Mit Brahms in den Kosmos der Liebe: Magdalena Kožená in der Philharmonie Essen

Die Liebe, die von Johannes Brahms besungen wird, ist selten so jauchzend-berauscht wie in „Meine Liebe ist grün“. Oft hängt sie einer still schmerzlichen Sehnsucht nach, beschwört verzweifelt Festigkeit und Ewigkeit, schwimmt ratlos in Tränen. Wer also Brahms‘ Liebeslieder singt, wird sich dieser Ambivalenz stellen müssen – im Wort und im Klang der Stimme.

Magdalena Kožená hat für ihren Liederabend in der Essener Philharmonie vierzehn der gewichtigen Miniaturen zusammengestellt, die ein Spektrum der Liebe auffächern – Widerhall des Schwärmens in der Natur („Nachtigall“), resignierte Trostlosigkeit („Verzagen“), Ahnungsvolles und Geisterhaftes („Meerfahrt“), Sehnsuchtsvolles und auch ein wenig Schnippisches („Vergebliches Ständchen“). Diesen Kosmos durchschreitet sie mit kühlem Ton. Sie spielt kaum mit dem Wort, meidet es, Schlüsselbegriffe tonmalerisch hervorzuheben, trägt lyrische Farben nur sehr verhalten auf.

Aber sie spielt die Vorzüge ihres Mezzo aus, der von Natur aus nicht für Glut und Farbe zu haben ist, wohl aber in der Dynamik sich wandlungsfähig und flexibel erweist. Verhalten schimmerndes Piano führt über leider manchmal matte Zwischenstufen zu einer konzentriert fokussierten, aber nicht immer frei strömenden vollen Stimme.

Kožená trifft in Joseph von Eichendorffs „Anklänge“ den ruhig enthobenen Ton, korrespondiert auch in „Der Schmied“ (Ludwig Uhland) mit dem Klavier im malerischen Rhythmus. Aber ob das „Vergebliche Ständchen“ nur neckisch oder eigentlich grausam ist, vermag sie nicht zu klären. Dazu bleiben die Stimmfarben zu neutral. In „Von ewiger Liebe“ fehlt der selbstbewussten Zuversicht des Mägdeleins die Spur eines Beharrens, das der unterbewusst mitschwingenden Gefährdung die trotziges Behauptung der Liebe entgegensetzt: So dürfte „Unsere Liebe muss ewig bestehn!“ nicht nur schwärmerisch, sondern auch eine Spur verunsichert klingen.

Viel beredter gelingen Magdalena Kožená die „Kinderstuben“-Lieder Modest Mussorgskys, die gleich nach der Uraufführung 1960 verbotenen fünf Satiren op. 109 Dmitri Schostakowitschs und die veredelte Folklore der „Dorfszenen“ Béla Bartóks. Die kindlichen Dialoge mit der „Njanjuschka“ verniedlicht sie nicht, aber gibt ihnen einen charakteristischen Tonfall – ob es das weinerliche, verschmitzt argumentierende Kind oder die zeternde Njanja („V uglu“), das Entsetzen über den großen Käfer oder das vielsagend artikulierte Abendgebet ist. Auch bei Schostakowitsch spürt man den überlegten Umgang mit dem Wort, die Ironie („Kreutzer-Sonate“) und den augenzwinkernden Abstand zwischen Fiktion und Realität, der zu einer komischen Katastrophe führt („Missverständnis“).

Koženás Klavierpartner Yefim Bronfman lässt in nahezu jedem Moment spüren, wie tief er in die Musik eintaucht: Bei Brahms bringt er die Farben zum Leuchten, die man bei der Sängerin vermisst. So erzählen die letzten Töne von „Nachtigall“ von anklingender Wehmut, legt das dunkle Register in „Von ewiger Liebe“ einen Schleier des Zweifels aus, beschwört das Klavier das Visionäre in der „Meerfahrt“.

Mussorgsky beleuchtet Bronfman delikat und idiomatisch vielfältig. Bartóks kunstvolle Begleitungen spielt er, als seien sie selbständige Klavierstücke. Doch da liegt auch ein Problem: In den Brahms-Liedern konzentriert sich Bronfman bisweilen zu selbstverliebt auf seinen Part und vergisst, mit der Sängerin zu atmen. Bei Schostakowitsch trifft er sich mit Kožená kongenial beim Ausleuchten des Hintersinns, und in Béla Bartóks holt er frisch und farbenverliebt die berückenden Melodien aus der Folkloristik in den Himmel großer Kunst. Wenn’s so weitergeht, verspricht die Kammermusik in der anbrechenden Saison der Philharmonie noch viele anregende Abende.

Am 10. September erscheint beim Label Pentatone eine CD mit Liedern von Brahms, Mussorgsky und Bartók mit Magdalena Kožená und Yefim Bronfman. Das Album ist auch über Streamingdienste abrufbar.




Noble Gemessenheit: Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra in Dortmund

Ein Leben lang mit Mozart vertraut: Mitsuko Uchida. Foto: Richard Avedon

Ein Leben lang mit Mozart vertraut: Mitsuko Uchida. Foto: Richard Avedon

Mitsuko Uchida in Deutschland zu erleben, ist ein exklusives Vergnügen: Eben von einer Tournee aus Japan zurück, konzertierte die Wiener Pianistin mit japanischer Herkunft und Londoner Wohnsitz mit dem Mahler Chamber Orchestra zwei Mal – in Berlin und im Konzerthaus Dortmund.

Im Januar 2017 gibt es Auftritte in Hamburg, München, Frankfurt, im Februar in der neuen Elbphilharmonie – und im Frühsommer im Ruhrgebiet, wenn Mitsuko Uchida ihr Versprechen einlöst, das wegen Krankheit ausgefallene Konzert beim Klavier-Festival Ruhr 2016 im kommenden Jahr nachzuholen.

In Dortmund präsentierte sich die Pianistin mit einem Komponisten, der wie kaum ein anderer die 35 Jahre ihrer internationalen Karriere prägt: Sie dirigierte und spielte die beiden Klavierkonzerte KV 453 und KV 503 von Wolfgang Amadeus Mozart, die sie jüngst mit dem Cleveland Orchestra auch für die CD aufgenommen hat. Ein Programm, das zeigt, wie intensiv sich die Künstlerin ein Leben lang mit Mozart auseinandergesetzt hat – nicht nur mit dem Werk für Klavier, sondern zum Beispiel auch mit den Opern, die sie sich studierend angeeignet hat. So ist ihr das „Sprechende“ in Mozarts absoluter Musik ebenso vertraut, wie sie das „Absolute“ in seiner Bühnenmusik wiedergefunden haben dürfte.

In ihrem aktuellen Mozart-Spiel bleibt Mitsuko Uchida, betrachtet man es im Spannungsfeld zwischen diesen Polen, eher auf der Seite des „Absoluten“. Rhetorische Überraschungsmomente, humorvolle Zuspitzungen, der Aufbau drängender Spannung sind ihre Sache nicht. Auch flottes Tempo und energischer Drive, mit denen ein Modedirigent wie Teodor Currentzis gerade seine Gemeinde entzückt, fallen bei ihr nicht ins Gewicht. Uchidas Mozart ist einer der noblen Gemessenheit, der lichtvollen Balance, der Vertiefung ins Detail wie in den großen Atem.

Der Weg zur Verinnerlichung öffnet sich

Dabei gäbe ein Konzert wie das in G-Dur die Gelegenheit, opernhafte Rhetorik auszuspielen, mit Chromatik, Moll-Trübungen, arios ausschweifenden und rhythmisch strikten Momenten zu jonglieren. Im ersten Satz lässt Uchida das Orchester den starren Marschrhythmus betonen, dem sich das Soloinstrument erst einmal unterwirft, bis es sich in aparten Verzierungen und melodischer Selbständigkeit emanzipiert. Frisch und offen bleibt der Ton, kein Grübeln verschattet diesen Einstieg.

Erst das ausdrucksvolle Andante öffnet den Weg zur Verinnerlichung: Sehr weit geatmet, elegisch in der Haltung, von ätherischen Holzbläsern flankiert, vertieft sich Mitsuko Uchida in die Kantilenen, spielt so selbstvergessen, als stünde ein Romantiker wie John Field neben ihr. Das Mahler Chamber Orchestra wirkt hin und wieder unentschieden, als seien sich die Musiker über das Tempo nicht sicher; entsprechend vorsichtig klingt die Phrasierung. Hat sich die Pianistin da in Träumerei verloren? Der Finalsatz baut zunächst keinen Kontrast auf, wirkt wie ein gemüthaftes Tänzchen für ältere Herrschaften, ohne das „Feuer“ des dreißigjährigen Mozart. Uchida scheint Empfindung zu fordern, erreicht erst im Presto eine durch Noblesse gedämpfte Energie.

Der Weg zur Beethoven zeichnet sich ab

Auch das C-Dur Konzert (KV 503) kommt in der Haltung eher bedächtig daher. Unverkennbar soll die pompöse Eröffnung auf Beethoven vorausweisen; Die Pianistin bildet mit ihrem gebremsten, fast schon trocken-brillantem Spiel einen reizvollen Kontrast zu dem ausdrucksgeladenen, symphonisch gedachten Orchester. Aber Mitsuko Uchida wäre nicht die intime Kennerin Mozarts, verfolgte sie nicht einen subtilen Plan. Der offenbart sich spätestens im Andante, wenn sie die expressive Orchestersprache auf den Flügel überträgt, in einer atemberaubend vielschichtigen Phrasierung und mit der Nuancierung einzelner Töne jeden Takt mit Ausdruck gewichtet. Das Finale ist mit vollsaftigen Bläserfarben und dem auftrumpfenden Solopart wieder ein deutlicher Fingerzeig auf den Bonner, der zehn Jahre nach Mozarts Tod zu seiner einzigartigen Wiener Karriere durchbricht.

Was für ein vorzügliches Ensemble das Mahler Chamber Orchestra ist, war in der Region schon häufig zu erfahren. Mit Béla Bartóks Divertimento für Streichorchester bestätigen die Musiker ihren Ruf voll und ganz. Eine innere Übereinstimmung, eine auserlesene Spielkultur, ein souveräner Wille zum Ausdruck – hörbar in jedem Moment einer fabelhaft konzentrierten Interpretation, die das untergründig Lauernde, die verstörenden Verschattungen in dieser scheinbar so unbeschwerten Musik ebenso freilegt wie ihre kraftvolle Dynamik, ihre rhythmische Lebenslust und ihre spritzige Freude an der Farbe. Grandios!




Die Neue Philharmonie Westfalen auf den Spuren der Farbenpracht ungarischer Musik

Guter Einstand: Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Pedro Malinowski/NPW

Rasmus Baumann und die Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Pedro Malinowski/NPW

Der stilisierte Notenschlüssel, gleich einer eilig dahingeworfenen Kritzelei, ist so etwas wie ein Markenzeichen der Neuen Philharmonie Westfalen (NPW). Symbolisch steht er vor allem für Dynamik.

Das dürfte ganz im Sinne von Rasmus Baumann sein, Chefdirigent des Orchesters. Denn sein Stil auf dem Podium ist von viel Elan geprägt. Mag ihm auch das große Charisma fehlen, versteht er es doch, Freude an der Musik zu vermitteln. Darüberhinaus aber scheint das gemeinsame Spiel eine Frage von Genauigkeit, Strukturbewusstsein, mithin von gehöriger Konzentration zu sein.

Neun Sinfoniekonzerte bestreitet das Orchester in dieser Spielzeit, sieben davon dirigiert Baumann selbst. Diese Präsenz, diese Kontinuität ist von eminenter Bedeutung. Gilt es doch, einen Klangkörper zu formen, dessen Qualität sich mit anderen Formationen der Region messen kann. Die NPW scheint dabei auf einem guten Weg. Manche Entwicklung ist überaus achtbar.

Das zu erleben, hat nun das 6. Sinfoniekonzert alle Gelegenheit geboten. Das Programm mit Musik ungarischer Komponisten ist nämlich bestens dazu geeignet, in Klängen zu schwelgen, solistisch zu glänzen, oder rhythmische Kraft zu entwickeln. Wie etwa in Zoltán Kodálys „Tänze aus Galánta“. Hier paaren sich Schwermut und ungebremste Lebensfreude. Hier besticht das homogene, süffig-leidenschaftliche Spiel der Streicher ebenso wie das melancholische Klarinettensolo. Dank Baumanns exakten Dirigats gelingen die Tempowechsel, spielt das Orchester rhythmisch überwiegend à point.

Partituren sind für Rasmus Baumann sein "wichtigster Reichtum". Foto: NPW

Ein Mann mit Herz für Partituren: Rasmus Baumann, Dirigent. Foto: NPW

Problematisch aber bleibt, dass Dirigent und Orchester offenbar viel in Struktur denken, in klarer Gliederung, und so holzschnittartiges Musizieren nicht immer vermeiden können.

Die Präsenz mancher Instrumente geht zudem einher mit der Blässe anderer. Evident wird dies in Béla Bartóks „Konzert für Orchester“. Denn hier wird, in Anlehnung an das barocke „Concerto grosso“-Prinzip, das Zusammenspiel verschiedener Instrumente oder Instrumentengruppen zwar plastisch herausgeschält, doch die Fallhöhe des Werks an sich, die große Idee, bleiben unterbelichtet.

Baumann lässt kontrolliert musizieren, zu Lasten interpretatorischer Spontaneität. Der grell parodistische Einwurf im „Intermezzo interrotto“ etwa wirkt allzu handzahm. Die düstere „Blaubart“-Atmosphäre des 3. Satzes aber, das unheimliche Flirren, die sich steigernde Emphase illustrieren gehörige Dramatik. Bartók, mit allem Herzblut ein Ungar, krank und unglücklich im amerikanischen Exil, spiegelt mit diesem Konzert eben auch seine Seele. Dies allerdings vermittelt die Neue Philharmonie Westfalen nur bedingt.

Besser aufgestellt ist das Orchester indes, wenn es um die Deutung von Franz Liszts 2. Klavierkonzert geht. Glanz und Heroik bestimmen das Klangbild. Nur schade, das Solist Bernd Glemser ein wenig angestrengt wirkt, um den hochvirtuosen Klavierpart zu meistern. Auch was das Spiel mit Farben angeht, hat das Orchester mehr zu bieten denn der Solist. Glemser spielt souverän, aber etwas statisch – und im übrigen sehr auf den Dirigenten fixiert. So bleibt alles im Gleichgewicht, und der Liszt’sche Brocken wird zur schwer verdaulichen Angelegenheit. Es ist aber, das sei hier kühn behauptet, ohnehin nicht das beste Stück des Komponisten.

 

 




Politik und Seelenpein statt Formspielereien – starker Saisonbeginn in der Philharmonie Essen

Kraftvolle Geste: Mariss Jansons und das BR-Orchester. Foto: Sven Lorenz

Kraftvolle Geste: Mariss Jansons und das BR-Orchester. Foto: Sven Lorenz

Die neue Konzert- und Theatersaison nimmt Fahrt auf. Den Blick nach Essen gerichtet, hat sie geradezu mit einem Kickstart begonnen. Denn dort hat Hein Mulders, als Doppelintendant verantwortlich für den Opern- und Konzertbetrieb, ein aufregendes Ausrufezeichen gesetzt. Mit der Verpflichtung des Bayerischen Rundfunk-Symphonieorchesters und ihres Chefs, des lettischen Dirigenten Mariss Jansons, die in der Philharmonie ein Programm jenseits des routinierten Repertoires präsentieren. Das „Konzert für Orchester“ des Ungarn Béla Bartók und das gleichnamige Werk des Polen Witold Lutoslawski.

Es ist Musik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, doch klingt sie alles andere als avantgardistisch. Beide Komponisten beziehen sich auf traditionelle Formen wie Concerto grosso, Fuge, Toccata oder Passacaglia. Beide haben zudem die folkloristischen Wurzeln ihrer Heimat im Blick. Gleichwohl wirkt manches fremd, weil dissonant zugespitzt, großorchestral wuchtig oder raffiniert perkussiv akzentuiert. Hinzu kommt, und das macht Jansons‘ Lesart deutlich, dass hier Bekenntnismusik verhandelt wird – als Reflexion auf das politische Umfeld der Komponisten. Bei Bartók kommt hinzu: Das aufregende Ausloten seelischer Befindlichkeit.

Denn der Ungar schrieb sein fünfsätziges Werk im ungeliebten New Yorker Exil, krank an Leib und Seele. Weil sein Vaterland im faschistischen Strudel zu versinken drohte. Weil sein Werk in Amerika wenig Aufmerksamkeit fand. Zudem war Bartók von der Leukämie gezeichnet. Das „Konzert für Orchester“, das er 1943 schrieb, war beinahe sein Schwanengesang, vor allem aber das Resumee eines Komponistenlebens.

So wundert es nicht, dass diese Musik die dunkle Schwermut und die gespenstische Unruhe seiner Oper „Herzog Blaubarts Burg“ spiegelt. Jansons und das BR-Orchester zelebrieren diese Düsternis geradezu, in scharfem Kontrast etwa zum Streicherglühen des ersten Satzes. Und es wird alsbald deutlich: Diese Interpretation setzt nicht auf das Mit- und Gegeneinander von Orchestergruppen oder Soli, sondern auf das große Ganze. Dem dunklen Beginn folgt der dramatische Aufschrei, das Scherzo klingt spukhaft und schroff, der langsame Mittelsatz ist ein einziges Weinen und Klagen. Detailversessen und äußerst transparent wird musiziert, und doch verliert sich Jansons nicht in schönen oder aufregenden Stellen. Nur der vierte Satz erklingt als etwas pauschal gehaltenes Intermezzo, abgesehen von der bizarren „Heut geh’ ich ins Maxim“-Parodie. Da hat Bartók der antifaschistische Teufel geritten.

Ein strahlender Dirigent dankt für jubelnden Beifall. Foto: Sven Lorenz

Ein strahlender Dirigent dankt für den jubelnden Beifall des Publikums. Foto: Sven Lorenz

Das Finale schließlich deuten manche als die große optimistische Conclusio, das ganze Werk mithin als ein „Durch Nacht zum Licht“-Geschehen. Wir indes hören mit Jansons eher die musikalische Schilderung eines Molochs namens New York, der Stadt, die niemals schläft (wie von Frank Sinatra besungen). Da klingt Hektik, Aufregung, Turbulenz sowie ein leicht protziges Heldentum und kaum Befriedung durch. So mag es Bartók gefühlt haben.

Der Pole Witold Lutoslawski wiederum, der ganz im Stalinschen Sinne als Formalist gebrandmarkt wurde, war nach dem Krieg zunächst kaum produktiv. Kompositionsaufträge des kommunistischen Regimes lehnte er ab. Das „Konzert für Orchester“, Anfang der 50er Jahre geschrieben, geht auf Initiative des Dirigenten Witold Rowicki zurück. Und es war, in strukturellen Verläufen, Orchestrierung und der Einbeziehung von Volksmelodien, eine Verneigung vor Béla Bartók. In ihm sah Lutoslawski den vielleicht einzigen Komponisten, „der die Beethovensche Höhe des menschlichen Denkens und Fühlens erklommen hat“.

Jansons und das BR-Orchester gehen auch hier weit über die Nachzeichnung barocker Strukturen hinaus. Vielmehr durchzieht das Werk glühende Leidenschaft und im Mittelsatz ein spukhaftes Sommernachtstraumflirren, das indes schnell einer bedrohlichen Eskalation weichen muss. Um sich am Ende mit einem schrägen Dies-irae-Anklang zu vermischen. Folgt ein düsterer, explosiver, auch bedrohlich  schwirrender Finalsatz. Alles mit Verve und großer Vitalität dirigiert. Allenthalben Jubel.




Herkules oder Sisyphos – Hein Mulders stellt sein erstes Philharmonieprogramm vor

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Hein Mulders, neuer Intendant der Essener Philharmonie und der Aalto-Oper. Foto: Philharmonie Essen

Der Held ist noch etwas müde. Langsam nur schwingt er sich auf, um mehr und mehr im Glanz zu erstrahlen. Es ist ein satt orchestrales Leuchten, das uns über Lautsprecher geboten wird, Richard Strauss’ sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“, als Introduktion zur Präsentation des neuen Philharmonie-Programms in Essen. Und wer mag, darf sich die Frage stellen, inwieweit der neue „Superintendant“ der Stadt, der Niederländer Hein Mulders, ein Held ist angesichts der gewaltigen Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Jedenfalls ist es in NRW einmalig, dass der Chef der Philharmonie zugleich die Oper, hier das Essener Aalto-Theater, führt. Vergleichbares würden Dortmund, Düsseldorf oder Köln wohl weit von sich weisen. Mulders aber will den Kraftakt wagen, mit der Zeit wird sich dann herausstellen, ob er als tatkräftiger Herkules oder als stressgeplagter Sisyphos gelten darf. Eines jedoch scheint schon jetzt festzustehen: Der neue Mann will in seiner ersten Saison, der Spielzeit 2013/14, wenn die Philharmonie zehn Jahre alt wird, klotzen und nicht kleckern.

Denn mit avisierten 130 konzertanten Eigenveranstaltungen legt Mulders im Vergleich zu seinem Vorgänger Johannes Bultmann noch eine ordentliche Schüppe drauf, einem Plus von etwa 25 Prozent entsprechend. Zehn thematische Reihen enthält das neue Programm, zwischen 14 Abos kann das geneigte Publikum wählen. Gleichwohl gilt, dass auch der „Superintendant“ das Rad des Musikbetriebs nicht neu erfinden kann. Gutes bleibt, etwa die höchst erfolgreiche Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“, anderes wird erweitert – wie das sehr avancierte Neue-Musik-Projekt „NOW!“, das sich in der neuen Saison dem Phänomen des Klangs im Raum widmet.

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Keine Spielzeit ohne „Stars“. Ein Konzerthaus muss Namen bieten, um das Publikum zu locken. Und damit wird in Essen wahrlich nicht gegeizt: Nehmen wir nur die neue Residenzkünstlerin, die Sopranistin Anja Harteros. Oder berühmte Dirigenten wie Riccardo Muti, der mit dem Chicago Symphony Orchestra gastiert, Lorin Maazel, der die Münchner Philharmoniker leitet, nicht zuletzt Valery Gergiev und das London Symphony Orchestra. Eröffnet wird die Saison 13/14 übrigens mit dem Gespann Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Am 5. September 2013 erklingen dann zwei Schlüsselwerke der klassischen Moderne – Bartóks Konzert für Orchester und Lutoslawskis gleichnamiges Opus.

Im Mittelpunkt aber steht die Programmmusik und mit ihr das Oeuvre Richard Strauss’, dessen 150 Geburtstag im nächsten Jahr ansteht. Dann erklingen diverse Symphonische Dichtungen wie eben auch „Ein Heldenleben“, das kaum zu hörende Festliche Präludium für Orgel und Orchester, zudem Lieder und Opernszenen. Strauss dirigierte im übrigen 1904 zur Eröffnung des Essener Saalbaus seine „Sinfonia domestica“ – ein Werk, das 2014 die Philharmoniker der Stadt mit ihrem neuen Chef, Tomás Netopil, interpretieren werden.

Vieles mehr wäre hier zu nennen: etwa die neuen Formate „Wege zu Bach“, „Piano lectures“ oder „Entertainment“. Doch da sei den Neugierigen die Lektüre des güldenen Spielzeitbüchleins oder das Studium der Internetseiten (www.philharmonie-essen.de) empfohlen. Verwiesen sei zudem auf Hein Mulders zweite Pressekonferenz über die neue Opernspielzeit. Erste Verzahnungen werden gewiss erkennbar sein. Für die Philharmonie aber gilt, dass der „Superintendant“ wohl auch an der Marke von 75.000 Besuchern gemessen wird, die Vorgänger Johannes Bultmann zuletzt erreichen konnte. Wir sind gespannt.




Lisztiana V – Akkurate Analysen am Klavier

Nino Gvetadze

Nino Gvetadze stammt aus Georgien. 1981 in Tiflis geboren, gab die Pianistin schon mit sechs Jahren ihr erstes öffentliches Konzert. Das Studium absolvierte sie am Konservatorium ihrer Heimatstadt, bevor sie in die Niederlande ging. Dort begann sie eine Karriere, die inzwischen eine internationale ist.

Ein „normaler“ Werdegang einer aufstrebenden Virtuosin also. Doch den ganz großen Namen hat sich die Künstlerin noch nicht gemacht. Vielleicht liegt es an ihrem eleganten, ein wenig scheu wirkenden Habitus, der sich deutlich abhebt vom lauten Geschäft, das die Klassik ja auch ist. Hier jedenfalls, mit ihrer nunmehr dritten CD (Orchid Classics/Naxos), erscheint uns Gvetadze auffallend zurückhaltend.

Und dies bei einer Platte, die sich ausschließlich dem Werk Franz Liszts widmet. Da gilt der Pianistin Augenmerk der schroffen, sperrigen 10. Ungarischen Rhapsodie und dem dramatischen Erzählgestus der h-moll-Ballade. Da setzt die Künstlerin zwei sanfte Lied-Transkriptionen („Widmung“ von Schumann und Schuberts „Gretchen am Spinnrad“) vor die große, bedeutungsschwere, virtuose h-moll-Sonate.

Man muss inzwischen nicht mehr viele Worte darüber verlieren, dass der Nachwuchs am Klavier über genügend technisches Können verfügt, ein solch gewichtiges Programm mindestens zu bewältigen. Doch bei Nino Gvetadze ist auffällig, dass sie ihre virtuosen Fähigkeiten geradezu exerziert. „Hört her, ich kann’s“ scheint die Devise zu lauten, und so zelebriert sie noch die kühnsten Figurationen, schafft mithin Interpretationen, die von der ersten bis zur letzten Note genauestens durchdacht sind.

Wo soviel Ordnung in der Formgestaltung herrscht, zerfällt die Rhapsodie in Einzelepisoden. Wo das Grollen der Ballade durch Noblesse gewissermaßen unterwandert wird, sich die Pianistin einer gestrengen technischen Sorgfalt verpflichtet sieht, gleitet alle Dramatik ins Banale ab. Manchmal versöhnt uns Gvetadze mit Klangfarben, die auf Debussy verweisen, doch das Unbehagen bleibt.

Über Liszts h-moll-Sonate hat sich Béla Bartók so differenziert wie kritisch geäußert. Sah Dunkles, Großes, Infernalisches neben Banalem, Süßlichem, sprach von leerem Pomp. Die Interpretation der jungen Georgierin lässt uns dies gut nachvollziehen, was indes bedeutet, dass sie den großen musikalischen Bogen des Werks nicht erfahrbar macht. Knallige oder sentimentale Effekte, bisweilen ein Klang, der im Hall zu ertrinken droht: Der Hörer fühlt sich unangenehm berührt. Gvetadzes akkurat analytischer Zugriff macht aus Liszts faustischem Ringen ein Stück absoluter Musik.




Sturm und Drang – Vilde Frang

Irgendwo weit draußen muss es eine Quelle geben, der von Zeit zu Zeit aparte Fräuleinwunder entspringen, die eine Geige in die Hand nehmen und die Welt mit Musik verzaubern. Sie sind von klein auf im Reich der Töne zuhause, vollbringen Außerordentliches auf ihrem Instrument. Voila, hier also ist Vilde Frang.

Die Norwegerin, zarte 24 Jahre jung, studierte bei Kolja Blacher, und die Namen ihrer Mentoren flößen Ehrfurcht ein: Gidon Kremer, Martha Argerich, Anne-Sophie Mutter. Ein Glückskind betritt die Szene, und hat uns nun zwei CD’s geschenkt. Zeigt keine Angst, sondern greift sich zunächst nahezu grimmig entschlossen große Virtuosen-Brocken: die Violinkonzerte von Sibelius und Prokofiev (Nr.1).

Wie schnell fliegen da die Finger, wie präzise, wie zwingend ist ihre Gestaltungskraft. Süchtig aber macht ihr Ton, der fahl verhangen schimmert oder strahlend glänzt. Der schneidend-attackierend oder uns ganz schroff ans Ohr kommt. Gerade richtig für die kühne, wilde, satt-lyrische Musik eines Sibelius. Und dann erst die Fratzenhaftigkeit in Prokofievs Scherzo: Ein Spuk ist das, eine böse, garstige Narretei. Vilde Frang liebt kernige Akzente, zuckt aber (noch) zurück vor Schwebendem, etwa vor der finalen Entrückung des letzten Satzes. Eine junge Frau agiert im Geiste des Sturm und Drang. Schade nur, dass das WDR Sinfonieorchester Köln unter Thomas Søndergård teils brav und klanglich wenig präsent dieses Bild trübt.

Grieg, Bartók, Strauss – es ist nicht gerade die gängige Violinsonaten-Literatur, die sich die junge norwegische Geigerin Vilde Frang für ihre Kammermusik-CD ausgesucht hat. Doch ihres Mottos getreu, im unerschöpflichen Fundus klassischer Musik stets neues zu entdecken, bleibt uns das gängige Repertoire eines Beethoven, Schumann oder Franck verwehrt. Macht aber nichts: Das Hineinhören ins Frangsche Raritätenkabinett öffnet Horizonte – was gleichermaßen für drei außergewöhnliche Werke wie auch für das Spiel der Künstlerin gilt, ihren kongenialen Partner und Mitgestalter am Klavier, Michail Lifits, selbstredend eingeschlossen.

Griegs 1. Violinsonate mag in ihrem romantischen Gestus an Schubert erinnern, doch der bisweilen fahle, schneidig folkloristische, auch melancholische Ton kann das Nordische nicht verleugnen. Faszinierend wiederum zu hören, wie Vilde Frang zwischen verhangenem und strahlend jubilierendem Klang zu wechseln weiß. Saubere Technik und kristalline Intonation tun ein übriges. Weit mehr aber berührt, ja erschüttert ihre Deutung der Bartókschen Solosonate, ein Jahr vor seinem Tod komponiert. Schroff, brüchig, zerklüftet kommt die Musik daher – technisch höchst komplex. Frang schafft es mit ihrem analytischen Zugriff, diesen Schwanengesang in höchster Expressivität zu vermitteln. Zwischen Melancholie, Schmerz und Raserei irrlichtern Figurationen und Klänge, wie unter Atemnot herausgepresst.

Richard Strauss‘ jugendliche, frische Sonate ist herber, verwirrender Kontrast. Wunderbar hell funkelt die Geige, zudem in allerlei Schattierungen kann das Instrument klingen. Und das Aufblitzen eines kecken Konversationstons im Finale zeigt, wie auch Michail Lifits aller technischen Raffinesse gewachsen ist.

Die beiden CD’s sind bei EMI Music erschienen.

 

Der Text war in veränderter Form auch in der WAZ zu lesen.