber Jordan entwickelt den Ton mit lichter Leichtigkeit, lässt die Phrasen elegant schweben, achtet vielleicht ein wenig zu unentschieden darauf, die verästelte Kontrapunktik darzustellen, trifft aber die sprühend lebendige Beweglichkeit zumal des ersten Aktes mit Bravour.

Präzise ausgehörte Finali, leise lyrische Nachdenklichkeit in den Monologen des Sachs, ein mit Wehmut in eingedunkelte Farben getauchtes Vorspiel zum dritten Akt sprechen für die Bewusstheit, mit der Jordan sich der großen inneren Linie der Musik widmet, wie wenig er sich von der nötigen und erfolgreichen Detailarbeit ablenken lässt, den großen Entwicklungsbogen und die Kongruenz zum szenischen Geschehen im Blick zu halten. Noch selten hat man einen Chor wie den Festspielchor Eberhard Friedrichs so spielfreudig erlebt und dabei so präzis, so schattierungsreich, so sorgfältig im Wort-Musik-Verhältnis zu hören bekommen. Die Festwiese war, weggerückt vom Schaustück mit Pracht und „Wach‘ auf“-Prunk, ein leicht genommenes, von Witz durchtränktes Kabinettstück. Szenisch den Bezug zum ersten Aufzug nicht verhehlend, vollbrachte der Chor auch eine Meisterleistung differenziert ausgedeuteter Sprache, von unbeschwert jubelnd bis bösartig zischend.

Nicht häufig in den letzten Dekaden war ein so gleichmäßig niveauvolles Ensemble zu erleben: Allen voran Michael Volle als nicht brüchefreier, aber in jedem Moment wort- und klangsouveräner Sachs und Johannes Martin Kränzle als Beckmesser, der zwischen komödiantischer Übertreibung und tiefster Erniedrigung stets szenisch wie stimmlich glaubwürdig bleibt und ein zutiefst bewegendes Menschenportrait gestaltet. Luxuriös besetzt sind der Veit Pogner mit dem in diesem Fach inzwischen führenden Bass Günther Groissböck und der Nachtwächter mit dem herrlich sonoren Karl-Heinz Lehner.

Daniel Behle kehrt mit leuchtendem, nur an wenigen Stellen verunsichertem Tenor die oft peinliche ausgestellte Naivität des Lehrbuben David um in jugendliche Nachdenklichkeit. Mit Klaus Florian Vogt steht in Bayreuth der derzeit wohl beste Stolzing auf der Bühne – auch wenn der zaghafte Umgang mit der Stütze gerade in den schwärmerischen Legati seiner Partie die gleichmäßige Tonbildung beeinträchtigt. Mit dem Tonansatz hat auch Anne Schwanewilms als Eva ihre liebe Not; der dritte Akt gelingt ihr besser als die verengten Dialoge im zweiten. Auf eine jugendlich-frische Eva mit frei strömender Stimme wird man wohl noch warten müssen. Wiebke Lehmkuhl setzt ihren üppigen Mezzo als Magdalena mit viel Lust an spielerischer Nuancierung ein. Bayreuths Festspiel-Premiere bietet allerbestes Theater, geistig durchdrungen und anregend, szenisch wie musikalisch auf einem Niveau, das den Begriff der „Festspiele“ überragend mit Leben füllt.




Entdeckung in Berlin: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ – Operette, zur Farce zugespitzt

Vielleicht waren es nicht nur Zwänge der Disposition, die Barrie Kosky veranlassten, die Premiere von „Eine Frau, die weiß, was sie will“ auf den 30. Januar zu legen. An dem Tag, an dem vor 82 Jahren Hitlers Gefolgsleute mit Fackeln durchs Brandenburger Tor zogen, um die „Machtübernahme“ zu feiern, fegte die Operette von Oscar Straus über die Bühne der Komischen Oper – des einstigen Metropol-Theaters, wo das Zugstück für die damalige Diva Fritzi Massary 1932 seine Uraufführung feierte.

Straus und Massary waren Opfer der Hetze der Nazis: Die eine verließ schon Ende 1932 Deutschland, der andere hatte im neuen Reich keine Chance und musste schließlich Europa verlassen: Die Lust auf scharfzüngige Satire und kabarettistischen Witz haben sich die Deutschen gründlich ausgetrieben.

Barrie Kosky hat die Komische Oper Berlin, das ehemalige Metropol-Theater, wieder zu einer Hochburg der Operette gemacht. Foto: Werner Häußner

Barrie Kosky hat die Komische Oper Berlin, das ehemalige Metropol-Theater, wieder zu einer Hochburg der Operette gemacht. Foto: Werner Häußner

Kosky setzt mit „Eine Frau, die weiß, was sie will“ seine verdienstvolle Reihe kaum mehr gespielter, aber exemplarischer Operetten aus der Zeit vor der Naziherrschaft fort. Und er richtet den Blick auf das, was aus dem Genre auch hätte werden können: Straus, mit seiner Erfahrung mit dem „Überbrettl“, dem ersten musikalischen Kabarett Deutschlands, orientierte sich weniger an der klassischen Form der Operette, sondern an den früher beliebten Vaudevilles – typisierenden Singspielen –, an leichtfüßig-flinken Boulevardkomödien à la Georges Feydeau und natürlich am Kabarett und der Revue mit ihren frechen Songs, ihren politischen und erotischen Zweideutigkeiten. Konsequent nannte er das Stück auch „musikalische Komödie“.

Der Intendant der Komischen Oper schärft als Bearbeiter die Sinnspitze dieser Operette noch einmal so, dass sie wirklich zustechen kann: Er verweigert sich der Bühnen- und Ausstattungs-Opulenz, dampft die 30 Rollen ein und lässt sie von zwei Darstellern spielen: Dagmar Manzel darf sich in sieben wiederfinden; Max Hopp wirbelt durch mehr als ein Dutzend Figuren. Die Bühne ist reduziert auf den dunkelroten Vorhang, der nur einen Ausschnitt freigibt: Eine Wand, eine Tür, zwei Lüster. Minimalistischer, aber auch konzentrierter geht es wohl nicht.

In diesem Mini-Raum wird agiert – aber wie! Klar, dass Kosky das Spiel mit Rollen- und Geschlechteridentitäten wieder lustvoll ausnutzt: Wer Mann ist, wer Frau, spielt keine Rolle. Auch damit spitzt er ein Kennzeichen der Operette zu.

Ein anderes Merkmal ist das Balancieren mit Sein und Schein. Dagmar Manzel ist die Diva, die eine Diva spielt – in diesem Fall die Operettenprimadonna Manon Cavallini. Die ist gleichzeitig Mutter einer unehelichen Tochter. Beide Damen kommen sich ins amouröse Gehege: Die Jüngere projiziert auf genau den Mann ihre pubertäre Glut, in dem die Ältere ihren „Frühling“ erkennen will. Das hat turbulente Folgen, aber es gibt ja noch Tugenden wie Verzicht und Mutterliebe: Am Schluss hört die Mutter den „Schrei der Natur“, es richtet sich alles und der Wertekanon des braven Publikums bleibt, zumindest vordergründig, unerschüttert.

Straus treibt mit dem Genre ein raffiniertes Spiel – und Kosky hat das analytisch durchleuchtet und dennoch nicht in ein erdrückendes Konzept, sondern in eine rasante Farce gefasst. Schon diese „Diva“ ist es wert, genauer besehen zu werden: Sie ist die „Frau, die weiß, was sie will“ und ihr Bekenntnis – der Ohrwurm der Operette – fasst alles zusammen, was eine selbstbewusste, emanzipierte Großstädterin von damals kennzeichnet.

Fritzi Massary, die legendäre Operettenkönigin Berlins zwischen 1910 und 1928, kehrte mit dieser Rolle auf die Musikbühne zurück – bezeichnenderweise für das Geld, das ihr die „Freiheit gibt“. Und Straus schuf mit seinem Librettisten Alfred Grünwald für die Bühne die Frau, als die sich die Massary auch außerhalb des Theaters inszenierte.

Dass diese Diva am Ende sich als treu sorgende Mutter offenbart, ist maliziöse Ironie, Dekonstruktion der unnahbaren Theatergöttin, aber auch Humanisierung einer Rolle, in der ein Mensch kaum sein Leben verbringen möchte: Christoph Marti, die „Clivia“ in Nico Dostals gleichnamiger Operette an der Komischen Oper, beharrte bei einer Podiumsdiskussion strikt auf der Trennung von Bühne und Privatem: „Diva“ sein bedeute eben nicht Glamour und Freiheit, sondern Selbstdisziplin, Arbeit, Verzicht und Befriedigung von Erwartungshaltungen. In Oscar Straus‘ Komödie spiegelt sich so spielerisch wie ernst diese ambivalente Bedeutung der „Diva“.

Dass Manzel diese Aspekte mit einem Tempo und einer Leichtigkeit verkörpert, die anderswo so schnell nicht zu finden sind, muss nicht extra betont werden. Sie freundete sich schon 2002 am Deutschen Theater in der „Großherzogin von Gerolstein“ mit dem musikalischen Lachtheater an und ist seit „Sweeney Todd“ (2004) nicht mehr aus der Komischen Oper wegzudenken. Jetzt schlüpft sie in Sekundenschnelle nicht nur in verschiedene Kostüme (unendlich kreativ: Katrin Kath), sondern in gegensätzliche Charaktere – eine gekonnte Revue der spezialisierten Rollenklischees, von denen Operette lebt, vom komischen Alten über die Dienerfigur bis zum Liebhaber.

Sie kreiert einen eigenen Tonfall: Der Abstand von Massarys raffiniertem Stimmeinsatz ist nicht zu verschleiern – Manzel ist eben mal keine klassisch gebildete Sängerin –, aber er gebiert eben auch eine andere Freiheit: die des Wortes, der Tonfall-Geste, des nuancierten Virtuosität des Sprechens, der angedeuteten Frivolität wie des poetischen Innehaltens. Und Straus hält sich mit Forderungen an Stimmvolumen oder -umfang so zurück, dass Manzel in jedem Moment ungefährdet bleibt.

Noch einen Zahn zulegen muss Max Hopp: Seine Verwandlungen sind schwindelerregend schnell getaktet, vom rosa Flatterkleid von Töchterchen Lucy sind es nur wenige Sekunden zu Frack und Zylinder. Preußisches Geschnarre folgt auf sächsisches Gebrabbel, der affektierte Reigen kunstvoll gedrehter Handgelenke und verzweifelt weggeworfener Arme kontrastiert sofort mit eckig-militärischen Bewegungen oder aufgedrehter Verzweiflung. Und das Tempo steigert sich, wenn Manzel und Hopp zu zweit gleichzeitig in vier Rollen schlüpfen, säuberlich gehälftet und je nach Drehung Frau oder Mann.

Das ist nicht nur höchst präzises Lachtheater, das sind auch Meisterleistungen von Kostüm- und Maskenbildnern: Chapeau für die Unsichtbaren, die in den 90 Minuten hinter der Klapptür keinen Moment die Konzentration verlieren dürfen.

Musikalisch in besten Händen ist die leichte, quirlige, beredte Partitur von Oscar Straus bei Adam Benzwi am Flügel. Das frei Schwingende in der Musik wird nicht sentimental, das Maschinelle nicht steif. Tempo und Timing stimmen, der Stimme wird ihr Recht eifersuchtslos eingeräumt. Das Orchester der Komischen Oper spielt luftig süß, nie schwer oder klebrig. Straus als musikalischer Aquarellist ist in dieser Operette immer fein, transparent, liebevoll zart, schaut eher zurück auf Franz von Suppé als zur Seite, wo Paul Abraham etwa ein grandioses orchestrales Klangfarbenspektakel mit modernen Zügen entfaltet. Das war Operette vom Feinsten, wie sie heute wohl nur an der Komischen Oper zu erleben ist. Riesengroßer Beifall!

Weitere Infos: http://www.komische-oper-berlin.de/spielplan/eine-frau-die-weiss-was-sie-will/




Mensch-Maschine: Mozarts „Zauberflöte“ an der Rheinoper in Duisburg und Düsseldorf

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Nosferatu kann kaum die wilden Höllenhunde zurückhalten und nicht nur Papagenos Katze sträuben sich dabei die Nackenhaare: Als Hommage an den Stummfilm zeigt die Rheinoper in Düsseldorf und Duisburg Mozarts „Zauberflöte“.

Was auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammenzupassen scheint, geht tatsächlich eine kongeniale Verbindung ein. Die filmischen Animationen ersetzen das Bühnenbild und führen mitten ins Herz von Mozarts fantastischem Märchen rund um Liebe, Weisheit und böse Mächte. Die Arien sind nach wie vor an ihrem Platz, nur der Sprechtext wird nach Art des Stummfilms in kurze Sätze gepackt und flimmert über die Leinwand. Regisseur des Ganzen ist Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper Berlin, gemeinsam mit Suzanne Andrade und Paul Barritt von der Theatergruppe „1927“, die in ihren Shows mit filmischen Animationen arbeiten und so ein ganz eigenes ästhetisches Erlebnis schaffen.

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Deswegen tritt Sarastros (Thorsten Grümbel) Oberaufseher Monostatos (Florian Simson) im Kostüm des Nosferatu auf, Papageno (Richard Sveda) erinnert an Stummfilmstar Buster Keaton und Pamina (Heidi Elisabeth Meier) trägt pechschwarzen Pagenkopf wie Filmstar Louise Brooks in der 20er Jahren. Die Königin der Nacht (stimmlich sehr überzeugend: Cornelia Götz) ist als übergroße Spinne konzipiert, deren stachelige Beine den Zuschauern Gänsehaut über den Rücken jagen: Hier driftet die Inszenierung ein wenig in Richtung Horror-Comic.

Und doch ist diese Lesart psychologisch überzeugend, denn die Königin der Nacht, in vielen Opernabenden als sternenumglänzte Kitsch-Queen angelegt, verkörpert bei Mozart ebenfalls das Reich des Bösen. Im Gegensatz zu Sarastro, der sich vom unerbittlichen Herrscher zum Hüter von Weisheit, Wahrheit und Gerechtigkeit entwickelt. Mit langen Bärten und hohen Zylindern herrschen er und seine Priester über ein Reich, das dem Film „Metropolis“ entsprungen scheint. Die Animationen, projiziert auf den Bühnenhintergrund, zeigen die ersten Maschinen-Menschen; Zahnräder und Dampfkolben treiben die Spezies der Roboter an. Rund hundert Jahre später durchdringen Computer unsere Welt erst recht – aber nicht mehr schwarz-weiß und mechanisch.

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper

Und wie funktioniert das mit Mozarts Musik? Im Rhythmus der Klänge aus dem Orchestergraben (große Spielfreude beweisen hier die Duisburger Philharmoniker) tanzen Phantasmen, Tiere und technische Apparaturen über die Leinwand; die Sänger fügen sich ästhetisch stimmig ins Gesamtgeschehen ein. Da es immer etwas zu schauen und zu bestaunen gibt, gerät der Abend äußerst kurzweilig, ohne dass das Primat der Musik aufgegeben wird. Im Gegenteil: Es entsteht ein witziges, anrührendes und auch ein wenig respektloses Gesamtkunstwerk, das einfach Spaß macht.

Wiederaufnahme im Theater Duisburg am 17.12.
Weitere Termine und Karten: www.operamrhein.de




Wacht auf, Verdammte dieser Erde: „Der fliegende Holländer“ wieder am Aalto

Foto: Aalto-Musiktheater

Foto: Aalto-Musiktheater/Thilo Beu

„Ein Gespenst geht um in Europa, es ist das Gespenst des Kommunismus“, so beginnt das berühmte Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Diesen Satz hat Regisseur Barrie Kosky in seiner Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ von 2006, die jetzt in der Aalto-Oper in Essen wiederaufgenommen wurde, ganz wörtlich genommen.

Er deutet den Holländer als Wiedergänger des geschundenen Arbeiters, des Kommunisten der ersten Stunde, der in der Welt keine Heimat finden kann – schon gar nicht im real existierenden Sozialismus der DDR. Hier leben nämlich Senta (Astrid Weber), ihr Vater Daland (Tijl Faveyts) und auch alle Matrosen dieses „Staatsschiffes“, das anmutet wie ein Bürogebäude der Staatssicherheit in Plattenbauweise. Die „Wacht“ des Steuermannes (Rainer Maria Röhr) wird dabei übersetzt als Komplettüberwachung der Bevölkerung durch die Behörde „Horch und Guck“. Mit Fernrohren spähen die Seeleute bzw. Beamten aus dem Fenster, ab und zu blitzt eine Kamera auf, um einen Vorgang auf der Vorderbühne zu dokumentieren.

Dieser Zugriff auf eine Wagneroper scheint zunächst ein wenig ungewöhnlich und man braucht als Zuhörer etwas Zeit, die Bilder zu enträtseln, während die bekannten Klänge aus dem Drama um das Geisterschiff, Liebestreue und Erlösung an die Ohren drängen.

Doch es funktioniert, denn Barrie Kosky hat seine Interpretation dem Stoff nicht einfach übergestülpt, sondern seine Ideen aus ihm entwickelt. Was bedeuten Treue und Verrat für Menschen in unserem Jahrhundert? Kann man sich auf Freundschaft in einem sogenannten „Unrechtsstaat“ verlassen? Kann ich mir sicher sein, dass meine eigene Ehefrau mich nicht bespitzelt? Auf diese Weise macht Regietheater Spaß und Sinn – vor allem, wenn wie in Essen, der musikalische Genuss noch dazukommt (Dirigat: Tomás Netopil).

Foto: Aalto-Musiktheater

Foto: Aalto-Musiktheater/Thilo Beu

Stimmlich beeindrucken vor allem Astrid Weber als Senta und Tijl Faveyts als Daland. Ebenso zeigt Almas Svilpa als Holländer Präsenz, wenn er wie einst Manfred Krug im Film „Spur der Steine“ in Feinripp-Unterhemd und Zimmermannshose die Bühne beherrscht, von den staunenden Bewohnern des Arbeiter- und Bauernstaates als ein Gespenst aus längst vergangenen Zeiten begafft. Die Szene, in der dann der komplette Opernchor als Senta verkleidet kurz davor ist, das Geisterschiff zu stürmen, überdreht die Sache ein wenig und kann doch sinnvoll gedeutet werden: Den Traum vom wahren Sozialismus haben nicht nur Senta, sondern sie alle vielleicht mal geträumt. Doch was ist daraus geworden: Ein Schiff, bewohnt von Gespenstern. Und die Ideale von damals? Sind in der hinterhältigen Spießigkeit des Überwachungsstaates irgendwann verlorengegangen…

„Fürchtest Du ein Lied, ein Bild?“ singt Senta, gerichtet an Erik (Jeffrey Dowd), ihren Führungsoffizier, und spielt damit auf das schwierige Verhältnis der Kulturschaffenden zur Staatsführung an. Die Szene, in der Erik Senta noch einmal auf ihre Liebe verpflichten will, ist konzipiert wie ein Verhör. Senta hätte „eine Versicherung ihrer Treu“ gegeben respektive unterschrieben, bei der Stasi mitzutun. Hat sie? Der Holländer, der hinter dem Vorhang steht, muss dies glauben: Senta hat ihn verraten.

Sie nun, setzt das Messer an seinen Hals und erlöst ihn. Sich selbst zu richten, das gelingt ihr bei Barrie Kosky nicht. Senta blickt stumm ins Leere: Aus der Traum.

Nächste Aufführung: 21. Februar 2014
Karten: www.aalto-musiktheater.de

 




„Tristan und Isolde“ in Essen: Peter Schneiders meisterliches Dirigat

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für "Tristan und Isolde" fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für „Tristan und Isolde“ fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Hätte dieser Liebestod doch alleine im Orchestergraben stattgefunden! Musikalisch geformt von Peter Schneiders kundiger Hand, aufblühend aus einem delikaten Piano zu fiebrigem Glanz, transparent, geschmeidig und klangvoll, in leuchtender Ekstase auf dem Höhepunkt der dynamischen Entfaltung.

Aber zum Schlussgesang von „Tristan und Isolde“ gehört die Stimme – in Essen diejenige von Evelyn Herlitzius. Und die allseits gefeierte Sängerin brach am Aalto-Theater in der letzten der drei „Tristan“-Vorstellungen dieser Wagner-Jubiläums-Spielzeit den magischen Moment des Verströmens herunter auf höchst irdisches Buchstabieren.

Herlitzius hatte schon die Premiere von Barrie Koskys Inszenierung unter Stefan Soltesz 2006 gesungen. Es war ihre zweite Isolde nach Chemnitz – und die erste vor international relevanten Bühnen wie Dresden, Wien, Berlin. Bei ihrem Essen-Debüt lobte die Kritik ihre vokale Risikobereitschaft, ihren bedingungslosen Einsatz. Das stimmt auch für 2013, nur: Evelyn Herlitzius hat darüber vergessen, dass Isolde nicht nur ein Parforceritt im Zeichen von Forte- und Fortissimo-Anspannung ist. Der erste Akt geriet mit überbordender vokaler Gewalt zu einem Schrei-Duell mit der schönstimmigen, nur manchmal in der Höhe spitzen Martina Dike. Und der „Liebestod“ begann nicht „mild und leise“ – und setzte sich fort im Versinken und Ertrinken in riesigen Tönen, weit abgekehrt von sauberer Artikulation, flexiblem Legato oder sinnlichem Strömen.

Im zweiten Akt zeigte sich, dass allen prachtvollen Volumens zum Trotz der Kern der Stimme im Mezzoforte nicht erfüllt fließend, sondern flackernd gespannt klingt. Der Gegensatz zu Jeffrey Dowd, der sich bemüht, den Tristan lyrisch grundiert und entspannt zu singen, kann nicht größer sein: Zwei Stimmen, die im Duett nicht harmonieren, zumal Dowd die leuchtend-expansive Höhe nicht aufbringen kann. Mit kluger Ökonomie bewältigt das bewährte Essener Ensemblemitglied den dritten Akt, lässt sich nicht zum Forcieren hinreißen und kleidet so die Sehnsuchtsverzweiflung Tristans eher in resigniert gedämpfte als in aufbrausend gewaltige Klänge.

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von "Tristan und Isolde" in Essen. Foto: Matthias Jung

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von „Tristan und Isolde“ in Essen. Foto: Matthias Jung

Mit Liang Li präsentierte sich ein neuer König Marke, der die Partie aus einem kantablen Ansatz heraus gestaltet, aber hin und wieder den Ton nicht ausreichend fokussiert. Vielleicht kommt die Partie für den Bass, der einen mustergültigen Banco im Essener „Macbeth“ gesungen hat, noch zu früh. Tadellos Heiko Trinsinger, der die Rolle des Kurwenal szenisch wie musikalisch weiter verinnerlicht hat: Überzeugender als früher lässt er den Klang strömen, bildet kraftvolle Höhe statt mit gestautem mit freier gehaltenem Atemfundament. Die sorgende Zuwendung zu dem tödlich getroffenen Freund Tristan und das bedingungslose Einstehen für sein Leben haben in Trinsingers Gestaltung berührende Größe.

In den von Wagner weniger ausgiebig bedachten Partien kann das Aalto-Theater auf bewährte Sänger zurückgreifen: Albrecht Kludszuweit als kultiviert singender Hirte, Mateusz Kabala als klischeeferner Melot, Rainer Maria Röhr als Seemann und Thomas Sehrbrock als Steuermann. In der szenischen Wiederaufnahme gab sich Frédéric Buhr alle Mühe, die Intentionen Koskys zu reanimieren. Dennoch: Klaus Grünbergs Bühne mit dem in riesenhafter Schwärze schwebenden Licht- und Erzähl-Raum ist das Plus dieser Produktion, die Kosky nach einigen modisch-überflüssigen Sexual-Errationen im ersten und einer sorgfältigen, aber wenig pointierten Personenregie im zweiten und dritten Akt unschlüssig enden lässt.

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

So bleibt als prägender Eindruck das meisterliche Dirigat Peter Schneiders. Lange Erfahrung, eine intime Kenntnis der Partitur, Achtsamkeit für die Sänger prägen seine Auffassung. Schneider knüpft an der intensiven Arbeit von Stefan Soltesz an, der die drei „Tristan“-Vorstellungen ursprünglich als Gast an seinem langjährigen Stammhaus dirigieren sollte, aber alle Aalto-Auftritte abgesagt hat. Auf die Essener Philharmoniker ist Verlass: von der genau ausgehörten Streicher-Balance über die konturscharf zugeschnittenen prominenten Bläser-Momente, den solistischen Glanz bei Hörnern oder Holzbläsern bis hin zu Andreas Goslings elegisch-intensivem Englisch Horn.

Schneider nutzt dieses „Kapital“ für einen schlanken, fließenden Duktus der Musik, für bewegte Tempi – die nur im zweiten Aufzug die Holzbläser für einige Momente hastig wirken lassen – und für einen aufgelichteten Mischklang, der Details nicht zudeckt, aber auch nicht über Gebühr heraushebt und damit die Rundung des Klangs beeinträchtigt. Der dritte Aufzug beginnt mit der schmerzlich intensiven Tönung durch die tiefen Streicher und begeistert durch exquisit kultivierte Piano-Schattierungen und die Kunst des Übergangs – wie sie bei Schneiders letztem „Tristan“-Dirigat 2012 in Bayreuth schon zu bewundern waren. Wie hätte Wagner reimen können? In diesem „Tristan“ webt Wunder ein wissender Weiser.