Raum des blauen Wassers: Piero Vinciguerra schafft für Puccinis „Trittico“ in Essen eine magische Bühne

Die Bühne von Piero Vinciguerra für Giacomo Puccinis Dreiteiler „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. Ein magischer Raum von Distanzierung, Verklärung und Selbstentäußerung. (Foto: Matthias Jung)

Was wäre bei Giacomo Puccini denn ein anderes Thema, das drei so unterschiedliche Opern wie in seinem „Trittico“ miteinander verbinden könnte, wenn nicht die Liebe?

So trivial die Feststellung klingt – denn fast alle Opern haben irgendetwas mit Liebe zu tun –, so grundlegend ist sie für Puccinis Experiment, drei Werke zu einem „Triptychon“ zu verbinden, die wie drei Flügel eines Kunstwerks einzeln stehen und doch zusammengehören. Aber Regisseur Roland Schwab hat in seiner dritten Inszenierung am Aalto-Theater Essen (nach Verdis „Otello“ und Leoncavallos „Pagliacci“) eine andere Antwort: der Tod.

Schwab entdeckt also, was Puccini in seiner letzten Oper „Turandot“ im schmerzlichen Scheitern letztlich bekräftigt hat. Doch schon das „Trittico“ beantwortet die Frage Friedrich Nietzsches, ob Liebe und Tod nicht Geschwister seien, in drei Versionen: dem gewaltsamen Mord, dem verklärenden Übergang und einem Satyrspiel mit dem Tod, dem Schwab durch den Suizid des Buoso zum Beginn von „Gianni Schicchi“ ein verstörendes Gewicht gibt. Aus dem Überdruss am Luxus – Buoso erschießt sich am Rand eines mondänen Pools – keimt die zerstörerische Gier nach Reichtum als Quelle materieller Völlerei. Von daher, und verbunden mit dem Blick auf die außerordentliche Qualität der Musik Puccinis, kann das „Trittico“ auf gleicher Höhe wie Verdis „Aida“ oder Wagners „Tristan und Isolde“ auf das unerschöpfliche Thema von Liebe und Tod blicken.

Die Scharniere zwischen den Werken interessieren Schwab bei seiner Neuinszenierung des „Trittico“ am Essener Aalto-Theater besonders. Am liebsten hätte er, so bekennt er im Programmheft-Interview, die drei Stücke ohne Pause aneinandergehängt, und begründet das tiefsinnig mit der Dreiteilung von Dantes „Göttlicher Komödie“: Der Beginn, „Il Tabarro“, als Abgrund der Welt, „Suor Angelica“, das ungeliebte Mittelstück, als das „Purgatorio“, den Reinigungsort. Und schließlich „Gianni Schicchi“, die rabenschwarze Komödie, als Verweis auf das Paradies. Abwegig? Sicher nicht, denn die einzige Liebe, die eine Chance auf Gelingen hat, ist die zarte, sich selbst sichere Beziehung zwischen den jungen Menschen Lauretta und Rinuccio.

Zerstiebt Hoffnung wie Seifenblasen?

Heiko Trinsinger (Gianni Schicchi), Lilian Farahani (Lauretta) in „Gianni Schicchi“. Foto: Matthias Jung.

Aber wer stärker ist, die Liebe oder der alles verbindende Tod, wird in „Gianni Schicchi“ Bild und Szene virtuos in der Schwebe gehalten. Zwar bekommt das kleine Luder Lauretta genau das, was sie will, aber hinter dem fröhlich posierenden Paar schäumen Seifenblasen auf. Und der Schelm Gianni Schicchi hält eine rote Kugel in der Hand, die während des gesamten „Trittico“ als Chiffre in der Szene präsent war. Ist es der Apfel der Eva, mit dem das Paradies unzugänglich und das Böse in der Welt wirksam wurde? Die verbotene Frucht, die den Menschen „wie Gott“ um sich selbst wissend, frei, aber auch der Mühsal unterworfen der Welt auslieferte? Und verheißt die Leuchtschrift „Addio Speranza“ nicht auch auf die vergebliche Liebesmüh‘? Die Hoffnung – addio, also „zu Gott“?

Schwab arbeitet gerne (und manchmal zu viel) mit solchen symbolischen Fingerzeigen, mit chiffrierten Hinweisen. In „Il Tabarro“ spielt ein Drehorgler einen verstimmten Walzer. Er sollte in den beiden anderen Teilen wiederkommen – stummer Repräsentant des Todes im Komödiantenkostüm und so ein Echo des „Leierkastenmannes“ Schuberts. Das Kleid in sanft abgestuften Rosa-Tönen – die Kostüme sind Gabriele Rupprechts sensible Schöpfungen – verbindet die Protagonistinnen der drei Opern, betont das Gemeinsame der Frauenfiguren, die bei Puccini von Manon bis Liu stets zu Opfern verurteilt sind.

Wesentlich getragen wird Schwabs jeden Realismus transzendierende Sicht von einem großen Wurf Piero Vinciguerras: Für diese erste komplette Realisierung des Puccini-Dreiteilers in Essen hat der international erfolgreiche italienische Bildmagier die Bühne mit einem riesigen Wasserbecken ausgefüllt. Doch was anderswo lediglich zum szenischen Aufreger taugte, erhält in Essen sinnliche fassbare Bedeutung: Das Wasser wird selbst zum symbolhaften Element von Zeit, Vergänglichkeit, Elendsstrom und Tränensee. Selbst in „Il Tabarro“, in dem der Verismo und das Sozialdrama Émile Zolas grüßen, illustriert es nicht das Ufer der Seine. Und in Verbindung mit dem meisterlich eingesetzten Licht wandelt es den Raum zur Sphäre. Hier geht es nicht mehr um Schauplätze, sondern um Seelenräume.

Das Licht schafft Verbindungen zwischen den Opern: Wenn Luigi im „Tabarro“ bitter feststellt, das Leben habe keinen Wert mehr, schimmert die Bühne in dem blauen Licht, das später Schwester Angelica umfließt, wenn sie sich vergiftet. Dieser Moment ist große Bühnenkunst: Der riesige Spiegel über der Wasserfläche senkt sich in der Hinterbühne und lässt die Zuschauer wie von oben auf die im Blau hingestreckte Angelica blicken. Der Moment des Sterbens als Selbstentäußerung, Transzendierung und Verklärung wird wie selten sinnlich fassbar. So legt Schwab Spuren aus, die sich im Lauf des Abends zu festen Banden zwischen den drei Teilen entwickeln. Puccini hätte seine helle Freude gehabt.

Sänger garantieren musikalische Qualität

Das Aalto-Theater kann mit einer Riege von Sängern aufwarten, die auch die musikalische Qualität des Abends garantieren. Bettina Ranch etwa spielt als Frugola den Frust einer derangierten Schönheit aus und streift die Spur des Naturalismus, ohne die Dichte der Szene zu durchbrechen. Als Fürstin in „Suor Angelica“ repräsentiert sie – bezeichnend mit der Chiffre des Lichts durch ihre Sonnenbrille spielend – die eiskalte Unerbittlichkeit, die empathielos auf das Erbe konzentriert schon die Gier der Nachfahren in „Gianni Schicchi“ präfiguriert. Jessica Muirhead ist ein Schatz im Ensemble des Aalto-Theaters: Die ganze Sensibilität, Verletzlichkeit und innere Qual der ins Kloster verbannten unehelichen Mutter legt sie für Schwester Angelica in ihre freie, blühende, im Piano reich schattierende Stimme.

Der Tod zerreißt das begrenzende Gespinst und öffnet den Raum: Jessica Muirhead in „Suor Angelica“. Foto: Matthias Jung.

Marie-Helen Joël hat als Äbtissin und vor allem als Zita in „Gianni Schicchi“ stimmlich sicher unterfütterte, szenisch dichte Auftritte. Auch die kleineren Rollen sind niveauvoll besetzt, etwa mit Liliana de Souza (Schwester Eiferin, La Ciesca), Giulia Montanari (Genovieffa) oder Christina Clark (Nella). Annemarie Kremer setzt als Giorgetta einen imposant-kraftvollen Sopran ein, aber den scharfen, vibratoreichen Tönen fehlt der sinnliche Schmelz einer Puccini-Stimme. Auch Lilian Farahani ist als Lauretta nicht optimal besetzt: „O mio babbino caro“, der Schlager des gesamten „Trittico“, erklingt zu leicht, zu soubrettig, und ohne fließende melodische Bögen.

Mit Heiko Trinsinger als Michele („Il Tabarro“) und als Gianni Schicchi kann sich das Aalto-Theater auf eine sichere Nummer verlassen. Er erfasst trotz eines nicht so sehr italienisch gefärbten Baritons die resignierte Trauer und den impulsiven mörderischen Ausbruch eines Mannes, der ratlos zusehen muss, wie ihm die immer noch geliebte Frau im Fließen des Schicksals entgleitet. Dem Gianni Schicchi gibt er weniger die Eleganz des gewitzten Betrügers mit, sondern eher virile Kraft, unbändige Komödiantenlust, aber auch einen Flash von Zynismus.

Sergey Polyakov (Luigi) und Annemarie Kremer (Giorgetta) im ersten Teil des Abends, „Il Tabarro“ („Der Mantel“). (Foto: Matthias Jung)

Sergey Polyakov ist ein standfester, zu kraftvollem Nachdruck fähiger Luigi, der dennoch die drückende Trostlosigkeit seiner Existenz und die leise Trauer in seiner Leidenschaft in flexiblen Tönen auszudrücken weiß. Baurzhan Anderzhanov (Il Talpa/Betto di Signa) fällt wie stets durch seine makellos geführte Stimme und den Wohllaut seines kühlen, aber schön abgerundeten Timbres auf. Zu hoffen ist, dass Christopher Hochstuhl aus dem Opernstudio NRW als Liedverkäufer künftig nicht auf ein paar Sätzchen und stumme Auftritte beschränkt bleibt. Zumal in „Gianni Schicchi“ machen die Sänger – mit Carlos Cardoso als erfrischendem Rinuccio und Uwe Eikötter als erfahrenem Gherardo – dem Begriff des „Ensembles“ alle Ehre. Opern- und Kinderchor des Aalto-Theaters unter Patrick Jaskolka bewältigen die schwierige Aufgabe, aus der Ferne und in ungünstiger Aufstellung zu singen, mit solider Sicherheit.

Im Orchester erklingt ein „moderner“ Puccini

Am Pult der Essener Philharmoniker waltet diesmal Roberto Rizzi Brignoli, Generalmusikdirektor in Santiago de Chile und häufiger Gast an Häusern wie der Mailänder Scala, Berlin, Hamburg oder Stuttgart. Er präsentiert einen „modernen“ Puccini, bedacht auf Transparenz und genaues Nachzeichnen der Komplexität von Puccinis Komposition. Das ist gerade für „Il Trittico“ ein passender Zugang. In „Il Tabarro“ betont er nach einem luftig-lockeren Beginn nicht die Qualitäten des Verismo-Reißers, sondern die diskret schattierten Töne, die lyrischen Momente, in denen sich die verletzten Seelen musikalisch äußern.

In „Suor Angelica“, die der Operntradition des 19. Jahrhunderts am nächsten liegt, hätte man sich stellenweise einen süffigeren Klang vorstellen können. Aber die Essener Philharmoniker bringen das mystische Kolorit zum Leuchten, funkeln in der differenzierten Instrumentierung in aparten Farben, spielen Lyrisches gelöst und ohne Druck. Beste Voraussetzungen für die agile Musik des „Gianni Schicchi“, in der die Moll-Klage ebenso geheuchelt klingt wie das heroische Preislied auf Florenz, und in der sich die Philharmoniker vergnügt auf punktierte Details und schräge Sprünge kaprizieren. Eine Burleske mit schaurigem Hintergrund – der Kreis ist geschlossen.

Vorstellungen am 13. Februar (mit Nachgespräch), 2., 20., 31. März, 24. April, 15. Juni 2022. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/2022-02/iltrittico/6384/




Menschheitsfamilie mit Gott und Teufel: Dietrich Hilsdorf inszeniert in Essen Alessandro Scarlattis „Kain und Abel“

Ein von der Zeit ausgezehrter, nobler Raum, verblichene Tapeten, ein halbblinder Spiegel. Man sitzt bei Tische, zwei Violinisten spielen Tafelmusik. Die Gewänder entsprechen der Mode kurz nach Beginn des 18. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, in der Alessandro Scarlatti in Venedig sein Oratorium über Kains Mord an seinem Bruder Abel geschrieben hat, eine der Schlüsselgeschichten des Alten Testaments aus dem vierten Kapitel des Buches Genesis.

Das Drama kennt keinen Ausweg: „Kain und Abel oder der erste Mord“ (Cain, overo il primo omicidio) von Alessandro Scarlatti am Aalto-Theater Essen. Von links: Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam), Tamara Banješević (Eva), Xavier Sabata (Gott), Philipp Mathmann (Abel). (Foto: Matthias Jung)

Am Aalto-Theater Essen kleidet sie Dietrich Hilsdorf mit seinen Ausstattern Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) ins Ambiente der Entstehungszeit, doch er pflegt damit keinen Historismus, sondern entwickelt ein hochartifizielles Zeichensystem, das für Scarlattis verkappte Oper aus dem Jahr 1707 komplexe Aspekte einer Deutung zulässt.

In seiner 20. Inszenierung für das Essener Theater – erinnert sei an die Skandale mit Verdis „Trovatore“ und „Don Carlo“, aber auch an spannende psychologisch fundierte Kammerspiele – macht Hilsdorf aus der biblischen Geschichte ein Familiendrama: Gott und der Teufel sind keine aus dem Off dröhnenden Übermächte, sondern heben am Tisch mit den Menschen das Glas, geraten mit ihnen in körperlichen Kontakt. Wesen aus Fleisch und Blut und dennoch durch ihre Positionen im Geschehen auf der Bühne oft seltsam enthoben: Ein treffend erfundenes Bild für die Präsenz des Transzendenten in, aber nicht seine Identität mit den Lebensvollzügen der Menschen.

Spannung in jedem Moment

Hilsdorfs Fähigkeit, die Bühne auch bei stillstehender Interaktion mit Leben und Spannung zu erfüllen, macht aus diesem pausenlosen 140-Minuten-Stück einen Abend ohne Leerlauf. In jedem Moment auf die Personen auf der Bühne konzentriert, erschließt er mit seinen Darstellern in präzis ausgeformten Gesten und Gängen ihre seelische Verfassung, ihre Emotionen, ihre inneren Entscheidungen. Und das in einem äußerlich handlungsarmen Verlauf, denn das Libretto des Kardinals Pietro Ottoboni – der gleichzeitig mit Scarlatti auch den jungen Händel förderte – stellt die theologische Reflexion gleichrangig neben die biblische Erzählung. Hilsdorfs Vorzug ist, dass er diese Ebene in seine Inszenierung integrieren kann. Der Provokateur von früher hat sich zum genau analysierenden Beobachter gewandelt.

Die Verführung tarnt sich weiblich-erotisch: Baurzhan Anderzhanov (Teufel), Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam). (Foto: Matthias Jung)

Hilsdorfs Zeichensystem lebt aus sinnenfrohen Details, die sich dennoch zu einem schlüssigen Ganzen fügen: Adam und Eva tragen Gewänder in der Bußfarbe Violett. Der Teufel tritt, in eine kostbar gearbeitete Prachtrobe gehüllt, als mondäne Frau auf – mit einer Anmutung von Macht und Erotik, die Kain in ihren Bann ziehen muss. Dass der Böse die Macht Gottes nachäfft, wird deutlich beim Entschluss zum Brudermord: Wie der Schöpfergott Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle streckt er den Finger aus, der quasi den mörderischen Funken auf Kain überträgt.

Das Böse bleibt in der Welt

Zwei Kerzen signalisieren die Opfer: Abels Kerze flammt hoch, Kains Kerze raucht nur. Zurücksetzung und die damit empfundene Ungerechtigkeit, Neid und der Dünkel des „Erstgeborenen“ motivieren die Tat Kains. Er bläst die Kerze des Bruders aus und erschlägt ihn unter der festlichen Tafel. Kain und Luzifer trinken sich zufrieden zu. Später wird Gott den Teufel aus dem Reifrock schälen und so die Täuschung aufheben: Im Untergewand am Rande sitzend, wird dieser die Trauer Adams und Evas beobachten und dabei versonnen einen Apfel schälen. Das Böse bleibt Bestandteil der Welt; es ist aber auch an der Rettung beteiligt: Wenn Adam am Ende auf die Menschwerdung Gottes in Jesus anspielt („aus meinem Blut soll der Erlöser geboren werden“), nagelt der Teufel ein Kreuz mit einem Corpus an die Wand. Das Ende bleibt ambivalent: Dass alle Protagonisten am Tisch die Suppe auslöffeln, wirkt unverkennbar ironisch, lässt aber eine endzeitliche Versöhnung nicht außer Acht. Familiendrama und universales Schöpfungs- und Erlösungsdrama gehen ineinander über.

Hilsdorf ist ein Regisseur, der – ursprünglich aus dem Schauspiel kommend – selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie vergessen hat, szenisch mit der Musik zu interagieren. In Essen führt die musikalische Sensibilität zu einer glücklichen Einheit von Bild und Klang, die über die Integration des Orchesters in das Bühnenbild hinausgeht. Dirigent Rubén Dubrovsky hält so den direkten Kontakt zu Szene, die Sänger und die Musiker stellen sich ideal aufeinander ein.

Inspirierte Musik Alessandro Scarlattis

Scarlattis Musik erweist sich in ihrer Tonarten-Dramaturgie und in ihrer vielfältigen, klangsensiblen Durcharbeitung geradezu als theologisch inspiriert. In ihrer Arie „Sommo Dio“ etwa äußert Eva die bittende Hoffnung auf Befreiung durch das „heilige Holz“ und das „geopferte Lamm“ und bringt damit die neutestamentliche, christologische Perspektive ein. Das Lamm, das Abel opfern will, ist ein anderer Verweis auf Christus, das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Die Arie steht in g-Moll, und in dieser Tonart kündigt sich das Erscheinen Gottes in einer Sinfonia – also zunächst rein instrumental – an.

Gott und Abel: Philipp Mathmann (Abel) und Xavier Sabata (Gott). (Foto: Matthias Jung)

Gottes Arie – durch die Art („mezzo carattere“) mit Abel verbunden – steht dann in F-Dur und hebt sich damit deutlich ab – die Transzendenz des Erlösung verheißenden Gottes wird betont, während er, wenn er Kain die Folgen seiner Tat klarmacht, das „menschliche“ g-Moll in G-Dur moduliert, verbunden mit einem unerbittlichen Streicher-Ostinato, welches das Schicksal des mit dem Kainsmal zugleich gezeichneten und vor dem Tod geschützten Mörders in scharfen, harten Akzentuierungen verdeutlicht.

Auf diese Weise schafft die dramatisch begründete, dennoch souverän formal gestaltete Musik Scarlattis eine enge Verbindung mit der Szene. Die Essener Philharmoniker sind in ihrem wachen, flexiblen, in Klang, Phrasierung und Artikulation nahe an historisch informierten Spezial-Ensembles. Eine fabelhafte Leistung der Musiker, die sich ja mit Repertoire aus allen Epochen befassen müssen, aber auch von Dubrovsky: Der Wahl-Wiener, der demnächst Händels „Alcina“ in Hannover und „Giulio Cesare“ in St. Gallen dirigiert, stellt die Beziehung zwischen Bühne und Orchester her und führt die Sänger sicher und in organischen, wenn auch manchmal sehr beschaulichen Tempi. Die Instrumente, etwa das Fagott in den g-Moll-Arien Evas oder die beiden Flöten sind szenisch zugeordnet, und für den Auftritt des Teufels pervertiert Felix Schönherr mit unheimlich schnarrenden Registern den sakralen Klang der Orgel.

Vorzügliche Sänger

Gesungen wird in Essen ebenfalls vorzüglich. Bettina Ranch führt ihren Mezzo elegant durch die Bravour und das Cantabile der Arien Kains, beleuchtet stimmlich die Facetten dieses Charakters, der sich keineswegs im „Bösen“ erschöpft und im Widerstand gegen die zweite Versuchung des Teufels, sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen und damit ultimativen Widerstand gegen Gott zu leisten, einen heroischen Zug erhält.

Tamara Banješević kleidet die Trauer und Reue Evas, aber auch ihre Hoffnungen mit einem weich formenden, innigen, flexibel ausgestaltenden Sopran. Dmitry Ivanchey als gebrochener, am Stock gehender Mann in edlem Justaucorps, muss sich in seiner ersten „aria di bravura“ noch mit Mühe und fest sitzender Stimme durch Sechzehntelketten kämpfen, gewinnt aber im Lauf des Abends souveräne Präsenz. Xavier Sabata setzt einen virilen Alt für die Stimme Gottes ein, die er auch mit Schärfe und profunder Energie dramatisch aufladen kann.

Baurzhan Anderzhanov als mondäner Teufel. (Foto: Matthias Jung)

Baurzhan Anderzhanov kann mit seinem unverschleierten, in der Artikulation unbestechlichen, klanglich schlank-leuchtenden Bass in einer weiteren Glanzrolle am Aalto-Theater brillieren. An Philipp Mathmanns Stimme werden sich die Geister scheiden: Der Counter intoniert traumsicher, singt aber die Töne steif, manchmal überzogen schrill an und pflegt das geradlinige „weiße“ Timbre, das in Alte-Musik-Kreisen bisweilen sehr geschätzt wird, mit italienischem Belcanto aber wohl wenig zu tun hat. Dietrich Hilsdorf, der nach sieben Jahren an das Essener Haus zurückgekehrt ist – und in zwei Jahren eine neue Inszenierung verantworten wird – erhielt einhellige Ovationen; das gesamte Ensemble genoss den langen, herzlichen und verdienten Jubel des Publikums.

Vorstellungen am 30. Januar, 20. und 29. Februar, 4., 8., 13., 20. März und 3. Mai. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kain-und-abel/3798/




Wunderbare Ausdrucks-Vielfalt: Tomáš Netopil dirigiert Mozarts „La Clemenza di Tito“ am Aalto-Theater Essen

Erregte Auseinandersetzung zwischen Sesto (Bettina Ranch, links) und Vitellia (Jessica Muirhead). Foto: Thilo Beu

Erregte Auseinandersetzung zwischen Sesto (Bettina Ranch, links) und Vitellia (Jessica Muirhead). Foto: Thilo Beu

Die Bewertung von Wolfgang Amadeus Mozarts „La Clemenza di Tito“ hat sich grundlegend gewandelt. Die Rezeption der in Mozarts Todesjahr 1791 uraufgeführten Oper hat in den letzten Jahrzehnten freigelegt, dass es sich nicht um ein widerwillig ausgeführtes Auftragswerk mit einem hoffnungslos veralteten Libretto handelt. Vielmehr haben Mozart und sein Librettist Caterino Tommaso Mazzolà die häufig vertonte Vorlage Pietro Metastasios zu einem erstaunlich differenzierten Stück über Menschlichkeit und Macht weiterentwickelt, dessen Offenheit für zeitgenössische Deutungen den Vergleich mit der „Hochzeit des Figaro“ oder „Cosí fan tutte“ nicht zu scheuen braucht.

Am Aalto-Theater in Essen ließ sich Tomáš Netopil nicht nehmen, diese letzte Premiere der Spielzeit 2016/17 selbst zu dirigieren und nach „Don Giovanni“, „Idomeneo“ und „Le Nozze di Figaro“ seinem Mozart-Spektrum eine neue Farbe hinzuzufügen. Mit fabelhaftem Erfolg: Netopil schwört die Essener Philharmoniker auf ein zurückhaltendes, transparentes, vielfältig aufgefächertes Piano-Klangbild ein, das den Sängern jeden Raum gewährt, sich zu entfalten, aber nicht verhehlt, welche entscheidende Rolle dem Orchester auch in dieser Mozart-Oper zukommt.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Bei Netopil wirken – von dieser Voraussetzung ausgehend – die Forte-Passagen auch wirklich groß, ohne lärmend zu werden, die Akzente und musikalische Ausrufezeichen markant, aber nie brutal. Die Streicher halten sich im Vibrato zurück, entwickeln expressive Klangnuancen zwischen warm-farbig und fahl-wesenlos.

Die Bläser erfüllen Akkorde plastisch und luftig, wirken in selbständigen Stimmen Wunder aus diskreter Geschmeidigkeit. Johannes Schittler und Tristan von den Driesch lassen Klarinette und Bassetthorn mit eleganter Tongebung springen und singen. Und eine Klasse für sich zeigt Boris Gurevich beim Begleiten der Rezitative am Hammerflügel: So mitatmend, flexibel und sinngebend hört man die begleitenden Figürchen, Arpeggien und Stützakkorde aus der „Schülerhand“ – wahrscheinlich Franz Xaver Sußmayr – nicht eben häufig.

Abstand vom Geschwindigkeitswahn

Netopil erliegt nicht dem Geschwindigkeitswahn, der momentan wieder von gewissen Modedirigenten angeheizt wird. Seine Tempi wirken organisch, lassen nie den Eindruck von Hetzerei aufkommen, geben der Musik den Raum, um Nuancen zu entwickeln. Netopil weiß offenbar die Polarität zwischen der Musik als „absoluter“ Größe und als Partnerin der Sprache einzuschätzen: Er gestaltet mit den Mitteln fein variierter Tempi und eines gelösten Metrums. Wenn die Rede von einem Mozart-Wunder nicht so elend abgegriffen wäre – hier könnte man sie mit Recht verwenden.

Abgelebte Metapher, aber geshicktes Raumkonzept: Der Airport in Mozarts "La Clemenza di Tito" in Essen. Foto: Thilo Beu

Abgelebte Metapher, aber geschicktes Raumkonzept: der Airport in Mozarts „La Clemenza di Tito“ in Essen. Foto: Thilo Beu

Die Sänger fühlen sich offenbar wohl, selbst wenn man sich die eine oder andere Phrasierung Netopils atmender vorstellen könnte. Das Essener Ensemble braucht sich nicht zu verstecken; Dmitry Ivanchey glänzt in der Titelrolle mit einem unerschütterlich fokussierten Tenor, der anfangs etwas festgesungen anmutet, sich aber bald als wendig und agil genug erweist, um Titus aus der farblosen Rolle als Abziehbild herrscherlicher Tugenden für Kaiser Leopold II. zu lösen – zu dessen Krönung als König von Böhmen die Oper uraufgeführt wurde – und zu einem idealistisch denkenden, aber anfechtbaren und verletzlichen Menschen zu machen.

Jessica Muirhead legt als Vitellia die äußerliche Brillanz in die Stimme, die ihr entschiedenes, aggressiv geladenes Auftreten als Gegenspielerin des Kaisers beglaubigt. Doch Mozart erschöpft diese starke Frau nicht in den eindimensionalen Zügen einer gerissenen Furie, sondern gewährt ihr im zweiten Akt in ihrem anspruchsvollen Rezitativ („Ecco il punto, o Vitellia“) und Rondo („Non piu di fiori“) eine erstaunlich modern wirkende Selbstanalyse und den Ausdruck einer seelischen Tiefe, die nicht nur Macht und Intrige, sondern auch Sehnsucht nach menschlicher Nähe und nach Liebe kennt.

Bettina Ranch als Sesto. Foto: Thilo Beu

Bettina Ranch als Sesto. Foto: Thilo Beu

Bettina Ranch singt den Sesto, diesen sich zwischen Zuneigung, Schuld, Freundschaft und (sexueller) Hörigkeit zerquälenden Charakter, mit einem schmelzenden Mezzo, ausgeglichen und klangsinnlich geführt, fähig zu schmerzvoller Innigkeit und zu loderndem Ausbruch. Eine Mozart-Stimme, die kaum einen Wunsch offen lässt – so wie auch der klare, sauber geführte Bassbariton von Baurzhan Anderzhanov als Publio.

Christina Clark als Servilia und Liliana de Sousa als Annio schließen an dieses Niveau an: Beide singen frei, unangestrengt und mit bezauberndem Charme. Der Essener Opern- und Extrachor, einstudiert von Jens Bingert, zeigt im Schlusschor des ersten Akts, wie Mozart über Gluck hinaus schon das edle Pathos anschlägt, das Giovanni Simone Mayr in Italien und Luigi Cherubini in Frankreich weiterführen sollten.

Dass die szenische Seite der Essener Neuproduktion von „La Clemenza di Tito“ der musikalischen nicht gleichziehen konnte, ist vor allem auf die Idee zurückzuführen, als Schauplatz eine VIP-Lounge eines Flughafens zu wählen. Thorsten Macht setzt das „Raumkonzept“ des Regisseurs Frédéric Buhr um und stellt das Ambiente standardisierter Bussiness-Zweckmäßigkeit geschickt auf die Bühne: zwei Ebenen, verbunden durch eine zentrale Freitreppe, eine Bar und eine Sitzgruppe in den Nischen, ein Panoramafenster mit Aussicht auf das Terminal als Hintergrund.

Kein Staat mit alten Römern

Reichlich Spiel-Raum für Frédéric Buhrs erste selbständige Regiearbeit also. Er macht uns auch schon in der Ouvertüre überdeutlich, dass mit der alten Römer-Oper kein Staat mehr zu machen ist: Da sitzt ein gelangweilter Darsteller im Legionärskostüm am Bühnenrand, schaut genervt auf die Uhr und zündet sich eine der im Plastikhelm versteckten Kippen an. Warum ihn dann aber irgendwelche Kumpels in Alltagsklamotten in einer Art Polonaise hinausgeleiten, erklärt sich schon nicht mehr so einfach.

Dmitry Ivanchey als Titus, im Hintergrund Baurzhan Anderzhanov (Publio) und Liliana de Sousa (Annio). Foto: Thilo Beu

Dmitry Ivanchey als Titus, im Hintergrund Baurzhan Anderzhanov (Publio) und Liliana de Sousa (Annio). Foto: Thilo Beu

Alles weitere spielt sich im Airport-Ambiente ab: Vitellia, in aggressiv rotem Kostüm, hat noch eine Rechnung mit dem milden Titus offen und nötigt den ihr verfallenen Sesto, einen graumausigen Funktionär mit Hornbrille und linkischen Bewegungen, als Instrument ihrer Rache zu dienen.

Titus und seine Entourage wirken wie südländische Politiker mit der Anmutung gegelter Mafiosi – die Kostüme von Regina Weilhart sagen mehr über die Personen als die immer wieder ins Stereotyp flüchtende Regie. Sesto lässt sich auf einen Brandanschlag aufs Kapitol und einen – scheiternden – Mordversuch ein. Da rumst es gewaltig hinter der Bühne, die Anzeigetafeln flackern und der Mörtel rieselt von der Decke. Die Wirkung freilich ist flau; seibst die Hostessen der Statisterie wirken nicht besonders beeindruckt. Die Flughafen-Metapher hat ihr kreatives Potenzial längst hinter sich, wirkt abgelebt – und Buhr kann szenisch nicht erschließen, was sie für das Stück bedeuten könnte.

Das ist schade, denn der Regieassistent am Aalto-Theater hätte das Zeug dazu, ein spannendes Kammerspiel zu erarbeiten. Das zeigt sich in Szenen, in denen er seinen Figuren wirklich nahe kommt: Vitellia etwa, die am Ende des zweiten Akts von Rot auf beruhigtes Blau wechselt, aber die flammenden Gelb-Rot-Töne unter dem eleganten Frack nicht verloren hat, punktet nicht zuletzt durch die Regie in ihrer großen Szene.

„Was wird man von mir sagen?“, fragt Vitallia sich und beginnt sich hektisch zu schminken, eine intuitive Reaktion einer auf Außenwirkung bedachten Frau, die befürchtet, nun aufzufliegen oder auf immer mit Verstellung und Lüge an der Seite des begehrten und endlich in greifbare Nähe gerückten Kaisers leben zu müssen. Ihren Entschluss zu radikaler Ehrlichkeit unterstreicht sie, als sie am Ende ihres Rondos die Handtasche ausleert und angewidert wegwirft. Buhr weiß, Zeichen en détail zu setzen. Das rettet einen Abend, der sonst an seiner verkrampften Aktualisierung erstickt wäre.

http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/titus-la-clemenza-di-tito.htm




Grandios überdrehte Bewegungs-Orgie: Rossinis „Barbier“ wieder im Essener Spielplan

Turbulenter Selbstzweck: Die Sänger "moven" in Jan Philipp Glogers "Barbier von Sevilla" in Essen. Foto: Bettina Stöß.

Turbulenter Selbstzweck: Die Sänger „moven“ in Jan Philipp Glogers „Barbier von Sevilla“ in Essen. Foto: Bettina Stöß.

Sie fegen wieder über die Bühne des Aalto-Theaters in Essen, Rossinis unsterbliche Figuren: die genervte Bedienstete Berta und ihr Kollege Ambrogio, beide in Lohn und Brot bei Herrn Doktor Bartolo, der sein Mündel Rosina heiraten will, um die Mitgift der jungen Frau nicht in fremde Hände geraten zu lassen. Der alte Musiklehrer Don Basilio, der lieber Intrigen als Melodien spinnt.

Und die beiden einzigen Menschen im „Barbiere di Siviglia“, denen Rossini so etwas wie ein authentisches Gefühl zubilligt: Der Graf Almaviva, der sich als „Lindoro“ ausgibt, um eine wohl echte Liebe zur Erfüllung zu bringen: Seine Cavatine „Se il mio nome“ ist ein Moment lyrischer Verzückung in einem Trubel musikalischer Mechanik. Und der Figaro, jener Tausendsassa, der sich mit seiner Unentbehrlichkeit brüstet und ein Loblied auf die Faszination des Goldes anstimmt. Er weiß, wovon er spricht: Er ist dieser Macht selbst erlegen.

Jan Philipp Gloger hat in seiner Debüt-Inszenierung in Essen eine grandios überdrehte Bewegungs-Orgie auf die Bühne gebracht, halb an die Commedia dell’arte, halb an skurriles Bewegungstheater anknüpfend.

Psychologie ist da nicht gefragt, Erklärungen auch nicht. Diese Figuren haben nichts Wahrscheinliches, sie sind Automaten, Marionetten, Groteskerien, gefangen in einer riesigen Kiste: ein Geschenk Rossinis an uns, verschnürt mit einer roten Schleife (Bühne: Ben Baur), die sich erst am Ende öffnet, wenn die „unnütze Vorsicht“ (so der Untertitel der Oper) enthüllt und – vielleicht – die Liebe in ihr Recht gesetzt wird. Fern von Realismus, absurd auf die Spitze getrieben, amüsant und verstörend künstlich – wie Rossinis Musik.

Die liegt, wie bei der Premiere am 4. Juni, in den Händen von Giacomo Sagripanti. Mit Rossini schlägt er sich wesentlich überzeugender als mit Bellinis „Norma“ am gleichen Haus, weil sich die Schwäche dort in die Stärke hier verwandelt: Mit den fast minimalistisch anmutenden Mechaniken – etwa im Finale des ersten Aktes – geht Sagripanti genau richtig um: maschinell, motorisch, dabei aber im Rhythmus federnd und in der Artikulation alles andere als nach Schema F. Basilios Arie von der Verleumdung („La calunnia“), die streng genommen aus einem einzigen riesigen Crescendo mit einem irrwitzigen Ausbruch besteht, legt er genau passend an. Die Gewittermusik im zweiten Akt ist selten so klug aufgebaut und präzis modelliert erlebbar – da ist auch dem Essener Orchester ein großes Kompliment zu machen.

Wie ein Kanonendonnerschlag entlädt sich die Verleumdung: Tijl Faveyts als Don Basilio. Foto: Bettina Stöß.

Wie ein Kanonendonnerschlag entlädt sich die Verleumdung: Tijl Faveyts als Don Basilio. Foto: Bettina Stöß.

Die Methode erzielt Wirkung, und wäre Tijl Favejts nicht zu schnell auf dem Höhepunkt seines schneidenden Forte angekommen, wäre auch die vokale Wirkung umwerfend gewesen. Da funktioniert sogar, dass der Dirigent Almavivas lyrische Legati mit der Strenge eines preußischen Militärkapellmeisters ins Metrum einkerkert: Selbst díe Liebesergüsse des Grafen entkommen nicht dem übermächtigen Uhrwerk der Ereignisse. Levy Strauss Sekgapane bringt einen unerschütterlichen Porzellan-Tenor mit, der noch die finessenreichste Verzierung mit der Präzision eines technischen Apparats nachstechen kann. Der Tenor hat den Almaviva schon in Berlin und Dresden gesungen und ist auch beim Rossini Festival in Pesaro in einem ansonsten recht inspirationslosen „Turco in Italia“ positiv aufgefallen.

Karin Strobos knüpft mit einer frisch und sicher gesungenen Rosina an frühere Leistungen im Ensemble des Aalto-Theaters an, etwa Mozarts Dorabella („Cosí fan tutte“) oder Cherubino („Nozze di Figaro“). Sie veredelt die im Zentrum der Stimme liegenden Phrasen mit ihrem dunkel grundierten Timbre, lässt die Höhe strahlen, die Koloraturen anstrengungslos sprühen. Eine kleine, oft gestrichene Episode, die Arie der Berta, wird bei Christina Clark zu einem reizenden Intermezzo voll melodischen Charmes. Raphael Baronner als ihr Kollege Ambrogio hat keine solche musikalische Perle zu polieren; er darf sich pantomimisch ausleben, wenn er etwa mit langen Beinen in der Luft stochert, während er sich am Boden dreht. Auch Karel Ludvik als Fiorello hat Momente, die ihn als Darsteller fordern.

Ein Gewinn für das Essener Ensemble ist auch Baurzhan Anderzhanov. Mit Bartolo hat er eine dankbare Rolle anvertraut bekommen, die er glänzend erfüllt, nicht nur szenisch. Sein klar fokussierter, beweglicher, zu deutlicher Artikulation fähiger Bass passt für Rossinis spritzige Musik. Bleibt noch Gerardo Garciacanos Figaro: Der sonst in Dortmund tätige Sänger legt eine brillante Auftrittsarie hin, bleibt aber im Verlauf des Stücks als Figur seltsam unauffällig. In Glogers Inszenierung einzusteigen, dürfte nicht so einfach sein. Essen hat mit diesem „Barbier von Sevilla“ ein anziehendes Theaterereignis; der Erfolg in der laufenden Spielzeit – bis Juni steht der Rossini-Klassiker im Spielplan – müsste sich eigentlich einstellen.

Weitere Vorstellungen: 20. November, 7. und 17. Dezember. 2017:  28. April 2017, 21, Juni, 16. Juli. Info: http://www.aalto-musiktheater.de/wiederaufnahmen/il-barbiere-di-siviglia.htm




Festspiel-Passagen VI: Kabale am Königshof – Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad

Margarita Gritskova als Ottone in Rossinis "Adelaide di Borgogna" in Bad Wildbad. Im Hintergrund Cornelius Lewenberg als Ernesto. Foto: Patrick Pfeiffer

Margarita Gritskova als Ottone in Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad. Im Hintergrund Cornelius Lewenberg als Ernesto. Foto: Patrick Pfeiffer

Das ist der Stoff, aus dem echte Opern sind! Adelheid von Burgund, eine der einflussreichen Frauen des Mittelalters, verliert ihren Gatten Lothar. Durch Giftmord, verübt von dessen Kontrahenten Berengar. Der will sich die Macht über Italien sichern und versucht, die junge Witwe gegen ihren Willen mit seinem Sohn Adelbert zu verheiraten.

Adelheid wendet sich an Otto I. Der deutsche König kommt ihr zu Hilfe, verliebt sich auf den ersten Blick in die attraktive Regentin und kann sie schließlich trotz erbitterten Widerstands Berengars und Adelberts ehelichen.

Die historischen Fakten hat der neapolitanische Librettist Giovanni Schmidt zu einem Textbuch für Gioacchino Rossinis erste römische Opera seria zusammengeschmiedet: Doch „Adelaide di Borgogna“, uraufgeführt am 26. Dezember 1817 zur Eröffnung der Karnevalssaison im Teatro Argentina, war kein Erfolg. Die Oper wurde nur ein paar Mal nachgespielt und später von Rossini als Reservoir für „Eduardo e Cristina“ und das verschollene englische Projekt „Ugo, Re d’Italia“ benutzt. Moderne Aufführungen – zuletzt beim Rossini-Festival in Pesaro – konnten letztlich ebenfalls nicht überzeugen. Jetzt kam die unglückliche „Adelaide“ in Bad Wildbad zur späten deutschen Erstaufführung.

Der durchaus verdienstvolle Abend in der württembergischen Ausgrabungsstätte für belcanteske Relikte der Rossini-Zeit bestätigt: „Adelaide di Borgogna“ bleibt ein Artefakt der Vergangenheit, das nur Kenner und Liebhaber in Entzücken versetzen wird. Das hat unterschiedliche Gründe, ein entscheidender ist das Libretto Schmidts. Rossini vertonte viele der erklärenden Rezitative nicht. Die Figuren bleiben eindimensional, die Konflikte verlaufen schematisch. Und die mäßig inspirierte Personenführung in der Regie von Antonio Petris hilft diesen Schwächen auch nicht auf die Sprünge.

Die Botschaft des Stücks, der Sieg der beharrlichen Liebe, ist etwa von Händel oder von Rossini selbst in anderen Opern musikalisch spannender und differenzierter gestaltet worden. Die politischen Konflikte – hier eine selbstbewusste, auf ihre Selbstbestimmung pochende Frau, dort zwei skrupellos um ihre Macht kämpfende Männer – gewinnen kaum Brisanz. Der einzige spannende Zwiespalt ist Adelberts innerer Kampf zwischen seiner ehrlichen Liebe zu Adelaide und der Pflicht, seinen Vater aus der Gefangenschaft zu befreien. Schmidt porträtiert einen vom Vater abhängigen Sohn, dem es nicht gelingt, sich vom patriarchalen Unterdrücker eigener Lebensregungen zu befreien. Und Rossini gibt den kolportagehaften Sätzen der Szene mit seiner Musik eine berührende Tiefendimension.

Inszenierung, Bühne und Kostüme für Rossinis "Adelaide di Borgogna" stammen von Antonio Petris. Auf dem Foto: Ekaterina Sadovnikova als Adelaide. Foto: Patrick Pfeiffer

Inszenierung, Bühne und Kostüme für Rossinis „Adelaide di Borgogna“ stammen von Antonio Petris. Auf dem Foto: Ekaterina Sadovnikova als Adelaide. Foto: Patrick Pfeiffer

Um diesen seelischen Kampf, in dem der Chor die Rolle eines Freud’schen „Über-Ich“ einnimmt, adäquat auf die Bühne zu bringen, braucht es einen Sänger, der über die stimmlichen Mittel verfügt, die Ausdrucksmittel des Belcanto mit psychologischer Klugheit einzusetzen. Der Tenor Gheorghe Vlad kämpft in Bad Wildbad eher mit der Technik als mit den inneren Impulsen von begehrender Liebe und Sohnespflicht. Das Timbre seiner Stimme wirkt unfertig steif; die hohen Töne tippt er nur an. Auch als Darsteller kommt er über Stereotypen nicht hinaus. Es ist alleine die Musik Rossinis, die in dieser Szene und Arie des zweiten Akts ihren Zauber entfaltet.

Wobei auch diese Magie ihre Grenzen hat: Luciano Acocella leitet das Orchester „Virtuosi Brunenses“ über weite Strecken steif, mit mechanisch geschlagenem Rhythmus, der Rossinis Dreiertakt etwa in gefährliche Nähe zu dem früher spöttisch bemühten Begriff der „Leierkastenmusik“ rückt. Die Finessen metrischer Variabilität, die leichte, elegante Formulierung der Phrasen, eine akzentuierte Tongebung, eine flexible Agogik: Acocella achtet zu wenig auf solche essentiellen Parameter, die Rossinis Musik erst zu dem spritzig-federleichten Kunstwerk machen, das seine Meisterschaft auszeichnet.

Zum Glück stehen auf der niedrigen, von Antonio Petris mit zweckmäßigen schwarzen Wandelementen gestalteten Bühne der ehemaligen Bad Wildbader Trinkhalle Sängerinnen und Sänger, die mit versierter Technik und geschmackvoller Gestaltung überzeugen: An erster Stelle ist Margarita Gritskova als androgyner Ottone zu nennen. Die russische Mezzosopranistin brillierte bereits an der Wiener Staatsoper. Ihr wandlungsfähiger Mezzo hat geschmeidige Noblesse für die zärtlichen Momente der Begegnung mit Adelaide ebenso wie schneidenden Schliff für das Quartett des zweiten Akts und den Triumph des Finales.

Baurzhan Anderzhanov, Ensemblemitglied des Aalto-Theaters Essen, als Berengario in Rossinis "Adelaide di Borgogna" in Bad Wildbad. Foto: Patrick Pfeiffer

Baurzhan Anderzhanov, Ensemblemitglied des Aalto-Theaters Essen, als Berengario in Rossinis „Adelaide di Borgogna“ in Bad Wildbad. Foto: Patrick Pfeiffer

Als Adelaide ist Ekaterina Sadovnikova eine gleichwertige Partnerin: Für den Ausdruck des Leidens und der Ausweglosigkeit hat der klangvolle Sopran die abgeschatteten Farbtöne; für die Hoffnung auf Liebe und Respekt – genährt durch Ottones Zuwendung – ließen sich die Phrasen noch eine Idee flexibler, der Klang etwas weicher bilden. Doch vor allem im Duett des ersten Akts, aber auch im Quartett des zweiten zeigt Sadovnikova Stilgefühl und Sicherheit in der Platzierung des Tons.

Sehr ansprechend sind auch die flankierenden Rollen besetzt, etwa die des Bösewichts Berengario mit Baurzhan Anderzhanov, seit 2013 im Ensemble des Aalto-Theaters Essen. Er ist dort unter anderem als Arzt in Verdis „Macbeth“ angenehm aufgefallen. Im Herbst wird er als Don Alfonso in „Cosi fan tutte“ seine erste größere Rolle singen. In Bad Wildbad gestaltet er seine Partie mit einem kontrollierten, gleichmäßig geformten Bariton.

Das Wildbader Plädoyer für „Adelaide di Borgogna“ wird – nach menschlichem Ermessen – trotz einiger bemerkenswerter Nummern wohl folgenlos bleiben. Das ist nicht ungewöhnlich, sind doch selbst Meisterwerke der opera seria des „Schwans von Pesaro“ über das nördliche Schwarzwaldtal nicht hinausgekommen – ein Zeichen für die leider immer noch nicht überwundene Schwerfälligkeit der über 80 (!) Musiktheater in Deutschland.

Im Falle der Oper über Adelheid von Burgund wird’s aber auch am Werk liegen: Zwischen den ehrgeizigen Arbeiten für Mailand („La gazza ladra“) und Neapel („Armida“, „Mosé in Egitto“) erscheint „Adelaide di Borgogna“ eher als die Erfüllung einer Freundespflicht dem Impresario Pietro Cartoni gegenüber.