Als man sich noch für „richtig links“ halten wollte

Kinners, heute erzählt Euch der Boomer-Opa ein klitzekleines bisschen von früher. Keine Angst, es werden nur ein paar Schlaglichter sein. Und nur die fernen Echos wahrer Klassenkämpfe. Wie denn damals im Revier überhaupt nur der Widerhall aus den wirklichen Metropolen zu vernehmen war.

Icke, wa?! Wie man halt „damals“ aussah. (Foto: Norbert Hell)

Als ich studiert habe, hatte man gefälligst „links“ zu sein, was immer das wirklich heißen mochte. Wir waren uns jedenfalls fraglos sicher – und es schien ja in dieser Hinsicht auch noch wesentlich übersichtlicher zu sein als heute. Freilich sinnierte schon damals Botho Strauß in Gestalt seiner Lotte im Stück „Groß und klein“: „In den 70er Jahren finde sich einer zurecht…“

Bevorzugte „Quelle“ bzw. Hilfsmittel für jegliche Interpretation waren jedenfalls damals bei den Bochumer Historikern die blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe. Es herrschte unter den Studierenden (die damals noch Studenten geheißen wurden) weithin die Auffassung, alle geschichtlichen Geschehnisse jedweder Epoche müssten damit abgeglichen werden. Umso pikierter war ich, als ich eines Tages einen Brief von Karl Marx an seine Geliebte zu lesen bekam, der mit dieser Anrede begann: „Viellieb!“ Das wollte mir süßlich-kitschig vorkommen und sich so gar nicht zu seinen politischen Einsichten fügen. Ach, Gottchen!

Ein unerbittlicher „Anarchist“

In jenen seltsamen Zeiten gerierte sich ein Altersgenosse vehement als „Anarchist“. In einer stundenlangen hitzigen Wohnzimmer-Debatte ließ er sich nicht erweichen. Er hätte am liebsten alles in die Luft gesprengt, wie er posaunte. Wir anderen waren hingegen der Ansicht, dass er damit erst recht die volle Staatsgewalt gegen uns alle entfessele. Schließlich suchte ich den Kompromisslosen zu besänftigen, indem ich ihn zum Abschied herzhaft mit „Rot Front!“ grüßte. Er aber dröhnte, vollends unversöhnlich: „Schwarz Front!“ Wüsste gerne, was später aus ihm geworden ist. Vielleicht denn doch noch eine Gestalt auf der allseits abgesicherten Beamtenlaufbahn? Ist aber auch piepegal. Kaum jemand, der sich nicht angepasst hätte.

Den Hass auf die Bourgeoisie fühlen

Unwesentlich später war man schon auf die damals so genannte „Neue Sensibilität“ verfallen, die längst nicht mehr so harsch politisierte, sondern in Sanftmut und Milde daherkam, gleichsam auf Samtpfoten. Dennoch ließ ich mich bei irgend einer obskuren Splittergruppe für ein ganzes Wochenende auf eine „trotzkistische Schulung“ ein. Es blieb beim einmaligen Besuch, wie ich denn überhaupt nie dauerhaft Partei ergreifen mochte. Wer zweimal bei denselben sitzt, bekommt schnell den Verstand stibitzt. Gut, wa? Von mir. Ganz spontan.

Dem unerträglichen Trotzkisten-Präzeptor, der keinen Widerspruch duldete, sondern nur von oben herab dozierte, wagte ich die Frage zu stellen, ob denn bei ihnen alles nur rational vonstatten gehe oder ob man irgendwann auch Gefühle zeigen dürfe. Er, vollends am Sinn der Frage vorbei: „Ja klar, den Hass auf die Bourgeoisie!“ Aha. Zur Erholung vom stundenlangen Gefasel durften wir dann nachmittags Fußball spielen. Immerhin. Man war nicht nur ein Tor, man schoss auch eins. Harr, harr.

Durften die Beatles Mao schmähen?

Man war, so cirka zwischen 16 und 24 Jahren, dermaßen verblendet, dass man die Mao-Bibel reichlich unkritisch memoriert hat. Sogar den vor- und nachmals so verehrten Beatles nahm man die Zeilen aus dem Song „Revolution“ übel: „But if you go carrying pictures of chairman Mao, you ain’t gonna make it with anyone anyhow…“ Wie? Was? Nö, die Stones waren auch nicht viel mutiger, siehe ihren resignativen Text über den „Street Fighting Man“: „But what can a poor boy do except to sing for a Rock’nRoll Band, cause in sleepy London town there’s just no place for a street fighting man, no!…“

Jetzt mal gar nicht zu reden von Bettina Soundso, in die ich mich für einige Monate verguckte, weil sie (die es mit dem MSB Spartacus hielt) mir so heroisch wie eine zweite Rosa Luxemburg vorkam. Hach. Später ward sie wahrhaftig Geschichts-Professorin. Aber wie sie damals ihren Haarvorhang herunterlassen konnte, um dahinter gewichtig zu reflektieren! Überhaupt erwies sich das unentwegte Politisieren gelegentlich als „Liebes“-Beschleuniger, wahrscheinlich aber auf längere Sicht noch öfter als zerstörerisch.

„Deutscher Herbst“: Polizei in der Pizzeria

Zeitsprung: Aus dem „Deutschen Herbst“ um 1977 habe ich unter anderem in Erinnerung, wie die Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag eine Pizzeria enterte, in der wir friedlich beisammen saßen. Wiederum einige Jahre später suchte mich ein Mann vom Verfassungsschutz zu Hause in meiner kurzzeitigen WG auf, um mich nach einem Schulfreund auszufragen, der die Beamtenlaufbahn einschlagen wollte. Aber da waren wir schon in den öden 1980ern gestrandet. Und es gab überhaupt nichts zu beichten.

 




Liverpool zwischen Beatles und „Kloppo“

Beatles-Skulpturen an den Gestaden des River Mersey in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal ein paar Zeilen, die so gar nichts mit dem Ruhrgebiet zu schaffen haben – und „irgendwie“ dann doch. Bin jetzt auf einer England-Reise endlich mal einen Tag lang in Liverpool gewesen.

Erwähnt man dort, dass man aus Dortmund kommt, hellen sich manche Mienen auf. Denn alle, die auch nur ansatzweise „Ahnung“ von Fußball haben, wissen natürlich, dass Jürgen Klopp – vor seiner Zeit beim FC Liverpool – Borussia Dortmund meisterlich trainiert hat. Es ist, als schlinge dieser Sachverhalt ein imaginäres Band um beide Städte, auch wenn Dortmunds eigentliche englische Partnerstadt Leeds ist. Aber die sind abgestiegen (unqualifizierter Zwischenruf: „Wie Schalke!“).

Allgegenwärtiger „Kloppo“: „Jürgen’s Bierhaus“ in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Mitten in Liverpool mit seinen (auch baulich) imposanten Museen steht man plötzlich vor einem Pub namens „Jürgen’s Bierhaus“. „Kloppo“ scheint an der Merseyside allgegenwärtig zu sein. Und kaum minder beliebt als einst in Dortmund. Man hat schon etwas über das Phänomen gelesen, hier aber erfährt man es direkt. Apropos: Zweierlei Einschätzungen sind uns im Vorfeld begegnet. Die eine kam von einer gebürtigen Liverpoolerin (deren Bruder ausgerechnet in Dortmund lebt), die ihre „Liverpudlians“ in höchsten lokalpatriotischen Tönen als warm und herzlich pries. Eine andere, südenglische Betrachtungsweise klang hingegen wie eine gelinde Warnung: Bewohner Liverpools, hieß es von jener Seite, seien oft ziemlich direkt und rau („rough“) im Umgangston. Damit sollten Revierbewohner freilich nur begrenzt Probleme haben. Ein offenes Wort wird hier wie dort gepflegt.

Typische Location im Touristenviertel. (Foto: Bernd Berke)

Mit Liverpool war doch noch etwas? Aber ja! Besucht man Liverpool erstmals, so ist selbstverständlich mindestens eine der diversen Führungen auf den Spuren der Beatles zu absolvieren. Unser Guide war eine Frau, stammte aus Irland, bekannte sich fußballerisch zum Lokalrivalen FC Everton, ließ aber Jürgen Klopp notgedrungen gelten. Viel wichtiger: Sie kannte so manche Anekdote zum Leben und Wirken der unvergleichlichen Band – vor allem über ihren erklärten Lieblings-Beatle John Lennon (einverstanden!) und seinen sehr „komplexen Charakter“, die Fährnisse rund um Yoko Ono inbegriffen. Mindestens fünf Mal hat unsere Bärenführerin im Laufe der fast dreistündigen Tour gesagt: „They’ve changed the world.“ Nun, was die damalige Musik und Jugendkultur angeht, ist das nicht übertrieben.

Mit der Musik der Beatles aufgewachsen, habe ich bislang immer „Sgt. Pepper“ und das „White Album“ für die absoluten künstlerischen Höhepunkte gehalten. Was ja auch durchaus stimmen dürfte. Seltsam unterschätzt habe ich jedoch die LP „Revolver“, trotz aller langjährigen Hörpraxis. In dieser Hinsicht hat mir der Rundgang mit Hinweisen der buchstäblich bewanderten Expertin Augen und Ohren geöffnet. Sie hat unbedingt recht: „Revolver“ war, vor den folgenden Höhenflügen, bereits ein Auf- und Durchbruch zu anderen Sphären. Eine gar späte Einsicht, nicht wahr?

Noch so eine Kultstätte. (Foto: Bernd Berke)

Rund 60 Jahre ist es her, dass die Beatles 1963 die Charts umkrempelten und eine Massenhysterie auslösten. US-Präsident John F. Kennedy wurde im November 1963 in Dallas erschossen und es war, als hätten die Beatles (die weder „Fab Four“ noch „Pilzköpfe“ genannt werden sollten) die westliche Welt aus dem damaligen Stimmungstief gerissen. Es musste sie einfach geben. Genau damals. Und genau so, wie sie gewesen sind. Bis sie so wurden, wie sie ewig in Erinnerung bleiben werden, hat es allerdings seine Zeit gedauert. Etliche Einflüsse, Umstände und Menschen mussten „zufällig“ zusammenkommen, um das Wunder zu bewirken. Die Vorläufer-Bands sollen anfangs fürchterlich geklungen haben, doch nach und nach hat sich das gegeben. Und wie!

Kraftvoller Auftritt: Impression aus dem Liverpooler Museumsviertel. (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: In bestimmten Straßenzügen von Liverpool (rund um den „Cavern Club“ etc.) werden Touristen aus aller Welt dermaßen unablässig beschallt, dass viele es offenbar nur mit alkoholischer Betäubung durchstehen bzw. zu steigern versuchen. Man muss es ja nicht über sich ergehen lassen.

Der leider zu kurze Aufenthalt hat mich jedenfalls im Gefühl bestärkt, dass zwei der großartigsten kulturellen Dinge in meiner Generation just aus England zu uns gedrungen sind: die Beatles (sowie viele andere Combos neben und nach ihnen) – und Monty Python’s Flying Circus. Na gut, mit den Filmen der Nouvelle Vague haben auch Franzosen einiges zum positiven Lebensgefühl hinzugefügt. Und Deutschland? Nun, Robert Gernhardt und die Neue Frankfurter Schule waren gleichfalls nicht zu verachten. Was einen halt so geprägt hat.




Vor 60 Jahren spielten die Beatles erstmals in Hamburg – für betrunkene Seeleute und „leichte Mädchen“

Rund vier Jahre nach Jahre den Hamburger Anfängen: die Beatles (von links: George Harrison, Paul McCartney, John Lennon, Ringo Starr) am 3. Juni 1964 in Australien. Sie tragen Mützen mit dem Logo einer Security-Firma. (Wikimedia Commons / © WilleeM / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Gastautor Thomas Häußner, Jahrgang 1959, Leiter des Echter Verlags in Würzburg und seit seiner Kindheit großer Beatles-Fans, über die ersten Karriereschritte der „Fab Four“ vor genau 60 Jahren in Hamburg:

  1. August 1960 – Fünf junge Männer steigen aus einem alten, grünen Van, der sie von Liverpool nach Hamburg auf die Reeperbahn gebracht hat. Der älteste ist gerade einmal 20 Jahre alt, der jüngste ist erst 17 und dürfte noch gar nicht in Deutschland arbeiten. Am Abend geben sie ihr erstes Konzert unter dem Namen „The Beatles“.

Noch konnte niemand ahnen, dass gut zwei Jahre später drei von ihnen in der „greatest little Rock´n Roll Band“, wie John Lennon „The Beatles“ einmal selbstironisch nannte, die Musikwelt für fast ein Jahrzehnt dominieren würden. Ihr Weg dorthin war hart und die Auftritte in Hamburg waren die Schule, die sie geformt hat. Rund 800 Stunden stehen sie dort zwischen 1960 und 1962 auf verschiedenen Bühnen, zuletzt im legendären Star Club, Große Freiheit Nr. 39. Doch ihr erster Weg führt sie in einen Club namens Indra, wo sie vor gelangweilten, angetrunkenen Seeleuten und „leichten Mädchen“ 48 Nächte hintereinander spielen. Ihr Vertrag sieht eine Gage von 30 DM pro Kopf und Auftritt vor. Das Geld ist schnell ausgegeben für Essen, Trinken oder neues Musikequipment.

Erster Hamburger Auftrittsort der Beatles: Club Indra, Große Freiheit – hier eine Aufnahme vom August 2007. (Wikimedia Commons / © Raymond Arritt – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ein Kabuff hinter der Kinoleinwand

Ihre Unterkunft passt sich ihrem wenig ermutigenden ersten Auftrittsort an. Es ist noch nicht das Hotel Pacific, in dem sie bei ihrem letzten Gastspiel im Dezember 1962 untergebracht sind. Gleich beim Indra um die Ecke lag das Bambi, ein Kino. Dort hausen sie hinter der Kinoleinwand in einem kleinen Raum ohne Fenster, in dem es nach getragener Wäsche, kaltem Rauch und Essensresten stinkt. Ihre Wäsche wird ihnen von der Mutter Horst Faschers, des Mitbegründers des Star Club, gewaschen. „Tante Rosa“, die Toilettenfrau des Bambi Kinos, von den Beatles „Mutti“ genannt, umsorgt und versorgt sie, wohl auch mit dem Aufputschmittel Preludin. Zum Essen geht es in die umliegenden Kneipen, in denen die Musiker anschreiben lassen konnten, wenn das Geld knapp war. Manche dieser Rechnungen wurden nie bezahlt. Als Paul McCartney 1989 wieder einmal in Hamburg war, hat er endlich in der Bierkneipe „Gretel und Alfons“ die 180 DM Schulden beglichen, die die Band aus ihrer Frühzeit dort noch hatte.

Image-Werbung mit Unterhose und Klobrille

Wer aus Liverpool kommt, findet sich auch auf dem Hamburger Kiez zurecht. Besonders John Lennon scheut nicht davor zurück, sich mit außergewöhnlichen Aktionen in Szene zu setzen. So wirbt er nur mit langer Unterhose und Sonnenbrille bekleidet auf der Straße für den abendlichen Auftritt der Beatles, kommt auch schon einmal mit einer Klobrille um den Hals auf die Bühne gestolpert. Die fünf Liverpooler behaupten sich. Sie üben neue Songs ein, versuchen sich an eigenen Kompositionen oder treffen sich mit Mitgliedern anderer Bands.

So entwickeln sich die Beatles schnell weiter und wechseln im Oktober 1960 vom Indra in den Kaiserkeller, wo sie 58 Auftritte hatten. Dort wird die – am 12. Mai 2020 verstorbene – Fotografin Astrid Kirchherr auf sie aufmerksam und verliebt sich in den damaligen Bassisten der Band, Stuart Sutcliff. Sie überredet ihn, sich die Haare nach vorn in die Stirn und über die Ohren zu kämmen: Die Pilzköpfe, ein späteres Markenzeichen und Anlass für Spott und Entrüstung, waren geschaffen.

Vom Star Club zur Queen

Im November 1960 wird George Harrison aus Deutschland ausgewiesen, weil er noch nicht volljährig ist, Paul McCartney und Pete Best müssen ihm im Dezember folgen, weil sie in ihrer Unterkunft ein Feuerchen entzündet haben. Damit ist das Gastspiel der Liverpooler Band in Hamburg erst  einmal beendet. Doch am 27. März 1961 kommen sie zurück. Jetzt spielen sie im Top Ten Club und später dann im Star Club, der am 13. April 1962 eröffnet wurde. Bis zu seiner Schließung im Dezember 1969 traten dort andere namhafte Künstler wie Fats Domino, Chuck Berry, Jimi Hendrix oder Ray Charles auf. Am Montag, 31. Dezember 1962, geben die Beatles dort ihr letztes Konzert.

In den kommenden Jahren werden Clubs zu klein für ihre Auftritte sein. Schon ein Jahr später spielen die Beatles im Rahmen der alljährlichen Royal Variety Performance vor Königin Elizabeth, Lord Snowden und Prinzessin Margaret im Londoner Prince of Wales Theatre.

60 Jahre nach dem ersten Auftritt der Beatles in Hamburg gibt es das Indra wieder und noch immer wird dort Musik aufgelegt oder live gespielt. Der Kaiserkeller heißt heute „Große Freiheit 36“ und ist der älteste und größte Club Hamburgs. Der Star Club wurde 1986 abgerissen.

 




Frank Goosen huldigt den Beatles – ein amüsanter Abend im Dortmunder „Fletch Bizzel“

Das Gesamtwerk der Beatles sollte man schon in wesentlichen Zügen kennen, sonst würde man ihm nicht so recht folgen können: Frank Goosen, mit trockenem Ruhrgebiets-Humor gesegneter Rock-, Fußball- und Revier-Fachmann, ist mit seinem neuen Buch „The Beatles“ angerückt. Im Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“ plaudert er freiweg über seine innigen biographischen Verbindungen zu den „Fab Four“. Im Publikum ist die Generation 60 plus bestens repräsentiert.

Der freundliche Herr Goosen beim Buchsignieren nach seinem Dortmunder Auftritt. (Foto: Bernd Berke)

Im Gegensatz zu Leuten, die in den 1950er Jahren geboren wurden und deren Adoleszenz zeitlich direkt mit dem Aufstieg der Beatles verknüpft war, ist Goosen (Jahrgang 1966) ein „Nachgeborener“, wie er sich selbst bezeichnet. Als ihm Musik überhaupt zu Bewusstsein kam, lag das Oeuvre der Beatles schon fertig vor – abgesehen von dieser oder jener Soloplatte, zumal von Sir Paul McCartney.

Dass nun aber dieser „Nachgeborene“ so überaus viel über die Beatles weiß, das hat mich – als etwas älteren Fan der Liverpooler – beinahe schon gewurmt. Nun gut, ich fasse mich: Es hat mir vor allem Bewunderung abgenötigt, wie sehr sich der Mann in die Materie eingelebt (eingehört, eingelesen) hat. Und wie sinnreich er das mit seiner Jugend verwoben hat, das ist aus Erfahrung gekonnt (und nicht wohlfeil gewollt): Es waren jene Zeiten, als man angehimmelten Mädchen in heißer Hoffnung selbst zusammengestellte Audio-Cassetten zusteckte. In diesem Fall hieß sie Regina. Aber es war zwecklos. Da musste dann halt eine gewisse Michelle herhalten. Moment mal. Michelle? Nein, mehr wird hier nicht verraten. Nur, dass Frank Goosens Opa einmal ziemlich irritiert war, als John Lennons Gefährtin Yoko Ono auf einer Scheibe aufstöhnte, als hätte sie vor dem Mikro einen echten Orgasmus gehabt.

Das konnte doch kein Zufall sein!

Dass sein Vortrag gewohnt unterhaltsam ist, hat man von Goosen nicht anders erwartet. Zwar legt er zwischendurch keine einschlägigen Platten auf (Hallo, GEMA, nix zu holen!), aber am Schluss darf ihm das Publikum Fragen stellen, die er nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.

Der ebenso bodenständige wie weltoffene Bochumer hat gleich eingangs berichtet, dass die Beatles gerade mal 25 Tage nach seiner Geburt in der Essener Grugahalle gespielt haben. So nah sind sie sich dann nie wieder gekommen – rein räumlich besehen… Und bald darauf sind die Beatles gar nicht mehr mehr live aufgetreten. Sonnenklar: Das konnte doch kein Zufall sein! Sondern? Es war wohl ein Zeichen. Fast so magisch wie die Bedeutung der Zahl 9 im Leben John Lennons (und sei’s in der Quersumme).

Seit den späten 70er Jahren hat sich der pubertierende Frank Goosen denkbar intensiv mit John, Paul, George und Ringo befasst. Los ging’s mit den beiden roten und blauen Doppelalben für den ersten Überblick, dann folgte nach und nach alles Weitere. Mit den Beatles, so dozierte Frank G. schon damals auf dem Schulhof, sei recht eigentlich Farbe in die vordem schwarzweiße oder auch graue Welt gekommen – bis hin ins seinerzeit auch nicht gerade bunte Ruhrgebiet. Goosens mehr oder weniger exklusive Entdeckung: Die zunächst allmähliche, dann explosive Farbwerdung habe sich ja schon an ihren Albumhüllen und an so manchen Songtexten gezeigt. Der selbsternannte Beatles-Experte Michael („Name geändert“), der damals blasiert widersprechen wollte, habe übrigens keinen blassen Schimmer gehabt. Damit das mal klar ist.

Den Vatikan reißt man ja auch nicht ab

Überhaupt waren die Beatles für ihn eine bis heute nachwirkende Offenbarung. Unverzeihlich findet es Goosen, dass der berühmte Cavern Club in Liverpool abgerissen und durch einen weit weniger auratischen Nachbau ersetzt worden ist. Nachvollziehbare Analogie: „Den Vatikan reißt man doch auch nicht ab!“

Dennoch war es ein Lebens-Höhepunkt, als Goosen vor einiger Zeit mit Frau und Kindern endlich einmal Liverpool aufsuchte und auf den Spuren der frühen Beatles unterwegs war – mit dem geradezu besessenen Guide namens Steve, der an Beatles-Detailwissen alle anderen in den Schatten stellte. Welch‘ ein Gänsehaut-Erlebnis, tatsächlich einmal durch die Penny Lane zu schreiten oder die wahrhaftigen Strawberry Fields (bzw. deren Nachfolge-Areal) zu sehen! Allerdings merkt Goosen auch an, welch massentouristische Untiefen dort zu gewärtigen sind. Da wird man an manchen Punkten von allen Seiten dermaßen mit Beatles-Titeln beschallt, dass es kaum auszuhalten ist. Noch weitaus unerträglicher: die idiotische Anmaßung mancher Touristen, sich in New York vor dem Dakota Building (dort wurde am 8. Dezember 1980 John Lennon ermordet) mit dem heutigen Doorman fotografieren zu lassen…

Noch eine Erkenntnis der Marke Goosen gefällig? Nun, wenn man bestimmte Beatles-Titel auf ordentlichen Vinyl-LPs gehört und dabei ungeahnte Instrumente entdeckt habe, so könne man seine CD-Sammlung eigentlich wegwerfen.

Weitere NRW-Tourneedaten mit dem Programm „Acht Tage die Woche – die Beatles und ich“: 3.3. Menden, 4.3. Bottrop, 17.3. Oberhausen, 18.3. Essen, 23.3. Duisburg, 31.3. Waltrop, 1.4. Haltern, 2.4. Gladbeck, 21.4. Herne, 25.4. Hagen. Gesamtprogramm: www.frankgoosen.de

Frank Goosen: „THE BEATLES“. KiWi Musikbibliothek (Kiepenheuer & Witsch). 182 Seiten. 12 €.




Der Sound des Aufbruchs im Revier: Ruhr Museum zeigt 60 Jahre „Rock & Pop im Pott“

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer erinnert sich: Essener Songtage 1968, ein singuläres Ereignis in der neueren Musikgeschichte des Ruhrgebiets. Der legendäre Frank Zappa entstieg auf der Bühne einem Sarg und fragte das Publikum schlankweg: „How do you feel?“ Dann legte er los. – Bomheuer ist heute noch ergriffen von dem Moment: „So etwas vergisst man nie.“

Just in Essen, im Ruhr Museum auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, schickt sich jetzt eine Ausstellung an, derlei kostbare Erinnerungen en gros zu wecken: „Rock & Pop im Pott“ erzählt die Geschichte der populären Musik im Revier über 60 Jahre hinweg. Dazu bietet man die immense Fülle von rund 1500 Exponaten auf (etwa die Hälfte davon Schallplatten).

Historischer Startpunkt sind die damals bundesweit beispiellosen Dortmunder Jugendkrawalle im Spätherbst 1956. Deutsche Radiosender spielten seinerzeit keinen Rock’n’Roll, also musste man sich die Schaffe im Kino „reinziehen“. Es lief der Film „Rock Around the Clock“ (deutscher Titel „Außer Rand und Band“) mit Bill Haley.

Dortmunder Jugendkrawalle

Nach dem Lichtspiel waren nahezu 2000 Jugendliche tatsächlich dermaßen aufgekratzt, dass gar Scheiben zu Bruch gingen – ein in jenen Jahren ungeheuerlicher Vorgang, über den etwa der „Spiegel“ breit berichtete und der schon die Energien ahnen ließ, die sich in dieser Musik Bahn brachen. Fotos und aufgeregte Zeitungsartikel erinnern daran. Interessanter Nebenaspekt: In den Anfangszeiten war – neben dem Kino – auch die Kirmes ein Ort, an dem Rock’n’Roll zur Geltung kam. Auch hier konnte man für ein paar Stunden aus der landläufigen Spießigkeit der Adenauer-Ära ausbrechen.

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Die Schau beginnt mit markanten Songzitaten und dem Durchgang durch einen Sound-Raum, in dem Highlights des Ruhrgebiets-Rock zur 15minütigen Bild- und Toncollage komprimiert sind. Eine Ausstellung über Musik geht halt nicht ohne Musik. Es ist freilich eine Gratwanderung: Man kann Rock & Pop zwar nicht nur in Vitrinen einsperren, doch andererseits muss man im Museum weit übers bloße „Zuballern“ mit Musik hinaus gelangen.

Sperrholzkisten-Ästhetik

Das Rock-Spektrum im Westen der Republik reicht von Nena bis Herbert Grönemeyer, von Phillip Boa bis Extrabreit (die heute zur längst überbuchten Eröffnung der Ausstellung spielen), von Franz K. bis Geier Sturzflug, von Grobschnitt bis Bröselmaschine. Auch die Humpe-Schwestern Inga und Annette stammen aus dem Ruhrgebiet, genauer: aus Hagen. Die berühmte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“ brachte ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe "The Kepa Beatles" in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe „The Kepa Beatles“ in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

Nach dem akustischen Einstieg wird man über einen Boden mit starken Farben (nach passender Maßgabe der Pop Art) durch die Jahrzehnte geleitet, unterwegs waltet eine dem Gegenstand angemessene Sperrholzkisten-Ästhetik. Bloß nicht zu schick und gediegen werden, lieber ein wenig „schmutzig“ bleiben! Einige Seitenkabinette vertiefen die Themen des Hauptstrangs, da geht es beispielsweise um veränderte Tanzstile und vielfach ausdifferenzierte Moden.

Das Team unter Leitung des Museumschefs Prof. Heinrich Theodor Grütter hat kaum eine Facette ausgelassen, die Ausstellung entfaltet ein wahres Kaleidoskop, sie trumpft hie und da mit raumgreifenden „Leitobjekten“ (Kinokasse, Jukebox, Synthesizer) auf, lässt aber nebenher auch manche Zwischentöne anklingen.

Wenn Rock historisch wird

Grütter hält dafür, dass eine solche Ausstellung erst jetzt wirklich sinnvoll sei, weil nun manche Entwicklungen abgeschlossen und somit „historisch“ sind. Mitten im Strom der Ereignisse wäre eine museale Aufarbeitung kaum möglich gewesen. Am Konzept beteiligt war übrigens das Dortmunder Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet. Eine Einrichtung, die sicherlich größere Beachtung verdient.

"Schmutzige" Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von "Eisenpimmel". (Ruhr Museum)

„Schmutzige“ Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von „Eisenpimmel“. (Ruhr Museum)

Zur besseren Gliederung gibt es eine Außen- und eine Innenperspektive, sprich: Hier geht es sowohl um Gastspiele internationaler Rock- und Pop-Stars im Revier, allen voran Beatles (25. Juni 1966) und Stones (12. September 1965) in der Essener Grugahalle, als auch um die zahllosen Bands, die im Ruhrgebiet selbst entstanden sind.

Heinrich Theodor Grütter selbst erinnert sich gern an die Jungs aus seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, die als „German Blue Flames“ Furore machten und als eine der ganz wenigen deutschen Gruppen im „Beat Club“ des Fernsehens spielen durften.

Zu großen Teilen ist die Ausstellung eine Angelegenheit für „Best Agers“, wie Grütters selbstironisch anmerkt. Erkennbar ist aber auch das Bemühen, denn doch ein paar jüngere Leute aufs Zollverein-Gelände zu locken, beispielsweise durch Live-Konzerte und musikalische Workshops.

Hymnen aufs Revier

Hunderte, ja Tausende Formationen sind seit Ende der 50er Jahre im Revier entstanden. Zunächst spielten sie Rock’n’Roll und Beat, es folgten z. B. Protestlieder, Krautrock, Neue Deutsche Welle, Punk und Heavy Metal, schließlich Techno und HipHop, wobei in letzterer Stilrichtung Migranten den Ton angeben. Gar nicht mal so erstaunlich: Von den Kindern der Zugewanderten stammen, wie Experten versichern, neuerdings auch die treffendsten „Hymnen“ aufs vielfach geschundene Revier.

Eine regional zugespitzte These der Schau lautet, dass das proletarisch geprägte Revier für Beatmusik fast so prädestiniert gewesen sei wie die Gegend um Liverpool. Immerhin hat ja der Dortmunder Manfred Weissleder den Star Club in Hamburg gegründet, in dem die Beatles frühen Ruhm erlangten. Auch in späteren Jahrzehnten kann man dem (zuweilen rebellischen) Geist der Ruhrregion nachspüren. So hat das einst stählerne Industriegebiet buchstäblich seine eigenen Spielarten des Heavy Metal hervorgebracht.

Weitere Leihgaben gesucht

Die Essener haben den strammen Ehrgeiz, möglichst die gesamte Band-Landschaft des Ruhrgebiets zu kartographieren. Bereits jetzt zeugen über 700 Tonträger-Exponate von ungeheurer Vielfalt. Und die bis Februar 2017 dauernde Schau soll unentwegt wachsen: Wer selbst noch dergleichen Schätze hortet, soll sich melden und womöglich zum Leihgeber werden. Auch Bands, die schon Tonträger veröffentlicht haben (im Zweifelsfalle reichen Demo-Kassetten), werden aufgefordert, Laut zu geben. Das Ganze könnte zur Unternehmung von geradezu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen…

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs "Fantasio", 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs „Fantasio“, 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Man sollte sich jedenfalls für diese Schau reichlich Zeit nehmen, am besten (ganz im Sinne der Veranstalter) mehrmals kommen, sonst entgehen einem vielleicht Feinheiten wie etwa die Catering-Listen von Rockstars (welchen Saft wollten sie trinken?) oder rare Plakate wie jenes der vom Niederländer Ruud van Laar begründeten Dortmunder Kultstätte „Fantasio“ von 1971, das einen Auftritt des famosen Gitarristen Rory Gallagher avisierte. Oder ein hübsches Detail auf dem Plakat von 1967, das die Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle ankündigte und den Eintrittspreis mit schlappen 7 Mark angibt. Man vergleiche, was heute für die Crew von Mick Jagger aufgerufen wird.

Königsweg der Kultur

Rock & Pop haben auch im Revier etliche neue Auftrittsorte (neudeutsch Locations) entstehen lassen, dies ist natürlich gleichfalls Thema im Ruhr Museum, ebenso wie Fanzines, Szene-Zeitschriften und Devotionalien, das technische Equipment (vor allem zahlreiche Gitarren) oder die großen Festivals von „Rockpalast“ bis „Juicy Beats“, wobei die in Duisburg katastrophal beendete Loveparade nur diskret gedämpft zur Sprache kommt.

Glasklar wird allerdings, dass die anfangs so misstrauisch beäugte und niedergehaltene Rock- und Popkultur in den letzten Jahrzehnten recht eigentlich der Haupt-und Königsweg der Kultur gewesen ist. Wer damals jung war, hat es eh im Innersten gespürt.

„Rock & Pop im Pott“. 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017. Geöffnet Mo-So 10 bis 18 Uhr. Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (Gebäude A 14), kostenlose Parkplätze A 1 und A 2, Zufahrt über Fritz-Schupp-Allee. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de Audioguide 3 Euro. Katalog 304 Seiten, 33 Abbildungen (Klartext Verlag) 24,95 Euro. Info-Telefon/Buchung von Führungen: 0201 / 24 681 444.




Als der Beat auch ins Ruhrgebiet kam

Ach ja, diese geschenktauglichen Generationenbücher! Da fühlt man sich beim Lesen und Betrachten so heimelig aufgehoben.

Man hört von Menschen, die mit dem selben Zeitaroma aufgewachsen sind und weitgehend ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie man selbst. Widersprüche gibt’s im Leben sonst genug, hier aber erhält man rundum Bestätigung.

Nicht nur oberflächlich lassen sich solche Gemeinsamkeiten ungefähr seit Mitte der 50er Jahre vor allem an populärkulturellen Phänomenen ablesen: Man huldigt den gleichen Moden, Musikvorlieben, Kultmarken, Reklamesprüchen, lässigen Redensarten oder auch Fernsehfiguren.

Derlei Bücher heißen dann gern mal so: „Mini, Beat und Texashosen“. Unschwer zu erkennen, dass es sich um die 1960er Jahre dreht. Der Titel klingt liebenswert, kurios und beinahe schon putzig; Grundtenor ist der Seufzer all jener, die ein wenig in die Jahre gekommen sind: „Ach, weißt du noch…“ Und: „War es nicht schön, obwohl alles viel bescheidener zuging als heute?“

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Noch näher fühlt sich das alles an, wenn der regionale Aspekt hinzukommt. Also hatte die WAZ ihre Ruhrgebiets-Leserschaft aufgerufen, sich an die 60er im Revier zu erinnern. Dortmund kommt allerdings nur am Rande vor, denn die Stadt hat ja nie zum Kernland der WAZ gehört.

Entstanden ist eine streckenweise interessante und aufschlussreiche Materialsammlung in Text und Bildern, ein Heimatbuch mit vielen kleinen Impressionen und manchen funkelnden Facetten. Auf tiefere Sondierungen oder analytische Ansätze muss man hingegen verzichten.

Die rund 80 Erinnerungs-Texte ergeben – auf wechselndem Reflexionsniveau – dennoch ein Mosaik der Zeit. Gerade die privaten Fotos aus Partykellern, von Beatkonzerten, Spielstraßen oder Autoausflügen bersten zuweilen geradezu vor jener neuen Zeitstimmung, die sich allmählich neben die traditionell geprägten Lebensbereiche schob und auch das Proletarische weit hinter sich lassen wollte.

Solch ein Buch ist im Grunde relativ rasch beisammen. Lesertexte auswählen, ordnen, redigieren, illustrieren, Vorwort und Chronik hinzufügen – fertig ist die Laube. Wie günstig zudem, dass der Klartext Verlag zum WAZ-Imperium gehört. Da bleibt gleich alles in der Familie.

Den bei weitem größten Raum nimmt das Anfangskapitel über Musik ein. Etliche Geschichten ranken sich um drei zentrale Daten: Auftritt der Rolling Stones in der Essener Grugahalle (12.9.1965), Gastspiel der Beatles am selben Ort (25.6.1966) und Internationale Essener Songtage (25. bis 29.9.1968) mit Dutzenden Programmpunkten von Degenhardt bis Fugs, von Amon Düül bis Frank Zappa. Übrigens: Nach einigen Vorgruppen haben die Stones, wie sich ein Leser erinnert, im September 1965 angeblich nur 18 Minuten (!) gespielt, und zwar ziemlich miserabel.

Es ist heute kaum noch vorstellbar, auf welche teils absurden gesellschaftlichen Widerstände die anfangs so genannte „Beatmusik“ damals traf. Manche Ko-Autoren des Bandes vergolden freilich in der Rückschau selbst diese misslichen Verhältnisse. Zitat: „Aber die tolle Rolling-Stones-Musik war für die Eltern einfach nur ‚Negermusik’. Die 60er waren eine Superzeit!“ Der Übergang hört sich arg abrupt an.

Die weiteren, nicht immer trennscharf abgegrenzten Kapitel heißen Mode, Moral, Alltag und Auf Achse. Man spürt an vielen Stellen, dass das Ruhrgebiet damals (vor Gründung der ersten Hochschulen) zwar noch einigermaßen prosperierte, aber doch in manchen Belangen sehr provinziell gewesen ist. Fotos von Studentendemos stammen denn auch aus Berlin, Frankfurt und Hamburg, nur ein Ostermarschbild kommt aus Essen. Manche Essenzen des Zeitgeistes kamen im Revier nur sehr verdünnt und verspätet an. Man kann sehr gut nachempfinden, dass damals etwa unter Jugendlichen in Kamp-Lintfort besonders große Sehnsucht nach London aufkommen musste. Gerade solche ungeheuren Diskrepanzen machen einen Reiz dieses Buches aus.

„Mini, Beat und Texashosen“. Erinnerungen an die 60er Jahre im Ruhrgebiet. Hrsg.: Rolf Potthoff, Achim Nöllenheidt. Klatext Verlag, Essen, 176 Seiten, 13,95 Euro.




Meilensteine der Popmusik (15): The Rolling Stones

Nur wenige Bands haben ihre Gefühle so offen bloßgelegt, waren so widerspenstig, und doch so ehrlich wie die Rolling Stones. Für sie gab es keine Tabuzonen. Den Grundsatz, nur nichts Persönliches in die Pop-Musik einzubringen, warfen sie einfach über den Haufen. Seit nunmehr 50 Jahren auf der Bühne und bis heute: „shocking“ um (fast) jeden Preis.

Im April 1966 mussten die Feministinnen daran glauben. Die Aussagen des Albums „Aftermath“ trieben die engagierte Weiblichkeit zur Weißglut. Auf einen Punkt: Männer sind Männer, und Frauen sind Sex-Objekte. Alles „under my thumb“, unter meinen männlichen Daumen…

Die Stones als chauvinistische Frauenhasser? Der hämische, rachsüchtige Tonfall ist laut Mick Jagger ganz und gar nicht politisch gemeint. Das ist nur die Art, wie die Stones über die Sachen reden, die sie beschäftigen. Wer so die Texte Stones-mäßig interpretierte, der begriff schnell, dass die Feministinnen nur oberflächlich zugehört hatten – ja, sogar den Fünf eigentlich hätten dankbar sein müssen. Ihr Angriff richtete sich nämlich gegen die hirnlosen Miezen, die wie Katzen schnurren. Gegen den modischen Disco-Darling, die neurotischen, reichen Töchter.

Die Beatles saßen zur gleichen Zeit (1966) im Studio und spielten ihre neue Single „Paperback Writer“ ein. Mitten in den Aufnahmen schickten sie ihren Road-Manager los um die neue Stones-LP zu kaufen, die sie dann gemeinsam durchhörten. Man witterte die mächtig heraufziehende Konkurrenz. Für viele Fachleute war „Aftermath“ die Antwort auf die damals aktuelle Beatles-LP „Rubber Soul“. Doch die Stimmungen dieser beiden Platten trennten Welten.

Die Rolling Stones hatten einen neuen sozialkritischen Höhepunkt erreicht. Zwei aufreibende US-Tourneen hatten ihr Amerika-Bild gründlich verändert. Aus dem riesigen, einsamen Land wurde ein Chrom- und Drogen-Dschungel. Trotzdem produzierten sie weiter in Hollywood, entdeckten die technischen Möglichkeiten der dortigen Studios.

„Aftermath“ brachte nicht nur zum ersten Mal ausschließlich Songmaterial von Mick Jagger und Keith Richards, sondern war auch – man höre und staune – ihre erste Stereo-Platte. Vielleicht der wirkliche Startpunkt einer Weltkarriere, die bis heute anhält. Der musikalische Durchbruch für die Stones kam mit großer Bandbreite: das zarte „Lady Jane“, das düstere „Mother´s little helper“, das hymnische „Out of time“, oder auch die modische Sitar auf „Paint it black“ (nur auf US-Album) – die damals übermächtigen Beatles hatten endlich einen gleichwertigen Gegenpart gefunden.

The Rolling Stones on youtube

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Die bisherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14)




Ein ziemlich persönlicher Glückwunsch nachträglich: Paul McCartney wurde 70

Da anscheinend niemand ein paar Wörter darüber verlieren möchte, dass Sir Paul McCartney würdevoll das 70. Lebensjahr vollendet hat (dachte, da würden sich rudelweise die Erinnerer drauf stürzen), will ich einige Minuten des Tages danach dazu nutzen, dem Paule einige Zeilen zu widmen, weil er stark mitgeholfen hat, meinen Lebensrhythmus zu schlagen, den Beat meiner jeweiligen Abschnitte zu bestimmen, ihnen lustvoll, nachdenklich oder offensiv den Takt zu geben.

Die ersten Kontakte mit den vier Herren, die sich in Liverpool einst zur später erfolgsreichsten Musikgruppe aller Zeiten zusammenschlossen, krähte mir ein handliches Transistorradio unter der Bettdecke ins Ohr. Ich wusste zwar nicht, wer da spielte und sang, mir fiel nur auf, dass da etwas mehr sein musste als dieses einsilbige „Yeah, Yeah, Yeah“ und erstmal recht sonorer Schlagzeughintergrund. Also hörte ich genauer hin, nachdem ich mich am nächsten Tage auf dem Schulhof danach erkundigte, wer das denn sei und erfuhr, dass diese Gruppe „Beatles“ hieß, wenn der Name im Transistorradio genannt wurde.

Mit Hilfe des Zufalls arrangierte Begegnung der Genies. (Foto: Bernd Berke)

Mit Hilfe des Zufalls arrangierte Begegnung der Genies. (Foto: Bernd Berke)

Einige Zeit, viele Erfolge dieser vier Herren aus Liverpool später saß ich mit meinem Freund Willi Winkelmann in dessen Zimmer und hörte andächtig bis sprachlos „Revolver“ und alsbald auch „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ rauf und runter, bis ich mit den Texten eins war. Um bald darauf das jähe Ende der Formation meiner Jugend mitgeteilt zu bekommen.

Und weiter ging Paul mit mir, machte mich wie viele andere immer wieder auf sich und seine Musik aufmerksam, erinnerte mich und viele andere immer wieder daran, dass er und John Lennon eine ganze Epoche inspiriert hatten. „Tug of War“ beispielsweise zerrte meine latente Abneigung gegen manches Zeitgeistgeplärre (ich nehme da noch viele andere, stets gute Musikanten aus) fort und weckte wieder auf, dass ich genießerisch wahrnahm: Ja, die Alten können es noch.

Was einen wie Paul McCartney für mich so wesentlich machte, war das Vermögen dieses Musikers, immer mal wieder etwas zu veröffentlichen, was lang wirkte und noch länger in Erinnerung blieb. Für seinen Freund John Lennon gilt im Übrigen dasselbe. 50 Jahre musizierte er immer wieder solch großartige Klänge, dass ich begeistert hinhören mochte und mir bisweilen kaufte, damit ich noch häufiger hinhören konnte.

Dieser Teil der Begleitmusik meines Lebens war und ist prägend, ebenso wie Bach, Beethoven, Mahler, Charly Parker oder John Coltrane. Deshalb mag ich ihm auf diesem Wege zum 70. Geburtstag gratulieren. Wir hatten eben geile Zeiten zusammen, Paul!




Die Suchmaschine bringt es an den Tag: Durch ein paar Mausklicks kulturelle Streitfragen klären

Von Bernd Berke

Ganz entspannt im Hier und Jetzt wollen wir mal ein paar uralte Kultur-Streitfragen klären. Internet-Suchmaschinen wie etwa Google machen’s möglich. Man gibt den Namen in die Suchmaske ein, und schon weiß man, wie oft er im Netz vorkommt.

Frage eins, von ergrauten Rockfans seit Jahrzehnten diskutiert: Wer ist bedeutender, die Beatles oder die Stones? Also, bitte sehr, kein Problem, das haben wir gleich: Die „Fab Four“ sind mit imponierenden 10,1 Millionen Internet-Fundstellen verzeichnet, die Rolling Stones gerade mal mit der Hälfte: 5,12 Millionen. Und das, obwohl die englische Wort-Kombination für „rollende Steine“ auch anderweitig vorkommen könnte, so vielleicht auf alpinistischen Seiten. Egal. Die Entscheidung ist gefallen.

Zusätzliche Labsal für Beatles-Anhänger: In der Einzelwertung liegt John Lennon (2,1 Mio.) auch noch deutlich vor Mick Jagger (535 000). Yeah, yeah, yeah!

Mozart liegt nur knapp vor Beethoven

Erheblich knapper wird es schon im Bereich der klassischen Musik. Mozart ist in den Weiten und Tiefen des Netzes 6,83 Millionen Mal zu finden, Beethoven kommt auf 5,68 Millionen. Pech. Da hat ihm – bei allem Respekt – auch sein „Ta-ta-ta-taaa“ nichts genützt.

Beim Klicken wachsen (je nach Neigung) das sportliche Vergnügen oder die Lust an der Lotterie (obwohl es hier keinen Jackpot gibt). Also schnell weiter mit zwei Malern: Rembrandt (2,05 Mio.) triumphiert über Michelangelo (1,88 Mio.). Ha! Picasso haben wir übrigens bewusst ausgelassen, denn da kriegen wir alle einschlägigen Parfümsorten oder Automodelle mit auf die Rechnung.

Und wie sieht es bei den großen Dichtern aus? Nun, hier heißt der Champion zweifellos Shakespeare: Schier unglaubliche 12,6 Millionen Nennungen entfallen auf seinen wahrlich berühmten Nachnamen. Dante (5,31 Millionen) und Goethe (3,81Mio.) wirken damit verglichen wie Newcomer.

Apropos neu, und hier wird’s erstaunlich: Bei den deutschen Schauspielern ist der Jungspund Daniel Brühl (236 000) dem Haudegen Götz George (246 000) bereits ganz dicht auf den Fernsen. Wie das wohl zustande kommt? Vielleicht hat die gar nicht so unfehlbare Suchmaschine ja den Stadtnamen Brühl (bei Köln) gelegentlich mitgezählt.mitgezählt, wenn denn auch irgend ein Herr namens Daniel auf der jeweiligen Homepage erscheint.

Wenn Thomas Mann gegen Brecht antritt

Auch kulturhistorische Konfrontationen lassen sich auf diese rabiate Weise nachbereiten. Bert Brecht und Thomas Mann mochten einander bekanntlich nie leiden. Den Ziffernsieg über den Edel-Proletarier trägt nun der großbürgerliche Mann davon: 4,82 Millionen (wobei vielleicht einige Zeitgenossen denselben, wohl nicht gar so seltenen Namen tragen).

Bertolt Brecht kommt unterdessen auf schlappe 640 000. Selbst wenn man die Lesart Bert Brecht (119 000) und die (oft verwendete, aber falsche!) Schreibweise Bertold Brecht (141 000) mitzählt, reicht es hinten und vorne nicht.

Muss man wirklich eigens betonen, dass dieses Verfahren völlig kulturfern, ja geradezu barbarisch ist? Und dass die genannten Zahlen schon heute nicht mehr genau stimmen, weil das Internet sich als höchst veränderlicher „Organismus“ erweist? Muss man nicht, oder? Schließlich entscheidet in kulturellen Fragen nicht allein die „Quote“.

Aber Spaß hat’s eben doch gemacht. Und nun schauen wir uns mal eben die 12,6 Millionen Shakespeare-Fundstellen genauer an. Tschüs denn, bis in ungefähr 500 Jahren…




Ein Rundgang durch das Reich der Zufälle – Buchmesse: Sigrid Löffler, Harry Potter, Beatles und Nobelpreisträger Gao Xingjian

Aus Frankfurt berichtet Bernd Berke

Trübes, kühles Wetter in Frankfurt. Ausgesprochenes Bücherwetter. Hinein also in die Hallen der Buchmesse, hin zu den Büchermenschen.

Man muss sich Fix- und Zielpunkte schaffen, sonst droht man schier unterzugehen im Reich der Zufälle, das hier aus 380.000 Titeln besteht. Da trifft es sich, dass Sigrid Löffler (ehemals beim „Literarischen Quartett“) just die zweite Nummer ihrer Zeitschrift „Literaturen“ vorstellt und eine erste Bilanz ihres ehrgeizigen Projekts zieht. Von der ersten Nummer wurden rund 70.000 Exemplare gedruckt, nun sind es bereits 103.000. Buchhandel und Kioske hätten mehr geordert als zuvor, auch die Abo-Zahlen entwickelten sich ordentlich.

Löffler, leicht pikiert über das vielfach skeptische Echo auf die erste Ausgabe: „Viele Leser sind mir lieber als gute Kritiken.“ Trotzdem: Ein paar „Feinjustierungen“ habe man vorgenommen am Konzept, besonders in optischer Hinsicht. Auch den vierten Band von „Harry Potter“ bespricht man jetzt.

Apropos: Man kommt um den Millionen-Seller einfach nicht herum. Am Stand des Hamburger Carlsen-Verlages ist den Mitarbeitern die halbwegs überstandene Hektik rund um die Potter-Mania noch anzumerken. Sie schauen etwas erschöpft, aber glücklich drein. Ja, die erste Auflagen-Million sei restlos abgesetzt, man drucke nun eilends nach, denn es gebe schon 500.000 weitere Vorbestellungen. Nein, die Autorin Joanne K. Rowling werde nicht zur Buchmesse kommen, vielleicht befürchte sie einen gar zu großen Rummel. Nächstes Jahr wahrscheinlich.

Schwerpunkt mit Comics

Lässt man sich durch die Hallen treiben, so hat man den Eindruck, dass Kinder- und Jugendliteratur tatsächlich auffälliger und selbstbewusster präsentiert wird als in den Vorjahren. Vielleicht liegt’s ja auch am Comic-Schwerpunkt, den man kurzerhand mit verbucht, obwohl doch die fanatischsten Sammler gewiss Erwachsene sind, manchmal auch erwachsene Kindsköpfe.

Viele Comics bleiben ewig jung, einige Pop-Gruppen desgleichen: Die „Beatles“ ziehen immer noch – und wie! Ullstein präsentiert großflächig seine opulente „Beatles Anthology“, ein Werk, das wahrlich Besitzwünsche weckt. Bei Heyne hängt man sich mit „Die Beatles – Wie alles begann“ an den Nostalgie-Trend, ein weiterer Verlag hat rasch ein illustriertes Songbook neu aufgelegt. Und das sind nur die Zufallsfunde in Sachen „Fab Four“.

Warum hat die Jugend des Westens Mao verehrt?

Letztes Jahr war’s Günter Grass, diesmal ist es Gao Xingjian, der die Messe mit seiner Anwesenheit schmückt. Es ist doch immer wieder erhebend, einen frisch bestimmtenLiteraturnobelpreisträger leibhaftig zu sehen. Das dachten sich wohl auch die zahllosen Kamerateams und Fotografen der Weltpresse, die gestern den Chinesen in ein wahres Lichtgewitter tauchten. Tatsächlich wirkt Gao, dessen Werke in China strikt verboten sind, schon fast wie ein Europäer, seine Pressekonferenz absolvierte er auf Französisch.

„Comme un miracle“ (wie ein Wunder) sei ihm die Preisvergabe erschienen. Jaja, Gerüchte über Mauscheleien im Preiskomitee habe er „gestern vernommen“, dazu wolle er aber nun wirklich nichts sagen. In Anlehnung an den Polen Witold Gombrowicz, der gleichfalls Im Exil gelebt hat, rief Gao aus: „China – das bin ich.“ Will heißen: Das kommunistische Regime habe alle guten alten chinesischen Traditionen zerstört, er aber wolle sie aufsuchen und aufrecht erhalten.

In Hongkong und Taiwan sei er gelegentlich noch gewesen, doch er habe kaum Hoffnung, jemals das festländische China wieder zu sehen. Maos „so genannte“ Revolution sei „ein Wahnsinn, ein Albtraum“ gewesen. Er, Gao, frage sich bis heute, wieso die Jugend des Westens diesen Mann habe bewundern können. Jaja, vor mehr als dreißig Jahren war es so. Und schon damals sang John Lennon mit den „Beatles“ dagegen an („Revolution“). So schließt sich der Kreis.

Frankfurter Buchmesse: Bis einschl. Freitag für Fachbesucher, Samstag/Sonntag (21. und 22. Oktober) auch für Privatleute. 9-18.30 Uhr, Tageskarte 14 DM. Messekatalog (Buch und CD-Rom) 35 DM.




Der Drang zur Leinwand – Ex-Beatle Paul McCartney stellt in Siegen weltweit erstmals seine Gemälde vor

Von Bernd Berke

Siegen. Gezeichnet hat Paul McCartney schon in den guten alten Beatles-Zeiten. Als diese Ära längst vorbei war und Paul auf die 40 zuging, sagte er sich: „Jetzt musst du noch mal was Neues anfangen“. Also begann er zu malen. Das tut er nun seit etwa 16 Jahren – „vor allem zu meinem eigenen Vergnügen“, wie er gestern in Siegen verriet. Dort, in der vermeintlichen Provinz, zeigt er weltweit erstmals seine Bilder.

Davon wird man im Siegerland noch sehr lange reden. Der Kollege Wolfgang Thomas aus der Siegener WR-Lokalredaktion, seit rund 30 Jahren im Geschäft, kann sich nicht erinnern, je auch nur annähernd einen solchen (Medien)-Rummel um ein örtliches Ereignis erlebt zu haben.

Entspannung an der Staffelei

Musikalische Fragen waren bei der gestrigen Pressekonferenz zur Schau „Paul McCartney Paintings“ strikt unerwünscht, doch der Ex-Beatle ließ immerhin wissen, daß es zwischen „sounds and colours“, Tönen und Farben also, manche Entsprechungen gebe. Er bekannte, beim Malen vom „spirit of freedom“ (Geist der Freiheit) inspiriert zu werden – und den habe nun mal der einstige Mit-Beatle John Lennon beispielhaft verkörpert. Allerdings: „Wenn ich male, höre ich nie Musik.“

Jedenfalls könne er sich an der Staffelei besser entspannen als beim Komponieren, denn: „Vom Malen muß ich nicht leben“. Auf die Frage, ob die Präsentation seiner Öl- und Acryl-Gemälde seinen musikalischen Weltruf mindern könne, meinte Sir Paul: „Ich habe immer etwas riskiert; schon damals mit den Beatles.“

Sei’s drum. Entspannung hin, Vergnügen her – als Maler will Paul McCartney allemal ernstgenommen werden. Und damit kommen wir zur Gretchen-Frage, um die man sich auch als eingefleischter Beatles- oder McCartney-Fan nicht herumdrücken sollte: Wie gut sind seine Bilder?

Auf einem sanften Trip

Nun ja. Paul McCartney, der vom Künstler Willem de Kooning in seinem Maldrang bestärkt wurde, ist eben nicht von dessen Schrot und Korn. Gelegentliche Abstecher in Quellformen der Groteske („Shock Head“) und ins Surreale („White Dream“) können kaum verhehlen, daß hier keine ordnende (oder auch kunstvoll zerstörende) Kraft waltet, sondern ein wohliges Sich-Treibenlassen im Reich der Farben. Etliche Bilder haben etwas Unentschlossenes, geradezu Verwaschenes. Farbskala und Machart taugen oft eher für Plattencovcr oder Underground-Comics als für eine Kunsthalle. Die Formen wirken vielfach zerstoben, aber nicht wirklich explosiv. Kunst auf einem sanften Trip.

Paul McCartney liebt es, hier und da Farbschlieren nach Lust und Laune dick aufzutragen, dann wieder kratzt er Spuren in die Leinwände. Manchmal sieht man auch noch die Fingerabdrücke. All das deutet auf tätig-frohe Selbstverwirklichung nach dem Leitsatz: Einfach mal loslegen und sehen, was daraus wird. Und so ist denn gewiß nicht alles souverän gewollt an diesen Bildern, sondern sieht aus wie nebenher unterlaufen: Passiert ist passiert. Mal so, mal so.

Anregung durch keltische Fundstücke

Bevor Paul seine Bildidee wahrmacht (Kritiker auf den Kopf stellen und ringsum einrahmen), muß man rasch sagen, daß unter den 75 Exponaten auch recht achtbare Werke sind. Die von keltischen Funden angeregten Arbeiten zählen dazu, aber auch konzentriertere Stücke wie „Boxer Lips“ und „Chinaman“.

Überhaupt spürt man Wonne, Inbrunst und Passion, mit denen Paul McCartney der Leinwand zu Leibe rückt. Auch wenn ihm nicht alle künstlerischen Mittel zu Gebote stehen: Über bloße Freizeitmalerei ist er deutlich hinaus. Und die Siegener dürfen sowieso mächtig stolz sein auf den Coup, diese Sachen hergeholt zu haben.

„Paul McCartney Paintings“. Siegen, Kunstforum Lyz (St.-Johann-Str. 18). DerWeg dorthin ist bestens ausgeschildert. 1.Mai bis 25. Juli, Di-So 10-20 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 39,50 DM, Plakat 12 DM.