Coup zur Saison-Eröffnung: Bayreuther Festspielorchester in der Philharmonie Essen

Christine Goerke, Klaus Florian Vogt und – im Hintergrund – Andris Nelsons in der Philharmonie Essen. (Foto: Sven Lorenz)

Dieser Aufbruch hat es in sich: Vierfach geteilte Violinen in ätherischem Pianissimo, vier einzelne Geigen, ein ständig gefordertes An- und Abschwellen des Tones in kleinräumiger Dynamik. Ein auf Richard Wagner spezialisiertes Orchester wie dasjenige der Bayreuther Festspiele sollte mit der fragilen Faktur des „Lohengrin“-Vorspiels versiert umgehen. Sollte.

Tatsächlich tritt die silbrige Klangfläche nicht wie von Ungefähr in den Bereich hörbaren Klangs, sondern beginnt, wie oft in der Wagner-„Provinz“, zu laut, zu körperlich – und auch zu brüchig. Andris Nelsons am Pult mag sich in der Essener Philharmonie noch so sehr bemühen: Der Zug der Dynamik hatte Fahrt aufgenommen und war nicht mehr zu bremsen. Der Einsatz der Bläser: kein Gänsehaut-Moment. Das Hinzutreten der Hörner: ein fast unmerkliches Ausbreiten feinsten Samts. Die Blechbläser: kein Ereignis, es sei denn, man zählt die zögerlich gehaltenen Töne der Posaunen als solches.

Kein Ruhmesblatt für ein Orchester, das sich in Bayreuth ausschließlich der Musik des „Meisters“ widmet. Aber auch des Dirigenten Anteil war nicht eben auf dem Niveau des publizistisch befeuerten Ruhmes: Nelsons Tempo flackert zunächst, die von Angaben zur Dynamik und von teils riesigen Bögen gegliederte Phrasierung wirkt nicht zielgerichtet, ohne innere Spannung. Man hört, was man bei Wagner auf keinen Fall wahrnehmen sollte: wie die Musik „gemacht“ ist. Zauber? Geheimnis, gar Ergriffenheit? Ach wo. Aber dafür einen gellenden Beckenschlag, von einer viel zu massiven Klangwalze nicht vorbereitet. Und am Ende Sentiment in bröselnd langsamer Phrasierung nebst präzis platziertem Huster aus der Galerie mitten hinein ins milde Pianissimo-Licht: Holla, wir sind wieder da!

Magische Momente, sensible Abmischung

Dieses Einstiegs ungeachtet ist das Orchester aus Bayreuth ein hochklassiger Klangkörper und hat Andris Nelsons ein charismatisches Geheimnis, das ihn zu den führenden Dirigenten seiner Generation macht. Und daher konnte es nicht so weitergehen: In den folgenden Highlight-Auszügen aus „Lohengrin“ finden sich die Musiker zusammen; in Vorspiel und Karfreitagszauber aus dem „Parsifal“ gelingen magische Momente, weit aufgespannte Bögen, sensible Abmischung des Klangs. Nelsons bevorzugt ein „modernes“ Wagner-Bild, also keine raunend ungefähr einsetzende Klänge, sondern klare Schnitte; kaum organisch pulsierende Tempi, sondern eher den Kontrast von extrem langsamem Auskosten und verzögerungslosem Fortschreiten. Seltsam aber, dass er aus der Auffächerung des Klangs keinen Zauber gewinnt, dass er beim einen oder anderen Bläser (Trompete!) keinen markanteren Ton einfordert. Dennoch: Diese „Parsifal“-Auszüge waren der Höhepunkt des knapp dreistündigen Konzerts.

Andris Nelsons. (Foto: Sven Lorenz)

Ob es eine gute Idee war, den zweiten Teil mit dem „Walkürenritt“ einzuleiten, mag man bezweifeln. Mit mechanischen Rhythmusfloskeln unterlegt, donnern die Wellen der reitenden Walküren einher, das Blech schlägt mit frohem Grimm Fortissimo-Schneisen in die Phalanx der Streicher, deren stürzend chromatische Skalen im dröhnenden Messing ertrinken. Eine Dramaturgie der Dynamik ist nicht erkennbar: Wo es schon beim ersten Höhepunkt kaum lauter geht, nützt beim zweiten auch die Tuba nichts mehr. Dass Lärm wiederum Lärm erzeugt, ist ein altes Mittel, Beifall zu entfesseln: Die Philharmonie schreit auf, der Applaus brandet, Begeisterung bricht sich Bahn. Nach Subtilitäten wird da nicht mehr gefragt.

Leider ging der Balsam, der in „Siegfrieds Rheinfahrt“ zunächst die Ohren zu heilen schien, rasch zur Neige. Nelsons kostet das Motivgeflecht bis zur Neige in seliger – und bisweilen verschleppt phrasierter – Langsamkeit aus, auf Disziplin in der Dynamik achtet er dabei weniger. Die Posaunen kennen bis zum Schlussgesang der Brünnhilde offenbar nur eine Lautstärke; der Trauermarsch aus der „Götterdämmerung“ wälzt sich breit, mit ausladend süffigem Klang dahin, aber ohne die ergreifende Schärfe, die ihm ein Dirigent wie Michael Gielen zu geben verstand. Das ist, wie leider so manches Mal bei Nelsons, üppig-luxuriöses Volumen, adrett hergerichtet, aber ohne tiefere Berührung verströmend.

Entspanntes Singen, leuchtender Klang

Unter solchen Bedingungen hat Christine Goerke kaum eine Chance. Sie versucht, die letzten Worte der Brünnhilde aus der „Götterdämmerung“ entspannt zu singen, sauber zu artikulieren, nicht mit dramatisch überschrieenem Aplomb aufzuladen. Das gelingt ihr, soweit ihr das Orchester eine Chance lässt. Was sie kann, wird sie 2023 im nächsten Bayreuther „Ring“ beweisen; einstweilen bleibt der Eindruck, einen Sopran gehört zu haben, der sich weder durch angestrengt flackerndes Vibrato noch durch gestaute und druckvolle Töne Geltung verschaffen muss.

Zum Star des Abends avanciert Klaus Florian Vogt mit den – im Programm seltsamerweise als „Arien“ betitelten – Auszügen aus „Lohengrin“ und „Parsifal“. Er hat, was die Italiener „squillo“ nennen, die Fähigkeit, den Ton konzentriert und voluminös, aber ohne Kraftmeierei in den Raum zu projizieren. Sein Timbre, das nicht dem geschmäcklerischen Streben nach baritonaler Grundierung entspricht, passt zur transzendentalen Erscheinung des Gralsritters, entspricht auch der Naivität Parsifals. Dabei setzt er in „Höchstes Vertrau’n“ kraftvoll leuchtenden Klang ein, „Glanz und Wonne“ von Lohengrins Herkunft spiegelt er in abgesicherter, strahlender Höhe. Nahe am Wort gestaltet er die Gralserzählung: Das sorgsam gestaltete Piano-Leuchten der Stimme für die himmlische Taube überzeugt ebenso wie die veränderte Farbe des Wortes „Glaube“. Mit „Mein lieber Schwan“ gelingt Vogt ein Musterbeispiel verhalten-wehmutsvollen Singens; der Einsatz der Mezzavoce ist ohne jede Verkünstelung locker und unverfärbt.

Jubel in der Philharmonie. Schon die Begrüßung des Orchesters zu Beginn ist mehr als ein herzliches Willkommen, mehr als die Antwort auf den Ruf der Truppe aus dem „mystischen Abgrund“. Mehr auch als der Dank des nun – trotz Schachbrett-Besetzung – gut gefüllten Hauses, nach eineinhalb Jahren ausgedünnter Reihen, wieder ein Publikums-Feeling zu genießen. Und mehr als eine Anerkennung für den Coup von Intendant Hein Mulders, zur Eröffnung seiner letzten Spielzeit das Bayreuther Orchester – zwischen Köln. Paris und Riga – an die Ruhr geholt zu haben. Man meint, die Erleichterung zu spüren. Und die Freude: Die Strahlen des Klanges vertreiben die Nacht, zernichten der Viren erschlichene Macht.




Festspiel-Passagen IV: Sensibilität statt Sensation

Im sechsten Jahr hat es sich – um bei Richard Wagners Wortwahl zu bleiben – „ausgerast“. Die Liebe zum Tode hin ist zu einer recht langatmigen Affaire degeneriert. Christoph Marthalers „Tristan und Isolde“-Inszenierung hat für ihre letzten fünf Aufführungen am Grünen Hügel trotz penibler Einstudierung durch Anna-Sophie Mahler keine Kraft mehr. Marthaler selbst ist schon gar nicht mehr gekommen. Das „verzückte und wahnsinnige Begehren nach dem Ewigen und Absoluten“ (Thomas Mann) schrumpft auf die Dimensionen eines kleinbürgerlichen Trauerspiels.

Dabei hatte Marthalers Inszenierung – gegen alle bloß ästhetisch sich erregende Kritik – ihre Meriten. Denn sein sorgsamer Minimalismus und die schnoddrig-spießigen Räume der Anna Viebrock schlossen von vornherein die „erotische“ Romantik aus, die viele in Wagners weltensprengender Liebesgeschichte suchen. Da war nichts mit blauer Liebesnacht unter funkelnden Sternen. Sondern eher gescheiterter Ausbruch aus einer tristen Sphäre: abgerissene Säle, schimmliggraue Keller, der Charme einer Kolchosenkantine.

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links)  und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links) und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Was Marthaler 2005 gezeigt hat, blieb mir in Erinnerung als ein gemeinsames Schreiten von Tristan und Isolde hin auf ein Ziel, das jenseits dieser überwältigenden Tristesse liegt. Gemeinsames Schauen auf ein Ziel außerhalb des Horizonts statt umarmungssüchtige Banal-Erotik: Marthaler hatte im Blick, worum es dem erlösungsbedürftigen, geradezu manisch auf eine höhere Form der „wahren Liebe“ versessenen Wagner gegangen ist. Davon geblieben sind die ohnmächtigen Ausbrüche Isoldes im ersten Aufzug, das pubertäre Spiel mit den Schaltern für die „Zünde“ im zweiten, aber auch das beeindruckende, isolierte Rasen und Sterben Tristans.

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Dieser Tristan findet auch 2012 in Robert Dean Smith eine nicht gerade ideale, aber sehr glaubwürdige Darstellung. Smith ist einer der wenigen, die den Tristan wirklich singen – nicht brüllen, markieren oder deklamieren. Auch wenn sich sein Tenor manchmal nicht frei entfaltet, nicht optimal in den Raum projiziert ist, nimmt er für sich ein, weil er behutsam steigert, weil er sensible Piani gestalten kann. Dass er vorsichtig mit seinen Kräften haushaltet und sich im Fieberwahn auf der heimatlichen Burg Kareol nicht entäußert, ist konsequent: Smith ist kein Heldentenor alter Schule – aber wo gibt es noch einen Tristan, der verschwenderisch strahlende Töne verschenken kann?

Und wo gibt es eine Isolde, die Bayreuth aus der Herrschaft der glucksend-wabernden Großkaliber befreien könnte? Iréne Theorin – wir kennen sie als Isolde und Turandot vom Aalto-Theater – hat das Material für Ausbrüche, sie kann auch verhalten singen. Aber ihre Tonbildung ist so vibratosatt und matt fokussiert, dass man kaum ein Wort versteht. Für den „Liebestod“ fehlen ihr die Zwischentöne und die langsam sich steigernde, sehrende Glut, das jenseitige Verschweben des Tons, das Gestalten des großen Bogens. Doch der Beifall, der in direktem Verhältnis zur Lautstärke der Sänger stand, kam der schwedischen Sopranistin reichlich zu.

Mit Kwangchul Youn kehrt der König Marke von 2005/06 wieder zurück; ein führender Wagner-Bass, der jenseits von Hornbrille und Funktionärsmantel den inneren Zwiespalt, das aufrichtige Leiden an einer „Wunde, die kein Himmel erlöst“ verkörpert, aber auch das ratlose Nichtverstehen des metaphysischen „Müssens“ in Tristan und Isoldes gegenseitiger Verfallenheit. Mit freiem, sicherem Sitz und leuchtendem Klang nimmt Clemens Bieber als junger Seemann für sich ein. Bieber hat vor 25 Jahren in Bayreuth debütiert und ist inzwischen der dienstälteste Solist der Festspiele. Doch die Stimme ist frisch und unverbraucht wie eh und je.

Mit Jukka Rasilainens Kurwenal kann sich nur anfreunden, wer dröhnend scharfgeschnittene Wagner-Stimmen liebt. Ralf Lukas als Melot versucht, seiner Rolle als korrekter, verständnisloser Verräter markant gerecht zu werden; Arnold Bezuyen und Martin Snell erfüllen als Hirt im Hausmeister-Kittel und Steuermann die Erwartungen. Michelle Breedt macht aus der Brangäne ein Kabinettstück der Schauspielkunst, wenn sie im zweiten Aufzug die Gouvernante herauskehrt und Isolde vom unüberlegten Griff zum Lichtschalter abhalten will. Gesanglich kultiviert sie leider, was sie auch als Fricka im „Ring“ gezeigt hat: unstet hervorgestoßene Töne, brüchige Linien, kaum einmal ein lockerer Ansatz.

Zum heimlichen Star der Aufführung steigerten sich das Orchester und der Dirigent Peter Schneider. Ihm, dem die glamouröse Aura des Pultstars abgeht, sind die tiefsten Eindrücke des Abends zu verdanken. Souverän konzipiert er die großen Linien, die atemberaubenden Steigerungen, die Exaltation des Klangs. Dabei ist schwer atmende Dramatik seine Sache nicht; die Musik hat bei ihm eine hellglühende Transparenz, die bei aller Hitze den Blick auf Strukturen nicht verwabert.

Schneider ließ nichts selbstverständlich „fließen“; er kennt die Stockungen, das Ausleuchten harmonischer Tiefen in eingängig scheinenden Momenten vertrauter Thematik. Außerdem artikuliert er so sorgfältig wie sängerfreundlich; nur im dritten Aufzug läuft die Musik manchmal neben den Eruptionen Tristans her statt sie zu stützen oder abzutönen. Schneider hat sich erneut als Wagner-Interpret von hohem Rang erwiesen. Man braucht die Sensation nicht, die Sensibilität genügt.




Festspiel-Passagen I: Ein Hakenkreuz geht nie

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

"Der düstre Blick....": Noch starrt Arno Brekers Wagner-Kopf über das Grün des Hügels: Die Vergangenheit hat die Festspiele wieder einmal eingeholt. Foto: Werner Häußner

Sie sind eröffnet, die alljährlichen Dionysien am mythischen Hügel. Doch Bayreuth wäre nicht es selbst, bliebe es bei den Tragödien im Festspielhaus. Die Komödien finden meist vorher statt, in diesem Jahr ersetzt durch ein deftiges Satyrspiel. Opfer der Medien-Mänaden – manche meinen auch, derer im Direktionsbüro – ist der Sänger Evgeny Nikitin. Seine „Tattoo-Affäre“ ließ die Debatten um Kartenvergabe und Wahnfried-Gestaltung, die Spannung um Neuinszenierung und Zukunftspläne, vorübergehend in den Hintergrund treten. Und besonders wichtig in Zeiten, in denen „Kultur“ der intellektuellen Bescheidung halber einfach mit „Freizeit“ gleichgesetzt wird: Angela Merkel schien das gleiche Kleid wie 2008 getragen zu haben! Jaja, die Spar-Kanzlerin! Und man will deutlich die Seidensöckchen zu ihren Pumps gesehen haben! Wenn das keine Meldungen sind ….

Evgeny Nikitin, der vorgesehene Sänger des „Holländer“, war zu diesem Zeitpunkt schon längst abgereist. Er sollte der erste Russe sein, der am Grünen Hügel den ruhelosen, gespenstischen Seefahrer singt. Die PR-Maschinerie lief auf vollen Touren: Porträts hier, Interviews dort. Jeder wollte etwas über den Bassbariton mit der „tollen Wagner-Stimme“ erfahren, der sich auch als Drummer einer Metal-Band hervorgetan hatte. Doch mitten im Steigflug stürzte Evgeny Nikitin unsanft ab. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt: seine eigene, aber vor allem diejenige Bayreuths.

Tattoos wurden dem Sänger zum Verhängnis. Irgendwann in seiner Jugend hatte er sich tätowieren lassen: mit Runen und einem unübersehbaren Hakenkreuz auf der rechten Brust. Längst hat er es überstechen lassen. Aber die Medien speichern, so vergesslich sie sonst gerne sind, manche Bilder lange. In der ZDF-Sendung „aspekte“ war das Nazi-Mal in Aufnahmen des oberkörperfreien Drummers deutlich zu sehen. Und ein Boulevardblatt, dem jeder Anlass zum Skandal nur recht ist, hatte zu recherchieren begonnen.

Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier reagierten schnell. Ein Gespräch mit dem Künstler, danach eine Presseerklärung: Nikitin verzichtet auf seinen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen. Und dann ein Satz, den man zwei Mal lesen muss: „Im Ergebnis der ca. halbstündigen Unterredung wurden Evgeny Nikitin die Konnotationen dieser Symbole gerade in Verbindung mit der deutschen Geschichte bewusst.“

Als Nikitin in den siebziger Jahren in Murmansk aufgewachsen ist, konnten sie noch erzählen, die Leidtragenden des „Großen Vaterländischen Krieges“. Hatte er nie ein Wort gehört über Tod und Elend, die unter dem Zeichen des Hakenkreuzes über sein Volk gebracht wurden? War ihm das Hitler-Symbol tatsächlich nur ein Mittel, um jugendlichen Trotz, Protest, Verweigerung auszudrücken? Wenn ja – und man darf davon ausgehen, dass der Sänger die Wahrheit sagt –, lässt sich nur staunen, wie geschichtsvergessen und blauäugig jemand nach Bayreuth kommt, um den „Holländer“ zu singen.

Nikitin hat nicht mitbekommen, dass seine Tattoos mit dem Nationalsozialismus oder mit Neonazis in Zusammenhang gebracht werden könnten? Da will jemand zur Spitze der Wagner-Sänger weltweit gehören und scheint nicht den Schimmer davon zu haben, welche unheilvolle Rolle Wagners Denken, Wagners Musik und die Ideologie Bayreuths in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts spielte? Und was soll die „spirituelle“ Bedeutung sein, die der Sänger in diesen Symbolen entdecken will? Nein, Nikitin ist kein Nazi, kein Neonazi, auch keiner von den schrecklichen Verharmlosern. Er ist wohl einfach nur geschichtslos und naiv. Aber: Kann ein Sänger, so schön die Stimme auch sein mag, das heute, zumal in Bayreuth, noch sein?

Nikitin wird dennoch seinen Weg gehen: Beinahe schon demonstrativ wurde darauf hingewiesen, dass er im Herbst als Telramund im Münchner „Lohengrin“ zu erleben ist. Bayreuth plante für die gestrige Premiere derweilen mit dem Koreaner Samuel Youn, der in der Titelrolle des „Holländer“ – und etwa auch als Klingsor im „Parsifal“ – schon in Köln zu überzeugen wusste. Seit 2004 singt Youn bereits bei den Festspielen; 2010 hatte er als Heerrufer seine erste große Bayreuther Rolle.

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Samuel Youn als "Holländer" in Bayreuth. Foto: Enrico Nawrath

Es war zu erwarten, dass sich ein „Skandal“ manifestiert – egal, wie die Wagner-Halbschwestern entschieden hätten. In Kommentaren wurde gemutmaßt, die entsprechenden Schlagzeilen seien schon gesetzt gewesen, als Nikitins Absage eintraf. Bayreuth und die Nazis bleibt ein heikles Thema, so lange Arnold Brekers Wagnerkopf noch über das Grün vor dem Festspielhaus in weite, weite Fernen stiert. Katharina Wagner, persönlich unverstrickt, hat bei ihrem Amtsantritt lückenlose Aufklärung gelobt – und das bei der Pressekonferenz zu Festspielbeginn noch einmal bekräftigt. Sie hat die geistige Auseinandersetzung mit den langen braunen Schatten in ihren „Meistersingern“ von 2007 gesucht und in Stefan Herheims „Parsifal“ mitgetragen. Doch so lange die wissenschaftliche Erschließung keine Ergebnisse vorzeigen kann, so lange Quellen weggeschlossen bleiben, wird sich das Gespenst nicht bannen lassen. Die Wunde schließt sich erst, wenn die „Nacht über Bayreuth“ dem hellen Tageslicht historischer Aufarbeitung gewichen ist.

Momentan holt sie die Geschichte wieder einmal ein, die beiden Wagner-Urenkelinnen. Ob sie richtig reagiert haben, darüber gibt es weit auseinander liegende Meinungen. Wäre eine gemeinsame Pressekonferenz mit Nikitin der bessere Weg gewesen, wie es der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, vorgeschlagen hat? Wer die Eigendynamik medialer Prozesse kennt, wird der Idee skeptisch gegenüberstehen – so gutwillig und aufklärend sie auch gemeint sein mag. Andere sehen in der Entscheidung, Nikitin ziehen zu lassen, die richtige Reaktion angesichts der Verstrickungen der Festspiele mit dem Nationalsozialismus. Brigitte Hamann, Autorin eines Buches über „Hitlers Bayreuth“, sagte der „Deutschen Welle“, es sei „so viel an Last durch die Nazis in Bayreuth, heute auch noch, dass man als Chefin der Festspiele ja überhaupt nicht anders kann, als immer wieder zu betonen: Wir distanzieren uns“.

Bachler hatte sich mit scharfer Kritik in die Debatte eingeschaltet: „Ich sehe in der Causa Nikitin zunächst mehr ein Problem Bayreuths und der Wagner-Familie als eines des Sängers.“ Er halte es für verlogen, dass die „Torheit eines 16-jährigen Rocksängers, der diese längst bereut und versucht hat, ungeschehen zu machen, ausgerechnet von der Wagner-Familie geahndet wird“.

Der Staatsopernintendant betonte weiter, man zeige offenbar „mit dem Finger auf jemanden anderen, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem hat“. Nikitin habe in seinen Aussagen den Vorfall aus seiner Zeit als Schlagzeuger in einer Heavy-Metal-Band nicht nur bedauert, sondern auch Reue gezeigt. „Eine Reue, die ich von der Familie Wagner in den letzten 50 Jahren nie vernommen habe.“ In diese Kerbe schlägt auch das Feuilleton der FAZ: „Versagt hat nicht der russische Sänger. Versagt haben, wieder einmal, die Festspiele“, war dort zu lesen. Auch der „Lohengrin“ – Regisseur Hans Neuenfels sieht ein „großes Versagen“ der Festspielleitung: Von einem solchen Vorfall dürfe man nicht überrascht und von einem Boulevardmagazin zum Handeln genötigt werden. Dass das Problem nun in „einer solchen fast infantilen, analphasigen Boulevardposse endet, das finde ich schon besonders beschämend für die Festspiele“. So Neuenfels‘ Resümee.

Solche Äußerungen zeigen, wie bereitwillig mit der unglücklichen Jugendsünde des Evgeny Nikitin nun auch Politik gemacht wird. Die Festspielleiterinnen wollen doch nicht die Jugendtorheit eines Sängers „ahnden“. Sie haben mit Blick auf eine drohende Skandalisierung der Auftritte Nikitins entschieden. Der Bayreuth-Dirigent Christian Thielemann hat es auf seine Art zusammengefasst: „Ein Hakenkreuz geht nie.“ Und mit dieser Feststellung auch gleich einen geistigen Schlenker zu seiner generellen Abneigung gegen Inszenierungen mit Bezügen zur NS-Zeit vollzogen.

Vorwerfen wird diese „Notbremse“ den Festspielleiterinnen nur jemand, der ernsthaft glaubt, die wohlfeile Geschichte vom Hakenkreuzträger auf der braun belasteten Bühne wäre durch einen differenzierten, rationalen Diskurs zu verhindern gewesen. Wer weiß, wie das Mediengeschäft heute läuft, wird nicht im Ernst annehmen, dass Vernunft und Augenmaß die Gesetze dieses Marktes außer Kraft gesetzt hätten.