Ovationen vor dem Verstummen: Das Konzerthaus Dortmund ging mit einem Beethoven-Marathon in den erneuten Lockdown

Die Musiker des Belcea Quartetts: Krzysztof Chorzelski (Viola), Axel Schacher (Violine), Antoine Lederlin (Cello) und Corina Belcea (v.l. Foto: Marco Borggreve)

Beethoven hat das letzte Wort. Am Tag vor dem erneuten Lockdown, der auch die Kultur- und Veranstaltungsbranche zum Erliegen bringt, zeigen zwei führende Streichquartette unserer Zeit im Konzerthaus Dortmund, welchen Gipfel- und Endpunkt die Gattung durch den Jahresjubilar erreichte.

Das Belcea Quartet und das französische Quatuor Ébène wechseln sich bei einem musikalischen Marathon ab, der durch acht der insgesamt 16 Werke führt, die Beethoven zu dieser Königsdisziplin der Komponisten beitrug.

Gleichwohl mag Konzerthaus-Intendant Raphael von Hoensbroech die Schließung des Betriebs nicht unkommentiert lassen. Er greift vor Beginn zum Mikrophon, um sich gegen das „undifferenzierte Vorgehen“ der Politik zu wehren: „Wir werden die Pandemie nicht durch die Schließung der Kultur in den Griff bekommen. Die Theater und Philharmonien sind keine Infektionsorte!“ Dass er Eigeninteressen vertritt, verhehlt er keineswegs („Ich bin vom Intendanten zum Lobbyisten geworden“). Stimmungsmache kann man ihm indessen nicht vorwerfen. Er erinnert an die Not der Solo-Selbständigen und verkündet, den Musikern Ausfall-Zahlungen leisten zu wollen.

Damit sind wir entlassen in den Kosmos der Beethoven-Streichquartette, der die Widrigkeiten dieser Welt auf Zwergenmaß schrumpfen lässt. Das Programm umfasst drei Beispiele aus der frühen Werkgruppe Opus 18, drei Stücke aus der mittleren Schaffensperiode und zwei Spätwerke. So lässt sich nachverfolgen, wie Beethoven sich mit zunehmend kühner Experimentierlust über alles hinaus schrieb, was seinen Zeitgenossen verständlich war.

Wie souverän er sich schon früh vom Vorbild Haydns und Mozarts absetzt, zeigt das Belcea Quartet zu Beginn mit Opus 18 Nr. 3 (aus dem Jahr 1799). Die helle, freundliche Grazie des Tonfalls findet eine wunderbare Entsprechung in den silbrig schimmernden Höhen von Corina Belceas Violinklang. Aber in den Ecksätzen künden Akzente bereits von einer typischen, robusten Energie. Auch das zunächst friedvolle Andante con moto hat es in sich: Es erreicht mit seinen Einzeltönen und Pausen einen erstaunlich modern wirkenden Minimalismus.

Im 1808 komponierten Opus 59 Nr. 1 hat diese Handschrift deutlich an Ausdruckskraft gewonnen. Mit einer Mischung aus Disziplin und Spielfreude fächert das Belcea Quartet eine Palette auf, die vom nahezu rhapsodischen Anfangsthema im Cello zu Tonwiederholungen führt, die mal ruppig klopfen, mal elfengleich trippeln wie in Mendelssohns Sommernachtstraum. Die langen Bögen des Adagio geraten seidig fein ins Schweben, wie von milder Melancholie durchleuchtet.

Das Quatuor Ébène: von links Raphaël Merlin (Cello), Pierre Colombet (Violine), Gabriel Le Magadure (Violine), Marie Chilemme (Bratsche. Foto: Julien Mignot)

Es erscheint nahezu unwirklich, wie locker das Quatuor Ébène diese hohe Interpretationskunst noch übertrifft. Die Franzosen musizieren mit entwaffnender Natürlichkeit und einem bezwingenden Willen zum Wesentlichen. Wie sehr sie sich auf Beethovens Rhetorik verstehen, zeigen nicht allein die raffinierten Gegenakzente im Trio von Opus 18 Nr. 5. Bestechend synchron artikulierend, rücken sie das Andante in die Nähe der „Szene am Bach“ aus der 6. Sinfonie („Pastorale“), erreichen gar einen rustikalen Vorgriff auf Schubert’sche Forellen-Munterkeit. Sie beherrschen ein Pianissimo mit Fernklang-Effekt, leuchten Abgründiges mit dunklem Feuer aus, bevor sie weiche, schneehelle Gefilde vor uns entfalten.

Das späte Streichquartett op. 131 aus Beethovens vorletztem Lebensjahr spielen die Franzosen vollends aus Zeit und Raum heraus. Was hier zusammentrifft, gleicht einer Quadratur des Kreises: abgeklärt und überhastet, grüblerisch und übermütig, bizarr und wild und witzig in einem. Wenn das Cello das letzte Adagio mit einer grimmigen Floskel beiseite fegt, ist der Gipfel der Kompromisslosigkeit erreicht. Das Quatuor Ébène feuert uns Pizzicati um die Ohren und spielt mit dem Bogen so nahe am Steg, dass sich ein eisiger Schauer in die Raserei mischt. Das Publikum spendet Ovationen, bevor es sich in den November des Verstummens zerstreut. Das letzte Wort aber hat Beethoven.




Festival Alte Musik im rheinischen Knechtsteden: Beethoven im Licht seiner Lehrer und Zeitgenossen

Die Rheinische Kantorei und Das kleine Konzert. (Foto: Thomas Kost)

Offenbar kommt selbst ein Festival für Alte Musik in diesem Jahr nicht an Beethoven vorbei. Im rheinischen Knechtsteden organisiert Festivalleiter Hermann Max einen Beethoven-Abend, dessen Programmheft den pathossatten Titel „Nacht und Stürme werden Licht“ trägt.

Wer jedoch in der ehrwürdigen romanischen Basilika der ehemaligen Prämonstratenserabtei Knechtsteden auf dem Gebiet der Gemeinde Dormagen einen der üblichen Beethoven-Meisterwerk-Hommage-Abende erwartet, würde Hermann Max ziemlich unterschätzen: Der Leiter der Rheinischen Kantorei und des Barockorchesters „Das kleine Konzert“ erkundet „Beethovens Musikwelt“ in einem – mit zwei Pausen – mehr als dreistündigen Programm. Es leistet damit, was man sich andernorts öfter wünschen würde: Der „Ausnahme“-Komponist wird mit der „Regel“ des Komponierens seiner Zeit, mit Musik seiner Vorgänger, Zeitgenossen und Lehrer konfrontiert. Er verliert damit den Nimbus des Solitärs, wird aber in seinem einzigartigen Rang bestätigt, ohne dass alle anderen notwendigerweise ins Vergängliche oder gar in belanglose „Kleinmeisterei“ abgedrängt werden. Beethoven als einer unter anderen und doch nicht als einer wie alle anderen – das ist eine der Erhellungen des Programms.

Die romanische Basilika von Knechtsteden ist ein bedeutendes Zeugnis der Baukunst des 12. Jahrhunderts. Die ehemalige Prämonstratenserabtei ist heute Sitz des Provinzialats und des Missionshauses der Spiritaner. (Foto: Werner Häußner)

Die andere: Der in Wien zu monumentaler Größe herangewachsene Bonner ist nicht das einsame Genie, zu dem ihn eine nicht zuletzt nationalistisch beseligte Musikgeschichte stilisiert hat. Sondern er wurzelt in vielfältigen Traditionen; er saugt Einflüsse seiner Umwelt auf. Mehr noch: Bei ihm ist die Musik eine Kunst der Form und Ordnung, strebt aber nach Ausdruck, nach Aussage, sogar nach Überwältigung. In dieser Spannung spielt das Nachdenken über die Welt eine entscheidende Rolle – daher gilt Beethoven als „Philosoph“ unter den Komponisten, als der er sich wohl auch selbst verstanden hat.

Der „große Tonmeister oben“

Was im säkularisierten Kontext oft vergessen, verdrängt oder als marginales biographisches Beiwerk kaum beachtet wird: In diesem Nachdenken ist Gott, der „große Tonmeister oben“, ein unverzichtbarer Begriff, der Ausgangspunkt und das Ziel jeglichen Denkens. Dass Beethoven – wie sein sonst nicht immer zuverlässiger Biograph Anton Schindler wohl zutreffend sagt – nie über „Religionsgegenstände“ gesprochen habe, sein kirchliches Bekenntnis im nachjosephinischen Wien „gewissermaßen eingeschlummert“ sei, bedeutet für den Denker Beethoven nicht viel. Ob er weniger gläubig war als etwa der eifrig praktizierende Anton Bruckner, lässt sich am Mangel an frommer Verrichtung jedenfalls nicht entscheiden.

Ist Beethovens geistliche Musik also weniger „geistlich“ als etwa die Messen Bruckners oder Haydns? Martin Geck kommt in seinem brillanten Beethoven-Buch zu einem anderen Ergebnis. Er betont den Wert religiöser Autoren wie Christoph Christian Sturm („Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres“) und Johann Michael Sailer, dessen „Goldkörner der Weisheit und Tugend. Zur Unterhaltung für edle Seelen“, vor allem aber die Übersetzung der „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen prominente Lektüre Beethovens waren. Der immer wieder angefeindete Sailer, ab 1829 Bischof von Regensburg, ist nach Geck eine „zentrale Figur in der inneren Welt Beethovens“.

Lächerlich und geschmacklos?

Hermann Max gründete das Festival im Jahr 1992. (Foto: Werner Häußner)

Der Komponist versucht vor allem in seiner „Missa solemnis“ op. 123, aber auch bereits in seiner C-Dur-Messe op. 86, sich der liturgischen Form unterzuordnen, aber gleichzeitig persönliche Betroffenheit und religiöse Erfahrung auszudrücken. Hermann Max demonstriert diesen innovativen Ansatz Beethovens mit seiner Rheinischen Kantorei am letzten Abschnitt der C-Dur-Messe, dem „Agnus Dei“: Fast zum Verzweiflungsschrei wird das Forte auf „Dei“ in der eröffnenden Anrufung, düster drückt der Bass die Welt in die Tiefe („peccata mundi“). Der Kontrast des flehentlich gesteigerten „miserere nobis“ zum milden piano des „dona nobis pacem“ ist geschärft, die Bitte um Frieden mit der nötigen Emphase ausgedrückt. Max macht mit seinen Sängern deutlich, wie Beethoven jedes Wort des Textes mit Ausdruck belegt. Dem Auftraggeber, dem Fürsten Nikolaus II. Esterházy, hat die mit großem Ehrgeiz komponierte Messe – Beethoven musste sich ja dem achtunggebietenden Vorbild Haydn stellen – nicht gefallen; er fand sie lächerlich und geschmacklos.

Warum das harte Urteil? Beethoven hatte ganz im Sinne damals modernen liturgischen Denkens das Wort sorgsam behandelt, ohne die musikalische Form aus dem Blick zu verlieren – er selbst sagt, er habe den Text behandelt, „wie er noch wenig behandelt worden“. Die Tradition, derer sich Beethoven bedient, erklang in dem Konzert mit dem „Kyrie“ aus der Messe A-Dur Johann Sebastian Bachs – in der Weite der Knechtstedener Basilika gesungen in wundervoll reiner Intonation – und im „Crucifixus“ der h-Moll-Messe, deren expressiven ostinaten Bass Hermann Max‘ Orchester kraftvoll, aber nicht ruppig intoniert – und damit zeigt, wo die Wurzeln von Beethovens Ausdrucks-Musik liegen.

Ein anderes Beispiel liefert Johann Philipp Kirnbergers „Erbarm dich, unser Gott“, in dem das Wort „Gott“ ähnlich wie im „Agnus Dei“ der Beethoven-Messe ein beschwörender Aufschrei ist. Antonio Salieris „Salve Regina“ mit seinem harmonisch-sanglichem Satz spiegelt die flehentliche Süße des „dona nobis pacem“ wieder. Als Kontrast darf die „Missa Sancti Huberti“ von Johann Ries gelten: Deren „Sanctus“ ist aufklärerisch in seinen leicht fasslichen Harmonien und dem Verzicht auf kontrapunktischen Ehrgeiz, gibt dem Sopran Kerstin Dietl dankbares Material, um die Stimme leuchten zu lassen, und erfüllt wie das Klavierquintett op. 74 seines Sohnes und Gefährten Beethovens Ferdinand Ries sehr gekonnt die Form, ohne ihre Grenzen zu sprengen.

Pathos und Dramatik

Spannend auch die Begegnung mit Christian Gottlob Neefe. Nach Einschätzung der Beethoven-Spezialistin Julia Ronge wird er als Lehrer des jungen Louis zwar überbewertet, wie sie in einem der Gesprächseinschübe zwischen den drei Musikblöcken des Konzerts kundtat. Doch zeigt sich Neefe in der Szene „Der Regen strömt, der Sturm ist erwacht“ als treffsicherer Dramatiker, dessen erregte Klavierfiguren Tobias Koch auf einem Hammerflügel der Beethovenzeit aus der Werkstatt des Wieners Conrad Graf mit passender Bravour aufschäumen lässt.

Auch ein Ausschnitt aus Johann Nepomuk Hummels Oratorium „Der Durchzug durchs Rote Meer“ aus dem Jahr 1806 gibt ein Zeugnis davon, wie Pathos und Expression in die Musik der Zeit Einzug gehalten haben: Der Donner rollt, die Blitze zucken und die Musiker von „Das kleine Konzert“ haben hörbar Freude daran, diese auf Carl Maria von Weber vorausweisenden Klänge zu befeuern. Andreas Post singt den „Würg’engel“ in unheimlich engen chromatischen Schritten mit einer unfehlbar sitzenden, schneidenden Stimme. Und wenn am Ende die Pauke aufrollt, meint man, die musikalische „Mahlerey“ eines Abbé Georg Joseph Vogler zu vernehmen, jenes avancierten Musiktheoretikers, dessen Verhältnis zu Beethoven bisher kaum beleuchtet wurde.

Die über drei Stunden dieser langen Konzertnacht verflogen im Nu und bereicherten mit einer Fülle musikalischer Eindrücke, die das Phänomen Beethoven mit treffsicher ausgewählten Schlaglichtern überraschend und aufschlussreich beleuchteten.




Minizyklus ohne Mundschutz: Krystian Zimerman spielt in Dortmund die Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven

Krystian Zimerman gibt nicht mehr als 50 Konzerte im Jahr. Er reist fast immer mit seinem eigenen Instrument an und führt auf Tourneen mehrere Klaviaturen mit. (Foto: Bartek-Barczyk)

Als ungebetener Gast hat das Corona-Virus die Feierlichkeiten zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag arg durcheinandergebracht. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2020 musste das Bonner Beethovenfest auf das nächste Jahr verschoben werden: Es soll nun vom 20. August bis 10.September 2021 über die Bühne gehen.

Weil ein Großteil der geplanten Veranstaltungen vorerst nicht stattfinden kann, verlängert die eigens gegründete Beethoven Jubiläums GmbH (BTHVN2020) ihr Programm ebenfalls bis September 2021. An Aufführungen des größten Chorwerks des Komponisten, der wuchtigen „Missa solemnis“, ist wegen der nicht ausreichend geklärten Gefahr durch Aerosole kaum zu denken.

Vor der Sommerpause nahezu komplett ins Internet gezwungen, nimmt das öffentliche Konzertleben nun allmählich wieder Fahrt auf: Wenn auch mit angezogener Handbremse. Viele Veranstalter haben ihre Programme gekürzt, bieten 70-minütige Konzerte ohne Pause und ohne gastronomisches Angebot an. Die Säle sind lückenhaft gefüllt, weil die Besucher, die bis zum Konzertbeginn Masken tragen und Hygieneregeln beachten müssen, nur mit entsprechenden Abständen Platz nehmen dürfen. An den Anblick von Dirigenten und Solisten, die das Podium mit Maske betreten und sich per Ellenbogen begrüßen, wird man sich womöglich gewöhnen müssen.

Der Pianist Krystian Zimerman indessen trägt bei seinem jüngsten Auftritt im Konzerthaus Dortmund keinen Mund-Nasen-Schutz. Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg und dem Dirigenten Gustavo Gimeno zollt er dem Beethovenjahr mit einer Gesamtaufführung der Klavierkonzerte Tribut, verteilt auf drei Termine und verknüpft mit Schlüsselwerken der Zweiten Wiener Schule. Für diese sind jeweils die Streicher des Orchesters zuständig.

Beim Auftakt spielen sie die Fünf Sätze op. 5 von Anton Webern: flüchtige Miniaturen von insgesamt kaum mehr als zwölf Minuten Länge, im Jahr 1909 ursprünglich für Streichquartett komponiert. Die Musiker aus Luxemburg entfalten die fragilen Tonschöpfungen mit viel Fingerspitzengefühl, sind in den schnellen Sätzen aber durchaus fähig zu ruppigen Fortissimo-Ausbrüchen. Trotz der Kürze der Sätze beweisen sie einen ausgeprägten Sinn für deren jeweilige Atmosphäre. Grüblerisch grundiert klingt der zweite Satz, wolkig und diffus der vierte, beide mit der Tempobezeichnung „Sehr langsam“. Der lebhafte dritte Satz endet mit einer nachgerade hektisch auffahrenden Unisono-Floskel. Diffus und dünn, sogar morbide dann der Schluss, in dem die Töne wie kraftlos niedersinken, bevor sie sich ins Nichts verlieren.

Krystian Zimerman tritt zuweilen auch als Dirigent auf. Zu Chopins 150. Todestag gründete er 1999 das Polish Festival Orchestra (Foto: Bartek-Barczyk)

Der weitaus größere Teil des Abends aber gehört Beethovens Klavierkonzerten Nr. 2 (B-Dur) und Nr. 1 (C-Dur), in denen Krystian Zimerman sich als der Grandseigneur am Flügel erweist, als den ihn die Musikwelt kennt und schätzt. Einen Hauch von Exzentrik erlaubt er sich, wenn er im B-Dur-Konzert nachgerade säuselnd einsetzt, wenn er dessen Mozart’schen Figurationen und Verspieltheiten zuweilen mehr Nebel als Prägnanz verleiht. Dabei wirkt die Klangbalance mit dem Orchester nicht immer glücklich. Mancher Lauf im Klavier geht beinahe unter, und manches Tutti trumpft arg mit Lautstärke auf.

Indessen ist Zimerman keiner, der unbedingt brillieren muss. Er kann sich mit der Gelassenheit des Meisters zurücknehmen, mit dem Orchester dialogisieren, im Adagio ein paar hingetupften Tönen edle Ausdruckstiefe und marmorgleiche Schönheit verleihen. Robuster greift er im abschließenden Rondo zu, das dann auch gleich mehr nach Beethoven als nach Mozart klingt. Obschon Zimerman die Moll-Wendungen weit weniger vehement spielt als andere, spricht aus den Vorschlägen sprühende Spielfreude, ebenso wie aus den leuchtenden Trillern im Diskant.

Diese Eindrücke bestätigen sich nach der Pause im C-Dur-Konzert. Vieles klingt kernig, manches aber auch unerklärlich verwaschen. Ein Hauch von Exzentrik fehlt ebenfalls nicht: den Abwärtslauf vor der Reprise spielt Zimerman als Glissando. Hernach blickt er nachdenklich auf seine strapazierten Fingerkuppen. Aber wie er im Adagio kaum mehr Klavier spielt, sondern tönende Gedanken schweifen lässt, wie er auf der friedvollen Klangfläche inwendig singende Schnörkel zieht, ist einfach und groß. Mitreißend im Rondo seine Freude am rhythmischen Drive, am brillanten Furor dieses Finales. Mehrfach lockt ihn das Publikum nach den Schlusstakten durch begeisterten Applaus hervor. Beim letzten Mal hat Zimerman schließlich doch eine Maske in der Hand.

Die Künstler setzen die Gesamtaufführung der Klavierkonzerte am 3. Oktober (Nr. 3) und am 25. Oktober (Nr. 4 und 5) fort. Tickets und Informationen:

https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/abonnements/287/?saison=202021




Die Kraft der Musik ist zurück: Rudolf Buchbinder beim Klavier-Festival Ruhr in Bochum – unter teils surrealen Umständen

Sehr spezieller Moment nach Rudolf Buchbinders Konzertauftritt: Die Blumen-Übergabe erfolgte diesmal per Roboter. Die Apparatur ist eine Entwicklung des Lehrstuhls für Produktionssysteme im Fachbereich Maschinenbau der Ruhr-Uni Bochum (Prof. Bernd Kuhlenkötter). (Foto: Sven Lorenz)

Gastautor Robert Unger über den Wiederbeginn des Klavier-Festivals Ruhr – unter teilweise surreal anmutenden Bedingungen:

„Endlich sind Sie wieder da!“, begrüßte der Intendant des Klavierfestivals Ruhr, Franz Xaver Ohnesorg, die Konzertbesucher. Voller Spannung wartete das Publikum auf dieses Live-Erlebnis.

Betritt man das Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum für das erste Konzert des Festivals in seiner nun arg verkürzten Spielzeit, fühlt man sich eher wie in einer Quarantänestation. Mit großem Abstand und unter strengen Hygieneregeln verteilen sich im 952 Plätze fassenden Konzerthaus knapp 200 Besucher. Das Foyer, bei den meist ausverkauften Konzerten im Musikforum sonst stets ein proppenvoller, summender Bienenstock, ist an diesem Tag sehr übersichtlich belegt. Hier und da stehen zwei, drei, vier Musikfreunde mit Abstand beisammen, plaudern, begrüßen sich. Dabei ist gerade in schwierigen Zeiten eigentlich das Bedürfnis groß, lebendige Konzertmomente zu erleben. So war das Publikum voller Spannung; eine Reihe von Besuchern ließ auch die Dankbarkeit dem Klavier-Festival Ruhr gegenüber spüren, endlich wieder einem Konzert beiwohnen zu können.

Es scheint wie eine glückliche Fügung, dass das Klavier-Festival Ruhr mit dem renommierten Beethoven-Spezialisten Rudolf Buchbinder und den „Diabelli Variationen“ sowie mit der deutschen Erstaufführung von elf „Neuen Diabelli Variationen“ in die Saison starten konnte. 1819 hatte der Musikverleger Anton Diabelli an bekannte Komponisten seiner Zeit einen simplen Walzer mit der Bitte um eine Variation geschickt. Johann Nepomuk Hummel, Franz Kalkbrenner, der erst elf Jahre alte Franz Liszt, Franz Schubert und einige andere lieferten. Beethoven ließ sich Zeit, schrieb aber dann gleich 33 „Veränderungen“, die als op. 120 in seinen Werkkanon eingingen. 200 Jahre später fragte Buchbinder mit Blick auf das anstehende Beethoven-Jahr zeitgenössische Komponisten nach neuen Variationen. Elf folgten dem Kompositionsauftrag eines Reigens von europäischen Konzerthäusern, unterstützt von der renommierten Ernst-von-Siemens-Stiftung.

Nicht nur schön, sondern auch wahrlich geräumig: das Anneliese Brost Musikforum Bochum. (Foto: Sven Lorenz)

Elf „Neue Diabelli Variationen“

Frappierend genial wirkt der Walzer aus der Feder des Wiener Musikverlegers nicht. Genial war allerdings Diabellis Marketing-Strategie, das Stück den prominentesten Tonsetzern, Virtuosen und Musikhonoratioren des Kaiserreichs zur Bearbeitung vorzulegen. Leider beginnt das Konzert nicht (wie auf dem Programmzettel angekündigt) mit dem Original-Walzer, sondern gleich mit der ersten neuen Variation „Diabellical Waltz“ der einzigen Komponistin in der Liste, Lera Auerbach. Die Neukompositionen zu Beethovens 250. Geburtstag wirken wie ein globales Stilpanorama. Mit dabei sind der Russe Rodion Schtschedrin, der Australier Brett Dean, der Chinese Tan Dun, der Japaner Toshio Hosokawa, der Brite Max Richter und der Deutsche Jörg Widmann. Ob schräg, witzig oder meditativ – immer ist der kreative Umgang mit Diabellis harmlosem „Schusterfleck“ herauszuhören.

Christian Jost nannte seinen Beitrag schlicht „Rock it, Rudi!“, was sich Rudolf Buchbinder denn auch nicht zweimal sagen ließ. Und zu den amüsantesten zeitgenössischen Beiträgen gehört sicher der von Jörg Widmann: Er scheint sich zu fragen, ob das seltsam zackige Thema Diabellis überhaupt das Zeug zum Walzer hat, erkennt dann eine eklatante Verwandtschaft mit dem Radetzky-Marsch und lässt es zu guter Letzt noch zum Boogie-Woogie mutieren. Andere emotionale und sphärische Klänge erklingen bei Hosokawas „Verlust“. Diese erste Hälfte des Konzertes wird im Klang auch beeinflusst durch den fast leeren Saal. Das Klavierspiel von Rudolf Buchbinder wirkt oft laut und stampfend. Ein nicht allzu fernes Echo scheint die ganze Zeit durch den Raum zu strömen.

Kritische Momente beim „Lebens-Motiv“

Nach einer kurzen Pause beginnt für den Pianisten und die Zuhörer die eigentliche Herausforderung. Hans von Bülow nannte die Diabell-Variationen einmal so knapp wie treffend einen „Mikrokosmos des Beethovenschen Genius, ja, sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt“. Beethoven widmete dem einfachen Walzer nicht nur eine Bearbeitung. Er nahm das Thema und versah es mit virtuosen Umspielungen, zerlegte es gnadenlos in seine banalen Einzelteile, aus denen er dann ganz Neues baute, etwa einen pompösen Marsch oder eine dreistimmige Doppelfuge. Diese Welt betritt Buchbinder an diesem Abend mit sehr vehementem Schritt. Töne verschwimmen, die Raffinesse Beethovens will sich nicht einstellen.

Buchbinder, der im Rahmen seines Zweiklangs aus neuer CD-Aufnahme und Buchveröffentlichung sagt, „manchmal habe ich den Eindruck, er sitzt neben mir“ (und damit meint er Ludwig van Beethoven), beschäftigt sich seit vielen Jahren akribisch mit dem Werk Beethovens. Die Diabelli-Variationen, die er bereits zum dritten Mal eingespielt hat, nennt er selber sein „Lebens-Leitmotiv“. Ein Lebensmotiv, das er ohne Zweifel durch die Idee der Neukompositionen bereichert hat, aber der Ursprung wirkt dabei an diesem Abend wenig inspiriert. Kaum Tempovarianten bei raschem Spiel bestimmen den Ablauf der 33 Variationen. Nicht immer gelingen das Austarieren der Crescendi, die homöopathisch dosierten Rubati, die harschen Lautstärke-Kontraste.

Aber sind solche kritischen Momente im Konzert das Entscheidende dieses Abends? Wenn sich am Ende der Variationen das Publikum begeistert zu „Standing Ovations“ erhebt, verspürt man eine erleichterte Freude beim Musiker und seinem Publikum über das gemeinsam Erlebte. Nach monatelanger Stille in den Konzertsälen und sich endlos anfühlendem Warten der Musiker auf den nächsten Auftritt kann man dem Klavier-Festival Ruhr und Rudolf Buchbinder nur Respekt zollen für diesen mutigen Auftakt und den Vorstoß in unbekannte Verhältnisse. Die Kraft der Musik kann letztlich nur im Live-Erlebnis ihren Zauber entfalten. Zugleich darf man aber auch weiterhin gespannt sein, wie sich dieser Zauber in luftig gefüllten Sälen mit Abstandsregeln und Mundschutz in den nächsten Wochen entwickeln wird.

Weitere Konzerte in Dortmund, Düsseldorf, Herten

Das Klavier-Festival Ruhr schaut nach Auftritten von Jan Lisiecki in Dortmund und Essen und einem trotz aller Corona-Beschränkungen stimmungsvollen Konzert mit Anika Vavic auf Schloss Gartrop in Hünxe (Niederrhein) voraus auf den mit Spannung erwarteten Abend mit Igor Levit am 18. Juni im Konzerthaus Dortmund). Weiterhin auf dem Programm: Alexander Krichel (24. Juni, Anneliese Brost Musikforum Ruhr), Olli Mustonen (25. Juni, Gebläsehalle im Landschaftspark Nord, Duisburg) und Kit Armstrong (29. und 30. Juni, Schloss Herten).

Am 1. Juli wird in der Philharmonie Essen der Grandseigneur des Tastenspiels, Sir András Schiff, die enge Verbundenheit Bachs und Beethovens im Kontrapunkt aufzeigen. So finden sich im Programm etwa gleich zwei Werke des Kontrapunktikers Bach, darunter die hochvirtuose „Chromatische Fantasie und Fuge“, deren Echo in der epochalen letzten Klaviersonate Nr. 32 von Beethoven widerhallt. Der Höhepunkt ist dann wohl im Juli der Auftritt von Elisabeth Leonskaja am 6. Juli in Düsseldorf. Auf dem Programm die drei letzten Sonaten op. 109 bis 111, der Gipfel des Beethovenschen Klavierschaffens und eine Hommage an den Wiener Großmeister, die nur schwer vergessen lässt, dass eigentlich das Gesamtwerk Beethovens für Klavier solo in diesem Jahr beim Klavier-Festival Ruhr hätte erklingen sollen.

Über sämtliche Konzerttermine und die aktuellen Programme informiert das Klavier-Festival Ruhr tagesaktuell unter www.klavierfestival.de. Dort finden sich auch Informationen über etwaige neue, die Konzerte des Klavier-Festivals Ruhr betreffende behördliche Verordnungen. Um Karten zu erwerben, trägt man sich am besten online in die Warteliste für das jeweilige Konzert ein.

 




Pressekonferenz per Video: Programm der Neuen Philharmonie Westfalen rankt sich um Beethoven

NPW-Orchesterchef Rasmus Baumann, aus seinem Home-Office der Pressekonferenz zugeschaltet. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Heute habe ich die erste Video-Pressekonferenz meines doch schon recht langen Berufslebens absolviert. „In den Zeiten von Corona“ (eine bereits völlig ausgelutschte Wendung, ich weiß) ist ein solches Verfahren wohl ratsam. Der Blick in eine mögliche Zukunft des journalistischen Gewerbes ging von Unna aus. Dort wurde heute das Programm 2020/21 der Neuen Philharmonie Westfalen (NPW) vorgestellt, das im Kern aus neun Sinfoniekonzerten besteht. Hier ist der Link, der Einzelheiten erschließt, die wir an dieser Stelle nicht ausbreiten können.

Wie wir alle seit gestern wissen, sind Großveranstaltungen (also auch Konzerte der E-Musik) mindestens bis zum 31. August 2020 generell untersagt. Michael Makiolla, Landrat des Kreises Unna, gab sich heute dennoch zuversichtlich, dass das NPW-Programm im September 2020 beginnen kann. Makiolla betonte, Kultur sei gerade in diesen Zeiten weiterhin wichtig. Man werde alles tun, um das Orchester auch künftig zu erhalten.

Auch Chefdirigent Rasmus Baumann möchte optimistisch nach vorn blicken. Er erläuterte das Programm, das sich um Ludwig van Beethoven (1770-1827) rankt. Der weltberühmte Komponist wurde bekanntlich vor 250 Jahren geboren. Freilich will Baumann kein reines Beethoven-Programm gestalten, sondern einige seiner Schöpfungen mit jenen anderer Komponisten verknüpfen oder auch kontrastieren. Mehrere Abende werden auch gänzlich ohne Beethoven-Musik bestritten.

Keine Beethoven-Inflation also, damit auch etwas für kommenden Spielzeiten übrig bleibt; denn, so Baumann: „Beethoven spielen wir ja eigentlich immer. Seine Werke sind sozusagen eine Bibel.“

Und so kommt es, dass gleich beim 1. Sinfoniekonzert (geplant für den 9. September in der Kamener Konzertaula) beispielsweise auch die Zweite Sinfonie von Robert Schumann erklingt – unter dem sprichwörtlichen Motto des Abends, das aus Goethes Drama „Egmont“ stammt und welches da lautet: „Himmelhoch jauchzend, / Zu Tode betrübt…“ Letztere Stimmungslage fügt sich auf tieftraurige Weise zu Schumanns schizophrenem Seelenzustand jener Zeit. Das andere Hauptwerk des Abends ist just Beethovens Schauspielmusik zum „Egmont“.

Das 2. Sinfoniekonzert umfasst u. a. Beethovens Sechste („Pastorale“), die Überschrift des Abends lautet „Landpartie“. Mit ähnlich lockenden Titeln geht es weiter. So wird man etwa beim 7. Sinfoniekonzert (Losung: „Very British“) die Ouverture zu „Roberto Devereux“ von Gaetano Donizetti hören, die mit der Tonfolge von „God save the Queen“ (britische Nationalhymne) beginnt und sinnigerweise mit einem Werk des Briten Edward Elgar kombiniert wird. Der achte Abend ist ausschließlich Komponistinnen gewidmet, u. a. Sofia Gubaidulina und Clara Schumann. „Hörnerschall“ heißt die Devise zum Abschluss beim 9. Konzert.

Man merkt Rasmus Baumann schon die Vorfreude auf eine hoffentlich ungetrübte neue Saison an, er ist voll des Lobes fürs regionale Publikum – und für die Mitwirkenden der Konzerte, von denen einige zumindest auf dem Sprung zur Weltkarriere stünden. Wenn Baumann nicht die eine oder den anderen schon länger kennen würde, kämen sie wohl schwerlich in die westfälische Provinz, wo man programmlich meist etwas konventioneller ansetzen muss. Raritäten und gewagte Experimente stehen hier nicht im Vordergrund.

Zum Reigen der neun Sinfoniekonzerte kommen beispielsweise noch Crossover-Veranstaltungen wie „Abba Forever“ sowie Kinderkonzerte („Beethoven auf der Spur“) und Familienkonzerte („Dschungelbuch“, „Peter und der Wolf“).

Die 1996 gegründete Neue Philharmonie Westfalen spielt ihre Sinfoniekonzerte traditionell in der Kamener Konzertaula. Diesmal wird man auch einmal im Süden des Kreises Unna gastieren, in der Rohrmeisterei Schwerte. Außerdem ist ein Freiluftkonzert auf dem Marktplatz von Unna vorgesehen. Weitaus mehr noch: Der als NRW-Landesorchester fungierende Klangkörper bespielt außerdem seit vielen Jahren das Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen und vor allem das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR), das zwar ein Ensemble, aber kein eigenes Opernorchester hat.

Landrat Michael Makiolla bei seinem Statement. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Der Subventions-Struktur sei Dank: Durch die Corona-Krise hat das Orchester bislang nur sehr überschaubare finanzielle Einbußen erlitten. Landrat Michael Makiolla verweist allerdings darauf, dass man am Ende des Jahres noch einmal genauer Bilanz ziehen müsse.

Apropos Einnahmen: Wie Mike-Sebastian Janke, Kreisdirektor und Kulturdezernent des Kreises Unna, sagte, nimmt die Zahl der Konzertabonnenten – vornehmlich aus „demographischen Gründen“ – seit Jahren geringfügig ab, je Saison um etwa 20 Abos. Teilweise wettgemacht wird dieser Verlust durch gesteigerte Einzelverkäufe. Dem will man nun durch den erstmals möglichen Verkauf von Einzeltickets übers Internet Rechnung tragen. Auch die Abos werden flexibel gehandhabt. Neben dem Neuner-Paket kann man auch 6 oder 3 Konzerte nach Wahl buchen.

Um auf die Video-Pressekonferenz zurückzukommen: Nach kleinen technischen Hakeleien hat die Sache recht gut funktioniert, passgenaues Umschalten der Kameraperspektiven und verständliche Dialoge inbegriffen. Wenn man in den letzten Jahrzehnten viele Hundert Pressetermine auf herkömmliche Art erlebt hat, mag man bedauern, dass so etwas früher nicht möglich war. Da hat man so manchen Kilometer abgespult, den man sich (und der Umwelt) hätte ersparen können – mit Zeitdruck, Staus und allem anderen „Komfort“. Tempi passati.

Dennoch: Schön wär’s, Pressekonferenzen und Vorbesichtigungen gelegentlich auch mal wieder als physische Präsenzveranstaltungen erleben zu dürfen. Aber wem sage ich das?

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Hier nochmals der Link zum gesamten Programm mit Download des Programmheftes.




Beklemmendes Nachdenken: Concerto Köln und Joachim Król zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Flotte Märsche klingen durch das Foyer der Philharmonie Essen. Das Concerto Köln intoniert Joseph Haydns „March for the Prince of Wales“, danach zwei Märsche für das Derbyshire Cavalry Regiment und einen „Ungarischen Nationalmarsch“. Fröhliches Dur, die Zuhörer wippen im Takt mit. Man hat viel getan, um den Menschen im 18. Jahrhundert den Krieg schmackhaft zu machen, damals, als in manchen deutschen Territorien junge Männer verkauft wurden, um für andere Potentaten ins Scharmützel zu ziehen.

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Übermütig ging’s auch anno 1914 zu, als die Männer Europas in den Krieg zogen. Sie hielten den Krieg für ein Abenteuer. Den Gesichtern auf den über das Podium projizierten seltenen Farbfotos aus der Sammlung Reinhard Schultz ist es abzulesen. Die schneidigen Burschen in buntem, blinkendem Waffenrock lockten die jungen Frauen. Jaja, der „Zauber der Montur“.

Nichts von all der Kriegsfolklore war wahr. Schon vor 500 Jahren nicht. Auf der Bühne des Großen Saales las Joachim Król, was Erasmus von Rotterdam zum Krieg geschrieben hatte. „Wer ihn erfahren hat, schaudert allein bei der Vorstellung über die Maßen“. Dazu wird das Luftbild Essens in herbstlicher Sonne überblendet vom Blick auf die Ruinenlandschaft 1945. „Über Wunden“ hieß dieses Gedenkkonzert zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Hier waren zunächst nur die Wunden im Stadbild zu erkennen. Dachlose Häuser, hohl wie verfaulte Zähne, klaffende Löcher in Straßenzügen.

Die 90 Minuten Programm – eine Mischung aus Lesung und Konzert – hatten Ilka Seifert und Folkert Uhde zusammengestellt. Die Betroffenheit sollte ein Gesicht bekommen: Verarbeitet wurden nicht nur literarische Texte wie aus dem bekannten Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, sondern vor allem Erinnerungen, die in den Familien der Musikerinnen und Musiker des Concerto Köln weitergegeben wurden. Aus aller Herren Ländern kommen sie, und kaum jemand war nicht vom Schlachten und Morden der beiden Weltkriege betroffen. Manches haben wir Europäer gar nicht im Blick: Etwa die Gräuel im japanisch-chinesischen Krieg, die Vorfahren einer japanischen Musikerin erlitten.

Bombenwetter, Schusslinie und Marschrichtung

Dass es den lustigen Operettenkrieg der Propaganda nie gegeben hat, brachte Król seinen betroffen stillen Zuhörern mit diesen Texten aus Familien-Erinnerungen nahe. Es schnürt die Kehle zu, wenn die Großmutter einer Geigerin einen Brief mit wundervoll liebenden Worten an ihren Mann im Felde richtet. Er hat ihn nie gelesen, denn er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das Schreiben kam zurück – ohne Vorwarnung. Mit dem zynisch beschönigenden Vermerk „gefallen für Großdeutschland“.

Bis heute sind die Spuren des „Jahrhunderts der Grausamkeiten“ präsent, zum Beispiel in der Sprache: Wer weiß schon, was er sagt, wenn er von einem „Bombenwetter“ spricht? Nehmen wir einen Politiker „aus der Schusslinie“ oder geben wir die „Marschrichtung“ vor? Wir sind groß geworden mit solchen Begriffen, deren wahre Bedeutung nicht mehr bewusst ist.

Der Abend am Volkstrauertag war eher eine Zeit beklemmenden Nachdenkens als ein Konzert. Die Musik mit dem wie stets untadelig aufspielenden Concerto Köln war ernst und gesammelt: Eine Fantasie Henry Purcells über John Taverners damals beliebtes „In nomine“-Thema, ein kaum bekannter düsterer Triumphmarsch Beethovens zum noch unbekannteren Schauspiel „Tarpeja“, dazu die Stimme Kaiser Wilhelms II. mit der verlogenen Ankündigung des Waffengangs 1914.

Ein tragischer Zug klingt in der Ouvertüre zu Mozarts „La Clemenza di Tito“, und die wundervolle Perfektion der „Jupiter“-Sinfonie KV 551 klingt zu einem solchen Anlass geradezu schmerzend schön. Ob das alles reicht, immer wieder vor dem Verderben des Krieges zu warnen? Man muss es hoffen, auch wenn die lebenden Generationen das Inferno nur aus Games, Hollywood-Filmen und Schwarzweiß-Dokus kennen. Ob wir kapieren, welch unverschämtes Glück wir mit 73 Jahren Frieden haben?




Entschieden und energisch: Der Pianist Saleem Ashkar beginnt in Duisburg einen Beethoven-Zyklus mit den 32 Klaviersonaten

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der "Eroica". Gemälde von W.J. Mähler (1804).

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der „Waldstein“-Sonate und der „Eroica“. Gemälde von W.J. Mähler (1804).

Unerbittlich rückt es näher, das Beethoven-Jahr 2020, und es steht zu befürchten, dass die nicht eben rudimentäre Beschäftigung mit dem populären Titanen noch intensiver und raumgreifender wird. Andere Komponisten hätten den Jubiläumsrummel nötiger, bekommen ihn aber nicht, weil sie aus Marketing-Gesichtspunkten nicht viel hergeben.

Wer möchte sich schon, um ein Beispiel zu nennen, 2019 mit Franz von Suppé befassen, wenn mit Jacques Offenbachs 200. Geburtstag ungleich mehr Aufmerksamkeit zu erhoffen ist? Nach Wagner und Verdi 2013 wird Beethovens 250. Geburtstag also der nächste musikalische Mega-Event, auch wenn sich im nächsten Jahr zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag schon die Feuerwerker in Stellung gebracht haben und mit Claude Debussy (100. Todestag) das Rampenlicht auf eine nicht eben unattraktive musikalische Persönlichkeit fällt.

Nun kann man – wie, glaube ich, Hans Knappertsbusch gesagt hat – Beethoven nie genug studieren. Ob es die Streichquartette sind, die Symphonien, die rätselhaften Spätwerke oder die Klaviersonaten: Immer wieder gibt es Neues zu entdecken. Es ist wie bei einem wertvollen Buch: Man liest es in jedem Lebensabschnitt, vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Welt, der eigenen inneren Entwicklung, des persönlichen Erlebnishorizonts immer wieder anders, überraschend, erkenntnisreich.

Musik im politischen Konfliktfeld – bis hin zum Krieg

Saleem Ashkar im Lehmbruck-Museum in Duisburg. Foto; Gregor Willmes/C. Bechstein

Saleem Ashkar im Lehmbruck-Museum in Duisburg. Foto; Gregor Willmes/C. Bechstein

Der Pianist Saleem Ashkar hat recht, wenn er die weltanschauliche Dimension der Klaviersonaten hervorhebt und schreibt, mit seinem Schaffen habe Beethoven „stets eine aktive Teilhabe an den politischen und sozialen Veränderungen seiner Umgebung“ impliziert.

Ashkar, der aus Nazareth stammt, weiß besser als die Zöglinge abgeschotteter Eliteschulen, was es bedeutet, wenn sich Musik in Konfliktfeldern heutiger Politik – bis hin zum Krieg – behaupten muss. Er hat Beethoven in muslimischen Dörfern, christlichen Kirchen und säkularen Konzertsälen gespielt. In solchen Situationen wächst Beethoven eine sicherlich außermusikalisch initiierte, aber in der Musik sich spiegelnde Kraft zu.

Acht Sonaten-Abende bis Mitte 2019

So könnte die Befassung mit Beethoven 2020 unter Umständen über den Marketing-Glamour und die Wiederholung des Immergleichen Bedeutung, ja Brisanz erhalten. Die Duisburger Philharmoniker, ihrer Zeit voraus, haben mit einer klassischen Aufführungsform schon jetzt den Blick auf Beethoven gerichtet: Saleem Ashkar hat im Lehmbruck-Museum in Duisburg den ersten von acht Abenden eines über zwei Spielzeiten bis Mitte 2019 gespannten Zyklus‘ gespielt. Alle 32 Klaviersonaten mit Opuszahlen werden erklingen – die drei Bonner „Kurfürstensonaten“ bleiben leider ausgespart, was sich mit einem flankierenden Konzert vielleicht ändern ließe, nicht zuletzt, um zu erfahren, dass auch ein „Genie“ nicht vom Himmel fällt.

Der erste Abend des Beethoven-Zyklus' mit Saleem Ashkar. Die Skulpturenhalle des Lehmbruck-Museums als stimmungsvoller Konzertraum war ausverkauft. Foto: Gregor Willmes/C. Bechstein

Der erste Abend des Beethoven-Zyklus‘ mit Saleem Ashkar. Die Skulpturenhalle des Lehmbruck-Museums als stimmungsvoller Konzertraum war ausverkauft. Foto: Gregor Willmes/C. Bechstein

Ashkar wählt in der Skulpturenhalle des Museums keinen chronologischen Weg. Im ersten Konzert beginnt er zwar mit der ersten Sonate (op. 2/1), geht dann über zwei Sonaten, die fantasieartige Charakterzüge tragen, zu einem Höhepunkt des mittleren Schaffens Beethovens, zur „Waldstein“-Sonate aus dem Jahr 1804. Die großen Schlusspunkte op. 109 bis 111 setzt er erst in den folgenden drei Konzerten dieser Saison.

Wollte man Ashkars Zugriff auf Beethoven kurz beschreiben, wären die Begriffe Energie, Entschiedenheit, Unbedingtheit geeignet. Der 41-Jährige ist erfahren genug, jugendliche Unbekümmertheit hinter sich zu lassen. Aber er strebt auch noch nicht in die abgeklärten Regionen hinter einer langen Lebensgeschichte mit Beethoven. Das Grübeln, das feinsinnige Modellieren, die Freiheit ergrauter Souveränität oder des alten Haudegens sind seine Sache nicht. Er macht den Eindruck eines Kämpfers, der sich mitten im Getümmel seinen Weg bahnt.

Kraftvolle Entschiedenheit, zielsicheres Timing

Das kleidet seinen Vortrag in die Aura einer kraftvollen Entschiedenheit, die nicht dröhnt, aber sich auch nicht an jedem Detail aufhält. In der Sonate Nr. 13 (op. 27/1) etwa sind die Synkopen des dritten Satzes kräftig akzentuiert, ist der drängende Rhythmus im Bass herausgestellt, stürmt das abschließende Presto mit einer ungeheuren Sogwirkung dahin, sind die oktavierten Fortissimi und die Fanfaren groß und frei formuliert, bricht das Tempo in Richtung Coda los. Ashkar schafft Beziehungen durch das Timing, steuert den Höhepunkt, der nicht das Ende ist, es aber signalisiert, zielsicher an.

Auch der e-Moll-Sonate Nr. 27 (op. 90) gibt er in den „lebhaften“ Momenten einen Zug des Drängenden, der inneren Dynamik, kann aber auch loslassen und die Anspannung lösen, ohne die Spannung zu verlieren. Das sind zumal auf dem Bechstein-Flügel bezwingende Momente, in denen die runde, milde Klanglichkeit des Instruments vorteilhaft wirkt.

Zwischen Suggestion und Belanglosigkeit

In der „Waldstein“-Sonate (op. 53) freilich wendet sich Ashkars ungestüme Energie gegen eine subtilere Sicht auf musikalische Vorgänge. Die weitreichenden Modulationen des ersten Satzes gehen im brillanten Tempo unter – wobei Ashkar zwischen dem „con brio“ des ersten und dem Prestissimo des letzten Satzes ohrenscheinlich keinen Unterschied macht. Der Anfang mit seinen Pianissimo-Achtelrepetitionen baut keine Spannung auf, das „dolce e molto legato“-Thema ist weder ausgesponnen noch führt Ashkar es über die lapidare Aussage der Töne hinaus.

Die Erregung gießt sich in brillante Verläufe, ohne Kontraste, ohne rhetorischen Akzent. Das ist ungeheuer virtuos – und der spontane Beifall zeigt die suggestive Wirkung. Aber musikalisch bleibt dieser Satz seltsam belanglos, so als gehöre er einem jener Fingervirtuosen der Beethoven-Zeit. In den gelösten Akkordfiguren des zweiten und dem schon an Schubert erinnernden Beginn des dritten Satzes ist Ashkar wieder eher dabei, der Musik Gewicht und Kontur zu geben.

Auch die Erste Sonate (op. 2/1) könnte in vielfältigeres Licht getaucht werden: Die Aufstiegs-Abstiegs-Motivik der ersten acht Takte nimmt er eher beiläufig wahr, arbeitet den dynamischen Bogen nicht heraus. Der Bass wirkt eher zufällig, die wiederkehrenden Miniaturtriolen erscheinen flüchtig formuliert. Ashkar lässt sich zu wenig Zeit; im zweiten Satz fehlt dem cantabile der Atem. Die Triolenbewegungen im vierten Satz bleiben – eine Schwäche des Raumes? – verschwommen, aber im Menuett und dem raschen Tempo des Finales zeigen sich Ashkars Stärken: Drive und innerer, in Bewegung gegossener Drang.

Der zweite Beethoven-Sonatenabend am Mittwoch, 21. Februar 2018, umfasst die Sonaten Nr. 2, 12, 24 und 31. Info: www.duisburger-philharmoniker.de, Karten: Tel. (0203) 283 62 100.

 




Menscheln und Musik – die Dortmunder Philharmoniker werben mit einem Heftchen

Gabriel Feltz ist der neue Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Theater Dortmund

Gabriel Feltz ist der neue Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Stadt Dortmund

Die Spannung steigt. Noch ein paar Tage, und für die Dortmunder Philharmoniker beginnt ein neues Kapitel ihrer nunmehr 125jährigen Geschichte. Weil mit Gabriel Feltz, als Generalmusikdirektor (GMD) des Orchesters, ein neuer Chef am Pult stehen wird, der gleich ordentlich ranklotzen will. Mit Beethovens 6. („Pastorale“) und der großdimensionierten „Alpensinfonie“ von Richard Strauss – zwei Werke im Spannungsfeld zwischen Naturlautmalerei und Programmmusik. „natur_gewalten“ ist das 1. Philharmonische Konzert denn auch übertitelt.

Feltz und die Philharmoniker unterwerfen sich also unverzüglich einer mehrfachen Prüfung. Wie dirigiert der neue Mann, wie wirkt er aufs Publikum? Wie meistert das Orchester die gewaltige alpine Herausforderung?  Fragen, deren Beantwortung gewiss einiges über das aktuelle Standing des Dortmunder Klangkörpers sagen wird, der in den letzten fünf Jahren durch Jac van Steen in günstiges Fahrwasser gelenkt wurde.

Doch dem Orchester geht es nicht nur um Leistungsschau. „Wir wollen menscheln“, sagt die Geigerin Barbara Kohl. Das klingt nach Philharmonikern zum Anfassen, und so ist es wohl auch, zumindest indirekt, gemeint. Helfen soll dabei ein neues Medium, das sich „Klangkörper“ nennt. Mehr sagt der Untertitel aus: Menschen – Musik – mittendrin. Das Publikum soll eben nicht nur Konsument im Konzert sein.

Geklotzt wird mit dem schmalen Heftchen freilich nicht. Akribisch gefaltet, wie es ist, passt es in jede Damenhandtasche. Aufgefächert bietet es immerhin Platz für eine große Geschichte, eine Karikatur und kleinere Beiträge. Logisch, dass in der ersten Ausgabe ein großes Porträt von Gabriel Feltz zu finden ist. Eine Homestory darüber, wie es sich so lebt in der neuen Heimat Dortmund.

Die Initiative zu dieser Art Kommunikation sei aus dem Orchester selbst gekommen, sagt Barbara Kohl. Sie zählt ebenso wie der Bassposaunist Paul Galke zum Redaktionsteam, das durch Orchestermanager Rainer Neumann und Gerhard Stranz ergänzt wird. Stranz wiederum ist Vorsitzender der Initiative „Publikum Pro Philharmonie Dortmund“ (PPP). Das Projekt trägt sich durch Sponsoren. Die Auflage beträgt 3000 Exemplare. In dieser Saison soll zu jedem zweiten Philharmonischen Konzert ein Heftchen erscheinen. Abseits dieses Mediums konventioneller Art ist das Orchester auf Facebook wie Twitter zu finden. Eine erweiterte Netzpräsenz ist in Arbeit. „Ohne geht es heute nicht mehr“, sagt Rainer Neumann.

Am Ende aber gilt der (abgewandelte) Satz: Wichtig ist das Konzert. Als Ereignis, bei dem letztlich über Qualität und Akzeptanz entschieden wird. Dies umso mehr vor dem Hintergrund, dass Feltz als Nachfolger Jac van Steens nicht die erste Wahl des Orchesters war. Inzwischen beeilt man sich hinzuzufügen, die Zusammenarbeit verlaufe professionell. Nun, vielleicht fügt sich noch alles zu schönster, andauernder Harmonie. So die Musen (und der Kulturdezernent) es wollen. Wir sind gespannt.

Das erste Philharmonische Konzert findet am 17. Und 18. September im Konzerthaus Dortmund statt (jeweils 20 Uhr). Informationen unter www.theaterdo.de und www.doklassik.de

Facebook: Dortmunder Philharmoniker

Twitter: #doklassik




Gefangen in der Furcht vor Beethoven – Pianist Yundi als Gast des Klavier-Festivals Ruhr

Der chinesische Pianist Yundi. Foto: Uli Weber/DG

Der chinesische Pianist Yundi. Foto: Uli Weber/DG

Wo Yundi, Pianist aus der chinesischen Flinkfingerschule, sich die Ehre des Auftritts gibt, sind die Fans aus fernöstlichen Landen nicht weit. Sie pilgern in Gruppenstärke zu seinen Konzerten, stehen Schlange für ein Autogramm, kaufen die CD’s des Künstlers auf. Wie jetzt in der Mülheimer Stadthalle.

Yundi als Popstar, als erster und einziger Chinese, der den Warschauer Chopin-Preis gewinnen konnte, als Deuter dreier so berühmter wie beliebter Klaviersonaten Ludwig van Beethovens. Eines Komponisten, dessen Name und Musik bei vielen Asiaten eine Mischung aus Begeisterung, Bewunderung, ja großer Ehrfurcht auslöst. Mehr Anreiz geht kaum.

Volles Haus also bei diesem Konzert des Klavier-Festivals Ruhr. Mit einem Pianisten, dessen Respekt vor dem Feuerkopf Beethoven, vor der so wütenden wie empfindsamen Musik, übermächtig sein muss. Warum sonst sollte der Chinese seinem virtuosen Können nicht recht trauen, sich in mancher Figuration unsicher verheddern, Sangliches allzu brav aufklingen lassen. Es scheint, als schlage des Pianisten Ehrfurcht bisweilen in Furcht um. Er spielt nicht frei, will dann mit Gewalt den Knoten zum Platzen bringen. Ja, Yundi hat es schwer mit Beethoven.

Nehmen wir nur die „Appassionata“: Da werden drohende Bassakkorde teils mit übertriebener Vehemenz ins Instrument gestanzt, werden Legato-Linien plötzlich porös, und virtuoses Losstürmen hat nahezu sportiven Charakter. Kein Wunder, dass Yundi gelegentlich aus der Kurve fliegt. Wie im schnellen Satz der „Mondscheinsonate“: Es erklingt ein Bravourstück, wirkmächtig zwar, aber kaum im Dienste von Beethovens heiligem Furor. Hier erlaubt sich der Solist zudem die große Geste, eine Art körperliches Triumphieren.

Yundi kann anders. Wenn er zur souveränen Kontrolle der Materie findet. Wenn er im „Grave“ der „Pathétique“-Sonate plötzlich durch weit atmende Generalpausen wunderbar Spannung erzeugt, oder ihm im berühmten Mondscheinsonatenthema ruhevolles Gleiten gelingt. So wie er in zwei Chopin-Nocturnes Melancholie zumindest durchschimmern lässt. Doch die Akkuratesse des Pianisten, auch hier Ausdruck von Unfreiheit, zerrt diese Nachtstücke allzu sehr aus ihrer Traumverlorenheit ans Licht.

Yundi, so scheint’s, steht sich selbst im Wege. Er ringt mit der Musik, verkrampft sich im Virtuosen. Ihn ehrt, dass er es vermeidet, mit  Manierismen und Marotten manches zu überspielen. Und doch ist sein Können von Tragik umrankt.

(Der Beitrag ist zuerst in der WAZ Mülheim erschienen.)




Mit saftigem Klang ins Neue Jahr

Neujahrskonzert der Essener Philharmoniker unter Stefan Soltesz

Schüsse in der Philharmonie! Schrecksekunden im Publikum, aber dann Aufatmen: Gefeuert hat nur der Schlagzeuger, passend zu Johann Strauss‘ Schnellpolka „Auf der Jagd“. Bei einem zünftigen Treiben, wie es Stefan Soltesz und die Essener Philharmoniker zu Jahresbeginn entfesselten, da knallt es eben auch einmal. Nicht immer geht’s beim Walzer-Meister so gemütlich zu wie in der „Annen-Polka“. Aber die ist ja auch keiner fröhlichen Jagdgesellschaft gewidmet, sondern der Kaiserin Maria Anna Carolina Pia von Savoyen, Gattin Kaiser Ferdinands I. Bei solchen allerhöchsten Herrschaften zügelt auch der Essener Generalmusikdirektor, selbst ein waschechtes k.u.k.-Kind, sein Temperament.

Bei Franz von Suppé hat er das nicht nötig: Der komponierende Edelmann aus Dalmatien hat zu seinen leider vergessenen Operetten schwungvolle Ouvertüren geschaffen. Diejenige zu „Leichte Kavallerie“ trumpft mit einem frisch-flotten Bläsersignal auf, kennt aber auch den „ungarischen“, dunkel-schweren Streicherklang: eine Mischung, bei der Soltesz dem Orchester saftige Klänge entlockt.

Ein Signal bildet auch den Kern einer anderen Komposition eines Wahl-Wieners: Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nummer drei eröffnete das Konzert – und Soltesz ließ das Thema aus einem lyrischen Grundimpuls heraus erblühen, animierte seine Streicher zu wundervoll anschwellenden Crescendi, als wolle Beethoven seinem Zeitgenossen Rossini Konkurrenz machen. Es geht eben nicht ohne Beethoven zum Jahreswechsel …

Ein Moment des Innehaltens sollte zur Neujahrs-Fröhlichkeit dazugehören. Die Philharmoniker bauten dafür Edvard Griegs a-Moll-Klavierkonzert in ihr Programm ein. Boris Giltburg, 27-jähriger russisch-israelischer Debütant, gab dem träumerischen Mittelsatz viel Delikatesse, lockere Phrasierung und milde Pastellfarben im Anschlag mit. Giltburg hat schon bei seinem Debut in der Region beim Klavier-Festival Ruhr 2011 in Dortmund Eindruck hinterlassen und konnte schon 2006 als 21-Jähriger ein CD bei EMI veröffentlichen. Auf der neuesten Box der Edition Klavier-Festival Ruhr ist ein Ausschnitt aus diesem Konzert veröffentlich: Giltburg spielt Franz Liszts „Leggierezza“.

Wer am Fernsehen das Silvesterkonzert aus Berlin mit Jewgenij Kissin und Griegs Konzert mitverfolgt hat, wird bestätigen: Giltburg fehlen noch ein paar raffinierte Farben, aber seine Darstellung muss sich vor Kissins reifer Deutung nicht verstecken.

In Gershwins „Rhapsody in Blue“ verbannt er den Swing in schnellen Passagen zugunsten selbstbewusster Virtuosität etwas in den Hintergrund, ließ sich aber in tänzerischen und gesanglichen Momenten auf das elastische Spiel mit den Notenwerten ein. Soltesz und die Philharmoniker traten „unter Donner und Blitz“ ab, nicht ohne dem unverwüstlichen, dem Feldmarschall Radetzky gewidmeten Mitklatsch-Klassiker schmetternde Reverenz erwiesen zu haben.




Anti-Ideal zur höheren Geigen-Tochter: Patricia Kopatchinskaja und Fazil Say in Essen

Patricia Kopatchinskaja Photo: Marco Borggreve

Patricia Kopatchinskaja Photo: Marco Borggreve

An Patricia Kopatchinskaja scheiden sich die Geister. Die moldawische Geigerin pflegt einen radikalen Stil. Ihr Spiel geht an die Grenzen, die intensiven Ausdruck von schierer Brutalität scheiden. Die Kritik sagt ihr nach, den „Schmutz“ in der Musik zu lieben – das Geräuschhafte, den bis zur Schmerzgrenze aufgerauten Ton. Die sie mögen, bewundern ihre unbedingte Wahrhaftigkeit, ihre kompromisslose Ausdruckssuche. Die sie ablehnen, kritisieren an ihr ungenierten Subjektivismus, gepaart mit dem Abschied von jeder traditionellen Ästhetik.

Nach dem bemerkenswerten Konzert in der Philharmonie in Essen lässt sich feststellen: Beide Sichtweisen haben gute Gründe. Aber: Was ist dann von der geigenden „Wildsau“ – wie sie sich selbst einmal bezeichnet hat – zu halten? Steht sie für den Auswuchs eines nach immer exaltierteren Novitäten gierenden Kunstbetriebs, in dem nur Aufmerksamkeit erzielt, was schräg, extrem und unerhört ist? Oder für einen kompromissloser Zugang zu Musik, die sich allzu leicht ins Ohr schmeichelt, weil ihre ursprünglichen Ausdrucks-Intentionen nicht mehr wahrgenommen werden?

Schon vor gut zwei Jahren hat die moldawische Geigerin gemeinsam mit ihrem Klavierpartner Fazil Say auf einer beim Label naїve erschienenen Disc demonstriert, dass sie von Beethoven und Ravel Politur und Perfektion abkratzt. Wer sich gelegentlich mal ins Konzerthaus Dortmund aufmacht, konnte dort schon 2006/2007 die Kopatchinskaja als „junge Wilde“ bestaunen. Ein Ruf, der ihr von einigen Musikkritikern auch willig vorausposaunt wird.

In Essen waren die Reaktionen im beachtlich gefüllten Parkett des Alfried-Krupp-Saales meist enthusiastisch, teils auch reserviert. Sie spiegeln getreu, wie die so gar nicht dem Ideal der geigenden höheren Töchter entsprechende Musikerin wahrgenommen wird. Nach dem ersten Satz von Schuberts a-Moll-Sonate dürfte klar gewesen sein: Es geht Say und Kopatchinskaja nicht um die Show. Auch nicht um den „Schmutz“ in der Musik. Sondern darum, eine Musik zu vergegenwärtigen, deren Tiefe sich heute in der Masse des Gehörten zu eben jener gepflegten Glätte nivelliert hat, mit der sie als erschütterungsloses akustisches Dessert niemanden verstört. Die nicht mehr aus der Ruhe bringt, es sei denn, es verspielt sich jemand.

Dieses gegenwärtig Setzen geschieht schon in den ersten Perioden: Say entwickelt die weichen Linien des Klavierparts aus dem Nichts. Die Geigerin fährt mit dem eröffnenden Vier-Ton-Motiv unwirsch in die Idylle. Aber im Nachsatz zieht sie sich wie erschrocken ins Träumerische zurück. Ein paar Sekunden machen klar, aus welchen Extremen Schuberts Stück besteht. Say spinnt in seinem ersten Solo den Gegensatz aus: Er lässt ein schwärmerisches Legato fließen, das für sich genommen reinster Kitsch wäre – würde nicht seine Geigenpartnerin die ätherische Schönheit mit dem erneuten Einwurf des verstörenden Anfangsmotivs als Illusion entlarven.

Patricia Kopatchinskaja gibt aber nicht die Hexe vom Dienst: Auch sie kennt die traumverlorenen Arielstöne, veredelt mit feinstem Vibrato. Auch sie kennt den „heiligen Gesang“ des zweiten Satzes, die sanfte Steigerung ins Hymnische, an die sich Fazil Say schüchtern herantastet. Aber sie kennt auch das heftige Temperament zu Lasten der makellosen Politur des Tons.

Bei Beethovens „Frühlingssonate“ hört man, was ein exponiertes Sforzato eigentlich ist. Die Musik drängt im Kopfsatz geradezu verzweifelt vorwärts, als sei ihr ein Dämon auf den Fersen. Kopatchinskaja lässt die Skalen blitzen, Say die Bässe dröhnen – aber man findet schwerlich einen Moment, der sich aus lauter Selbstgefälligkeit gegen die Musik richten würde. In den ruhevollen Kantilenen des „Adagio molto espressivo“ schnurrt der Tiger: Bei allem Furor ist Kopatchinskaja zur erfüllten Sanglichkeit fähig.

Das Programm ist sinnig zusammengestellt: Verbinden sich Beethoven und Schubert durch ihre Suche nach expressiver Erweiterung der Formmodelle, teilen Brahms‘ d-Moll-Sonate und Ravels „Tzigane“ die Idee des „Zigeunerischen“. Brahms‘ Allegro verschwimmt unter Fazil Says Händen in einem zu weichen Wattebett, aber nach der Exposition toben sich die beiden Musiker in erregter Passion aus: Doch selbst wenn Kopatchinskaja den Zusammenhalt der Phrasierung in Frage stellt, bleibt der Eindruck, hier gehe es einer Künstlerin um den unbedingten, selbst im gewagtesten Risiko verantworteten Ausdruck. Man kann diesen Kopfsatz ganz anders auffassen, schwerlich aber authentischer und persönlicher.

Das Adagio stellt in der Musizierhaltung die Rückbindung zu Schubert her: Die Geigerin spinnt hinreißend weite, doch mit Spannung erfüllte Phrasen aus. Im dritten Satz lässt sie hören, wie sie die Töne „reißen“ kann, doch nie überschreitet Kopatchinskaja die Grenze, jenseits derer der Kunst-Charakter des Klangs an die bloße Sensation des Geräuschhaften verraten würde. Und der Beginn von Ravels „Tzigane, rapsodie de concert“ ist wie ein ferner, rauchiger Reflex auf die Folklore, die der Komponist im Ohr gehabt haben mag, als er sich von der Geigerin Jelly d’Arányi und ihren ungarischen Weisen anregen ließ.

Es sind die Aspekte des Gebrochenen, nicht die Imitation des Folkloristischen, die Say und Kopatchinskaja interessieren – bis hin zur furiosen Steigerung und zum gespenstischen Klang-Irrlicht. Dass die beiden Musiker als Zugabe einen rumänischen Tanz Béla Bartóks wählen, steht in der Linie des Programms. Dass Kopatchinskaja in Jorge Sanchez-Chiongs „Crin“ (1996) mit ihrer Geige „schimpft“, amüsiert das Publikum. Und die Lacher haben beide auch mit der überraschenden Bearbeitung von „Für Elise“ von Fazil Say auf ihrer Seite.

Fazit des Konzerts: Der Anspruch der Kunst wird nie aufgegeben zugunsten einer exaltierten Selbstdarstellung. So riskant, so glühend, so entfesselt die beiden auch spielen mögen: Hinter jeder Note steht die Demut vor dem Werk. Ein bedeutendes Konzert, das hörbar macht, wie aufregend gegenwärtig Musik sein kann, wenn man sie aus der wohligen Sphäre berührungslosen Genusses befreit.

Patricia Kopatchinskaja ist in der Region wieder zu erleben: Am 11. November spielt sie im Konzerthaus Dortmund mit dem Philharmonia Orchestra London das Violinkonzert von Esa-Pekka Salonen. Am 29., 30. und 31. Januar ist sie in Köln zu Gast und spielt mit dem Gürzenich-Orchester unter Ulf Schirmer Mozarts D-Dur-Violinkonzert. Nach Essen kommt sie wieder ab 31. Mai zu einer Meisterklasse mit Sol Gabetta (Cello) und Henri Sigfridsson (Klavier). Die drei spielen am 2. Juni 2012 in der Philharmonie Klaviertrios. Mehr auf der offiziellen Webpage der Geigerin: http://www.patkop.ch/




Eine Studentin berichtigt Beethoven – im Kinofilm „Klang der Stille“

Genies zeigt man im Kino gern so: allzeit wirr, unwirsch, nicht alltagstauglich, in einsamer Eiseskälte das Unbedingte anstrebend. Erst recht, wenn es um einen wie Ludwig van Beethoven geht. Im neuen Film „Klang der Stille“ ist’s nicht anders.

Der späte Beethoven (Ed Harris) wütet wie ein Berserker gegen die Wiener Mitwelt, die nach seinem gottähnlichen Ratschluss von Musik keine Ahnung hat. Der Junggeselle haust in einer Chaos-Bude, Rattenplage inbegriffen. In diesem Siff vollendet der Meister gerade seine „Neunte“ und das letzte Streichquartett, dessen Tonsprünge das Fassungsvermögen seiner Zeit überfordern.

Die genialisch hingekrakelten Noten müssen für die spielbare Partitur säuberlich abgeschrieben werden. Keinem traut Beethoven das zu – bis die zarte Kompositions-Studentin Anna Holtz (Diane Kruger) auftaucht. Sie wagt es gleich beim ersten Kopierversuch, eine seiner Notenfolgen zu „berichtigen“, denn er habe das doch gewiss anders gemeint, als es da steht . . .

Beethoven schluckt seinen Zorn herunter, denn er sieht ein: Dieses Elfenwesen kennt seine Werke und ist wirklich recht begabt. Also darf sie ihm Tag für Tag dienlich sein. Sie erblüht im Abglanz des Tonschöpfers – und entfernt sich innerlich von ihrem heimlichen Liebhaber, einem Architekten, der (wie Beethoven wettert) nur „seelenlose“ Brücken entwirft.

Jetzt die frauenbewegte Seite des Films: Beethoven ist als Mann in seiner Epoche befangen. Deshalb muss er sich weibliche Konkurrenz vom Halse halten. Beispielsweise, indem er sie schockiert. Ungeniert zeigt er Anna seinen blanken Hintern, um das Wort „Mondscheinsonate“ zu illustrieren. Und als sie ihm scheu ihre eigenen Kompositionsversuche zeigt, verhöhnt er sie dröhnend. Natürlich will uns die Regisseurin bedeuten, dass eine Frau gegen derlei Widerstände ihren Traum verwirklichen soll. Jaja, ist schon korrekt.

Wie man weiß, war der Meister damals schon fast völlig taub. In diesem Film wirkt es freilich nicht existenziell, sondern eher anekdotisch. Wie denn überhaupt die Grenze zum Geschmäcklerischen öfter gestreift wird. Regisseurin Agnieszka Holland hat einen Hang zu weichgespülten Genrebildern, die der extremen Hauptperson gerade nicht entsprechen.

Ed Harris muss derlei Defizite durch forcierte Darstellung wettmachen. Augenrollend herrscht er alle an, die ihm nicht zum genialen Willen sind. Im Widerspiel mit Anna Holtz wird daraus eine bewährte Rollenverteilung: die Schöne und das Biest.

Immerhin hat der Film auch ein paar große Momente. Sie fließen vor allem aus der grandiosen Musik. Davon inspiriert, findet Agnieszka Holland auch schon mal zu bewegenden Sequenzen. Wenn Anna Holtz die Uraufführung der „Neunten“ rettet, indem sie dem tauben Beethoven vordirigiert, wirkt die gestische Zwiesprache im verzückten Wogen der Töne wie eine geschlechtliche Vereinigung der beiden. Für derlei Lebenslagen gibts eben nicht nur Ravels „Bolero“.




Die Suchmaschine bringt es an den Tag: Durch ein paar Mausklicks kulturelle Streitfragen klären

Von Bernd Berke

Ganz entspannt im Hier und Jetzt wollen wir mal ein paar uralte Kultur-Streitfragen klären. Internet-Suchmaschinen wie etwa Google machen’s möglich. Man gibt den Namen in die Suchmaske ein, und schon weiß man, wie oft er im Netz vorkommt.

Frage eins, von ergrauten Rockfans seit Jahrzehnten diskutiert: Wer ist bedeutender, die Beatles oder die Stones? Also, bitte sehr, kein Problem, das haben wir gleich: Die „Fab Four“ sind mit imponierenden 10,1 Millionen Internet-Fundstellen verzeichnet, die Rolling Stones gerade mal mit der Hälfte: 5,12 Millionen. Und das, obwohl die englische Wort-Kombination für „rollende Steine“ auch anderweitig vorkommen könnte, so vielleicht auf alpinistischen Seiten. Egal. Die Entscheidung ist gefallen.

Zusätzliche Labsal für Beatles-Anhänger: In der Einzelwertung liegt John Lennon (2,1 Mio.) auch noch deutlich vor Mick Jagger (535 000). Yeah, yeah, yeah!

Mozart liegt nur knapp vor Beethoven

Erheblich knapper wird es schon im Bereich der klassischen Musik. Mozart ist in den Weiten und Tiefen des Netzes 6,83 Millionen Mal zu finden, Beethoven kommt auf 5,68 Millionen. Pech. Da hat ihm – bei allem Respekt – auch sein „Ta-ta-ta-taaa“ nichts genützt.

Beim Klicken wachsen (je nach Neigung) das sportliche Vergnügen oder die Lust an der Lotterie (obwohl es hier keinen Jackpot gibt). Also schnell weiter mit zwei Malern: Rembrandt (2,05 Mio.) triumphiert über Michelangelo (1,88 Mio.). Ha! Picasso haben wir übrigens bewusst ausgelassen, denn da kriegen wir alle einschlägigen Parfümsorten oder Automodelle mit auf die Rechnung.

Und wie sieht es bei den großen Dichtern aus? Nun, hier heißt der Champion zweifellos Shakespeare: Schier unglaubliche 12,6 Millionen Nennungen entfallen auf seinen wahrlich berühmten Nachnamen. Dante (5,31 Millionen) und Goethe (3,81Mio.) wirken damit verglichen wie Newcomer.

Apropos neu, und hier wird’s erstaunlich: Bei den deutschen Schauspielern ist der Jungspund Daniel Brühl (236 000) dem Haudegen Götz George (246 000) bereits ganz dicht auf den Fernsen. Wie das wohl zustande kommt? Vielleicht hat die gar nicht so unfehlbare Suchmaschine ja den Stadtnamen Brühl (bei Köln) gelegentlich mitgezählt.mitgezählt, wenn denn auch irgend ein Herr namens Daniel auf der jeweiligen Homepage erscheint.

Wenn Thomas Mann gegen Brecht antritt

Auch kulturhistorische Konfrontationen lassen sich auf diese rabiate Weise nachbereiten. Bert Brecht und Thomas Mann mochten einander bekanntlich nie leiden. Den Ziffernsieg über den Edel-Proletarier trägt nun der großbürgerliche Mann davon: 4,82 Millionen (wobei vielleicht einige Zeitgenossen denselben, wohl nicht gar so seltenen Namen tragen).

Bertolt Brecht kommt unterdessen auf schlappe 640 000. Selbst wenn man die Lesart Bert Brecht (119 000) und die (oft verwendete, aber falsche!) Schreibweise Bertold Brecht (141 000) mitzählt, reicht es hinten und vorne nicht.

Muss man wirklich eigens betonen, dass dieses Verfahren völlig kulturfern, ja geradezu barbarisch ist? Und dass die genannten Zahlen schon heute nicht mehr genau stimmen, weil das Internet sich als höchst veränderlicher „Organismus“ erweist? Muss man nicht, oder? Schließlich entscheidet in kulturellen Fragen nicht allein die „Quote“.

Aber Spaß hat’s eben doch gemacht. Und nun schauen wir uns mal eben die 12,6 Millionen Shakespeare-Fundstellen genauer an. Tschüs denn, bis in ungefähr 500 Jahren…