Wenn alle Fassaden einstürzen: Yasmina Rezas „Bella Figura“ bei den Ruhrfestspielen

Nina Hoss als labile Andrea. Foto: Arno Declair

Nina Hoss als labile Andrea. Foto: Arno Declair

Und wieder hat sie es geschafft, uns mit nur wenigen Sätzen mitten hinein zu werfen in das komische, traurige Drama der Bürgerlichkeit, in unser aller Drama: Yasmina Reza, die meistgespielte lebende Theater-Autorin („Kunst“, „Der Gott des Gemetzels“). Ihr jüngstes Stück „Bella Figura“ schrieb sie für die Berliner Schaubühne und für Regisseur Thomas Ostermeier, der es Mitte Mai am Lehniner Platz uraufführte. Nun folgte die Premiere bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, in Star-Besetzung.

Yasmina Reza habe den mitleidlos-analytischen Blick einer Insektenforscherin, findet Ostermeier und lässt im Hintergrund wieder und wieder Krabbeltierchen projizieren, im Getümmel und in imposanter Nahaufnahme. Sie tun das Unvermeidliche, folgen ihrem Instinkt und machen sich keine Gedanken über Schein und Sein. Ganz anders das Personal auf der Bühne. Knapp zwei Stunden lang ringen sie darum, „Bella Figura“ zu machen, eine gute Figur – dabei greifen sie immer wieder ins Klo, und zwar nicht nur sprichwörtlich.

Eigentlich sollte es ein romantischer Abend in einem teuren Restaurant werden: Boris (Mark Waschke, der neue Berliner „Tatort“-Kommissar) hat seine langjährige Affäre Andrea (Nina Hoss) eingeladen. Doch der Streit beginnt schon auf dem Parkplatz im Auto, einem französischen Kleinwagen, der real auf Jan Pappelbaums Bühne steht: Andrea findet heraus, dass die Restaurant-Empfehlung von Boris‘ verreister Ehefrau stammt. Als das Paar dann auch noch auf Francoise und Eric trifft, die den Geburtstag seiner leicht dementen Mutter Yvonne feiern wollen, ist das Katastrophen-Setting komplett: Francoise (Stephanie Eidt) ist eine alte Freundin der betrogenen Gattin.

Auch die Männer sind im Clinch: Boris (Mark Waschke) und Eric (Renato Schuch). Foto: Arno Declair

Auch die Männer sind im Clinch: Boris (Mark Waschke) und Eric (Renato Schuch). Foto: Arno Declair

Anstatt sich schnell aus dem Staub zu machen, drängt die labile, tablettensüchtige Andrea aufs Bleiben. Mehrfach an diesem Abend gäbe es potentielle Wendepunkte, Notausgänge für alle Beteiligten. Aber nein: Unausweichlich steuern die vier auf  den Abgrund zu – Spielfiguren, die im Abwärtstaumel immer neue Schlenker nehmen, sich anziehen und abstoßen, neue Konstellationen bilden – und schließlich erschöpft ganz unten ankommen.

Man geht mit Fischmessern aufeinander los, hat Sex auf dem Klo, vergräbt Essen im Blumenkübel und versucht hilflos, sich die strapaziöse Außenwelt mit Mückenspray von Leib zu halten. Man hat gegenseitig in dunkle Abgründe geblickt und kann nicht viel mehr tun als: weitermachen.

Rezas Konversations-Pingpong funktioniert auch diesmal bestens. Wenige Worte legen Anschauungen bloß, die im Alltag tunlichst übertüncht werden. „Soll ich jetzt den modernen Mann geben und deine ekelhafte Emanzipation feiern?“, fragt Boris, als Andrea ihm von einer anderen Liebschaft berichtet. „Man kann deine Mutter nirgendwo mit hinnehmen, ohne dass es ein Drama gibt“, ätzt Francoise. „Bevor du dich in die Garonne stürzt, mein Schatz, könntest du an deinem letzten Abend Bella Figura machen“, wünscht sich Andrea von ihrem Hass-Liebhaber.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza.

Reza hat mit Andrea eine Borderline-Figur geschaffen, die Nina Hoss bewundernswert meistert. Sie ist das Opfer, die auf Distanz und hingehaltene Affäre. Sie ist Verbal-Täterin, die ihren Lover (passiv-)aggressiv angeht. Sie ist liebende Mutter einer Neunjährigen, mit der sie im Laufe des Abends mehrfach telefoniert, und geduldige Ratgeberin der dementen Yvonne (grandios: Lore Stefanek). Sie ist erotisch, aufreizend, Halt suchend auf ihren 480-Euro-Pumps und den vielen Pillen in ihrer Handtasche, aber absolut zerstörerisch in ihrem Drang, schlafwandlerisch genau das Falsche zu tun. Oder ist es am Ende das einzig Richtige, alle Fassaden zum Einsturz zu bringen?

Das Publikum leidet mit und schämt sich fremd, amüsiert und erkennt sich, ist fasziniert und abgestoßen von dieser Figur, die von ihrer Autorin weder erklärt noch bewertet wird. Ein schillerndes Insekt, das am Ende Schein und Sein wunderbar zusammenfasst: „Man bildet sich ein, die Welt zu erobern, aber man verkümmert an Ort und Stelle.“

Weitere Vorstellungen: 29. Mai (20 Uhr), 30. Mai (17 Uhr), 31. Mai (15 und 20 Uhr). Infos: https://www.ruhrfestspiele.de/de/veranstaltungen/veranstaltung_detail.php?ver_id=529&ort=95

(Der Text erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Das Material ist die Botschaft – Skulpturenausstellung „Bella Figura“ in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Konservative Kunstbeflissene haben sie unablässig gefordert – die Rückkehr zum erkennbar Figürlichen, zum Menschenabbild in den Künsten. Es scheint, daß sie erhört worden sind.

Nach allen Minimal- und sonstigen Experimenten, die allemal auf Abstraktion hinausliefen, entstehen nun wieder körperhafte, allerdings fast immer in irgendeinem Grad deformierte Skulpturen. Die Zeit der flachen Bodenplastiken – schon die Duisburger Ausstellung „dreidimensional“ hat es gezeigt – ist vorerst vorüber.

„Bella Figura“, Präsentation von 12 Bildhauern im Duisburger Lehmbruck-Museum (1. Juli bis 2. September, Katalog 20 DM), verdeutlicht den Trend noch. Der Titel führt in die Irre: Kein einziger italienischer Bildhauer ist vertreten, sondern zehn aus der Bundesrepublik und je einer aus Österreich und den Niederlanden.

In zumeist expressiver Manier erheben sich die Plastiken wieder in die Vertikale. Zugleich treten die verschiedensten Materialien und ihre Behandlung deutlich in den Vordergrund. „Botschaften“ gleich welcher Art sucht man vergebens, allenfalls findet man Privat-Mythologien wie etwa beim diesjährigen deutschen Biennale-Vertreter A. R. Penck, auf dessen rätselhaften Holzskulpturen die magischen Zeichen erscheinen, die er auch in seinen Bildern verwendet.

Penck gehört zu jener Hälfte der Ausstellung, die dem plastischen Werk bereits arrivierter Maler gewidmet ist. Hierzu zählen auch Georg Baselitz‘ grob behauene, mit Farbspuren überzogene Holzköpfe. Von Jörg Immendorff sieht man unter anderem an Totempfähle erinnernde Holzpflöcke mit eingeschnitzten Gesichtern. An einem Pfahl hängt, als schütteres Netz. die schwarzrot-goldene „Fahne“. Markus Lüpertz, weiterer „Star“, fertigt farbübersprühte, verquollene Bronzeköpfe.

Wie die nachfolgende Künstlergeneration die Anregungen der mittlerweile berühmten Vorbilder weiterverfolgt, wird in einigen Beispielen dokumentiert. Zu den Interessantesten Entdeckungen zählt wohl die „Alibi-Frau“ der Ausstellung, die in Schwerte geborene und in Köln arbeitende Rosemarie Trockel, zum Beispiel mit ihren aus Gips und Graphit geformten, hermetischen „Philosophenköpfen“, die kaum noch etwas mit dem Generaltrend „Expressivität“ zu tun haben.

Eine Überraschung auch die Arbeiten von Heinz Kleine-Klopries. Der gebürtige Mülheimer verwendet vornehmlich Pappe, die unter seinen Händen ungeheure Ausdrucksstärke gewinnt. So windet sich etwa eine Pappgestalt, höchst glaubhaft „Streßphänomene“ (Titel) demonstrierend. Die plakastivsten Beiträge sind die Figuren des Holländers Henk Visch mit ihren ausladenden Gebärden und Formen.