„Sein Bayreuth war Europa“: Meyerbeers „Vasco da Gama“ an der Deutschen Oper Berlin

"Vasco da Gama" von Giacomo Meyerbeer, Regie: Vera Nemirova, Premiere am 4.10.2015, Deutsche Oper Berlin, Foto: Bettina Stöss

Szenenbild aus „Vasco da Gama“ von Giacomo Meyerbeer (Foto: Bettina Stöss)

Für Giacomo Meyerbeer hat die Deutsche Oper Berlin einen großen Namen aus der Regieszene aufgeboten: Vera Nemirova, die einen gefeierten Frankfurter „Ring“ verantwortete und in der Region 2013 mit „Tristan und Isolde“ in Bonn auf sich aufmerksam gemacht hatte, wagte sich an „Vasco da Gama“ – früher bekannt unter dem verfälschenden Titel „Die Afrikanerin“ („L’Africaine“).

Die letzte große Oper des aus Berlin stammenden Komponisten – ein Jahr nach seinem Tod 1865 uraufgeführt – erlebte einen Tag nach der großen Wiedervereinigungsfeier eine umjubelte, wenn auch nicht unumstrittene Premiere.

Ein sinniges Datum: Während die Staatsoper im Schillertheater den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung mit einer Premiere von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ und damit mit so etwas wie einer deutschen Nationaloper beging, richtete das Haus an der Bismarckstraße mit Meyerbeer den Blick auf die internationale Musikszene des 19. Jahrhunderts: „Sein Bayreuth war Europa“ titelt ein Kongressbericht über Meyerbeer. Da ist viel Wahres dran.

Der gebildete Intellektuelle aus jüdischer Familie hat seine Karriere in Italien und Paris gemacht. Er steht als „der“ europäische Komponist des 19. Jahrhunderts für einen Musikbegriff, der sich von der nationalen Verengung der Musiktheorie seiner Zeit absetzt: ein internationaler Zug, der deutsche Tradition mit den Stilmitteln des italienischen Belcanto verbindet. Und der die moderne, von Eugéne Scribe und Daniel François Esprit Auber mit seiner „La Muette de Portici“ (1828) konkretisierte Form der großen historischen Oper perfekt auf den Betrieb der Pariser „Opéra“ und den Geschmack ihres Publikum zuschnitt.

Der Erfolg gab Meyerbeer recht; die Polemik – mit Wagner an vorderer Stelle – reagierte wütend: Ein Jude, so die krude These von damals, könne letztlich keine tiefe Musik schreiben, da der Kern wahrer, schöpferischer Musik immer im „Nationalen“ zu finden sei.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Giacomo Meyerbeer nach einem Porträt von Joseph Kriehuber.

Heute sind solche Urteile zum Glück Geschichte – noch nicht historisch ist allerdings, dass Meyerbeer allmählich aus den Spielplänen verdrängt wurde. Inzwischen haben seine bedeutenden Werke wieder ihren Ort gefunden – wenn auch nicht im Zentrum des Repertoires, so doch auf einem geachteten Randplatz.

Berlin, Meyerbeers Heimat und langjähriger Wirkungsort – auf dem jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee ist er auch begraben – startet nun einen ehrgeizigen Versuch, die Rezeption auf höchstem Niveau wieder anzustoßen: In den nächsten drei Jahren ist an der Deutschen Oper ein Zyklus geplant, der mit „Vasco da Gama“ begonnen hat, im nächsten Jahr mit „Les Huguenots“ in der Regie Stefan Herheims fortgesetzt und 2017 mit „Le Prophète“ beendet wird.

Missbrauch des Glaubens

Nicht nur in „Vasco de Gama“ bilden Macht und Missbrauch des Glaubens einen zentralen Aspekt der geistigen Problematik. In der Nürnberger Inszenierung der „Hugenotten“ hatte das Regisseur Tobias Kratzer deutlich gemacht; auch Stefan Otteni fokussierte sich in seiner Braunschweiger Inszenierung des „Propheten“ in der letzten Spielzeit auf den Missbrauch der Religion im Mahlstrom der Macht. Und die bevorstehende Premiere von „Le Prophète“ am Staatstheater Karlsruhe am 18. Oktober wird zeigen, wie Kratzer seine Sicht auf dieses bestürzend aktuelle Werk präzisiert.

In „Vasco da Gama“ geht Meyerbeer mit diesem Thema weniger explizit um. Aber Nemirova will den Blick auf die unterschwellige Frage des Gottesbegriffs richten. Und auf die Rolle von Glauben für die Figuren. Vasco da Gama etwa stürmt in Felduniform auf die Bühne und in die Schar der Offiziere am Hof des portugiesischen Königs in ihren Galauniformen: der dynamische, aktive Eroberer gegen die beharrenden Vertreter eines Status Quo.

Jens Kilian konkretisiert in seinem Bühnenbild, wie unterschiedlich die Welt-Träume der Protagonisten sind: Für Ines, die in Vasco unsterblich verliebt ist, dient das aufrecht stehende Halbrund einer Weltkugel mit einer Zeichnung Afrikas und des Indischen Ozeans als Projektions- und Erinnerungsfläche. In ihrer das Stück einleitenden Arie spielt sie mit Papierschiffchen, malt die gedachte Route Vascos in die „neue Welt“ mit Kreide nach.

Für den königlichen Rat senkt sich das Halbrund und bildet einen Konferenztisch: Hier geht es um das Abstecken von Macht und Terrain, um Kontrolle und Einfluss – und die Vertreter der Kirche, von Marie-Thérèse Jossen in realistische Soutanen gesteckt, mischen kräftig mit. Scribes Libretto zeichnet sie, bestätigt von Meyerbeers Musik, als Prinzipienreiter. Der auf Erfahrung basierenden Argumentation des Seefahrers setzen sie die einfache Feststellung entgegen, er sei eben ein Ketzer: ein Totschlagargument im wahrsten Sinn des Wortes.

„Unsterblichkeit“ durch Ruhm und große Taten

Den statischen, die bestehenden Verhältnisse bestätigenden Gottesbegriff der Kleriker kontrastiert Meyerbeer mit der dynamisch-schwärmerischen Vorstellung Vascos: Er strebt nach „Unsterblichkeit“, aber in einem strikt diesseitigen Sinn. Die Garantie dafür sind Ruhm und unerhörte Taten. Dafür ist er bereit, alles zu opfern. Als er nach der gescheiterten Umrundung eines berüchtigten Kaps, gefangen im Bauch des Schiffs seines Rivalen Don Pedro, in die Hände der „Wilden“ gerät, ist seine größte Sorge nicht, das Leben zu verlieren, sondern den Ruhm. Unter allen Umständen soll die Nachricht, er habe als erster unbekanntes Land betreten und ein fremdes, exotisches Reich entdeckt, die Heimat erreichen.

Doch Meyerbeer hütet sich, seine Figuren schwarz-weiss zu zeichnen. Vasco etwa ist, wie in seiner berühmten Arie „Ô Paradis“ im vierten Akt zu hören, sensibel für die Schönheit und den Wert des Landes, auch wenn er im zweiten Teil in marschartigem Rhythmus das Gelüst des Eroberers ausspricht: Mein soll es sein, das Paradies. Nélusko, der verschlagene und gewalttätige Exponent des bisher unbekannten indischen Volkes, Begleiter seiner gefangenen Königin Sélica, zeigt bestürzenden Fanatismus und Fremdenhass.

Meyerbeers Analyse ist so scharf wie zeitlos und weit davon entfernt, ein idealisiertes Naturvolk auf die Bühne zu bringen. Im Missbrauch des Transzendenten für das Spiel der Macht sind sich Europäer und Inder gegenseitig nichts schuldig. Die Anrufung der Hindu-Götter im vierten Akt ist als große Show zu verstehen und wird auch so inszeniert: Exoten-Folklore in Weiß und Orange.

Die Stärke von Nemirovas Regie zeigt sich – darin entspricht sie ihrem Frankfurter „Ring“ – in der sensiblen Zeichnung intimer Begegnungen: zwischen Sélica und Vasco im vierten, im Duett der unglücklichen Frauen Sélica und Ines im fünften Akt. Schwach geraten Massenszenen und Tableaus: Da setzt Nemirova auf großflächige Bewegungs- und Bildregie, die aber nicht expressiv vertieft wirkt. Der dritte Akt mit seinen episodischen Momenten, mit Matrosenchören und Ines‘ erzwungener Hochzeit misslingt, weil sich die Regie nicht zwischen Stilisierung und Aktualisierung entscheidet. Und weil Jens Kilians Bühne mit drehbaren Elementen, die hier zu Segeln werden, keinen imaginativen Reiz entwickelt.

Problematisches Ende bleibt offen

Die Fernost-Piraten, die das aufs Riff gelaufene Schiff entern, sind Dritt-Welt-Kriminelle von heute, die den Portugiesen mit MG und Uzi den Garaus machen. Wenig erhellend auch Details wie die erzwungene Einkleidung Sélicas als Nonne oder die Vergewaltigung einer als Ordensschwester camouflierten Frau, deren schwarze Tracht aufreizende Dessous verbirgt. Néluscos berühmte Ballade vom Meeresriesen Adamastor degeneriert zu einer komisch-parodistischen Nummer. Zu Recht gab es nach diesem dritten Akt Buhs und Gelächter.

Das problematische Ende der Oper – Meyerbeer konnte es nicht mehr endgültig konzipieren – lässt Nemirova offen: In den letzten Takten von Sélicas langem Abschiedsgesang flutet eine Menschenmenge die Bühne, die indische Königin wird in einem symbolhaften, in Orange- und Rottönen wabernden Viereck versenkt. Aus ihm entspringt Vasco als junger Uniformierter mit Landkarte und Rucksack: der Urtyp des Eroberers, der als Militär oder als Backpacker kommt?

Die gewaltige Aufgabe, Meyerbeers Partitur in Klang umzusetzen, schultern Dirigent Enrique Mazzola und das Orchester der Deutschen Oper sowie der stark geforderte und nicht immer souverän treffsichere Chor und Extrachor unter William Spaulding. Meyerbeers aparte Kunst der Instrumentation und des expressiven Einsatzes von Klangfarben ist bei den Solisten des Berliner Orchesters in guten Händen – vom tintig dräuenden Fagottquartett über den „schmutzigen“ Klang des damals hochmodernen Sax-Hornes bis hin zu den raffinierten Kombinationen klassischer Orchesterinstrumente.

Mazzola geht dem manchmal episodischen Charakter von Meyerbeers Musik eher nach als der Konstruktion großer dynamischer Bögen; auch die Tempi könnten zupackender, die Phrasierung entschiedener ausfallen. Gegen Mazzolas temperamentloses und unentschiedenes Dirigat kann sich die Konkurrenz von Enrico Calesso (Würzburg 2011) und Frank Beermann (Chemnitz 2013) bestens behaupten.

Der Sänger-Star des Abends ließ sich ansagen: Roberto Alagna war im Kampf gegen eine Infektion hörbar indisponiert. Zu hören war aber auch, dass er, sofern gesundet, einen respektablen Vasco da Gama gestalten könnte.

Markus Brück stellt einen imponierenden Nélusco auf die Bühne: subtil und farbig in zurückgenommenen Momenten, dröhnend expansiv in der Gewalt und im Triumph. Clemens Bieber bewältigt die kleinere, aber wichtige Rolle des Don Alvar wie stets stimmschön und mit bewusstem Einsatz gestalterischer Mittel – dieser Tenor ist für die Deutsche Oper eine sichere Stütze des Ensembles. Seth Carico gibt den Don Pedro mit flutendem, manchmal etwas zu weit hinten positioniertem Bass; Andrew Harris als Don Diego, Dong-Hwan Lee als Großinquisitor und Albert Pesendorfer als Oberpriester der Inder ergänzen das Ensemble anstandslos und klangschön, ebenso Irene Roberts in ihren paar Sätzen als Dienerin Anna.

Nicht so überzeugend die Damen: Sophie Koch in der prominenten, herausfordernden Partie der Sélica hat zwar eine wunderschön sitzende Stimme, einen ebenmäßig polierten Ton und ein füllig-feines Timbre, aber zu wenig Farben, um die Facetten von hingebungsvoller Liebe bis hochfahrender Herrscherinnen-Arroganz, von Großmut bis Wehmut zu beglaubigen. Das differenzierte Schlaflied des zweiten Aktes ist lediglich schön gesungen; die Selbstreflexion der verlassenen, sich opfernden Frau unter dem giftigen Manzanillobaum in ihrem Spektrum von Resignation bis Ekstase gelingt Sophie Koch bewegender. Nino Machaidze als Ines demonstriert entschiedenen Willen zur Gestaltung, zeigt schimmernde, wenn auch zu wenig frei schwingende Höhen; im Zentrum jedoch bleibt die Stimme seltsam klangarm und ist von der kräftigen Amplitude eines metallisch klirrenden Vibrato gestört.

Gott und Glaube: Vera Nemirova stellt sich im Programmheft großen Fragen, löst die Erwartungen aber nicht ein. Sie bleibt zu sehr an den Szenen hängen statt sie zugunsten einer übergreifenden Idee konzeptionell zu bändigen.

Dennoch: Die Deutsche Oper setzt mit dieser Meyerbeer-Premiere einen Impuls, der hoffentlich auch andere Häuser anregt, sich mit diesem prägenden Musiktheater des 19. Jahrhunderts und seiner Aktualität zu befassen. Zum Beispiel in der Rhein-Ruhr-Region: Da hat zuletzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen 2008 mit der „Afrikanerin“ einen Versuch unternommen – damals noch auf der Basis alten Materials. Mit der neuen, in Berlin verwendeten kritischen Edition von Jürgen Schläder liegt nun – wie auch für andere wichtige Opern Meyerbeers – eine ausgezeichnete Grundlage vor; die Theater müssen nur noch zugreifen!

Informationen: http://www.deutscheoperberlin.de/de_DE/calendar/vasco-da-gama.12676793




Ziellose Odyssee – „Otis“, der Debüt-Roman des Blumfeld-Sängers Jochen Distelmeyer

Otis,  Jochen Distelmeyer Es gibt Bücher, die einen ratlos zurücklassen, bei deren Lektüre man sich ernsthaft fragt, was in aller Welt der Autor hat mitteilen wollen.

Schlimmer noch: Wollte er dem Leser überhaupt etwas mitteilen oder wollte er einfach nur mal all seine Gedanken aufschreiben und loswerden? Am allerschlimmsten: Wenn man am Ende des Romans angelangt ist, es nicht ungern gelesen und sich nicht gelangweilt hat, aber trotzdem nicht weiß, ob einem das Buch gefallen hat, ob man aus der Lektüre jetzt etwas für sich mitnimmt. So ein Buch ist für mich „Otis“, der erste Roman von Jochen Distelmeyer, dem hochgelobten Sänger und Texter der ehemaligen? wiedervereinigten? (man weiß es derzeit nicht so genau) Hamburger Band Blumfeld.

Distelmeyer erzählt vom Leben, Wirken, und Denken seines Helden Tristan Funke, von seinen wolkigen Träumen und seinen gelegentlichen Stippvisiten auf dem Boden der Realität. Tristan ist erst vor kurzem von Hamburg nach Berlin gezogen, um über die Trennung von seiner langjährigen Liebe hinwegzukommen. Einen gutbezahlten Job hat er deswegen geschmissen, nun ist er unter die Schriftsteller gegangen. Sein Thema ist die Odyssee, darunter macht er es nicht. Natürlich übertragen in die Neuzeit. Sozusagen Metaebene auf der Metaebene in der Metaebene.

Der Held in Tristans Buch ist Otis, ein moderner Anti-Held auf der Flucht, angelehnt an die Figur des berühmt berüchtigten Kim Dotcom. Während Tristan – meist erfolglos – an seinem Buch rumdoktert, erlebt er in der Hauptstadt so etwas wie seine persönliche Odyssee.

In Tristans Lebens gibt es genug, wovor er nur zu gerne flüchten mag. Vor gleich zwei Frauen, mit denen er zeitgleich Liebschaften unterhält, während er sich eigentlich eher für eine Dritte interessiert. Vor dem Intellektuellen-Gehabe der neugewonnenen flüchtigen Hauptstadt-Bekanntschaften, mit denen er doch eigentlich so gerne konkurrieren möchte. Vor dem ganzen Elend bundesrepublikanischer Wirklichkeit in den Zehner-Jahren des noch jungen Jahrtausends. Tristan – so scheint es – ist geradewegs von der Pubertät in die Midlife-Crisis gerutscht.

Jochen Distelmeyer ist ein belesener, ein gebildeter, sehr kluger Mensch, der kluge Gedanken noch klüger zu formulieren weiß. Er kann wunderbar mit Worten umgehen, sie zu melodischen, lange nachklingenden Sätzen zusammensetzen. Es ist eine Freude, diese Sätze zu lesen, einfach um der Sätze willen. Formulieren also kann er, eine Handlung stringent erzählen hingegen eher nicht.

Wikipedia merkt zur Band Blumfeld an, dass deren Texte „eigene Gefühlswelten mit Gesellschaftskritik“ verbinden. Sehr gelungene Formulierung, die sich eins zu eins auf „Otis“ übertragen lässt. Denn genau das ist es, was in diesem Buch passiert. Nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. Das, was in Sontexten so ganz wunderbar funktioniert, lässt sich eben nicht so einfach in Romanform übertragen. Zumal die Gesellschaftskritik an jeder Stelle so wirkt, als habe Distelmeyer sie einfach unbedingt unterbringen wollen, um jeden Preis. Auch um den Preis, dass die behandelten Themen selten etwas mit der ohnehin schon recht dürftigen Romanhandlung zu tun haben. Schlussendlich hat man das Gefühl, einfach nur aneinander montierte Szenen gelesen zu haben, die sich bei allem spürbaren Bemühen einfach nicht verdichten wollen.

Distelmeyer scheint wie sein Protagonist Tristan der Meinung zu sein, dass die Bevolkerung quasi in der „Sicherheit ausländischer Krisensituationen gewiegt wird“, während „allen im Innersten längst klar ist, dass das Spiel an sich längst gelaufen ist.“ So. Das muss mitgeteilt werden, das muss endlich mal allen klar werden. Und wenn man es in einen Roman presst, damit es nicht nur eingefleischte Blumfeld Anhänger zu hören/lesen kriegen.

Das liest sich streckenweise spannend, zum Beispiel wenn Distelmeyer sein schwelendes Unbehagen am Umgang mit jüngerer deutscher Geschichte am Beispiel des Berliner Holocaust-Mahnmals erzählt. Da ist es eigenartig berührend, wenn man selbst miterlebte Geschichte in Romanform erzählt bekommt und gleichzeitig bestürzend offenlegend, wie absurd doch so vieles ist.

Aber kein Thema ist abseitig genug, um nicht irgendwie noch in den Roman hineingequetscht zu werden. Wozu geht Tristan auf schicke Partys, wenn nicht, um die dort entstehenden Dialoge für Gesellschaftskritik zu nutzen? Da kann man gerne schon mal über Cern in Genf als das „Ground Zero für Urknall-Traumatisierte“ philosophieren. Schön formuliert, griffig, wohlklingend, aber was genau soll das dem Leser jetzt sagen?

Überdruss macht sich da schnell breit, vor allem auch, wenn kaum einmal etwas auch von einem zweiten Standpunkt aus betrachtet und so ungewollt das Vorurteil vom weltfremden Kulturschaffenden genährt wird. Sehr schön zu sehen am Exkurs über den Verlag Behrmann, wohl angelehnt an die jüngere Geschichte des Suhrkamp-Verlags. Alles richtig, alles wahr, aber alles auch nur aus der Sicht des Literaten betrachtet. Dass es auch noch andere Dinge gibt, die das Zusammenleben regeln, Gesetze beispielsweise – das schenkt Tristan/Distelmeyer sich durch elegantes Weglassen. Dadurch reduziert er seine ihm doch so am Herzen liegende Gesellschaftskritik auf eine trotzige Pippi-Langstrumpf-Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Attitude.

Dazu kommt, dass vieles im Buch sehr Berlin-spezifisch ist und für den, der nicht so mit der Welt der Promis und Hipster in der Hauptstadt vertraut ist, schwer zu enträtseln. Kann man sich immerhin gut in Tristan hereindenken, dessen nordisch-grüblerisches Wesen in der Hauptstadt auch weit weniger gefragt ist als das im Buch nicht ungeschickt gezeichnete intellektuell verbrämte, überhebliche Weltenerklärer-Gehabe. Tristan befindet sich da in einem Zwiespalt und Distelmeyer mit ihm. Nie weiß man genau, was ihn eigentlich treibt und schon gar nicht warum. Wut? Überhöhtes Selbstverständnis? Resignierte Melancholie der intellektuellen Boheme?

Viel authentischer, viel empathischer und glaubwürdiger wirkt Distelmeyers Roman dafür an den Stellen, an denen er die Gesellschaftskritik einfach beiseite lässt und von den Leuten erzählt, mit denen Tristan sein Leben verbringt. Cousine Juli und Freund Ole beispielsweise sind so fein entworfen, so lebensnah, darüber hätte man gerne mehr gelesen. Genauso wie über das Romangeschehen auf der Meta-Ebene. Die Geschichte von Otis als modernem Odysseus ist eine großartige Idee, liest sich auch in Ansätzen so schön, dass man sich bei dem Gedanken ertappt, lieber als Tristans Irrwege durch Berlin hätte man diese Geschichte gelesen. Doch auch Distelmeyers Auslassungen zu Odyssee und Orestie sind weit hergeholt und verschwurbelt. Es ist eine Odyssee der Ziellosigkeit.

Jochen Distelmeyer: „Otis“. Roman. Rowohlt Verlag, 282 Seiten, €19,95.




Entdeckung in Berlin: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ – Operette, zur Farce zugespitzt

Vielleicht waren es nicht nur Zwänge der Disposition, die Barrie Kosky veranlassten, die Premiere von „Eine Frau, die weiß, was sie will“ auf den 30. Januar zu legen. An dem Tag, an dem vor 82 Jahren Hitlers Gefolgsleute mit Fackeln durchs Brandenburger Tor zogen, um die „Machtübernahme“ zu feiern, fegte die Operette von Oscar Straus über die Bühne der Komischen Oper – des einstigen Metropol-Theaters, wo das Zugstück für die damalige Diva Fritzi Massary 1932 seine Uraufführung feierte.

Straus und Massary waren Opfer der Hetze der Nazis: Die eine verließ schon Ende 1932 Deutschland, der andere hatte im neuen Reich keine Chance und musste schließlich Europa verlassen: Die Lust auf scharfzüngige Satire und kabarettistischen Witz haben sich die Deutschen gründlich ausgetrieben.

Barrie Kosky hat die Komische Oper Berlin, das ehemalige Metropol-Theater, wieder zu einer Hochburg der Operette gemacht. Foto: Werner Häußner

Barrie Kosky hat die Komische Oper Berlin, das ehemalige Metropol-Theater, wieder zu einer Hochburg der Operette gemacht. Foto: Werner Häußner

Kosky setzt mit „Eine Frau, die weiß, was sie will“ seine verdienstvolle Reihe kaum mehr gespielter, aber exemplarischer Operetten aus der Zeit vor der Naziherrschaft fort. Und er richtet den Blick auf das, was aus dem Genre auch hätte werden können: Straus, mit seiner Erfahrung mit dem „Überbrettl“, dem ersten musikalischen Kabarett Deutschlands, orientierte sich weniger an der klassischen Form der Operette, sondern an den früher beliebten Vaudevilles – typisierenden Singspielen –, an leichtfüßig-flinken Boulevardkomödien à la Georges Feydeau und natürlich am Kabarett und der Revue mit ihren frechen Songs, ihren politischen und erotischen Zweideutigkeiten. Konsequent nannte er das Stück auch „musikalische Komödie“.

Der Intendant der Komischen Oper schärft als Bearbeiter die Sinnspitze dieser Operette noch einmal so, dass sie wirklich zustechen kann: Er verweigert sich der Bühnen- und Ausstattungs-Opulenz, dampft die 30 Rollen ein und lässt sie von zwei Darstellern spielen: Dagmar Manzel darf sich in sieben wiederfinden; Max Hopp wirbelt durch mehr als ein Dutzend Figuren. Die Bühne ist reduziert auf den dunkelroten Vorhang, der nur einen Ausschnitt freigibt: Eine Wand, eine Tür, zwei Lüster. Minimalistischer, aber auch konzentrierter geht es wohl nicht.

In diesem Mini-Raum wird agiert – aber wie! Klar, dass Kosky das Spiel mit Rollen- und Geschlechteridentitäten wieder lustvoll ausnutzt: Wer Mann ist, wer Frau, spielt keine Rolle. Auch damit spitzt er ein Kennzeichen der Operette zu.

Ein anderes Merkmal ist das Balancieren mit Sein und Schein. Dagmar Manzel ist die Diva, die eine Diva spielt – in diesem Fall die Operettenprimadonna Manon Cavallini. Die ist gleichzeitig Mutter einer unehelichen Tochter. Beide Damen kommen sich ins amouröse Gehege: Die Jüngere projiziert auf genau den Mann ihre pubertäre Glut, in dem die Ältere ihren „Frühling“ erkennen will. Das hat turbulente Folgen, aber es gibt ja noch Tugenden wie Verzicht und Mutterliebe: Am Schluss hört die Mutter den „Schrei der Natur“, es richtet sich alles und der Wertekanon des braven Publikums bleibt, zumindest vordergründig, unerschüttert.

Straus treibt mit dem Genre ein raffiniertes Spiel – und Kosky hat das analytisch durchleuchtet und dennoch nicht in ein erdrückendes Konzept, sondern in eine rasante Farce gefasst. Schon diese „Diva“ ist es wert, genauer besehen zu werden: Sie ist die „Frau, die weiß, was sie will“ und ihr Bekenntnis – der Ohrwurm der Operette – fasst alles zusammen, was eine selbstbewusste, emanzipierte Großstädterin von damals kennzeichnet.

Fritzi Massary, die legendäre Operettenkönigin Berlins zwischen 1910 und 1928, kehrte mit dieser Rolle auf die Musikbühne zurück – bezeichnenderweise für das Geld, das ihr die „Freiheit gibt“. Und Straus schuf mit seinem Librettisten Alfred Grünwald für die Bühne die Frau, als die sich die Massary auch außerhalb des Theaters inszenierte.

Dass diese Diva am Ende sich als treu sorgende Mutter offenbart, ist maliziöse Ironie, Dekonstruktion der unnahbaren Theatergöttin, aber auch Humanisierung einer Rolle, in der ein Mensch kaum sein Leben verbringen möchte: Christoph Marti, die „Clivia“ in Nico Dostals gleichnamiger Operette an der Komischen Oper, beharrte bei einer Podiumsdiskussion strikt auf der Trennung von Bühne und Privatem: „Diva“ sein bedeute eben nicht Glamour und Freiheit, sondern Selbstdisziplin, Arbeit, Verzicht und Befriedigung von Erwartungshaltungen. In Oscar Straus‘ Komödie spiegelt sich so spielerisch wie ernst diese ambivalente Bedeutung der „Diva“.

Dass Manzel diese Aspekte mit einem Tempo und einer Leichtigkeit verkörpert, die anderswo so schnell nicht zu finden sind, muss nicht extra betont werden. Sie freundete sich schon 2002 am Deutschen Theater in der „Großherzogin von Gerolstein“ mit dem musikalischen Lachtheater an und ist seit „Sweeney Todd“ (2004) nicht mehr aus der Komischen Oper wegzudenken. Jetzt schlüpft sie in Sekundenschnelle nicht nur in verschiedene Kostüme (unendlich kreativ: Katrin Kath), sondern in gegensätzliche Charaktere – eine gekonnte Revue der spezialisierten Rollenklischees, von denen Operette lebt, vom komischen Alten über die Dienerfigur bis zum Liebhaber.

Sie kreiert einen eigenen Tonfall: Der Abstand von Massarys raffiniertem Stimmeinsatz ist nicht zu verschleiern – Manzel ist eben mal keine klassisch gebildete Sängerin –, aber er gebiert eben auch eine andere Freiheit: die des Wortes, der Tonfall-Geste, des nuancierten Virtuosität des Sprechens, der angedeuteten Frivolität wie des poetischen Innehaltens. Und Straus hält sich mit Forderungen an Stimmvolumen oder -umfang so zurück, dass Manzel in jedem Moment ungefährdet bleibt.

Noch einen Zahn zulegen muss Max Hopp: Seine Verwandlungen sind schwindelerregend schnell getaktet, vom rosa Flatterkleid von Töchterchen Lucy sind es nur wenige Sekunden zu Frack und Zylinder. Preußisches Geschnarre folgt auf sächsisches Gebrabbel, der affektierte Reigen kunstvoll gedrehter Handgelenke und verzweifelt weggeworfener Arme kontrastiert sofort mit eckig-militärischen Bewegungen oder aufgedrehter Verzweiflung. Und das Tempo steigert sich, wenn Manzel und Hopp zu zweit gleichzeitig in vier Rollen schlüpfen, säuberlich gehälftet und je nach Drehung Frau oder Mann.

Das ist nicht nur höchst präzises Lachtheater, das sind auch Meisterleistungen von Kostüm- und Maskenbildnern: Chapeau für die Unsichtbaren, die in den 90 Minuten hinter der Klapptür keinen Moment die Konzentration verlieren dürfen.

Musikalisch in besten Händen ist die leichte, quirlige, beredte Partitur von Oscar Straus bei Adam Benzwi am Flügel. Das frei Schwingende in der Musik wird nicht sentimental, das Maschinelle nicht steif. Tempo und Timing stimmen, der Stimme wird ihr Recht eifersuchtslos eingeräumt. Das Orchester der Komischen Oper spielt luftig süß, nie schwer oder klebrig. Straus als musikalischer Aquarellist ist in dieser Operette immer fein, transparent, liebevoll zart, schaut eher zurück auf Franz von Suppé als zur Seite, wo Paul Abraham etwa ein grandioses orchestrales Klangfarbenspektakel mit modernen Zügen entfaltet. Das war Operette vom Feinsten, wie sie heute wohl nur an der Komischen Oper zu erleben ist. Riesengroßer Beifall!

Weitere Infos: http://www.komische-oper-berlin.de/spielplan/eine-frau-die-weiss-was-sie-will/




Langjähriger Dortmunder Journalistik-Professor Ulrich Pätzold legt Berlin-Buch vor

PaetzoldCover30 Jahre war Ulrich Pätzold ordentlicher Professor für Journalistik in Dortmund. Als er 1978 in die Westfalenmetropole berufen wurde, um den seinerzeit neuen Studiengang mit aufzubauen, kam er aus Berlin, damals noch eine geteilte Stadt. Nach seiner Emeritierung kehrte er zurück an die Spree und legt jetzt ein Buch vor, mit dem er den Leser einlädt, ihn auf seinen Spaziergängen durch die Hauptstadt zu begleiten.

Gern abseits der Touristenpfade macht er sich auf den Weg durch die Stadtbezirke und erzählt Episoden und Geschichten aus der wechselvollen Vergangenheit „seiner“ Stadt. 15 Jahre hat er hier gelebt, zunächst studiert (Publizistik, Philosophie, Theaterwissenschaften, Musik- und Literaturwissenschaften), noch während des Studiums mit journalistischer Tätigkeit für RIAS Berlin und viele andere Medien begonnen.

Der Autor kennt nicht nur die Namen von unzähligen Straßen, Plätzen, Gebäuden und Parks, er weiß auch, was sich dort vor Zeiten abgespielt hat und verknüpft das Früher mit dem Heute. So betrachtet er den BER, also den Berliner Flughafen, weniger als ein Objekt, das inzwischen schon zum Gespött verkommen ist, als vielmehr als ein Projekt, das vor allem die Bürger aus dem Stadtteil Friedrichshagen auf den Plan gerufen hat. Dass sie genau in einer der Einflugschneisen wohnen, ist ein sehr konkreter Erklärungsansatz für die andauernde Gegenwehr, eine andere Begründung hat eher historische Wurzeln und atmosphärische Elemente. Hier war nämlich Ende des 19. Jahrhunderts die neue Kunstrichtung der Naturalisten zuhause.

Nicht minder geschichtsträchtig kommt Friedenau daher, es hat sogar den Anschein, als habe man es mit einem Kristallisationspunkt der Vergangenheit Berlins zu tun. NS-Reichspropagandaminister Goebbels wohnte hier und schrieb seine berüchtigte Rede, in der er zum „Totalen Krieg“ aufrief, ebenso der Gründer der Comedian Harmonists, die sich wegen der Verfolgung durch die Nazis auflösten. Mit August Bebel, Karl Kautsky und Karl Liebknecht hatten die führenden Vertreter der Sozialdemokratie hier ebenso ihre Wohnungen wie Rosa Luxemburg. Ulrich Pätzold erzählt von deren (Zusammen-)Leben, ihren Idealen und auch ihren internen Konflikten.

Die Großstadt lebt mit und von ihren Widersprüchen, lässt sich aus Ulrich Pätzolds Beschreibungen herauslesen. Zu den vielen Beispielen gehört der Kiez. Er ist Rückzugsgebiet ins Private, ohne ihn wäre eine Stadt von Welt wie Berlin aber nicht Berlin. Dabei ist jeder Kiez anders, das einigende Band besteht wohl darin, dass man hier das eigene Tempo drosselt.

Der Schnelllebigkeit der Zeit, durch die manches dunkle Kapitel in Vergessenheit zu geraten droht, setzt der Autor die Erinnerung an Opfer und Täter entgegen. Dass es vor allem die Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges sind, auf die der Journalist immer wieder zu sprechen kommt, verwundert deshalb nicht, weil die Nazis überall in der Stadt blutige Spuren hinterlassen haben. Allein aus Berlin wurden 55.000 Juden verschleppt und ermordet.

Selbst in Kapiteln, in denen man den schrecklichen Schatten der Nazis kaum vermuten würde, sind sie allgegenwärtig. So erzählt Pätzold die bizarre Geschichte der Brüder Sass, Einbrecherkönige in der Weimarer Zeit mit viel Sympathie in der Bevölkerung, die die Polizei zum Narren hielten und im Konzentrationslager Sachsenhausen von Rudolf Höss, dem späteren KZ-Kommandanten von Ausschwitz, erschossen wurden. Widerstand gegen das NS-Regime hat es übrigens, wie der Autor beschreibt, vielfach auch bei den „einfachen Leuten“ gegeben, wie er es am Beispiel eines Bürstenfabrikanten und einer Prostituierten beschreibt.

Wenn im Berlin von heute viele Ethnien nebeneinander leben, sieht der Autor darin eine große Chance für diese Stadt, die mit der Kongresshalle für die Kulturen der Welt ohnehin schon einen sichtbaren Ausdruck der Völkerverständigung geschaffen habe. Mit aller Vehemenz wehrt er sich gegen die Thesen eines Thilo Sarrazin, wobei sehr deutlich wird, dass Pätzold nicht nur um den einstigen Berliner Finanzsenator geht, sondern um alle, die – auf welche Weise auch immer – Fremdenhass schüren. Den unterschiedlichen Nationalitäten ist ein Tag zu verdanken, der für Berlin verblüfft. Einmal im Jahr feiert man nämlich auch hier Karneval, einen Karneval der Kulturen.

Von Feierlaune sind die Menschen weit entfernt, die an der Lehrter Straße, dem Sitz der Stadtmission, Zuflucht suchen. Obdachlose kommen hierher, 4000 von ihnen leben irgendwo in dieser Stadt und gehören auch zu ihrem Bild dazu.

Um die Vielfalt von Berlin darzustellen, können und dürfen die Kultur und die Architektur ebenso wenig fehlen wie die Erinnerung an die Mauer. Dass die Museen mehr als nur die Nofretete zu bieten haben und Berlin auch trotz des verheerenden Krieges reich ist an imposanten Gebäuden, zeigt Pätzold an zahlreichen Beispielen auf. Welche irrwitzige Folgen die Teilung Berlins haben konnte, führt der Autor anhand des „Hamburger Bahnhofs“ vor, der nur wenige Jahre ein Bahnhof gewesen ist.

Ulrich Pätzold: „Berlin – Geschichte in Geschichten.“ kladde Buchverlag. 383 Seiten, 19 Euro




Geschälte Bäume – David Chipperfields „Sticks and Stones“ in der Berliner Nationalgalerie

Was für ein Kontrast: Ein Wald aus geschälten Bäumen, ein Heer aus 144 verletzt und doch standhaft wirkenden, acht Meter hohen Fichtenstämmen in einem riesigen Kasten aus Glas und Stahl.

„Sticks and Stones“ nennt der britische Star-Architekt David Chipperfield (nach dessen Plänen u. a. auch das Essener Museum Folkwang umgebaut wurde) seine beeindruckende „Intervention“, mit der er das gläserne Foyer der Berliner Nationalgalerie in einen Denk- und Erlebnisraum verwandelt und die komplizierten Wechselwirkungen von Architektur und Kunst, Material und Mensch anschaulich macht.

Eine Ansicht von David Chipperfields Installation "Sticks and Stone" in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin. (Foto: David von Becker)

Eine Ansicht von David Chipperfields Installation „Sticks and Stone“ in der Neuen Nationalgalerie zu Berlin. (Foto: David von Becker)

Die Verwandlung der Glashalle in einen Säulenpark ist der Prolog zur Sanierung des von Mies van der Rohe entworfenen Kunsttempels, der 1968 eröffnet wurde und längst ein Klassiker der Moderne ist. Der Zahn der Zeit hat unbarmherzig genagt und den spektakulären Museumsbau, bei dem acht schlanke Stahlstützen das monumentale, nachgerade frei schwebende Dach tragen, arg in Mitleidenschaft gezogen. Ende des Jahres wird das Haus für unbestimmte Zeit geschlossen und vom Büro David Chipperfields von Grund auf für 50 Millionen Euro saniert.

Der britische Architekt David Chipperfield (links) und Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie. (Foto: David von Becker)

Der britische Architekt David Chipperfield (links) und Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie. (Foto: David von Becker)

Dass Chipperfield es kann, hat er beim behutsamen Wiederaufbau des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel bewiesen. Nicht von ungefähr leiht sich Chipperfield für seine „Intervention“ den Titel bei einem ironisch zitierten englischen Kinderreim: „Sticks and Stones (may break my bones, but words will never hurt me).“

Chipperfield verweist damit auf zwei Grundelemente der Neuen Nationalgalerie: Stütze/Säule und Stein. Denn der Bau aus Glas und Stahl ruht auf einer gigantischen Marmorplatte, und das Dach, jetzt scheinbar von den Fichtenstämmen getragen, wird in Wahrheit von acht außerhalb der Glashalle stehenden Stahlträgern in seiner schwebenden Eleganz gehalten.

Chipperfield verbindet mit seinen entrindeten, 100 Jahre alten Fichten die freie Natur mit dem technischen Kunstraum, er holt das Außen ins Innere und entwirft ein Assoziationsfeld, bei dem Vergangenheit und Gegenwart sich durchdringen.

Neue Nationalgalerie, Ansicht mit Auto, Potsdamer Straße - im Jahr 1968. (© Archiv Neue Nationalgalerie, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Foto: Reinhard Friedrich)

Neue Nationalgalerie, Ansicht mit Auto, Potsdamer Straße – im Jahr 1968. (© Archiv Neue Nationalgalerie, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Foto: Reinhard Friedrich)

Inmitten des zwischen antiker Säulenhalle und provisorischem Baustellenchaos angesiedelten Fichtenwaldes gibt es eine kleine Lichtung. Vielleicht der passende Ort, um über die Zukunft von Kunst und Architektur zu sinnieren. Oder darüber zu streiten, wie Berlin es verkraften will, dass der Kunst-Tourist demnächst gleich vor zwei verrammelten Türen stehen wird: Denn neben der Neue Nationalgalerie schließt auch das Pergamonmuseum für Jahre seine Pforten. Schlechtes Timing.

David Chipperfield: Sticks and Stones, eine Intervention. Berlin, Neue Nationalgalerie (Kulturforum, Potsdamer Str. 50). Bis 31. Dezember 2014. Geöffnet Di, Mi, Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Sa, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen.




Berlin, Berlin – eine kleine Polemik

Seit ein paar Jährchen bin ich nicht mehr in Berlin gewesen. Mag sein, dass es auch daran liegt. Aber bestimmt nicht nur. Tatsache ist: Berliner Befindlichkeiten gehen mir auf den Geist. Doch die Gazetten quellen davon über.

Was interessiert’s mich, wen die Türsteher im Berghain reinlassen und ob der Schuppen überhaupt noch wichtig ist? Was geht’s mich an, wer im Café Einstein oder sonstigen Lokalitäten Platz nimmt? Was juckt es mich, ob der Prenzlauer Berg derzeit an- oder abgesagt ist und wohin sich die Hipness gerade mal wieder verlagert hat?

Der Autor der umliegenden Zeilen anno 2001 in Berlin. (Foto: privat)

Der Autor der umliegenden Zeilen anno 2003 in Berlin. (Foto: privat)

Ob Berlin sich anschickt, europäische oder Weltmetropole der Kunst, der Mode oder sonstigen Unsinns zu werden – piepegal! Wann dieser unselige Flughafen fertig wird – wurscht! Dass eingesessene Berliner zugereiste Schwaben und Touris nicht haben wollen – einerlei!

Da jetzt mal wieder der „Tag der deutschen Einheit“ ist, sei noch kurz angemerkt: Einen Streit, der es an Lächerlichkeit mit dem Disput ums millionenschwere Projekt einer „Einheitswippe“ in Berlin aufnehmen kann, müsste man erst noch erfinden. Man stelle sich vor: Die Wippe ist doch tatsächlich ins Wanken geraten…

Und überhaupt: Warum soll letztlich das ganze Land für ein irrsinniges Prestigeprojekt wie das Berliner Stadtschloss draufzahlen?

Von dem Ausblick (2001) war ick schwer beeindruckt, wa? (Foto: Bernd Berke)

Von dem Ausblick (2001) war ick schwer beeindruckt, wa? (Foto: Bernd Berke)

Um vollends polemisch zu werden: Erst hat die BRD West-Berlin als eingemauerte „Frontstadt“ mit durchgezogen, jetzt alimentieren alle die protzende Hauptstadt, deren Bewohner gleichwohl geglaubt haben, einen lebenslangen Anspruch auf günstigere Mieten zu haben als der ganze Rest der Nation.

Während Frankreich auf Paris zentrierte Strukturen wenigstens hie und da abbaut, eröffnen im staatlichen Kielwasser Hinz und Kunz Berliner Zentralen oder wenigstens Niederlassungen. In der Frankfurter (!) Allgemeinen Sonntagszeitung lese ich mehr über Berlin als über den gesamten Rest der Republik. Habe ich denn einen wuchernden Berliner Lokalteil bestellt? Nein.

Mich würde es gelegentlich auch mal interesseren, wie es z. B. in Bremen, Dresden, Kiel, Leipzig, Stuttgart, Nürnberg, Hannover, Rostock, Köln, Kassel oder Kaiserslautern zugeht. Von Hamburg und München ganz zu schweigen. Und vom Ruhrgebiet mal abgesehen, wenn’s nicht wieder die ewiggleichen Depressions-Arien der überregionalen Presse sind…

Aber nein. Statt dessen gibt’s stets die allerneuesten Trends aus Berlin-Mitte oder welchem Place-to-be-Hauptstadtteil auch immer. Und immerzu die ebenso atemlosen wie weitschweifigen Erwägungen, ob Berlin nun „arm aber sexy“ oder doch irgendwie Kiez-provinziell sei, ob und wie es als „einzige deutsche Weltstadt“ mit London, Paris und New York konkurrieren könne oder eben nicht. Wumpe!

Auch hier überkam mich der Weltstadt-Schauder. (Foto: Bernd Berke)

Auch hier überkam mich der Weltstadt-Schauder. (Foto: Bernd Berke)

Ganz ehrlich: Ich war schon damals gegen die ungemein kostspielige Verlagerung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Tatsächlich ist der Polit- und Medienbetrieb seither aufgeregter und großmäuliger geworden. Man durfte nichts anderes erwarten.

Apropos Medien. In Berlin selbst erscheinen ein paar Blättchen mit vergleichsweise lächerlich geringen Auflagen, die gleichwohl bundesweite Meinungsführerschaft beanspruchen: Tagesspiegel, Berliner Zeitung und taz sind hie und da lesenswert, jedoch im Grunde herzlich unbedeutend. Vom Fußball in der Kapitale wollen wir denn lieber gleich ganz schweigen. Der war fast immer zweit- bis drittrangig.

Als Trost für Hauptstadtbewohner bleibt einstweilen nur Frank Goosens aufs Ruhrgebiet gemünzter Sinnspruch: „Woanders is‘ auch scheiße…“




Der Schriftsteller Jörg Albrecht wird in Abu Dhabi festgehalten – ein Hilferuf

Die Petition von Holger Bergmann und Thorsten Ahrend für die Ausreise von Jörg Albrecht auf change.org. (Screenshot von http://www.change.org)

Die Petition von Holger Bergmann und Thorsten Ahrend für die Ausreise von Jörg Albrecht auf change.org. (Screenshot von http://www.change.org)

Jörg Albrecht ist ein Sprachkünstler. Ein leiser, ein höflicher Mensch. Einer der zuhört, einer der viel überlegt. Einer, der voller spannender und bemerkenswerter Gedanken steckt. Und einer, der sich nicht im Eindimensionalen bewegt. Einer, der sich für andere Menschen, andere Kulturen interessiert, der neugierig und aufgeschlossen ist, reflektiert und respektvoll. So habe ich den mittlerweile in Berlin lebenden Jörg Albrecht in seiner Heimat Dortmund kennengelernt, bei Gesprächen und Interviews zu seinen Büchern und Theaterinszenierungen.

Jetzt sitzt Jörg Albrecht in Abu Dhabi fest. Der Vorwurf: Spionage. Eingereist war er als Gast der Internationalen Buchmesse. In einem Interview mit ZEIT Online berichtet er, dass er unmittelbar nach seiner Ankunft am 1. Mai in der Nähe seines Hotels Bauten fotografierte, die ihn architektonisch interessierten. Daraufhin wurde er festgenommen und inhaftiert.

ZEIT und NZZ schreiben, man habe ihn der Spionage verdächtigt, da er in einer Straße fotografiert habe, in der auch Botschaften seien. Den Berichten zufolge ist Jörg Albrecht zwar wieder aus der Haft entlassen worden, dürfe das Land derzeit aber nicht verlassen. In dem ZEIT-Interview sagt Albrecht, er fürchte, „bald psychisch“ einzubrechen, „da ich hier nun erst mal auf mich gestellt bin“.

Ein Alptraum.

Holger Bergmann und Thorsten Ahrend haben eine Online-Petition für seine Ausreise ins Leben gerufen. Hoffentlich haben sie schnell Erfolg.

 




Ai Weiwei und die Kunst des Konflikts

Er hätte in New York bleiben können, frei, unbehelligt. Immerhin lebte der chinesische Künstler und Architekt Ai Weiwei von 1981 bis 1993 seinen amerikanischen Traum. Aber wer kannte ihn schon? Erst als aufrührerischer Heimkehrer entwickelte Ai ein von der westlichen Welt bewundertes Werk voller Zorn und Schönheit. Der Konflikt mit dem kommunistisch-kapitalistisch agierenden Regime inspiriert ihn zu immer wieder neuen Installationen, die er jetzt in einer grandiosen Schau im Berliner Gropius-Bau zeigt: „Evidence“ – Beweis.

Dass er selbst nicht zur Eröffnung kommen durfte, passt Ai Weiwei durchaus ins Konzept. Das Verbot sei, ließ er vorab verlauten, „ein Kunstwerk an sich“ und spiegele die menschliche Verfassung wider.

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Der Künstler Ai Weiwei im Jahr 2012. (Foto: © Gao Yuan)

Die chinesischen Behörden verweigern ihm die Ausreise, seit er 2010 mit einer im Internet angekündigten Protestparty auf den willkürlichen Abriss seines Ateliers in Shanghai reagierte. Während Ai in Hausarrest saß, ließ er rund 1000 Gästen ein symbolhaltiges Mahl servieren: Flusskrebse, chinesisch „he xie“. Genauso klingt – etwas kompliziert für westliche Rezipienten – das chinesische Wort für Harmonie, welches wiederum vom Regime gebraucht wird, sobald es um Gleichschaltung geht. Für Ai Weiwei sind die Flusskrebse nun seine subversiven Krabbeltiere. Er ließ sie 2011 in kostbarem Porzellan nachbilden, grau und rot, zerbrechlich, aber nicht verderblich. In unübersehbarer Zahl liegen sie auf dem Boden des Ausstellungssaals – unheimlich und reizvoll.

So macht sich Ai Weiwei die Dinge und Ereignisse zu eigen. Die Idee der Verwandlung ist sein Trick und zugleich seine Erlösung. Die Überwachungskameras, die vor seinem Haus in Peking installiert wurden, ließ er in Marmor nachbilden. Versteinert sind sie nun, hübsch, harmlos und doch Zeugnisse einer allgegenwärtigen Schikane. Ai hat sie verzaubert – genau wie die Handschellen, die zum Jade-Schmuck wurden, und sechs schäbige Plastikbügel, die jetzt als Kristallobjekte edel in einer Vitrine schimmern. Gezähmte Erinnerungen an die 81 Tage, die Ai im Frühjahr 2011 in einem Geheimgefängnis verbrachte.

Ohne Angabe von Gründen hatte man ihn auf dem Flughafen verhaftet und in eine Zelle gesperrt, wo das Licht nie ausging und die Möbel mit Schaumstoff umwickelt waren. Ein Nachbau soll dem Publikum (nur sechs Personen dürfen zugleich eintreten) die Gefühle des Gefangenen nahebringen, Ai lässt nichts aus. In einem suggestiven Musikvideo marschiert er zwischen Bewachern auf und ab – und inszeniert seine Fantasien. Ein Kind rasiert ihm die struppigen Haare vom Schädel, auch der lange Bart fällt. Der bullige Künstler wird zu einer kahlköpfigen, geschminkten Diva, die aus dem Gefängnisgang einen Laufsteg macht. Wieder hat die Metamorphose funktioniert.

Ein gefährliches Spiel, was Ai da treibt. Nicht immer geht es so gut aus wie Ende 2011, als Tausende von Spendern seine angeblichen Steuerschulden bezahlten. 2009, als er nach dem verheerenden Erdbeben von Sichuan auf Baumängel in den zusammengestürzten Gebäuden hinweisen wollte, erlitt er nach einer Polizistenattacke eine Hirnblutung, die in Deutschland operiert wurde. Zu einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst durfte er damals noch leibhaftig erscheinen. Heute ist er virtuell gegenwärtig – und ein andächtiges Publikum huldigt ihm im Gropius-Bau, dem ehemals kaiserlichen Kunstgewerbemuseum, um 1880 von Martin Gropius (dem Großonkel des Bauhaus-Gründers) als Pseudo-Renaissance-Palast errichtet.

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: "Stools" (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Installation mit über 6000 chinesischen Holzschemeln im Gropius-Bau: „Stools“ (Hocker), 2014. (© Ai Weiwei / Foto © Reschke, Steffens & Kruse, Berlin/Köln)

Ai weiß, wie man auch solche Räume füllt. Über 6000 alte Hocker aus nordchinesischen Dörfern stehen dichtgedrängt im prächtigen Lichthof. Sie tragen die Spuren vieler Leben und erzählen mit ihren Kratzern, Brüchen und Farbresten von Chinas Vergangenheit, deren Überreste systematisch dem Wirtschaftsboom geopfert werden.

Nicht nur in Peking verschwinden historische Stadtviertel, um neuen Wohn- und Geschäftsburgen Platz zu machen. Schon 2007, nachdem er antike Häuserteile und Möbel auf der Documenta installiert hatte, ließ Ai 30 Türen zerstörter Häuser in Marmor nachbilden. Sein „Monumental Junkyard“, der monumentale Schrottplatz, ist ein Denkmal für das Verlorene – genau wie zwölf vergoldete Bronzen chinesischer Tierkreisfiguren, die sich einst in den Gärten des kaiserlichen Sommerpalastes befanden, wo sie 1860 von europäischen Soldaten geraubt wurden.

Jede Zeit gebiert ihr eigenes Unrecht. Und sie sorgt für Verdrängung. Die jungen Chinesen im Fortschrittsrausch interessieren sich kaum für die traditionelle Kultur ihres Landes. Sie wollen Audi fahren. Ai Weiwei hat dafür in diesem Jahr ein starkes Zeichen geschaffen: Er überzog acht etwa 2000 Jahre alte Vasen aus der Han-Dynastie mit metallisch glänzendem Autolack. Sieht perfekt aus, dieser Akt der Zerstörung. Ai Weiwei, der abwesend Anwesende, hat sich wieder einmal klar ausgedrückt.

„Ai Weiwei – Evidence“: bis 7. Juli im Martin-Gropius-Bau, Berlin, Niederkirchnerstr. 7. Mi.-Mo. 10 bis 19 Uhr, ab 20. Mai bis 20 Uhr, Di. geschlossen. Katalog im Prestel-Verlag: 25 Euro (Buchhandelsausgabe: 39,95 Euro). www.gropiusbau.de




Heilsbringer in der Waschmaschine – Michael Thalheimer inszeniert „Tartuffe“ an der Schaubühne

Endlich haben alle begriffen, dass der als Heilsbringer verehrte Herr Tartuffe nur ein Heuchler ist. Ein Scharlatan, der sich in religiöser Verzückung kurios verbiegen kann und sich in leidender Jesus-Pose gefällt.

All die auf die Haut tätowierten Bibelverse und das Gerede von Schuld und Erlösung können irgendwann nicht mehr vertuschen, dass Tartuffe nur ein geldgieriger Raffzahn und notgeiler Lüstling ist, der die Familie Orgon in den Ruin treiben und es mit der Frau des Hauses treiben möchte. Plötzlich beginnt die kleine Welt der Orgons ins Rutschen zu kommen. Und die Bühne, eben noch eine mit Blattgold verzierte Mönchszelle, rotiert wie eine enthemmte Waschmaschine.

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Orgon (Ingo Hülsmann, li.) und Tartuffe (Lars Eidinger). (Bild: Katrin Ribbe/Schaubühne)

Das Unterste wird nach oben gekehrt, die Menschen fliegen durcheinander. Nichts und niemand gibt ihnen mehr Halt. Schon gar nicht jener feist grinsende Herr Tartuffe, der – so will es Regisseur Michael Thalheimer – zum bitterbösen Ende hin nicht verhaftet wird, sondern die Familie Orgon einfach vor die Tür setzen lässt.

Michael Thalheimer, offenbar vom interneren Machtkampf mit Platzhirsch Andreas Kriegenburg am Deutschen Theater entnervt, ist als Hausregisseur an die Berliner Schaubühne gewechselt. Dort inszeniert er jetzt Molières „Tartuffe“ als, ja, als was eigentlich? Eine ausgelassene Komödie jedenfalls ist es nicht geworden. Eher eine streng formalisierte Groteske. Ein moralinsaurer Abgesang auf die Blindheit der Menschen, die sehenden Auges in ihr Unglück rennen.

Thalheimer bleibt sich, auch am neuen Theater, treu und macht das, was er immer macht: Er entkernt den Text, bis nur noch ein ein dürres Handlungsgerippe übrig bleibt, reduziert die Menschen auf stilisiert wirkende Macken und Marotten, sperrt die Figuren – mit Hilfe seines Bühnenbildners Olaf Altmann – in ein enges Gefängnis. Ob der von allen guten Geistern und jeder Vernunft verlassene Orgon (Ingo Hülsmann), ob seine um Haus und Hof fürchtende, aber einem Seitensprung nicht abgeneigte Frau Emire (Regine Zimmermann) oder der sich mit ausgeleierten Phrasen und billiger Anmache einschleimende Tartuffe (Lars Eidinger): Sie alle müssen sich durch einen kleinen Spalt in den karg möblierten Bühnen-Schrein zwängen.

Lustig ist das nicht. Genauso wenig wie die seltsamen Grimassen, Verrenkungen und Schreiattacken, von denen Tochter Marian (Luise Wolfram), ihr Verlobter Valère (Tilman Strauß) und der Gerichtsvollzieher (Urs Jucker) heimgesucht werden. Einzig Judith Engel als gelangweiltes Hausmädchen Dorine verbreitet als Unheil verkündende Kassandra eine Komik des Schreckens.

Längst bevor die falsche Fassade einstürzt, liegen alle Lügen und alle Wahrheiten offen zutage. Atmosphärische Verdichtung erzeugt allein noch die enervierende Musik: eine schauderhaft-schöne Collage aus schwer dröhnenden sakralen Orgelklängen und metallisch klirrenden Gitarrenriffs. Das bleibt noch lange im Ohr. So wie die zur rotierenden Waschmaschine werdende Bühne sich ins Theater-Gedächtnis einschreiben wird. Aber sonst? Viel Lärm um nichts.

Berlin, Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153. Nächste Aufführungen am 9. und 10. Januar 2014. Karten unter 030/890023 oder ticket@schaubuehne.de




Ausweitung der Farbzone – Werke von K.O. Götz in Berlin und Duisburg

Er ist der große Unbekannte der zeitgenössischen deutschen Kunst. Dabei ist die Bedeutung seiner künstlerischen Innovationen und sein Einfluss auf viele Kollegen kaum zu übersehen und zu überschätzen.

Als die meisten deutschen Maler in der Nachkriegszeit versuchten, die durch die Kultur-Barbarei der Nazis verursachte Abschottung zu überwinden und Anschluss an die internationale Moderne zu finden, war der am 22. Februar 1914 in Aachen geborene Karl Otto Götz schon längst Mitglied grenzüberschreitender künstlerischer Projekte. Bei den Ausstellungen der „CoBrA“-Gruppe in Lüttich war Götz vertreten, seine abstrakten und informellen Bilder setzen Maßstäbe.

Karl Otto Götz: "Giverny VII". 1988, Sammlung Ströher, Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn / Olaf Bergmann, Witten.

Karl Otto Götz: „Giverny VII“. 1988, Sammlung Ströher, Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn / Olaf Bergmann, Witten.

Bereits in den 1930er Jahren hatte Götz mit Luftpumpen Farbornamente gesprüht. Und ähnlich wie sein amerikanischer Bruder im Geiste, Jackson Pollock, hat Götz Ende der 1940er Jahre angefangen, die Farben auf seine am Boden liegenden Leinwände zu klecksen. Durch einen Zufall kam er beim Anrühren von Kleister für seinen kleinen Sohn auf die Idee, seine Farben auf den feuchten Kleistergrund aufzubringen, um sie dann erst mit einem Rakel-Schieber aus Gummi oder Stahl zu verwischen und schließlich mit dem Pinsel in die aufgerakelten Passagen hineinzuarbeiten. Diese Technik hat Götz nicht nur immer weiter perfektioniert, er hat sie auch als Kunstprofessor in Düsseldorf an seine Schüler – unter ihnen Sigmar Polke und Gerhard Richter – weitergegeben.

Noch heute ist der nimmermüde Erneuerer, trotz einer Augenkrankheit, die ihn nahezu erblinden ließ, fast jeden Tag in seinem Atelier in Niederbreitbach-Wolfenacker (Westerwald) anzutreffen und malt unter Mithilfe seiner Frau Rissa seine farbekstatischen Bilder. In der Berliner Neuen Nationalgalerie ist jetzt zum 100. Geburtstag eine große Werkschau zu sehen, die anschließend nach Duisburg (Museum Küppersmühle) und Wiesbaden kommt. Die Retrospektive ist eine Verbeugung vor dem Lebenswerk und belegt zugleich die Bedeutung für die Kunstgeschichte.

Karl Otto Götz bei der Arbeit in seinem Düsseldorfer Atelier, 1959 (© Foto: Siegfried Kühl)

Karl Otto Götz bei der Arbeit in seinem Düsseldorfer Atelier, 1959 (© Foto: Siegfried Kühl)

Gezeigt werden 70 Hauptwerke, an denen sich verschiedene Lebensstationen und künstlerische Entwicklungen ablesen lassen. Bilder aus den frühen Jahren sind dabei, die in ihrer figurativen und grazilen Abstraktheit und an Klee und Kandinsky erinnern. Rasterbilder wirken wie Vorläufer elektronischer und mit Computern generierter Malerei. Und dann diese Ausweitungen der Farbzonen in seinen gerakelten Bildern, die spontan, improvisiert und zufällig anmuten und doch das Ergebnis höchster Konzentration und konzeptioneller Überlegungen sind! Abzulesen ist das an den – in Glasvitrinen liegenden – Skizzen und Studien, in denen Götz Farbe und Technik festlegt und serielle Variationen der abstrakten und informellen Bilder durchspielt.

Zu den eindrucksvollsten Bildern gehört „Dantons Tod“ (1960), ein düsterer, schwarzer und roter Farbteppich, der an eine Blut-Orgie gemahnt. Einige Exponate der umfangreichen „Giverny“-Serie sind zu bestaunen, in denen Götz unter Anlehnung an Monets Licht- und Farbstudien des Gartens im französischen Ort Giverny flirrende, sonnendurchflutete Impressionen schuf.

Nicht fehlen darf auch der mit unbändiger Kraft und Euphorie auf die Leinwand geworfene Kommentar zur geglückten deutschen Einheit: „Jonction – 3.10.1990“. In solchen Bildern zeigt sich, dass der mit Farben und Formen experimentierende Götz immer auch auf zeitgeschichtliche Bezüge in den Blick nimmt. Sein Triptychon zur Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Sprengköpfen spricht eine deutliche Sprache: Farb-Explosionen imaginieren eine Welt am apokalyptischen Abgrund. Da sage noch einer, abstrakte Malerei habe keine politische Botschaft.

K.O. Götz. Neue Nationalgalerie, Berlin. Bis 2. März 2014, Di, Mi, Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Sa So 11-18 Uhr, Katalog 30 Euro, Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Infos unter http://www.kogoetzinberlin.de

Vom 21. März bis zum 15. Juni 2014 wird die Ausstellung im Duisburger Museum Küppersmühle zu sehen sein.




Denkmal der Deutschen, die Demokratie wagen: Willy Brandt wäre 100 Jahre alt geworden

Wir lauschten in einen Bildschirm, auf dem nur eine Person und deren markantes Gesicht zu sehen war, eine Person, die sich anschickte einer der historischen Bundeskanzler dieser Republik zu werden.

Wir, das waren Christine Markhoff, Malte Markhoff, Klaus Mendel und Rosel Linner und ich (das war so ziemlich der Kernbestand der damaligen Schwerter Ruhrnachrichten). Politisch waren wir aus unterschiedlichen Ecken, doch eines einte uns: Wir waren ziemlich gefesselt von dem, was dieser Willy Brandt 1969 als persönliche Botschaft ins Land schickte: „Mehr Demokratie wagen!“

Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt beim Besuch der Dortmunder Zeche Minister Stein am 1. März 1974. (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt beim Besuch der Dortmunder Zeche Minister Stein am 1. März 1974. (Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Er ist bereits vor seinem Tode am 8. Oktober 1992 sein eigenes Denkmal gewesen, er ist dieses bis heute für seine Partei, die SPD. Im Foyer des nach ihm benannten Hauses der SPD-Zentrale in Berlin steht er als solches, überlebensgroß, in Bronze gegossen, geformt vom Bildhauer Rainer Fetting. Furchig, die personifizierte Weisheit, eine erklärende, mahnende Körpersprache, aber keinen Widerspruch duldend: Willy Brandt eben, der wesentlich härter sein konnte, als sein Weggefährte Herbert Wehner („Der Herr duscht gern lau“) ihm zutraute, der ungeduldiger sein konnte, als seine ruhige Redner-Sprache verriet, der unleidlicher werden konnte, wenn es nicht so ablief, dass es seinen Vorstellungen entsprach.

Ja, ich weiß, dass er als Herbert Ernst Karl Frahm zur Welt kam. Meine Eltern sagten es mir so häufig und meist so abfällig, dass ich eine Zeitlang glaubte, meine Bewunderung gelte einem Menschen, der dem gesunden deutschen Wiederaufbau destruktiv entgegenarbeite. Aber selbst deren, aus Willy Brandts subversiver Nazi-Widerstandsarbeit gespeiste Abneigung wurde im Laufe der Jahre durch dessen (mindestens in der SPD) unerreichtes Charisma weg gehobelt. Die Abfälligkeit ersetzten sie durch einen distanzierten Respekt.

Willy Brandt begleitet mich in Lebensphasen, die für mich einschneidend und entscheidend waren. Ich sah ihn nach dem Mauerbau, als Regierender Bürgermeister war er damals ebenso wehrlos wie unerschrocken empört (ähnlich wie einst sein Vorgänger Ernst Reuter, als der die „Völker dieser Welt“ aufrief, auf Berlin und die Blockade zu schauen). Ich sah ihn, als er US-Präsident John F. Kennedy zuhörte, dessen „Ich bin ein Berliner“ sich in die Erinnerung erschütterten Republik grub. Ich sah und hörte ihn, als er begann, für sein Konzept der Aussöhnung mit Osteuropa zu werben und zu streiten. Ich sehe das legendäre Bild des Kniefalls von Warschau und höre die „Willy, Willy“-Rufe von Erfurt, als die DDR-Bürger pfiffig den Vornamen von Willi Stoph skandierten und keine Konsequenzen fürchten mussten.

Und ist sehe auch heute noch sein bewegtes Gesicht, als die Mauer fiel und „zusammenwachsen sollte, was zusammen gehört“.

Willy Brandt war aus der Ferne ein Wegbegleiter, ein Vorbild, ein Magnet, der mir den Eintritt in eine Partei erleichterte und die Auswahl, welche Partei es sein sollte, beinahe zwingend auf eine fokussierte. Er hat ganz sicher jede Menge Fehler gemacht, er hatte ganz sicher auch persönlich jede Menge davon, aber er hatte für diese Republik einen ganz besonderen Wert. Er konnte Menschen jeden Alters und beinahe jeder politischen Herkunft für eine große und gute Idee begeistern: die Demokratie und ihre Freiheiten, für die es lohnt zu streiten und zu kämpfen.

Ich habe ihm einmal, als ich ganz und gar nicht einverstanden mit seinem Handeln war, einen Brief geschrieben. Das war im Frühjahr 1987, als er die parteilose Margarita Mathiopoulos zur zukünftigen Parteisprecherin küren wollte. Heute sehe ich das so: Wir hatten beide recht. Er, weil er seiner SPD neue Wege erschließen wollte, ich, weil Margarita Mathiopoulos sich später bei einer wirtschaftsliberalen FDP und Herrn Westerwelle besser aufgehoben fühlte. Willy Brandt antwortete natürlich nie, was ich ihm auch nicht übel nahm.

Ich schreibe auch an dieser Stelle nicht, was ich ihm wirklich stets nachtragen werde, was ich insgeheim an meinem Idol ernsthaft zu mäkeln habe. Das wäre in meinen Augen auch klein (von mir) und seiner historischen Bedeutung unangemessen.

Michail Gorbatschow wollte ihn wenige Tage vor seinem Tod unangemeldet besuchen. Willy Brandts Frau öffnete nicht, weil sich Gorbatschow über die Gegensprechanlage mit seinem Namen meldete, und sie das Ganze für einen schlechten Scherz hielt. So kamen die beiden Männer, deren Wege im jeweiligen Heimatland ähnliche Schleifen gehen mussten und Willys politische Vorarbeit Teile des Weges von Michail Gorbatschow pflasterten, nicht mehr zusammen.

Willy Brandt wurde neben Ernst Reuter auf dem Berliner Waldfriedhof Zehlendorf beigesetzt. Zwei große Männer, die für Berlin, die Bundesrepublik und das freie, demokratische Deutschland unbeirrt ihren Traum verfolgten.

Am 18. Dezember 2013 wäre der Mann, für den wir damals „Willy wählen!“ an jede sich bietende Häuserwand pappten, 100 Jahre alt geworden. Und noch immer begleitet er alle die, die noch immer „mehr Demokratie wagen“ wollen, durch den beschwerlichen Alltag.




Narr, Schamane, Anarchist: Zwiespältige Schlingensief-Werkschau in Berlin

Sein wichtigstes künstlerisches Mittel war die Provokation.

Ob er ein filmisches „Kettensägen-Massaker“ anrichtete oder mit dem Megaphon dazu aufrief, den FDP-Politiker Jürgen Möllemann zu töten; ob er die Spaßguerilla-Partei „Chance 2000“ gründete oder mit einem Fluxus-Oratorium „Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ betrauerte: Immer hatten die performativen Kunst-Events des gebürtigen Dortmunders Christoph Schlingensief etwas Flüchtiges und Chaotisches, wirkten sie wie hastig improvisierte Reaktionen auf politische Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Fehlentwicklungen, Entgleisungen des Zeitgeistes.

Christoph Schlingensief: "Freakstars 3000" (2003). Von links: Christoph Schlingensief, Horst Gelonneck, Kerstin Graßmann, Mario Garzaner, Achim von Paczensky. (© Filmgalerie 451 / Foto: Thomas Aurin)

Christoph Schlingensief: „Freakstars 3000“ (2003). Von links: Christoph Schlingensief, Horst Gelonneck, Kerstin Graßmann, Mario Garzaner, Achim von Paczensky. (© Filmgalerie 451 / Foto: Thomas Aurin)

Eigentlich kaum vorstellbar, dass all die Filme und Inszenierungen, Installationen und Aktionen eine museale Form annehmen könnten. Drei Jahre nach dem frühen Krebstod von Christoph Schlingensief präsentieren die Berliner „Kunst-Werke“ eine opulente Werkschau. Das ist nur möglich, weil Schlingensief, den viele für einen anarchischen Spinner und flüchtigen Ideenproduzenten hielten, ein notorischer Sammler und penibler Archivar seiner Kunst-Entäußerungen war.

So kann man jetzt, über mehrere Stockwerke und in unzähligen Räumen und Nischen, all das sehen, hören, nacherleben, was man längst auf der Halde der Kunstgeschichte wähnte: die Wiener Bau-Container, in denen einst (in einer Big-Brother-Persiflage) Ausländer hausten und auf ihre Ausweisung warteten; der aus sowjetischem Militärschrott gebastelte, auf einer Drehbühne installierte und von den Zuschauern begehbare „Animatograph“; der Mitschnitt jener Aktion, mit der Schlingensief hunderte Arbeitslose dazu aufrief, im Wolfgangsee zu baden, damit die Flutwelle bis an die Tür des Urlaubsdomizils von Kanzler Kohl schwappen möge; die mit versteckter Kamera heimlich gedrehten Bilder seiner „Parsifal“-Inszenierung in Bayreuth.

Auf Dutzenden Fernsehgeräten laufen in Endlosschleifen Videos, überall wabern akustische Pamphlete durch die Gänge. Alles, was man bisher vielleicht nur für Ausgeburten spätpubertärer Fantasie und geschmackloser Narretei gehalten hat, gewinnt, museal aufbereitet, fein beschriftet und kunstgeschichtlich einsortiert, plötzlich einen absurd anmutenden Kunst-Charakter. Und die Person, die – seien wir ehrlich – vielen Beobachtern zu seinen Lebzeiten mitunter heftig auf die Nerven gegangen ist, wird zum Gegenstand künstlerischer Verklärung.

Spätestens in jenem Andachtsraum, in dem das Vermächtnis Schlingensiefs – das von ihm inspirierte Operndorf in Afrika – weiterwirkt, beschleicht einen das verstörende Gefühl, in einen bizarren Kunst-Gottesdienst geraten zu sein. Aber Schlingensief war kein Heiliger, kein Wegweiser und kein Künder einer besseren Welt. Er war ein Störenfried, Schamane und Anarchist. Eine Nervensäge, ein permanenter Widerspruch. Ein Gesamtkunstwerk, das nur funktioniert, verstört, verärgert, solange er selbst den Provokateur spielt, den Ton und die Richtung vorgibt.

Ja, Schlingensief fehlt. Die deutsche Kunst ist ohne ihn um vieles ärmer. Aber im Museum wirkt er seltsam fehl am Platze, ins Unwirkliche entrückt, wie ein Denkmal seiner selbst. Irgendwie harmlos.

KW „Kunst-Werke“, Auguststraße 69, 10117 Berlin. Bis 19. Januar 2014, Mi-Mo 12-19 Uhr, Do 12-21 Uhr, Di geschlossen; Eintritt 6 Euro, ermäßigt 4 Euro.
Infos: http://www.kw-berlin.de/de/




Willy Brandt: Größer als ein übliches Porträt

Willy Brandts legendärer Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970. (© WDR/Interfoto)

Willy Brandts legendärer Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970. (© WDR/Interfoto)

Eigentlich waren auch 95 Minuten Sendezeit viel zu kurz, um einen Stoff wie „Willy Brandt: Erinnerungen an ein Politikerleben“ (arte) auch nur annähernd zu fassen. Einer wie er sprengt den Rahmen der üblichen Porträts.

Vor allem politische Freunde und journalistische Weggefährten äußerten sich über den großen Sozialdemokraten, der am 18. Dezember 100 Jahre alt werden würde. Es war eine Würdigung ohne Misstöne. Das fiel kein böses Wort über den Porträtierten. Und tatsächlich: Was hat dieser Mann nicht alles erreicht! Und wie sehr fehlen uns heute Politiker von solchem Charisma, von solchem Schrot und Korn. Vor allem die klugen Einschätzungen des langjährigen Brandt-Mitarbeiters Egon Bahr brachten einem die menschliche Seite dieser historischen Gestalt näher.

Wenig originelle Form

Die Machart solcher Porträts ist leider immer ziemlich ähnlich. Da wird von mehr oder minder berufenen Zeitzeugen enorm viel geredet, während die ins Unscharfe geblendeten Hintergrundbilder stets ausgesucht idyllisch (vorzugsweise mit Büchern, Bäumen und Blumen) arrangiert werden. Da würde man sich gelegentlich originelle und mutigere Formen der Darstellung wünschen. Immerhin hatte André Schäfer („Lenin kam nur bis Lüdenscheid“) für seinen Beitrag teilweise rare und aussagekräftige Filmausschnitte aus den Archiven ans Licht geholt.

Von der Schulzeit in Lübeck und der norwegische Emigration reichte der ungeheuer weite Bogen über die Amtszeiten des „Deutschen Kennedy“ als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Außenminister (ab 1966) und Bundeskanzler (1969-1974). Dazwischen noch so legendäre Ereignisse wie die Ostverträge, der Kniefall von Warschau und die Guillaume-Affäre. Sehr anrührend war es schließlich zu sehen, wie Brandt den Fall der Berliner Mauer und die deutsch-deutsche Grenzöffnung noch erlebte – ein Ziel, für das er all die Jahre hartnäckig gestritten hatte. Da wehte wirklich der Atem der Geschichte.

Depressionen und Intrigen

Deutlich wurde auch, wie sehr der Politikbetrieb schon damals einen Mann zermürben konnte. Brandts ohnehin vorhandene Neigung zur Depression wurde zunächst von Adenauer (der sich infam über Brandts Namenswechsel und die Emigration empörte) und später vom intriganten „Partei-Freund“ Herbert Wehner gesteigert. Da kann man noch im Nachhinein zornig werden.

Manchmal heißt es ja recht allgemein, der heutigen Politik fehlten überhaupt solche Typen. Doch da gibt es wahrlich Unterschiede. Einem Apparatschik wie Wehner muss man nicht viele Tränen nachweinen, einem beseelten Gestalter wie Willy Brandt schon. Über den jetzigen Zustand der SPD wollen wir in diesem Zusammenhang lieber nicht sprechen.

„Unvollendete Kanzlerschaft“

Vieles konnte nur angerissen werden, dennoch schälten sich zwischendurch immer wieder ein paar schlaglichtartige, prägnante Befunde heraus. Brandt war offenbar einer, der auch nach grandiosen politischen Siegen nie den Triumphator herauskehrte. Fast im Gegenteil: Gerade in solchen Momente konnte er überaus nachdenklich und wie versteinert wirken.

Brandts einstiger Redenschreiber Klaus Harpprecht sprach von einer „Unvollendeten Kanzlerschaft“. Hätte Brandt trotz Guillaume einfach weitermachen sollen? Hätte damals eigentlich FDP-Innenminister Genscher zurücktreten müssen, wie es im Film hieß? Auch darüber gibt es weitaus mehr als eine Meinung.

Übrigens: Wer noch etliches mehr über Willy Brandt wissen will, sollte sich (neben der Lektüre einschlägiger Bücher) für den 13. Dezember im WDR-Fernsehen „Die lange Willy Brandt Nacht“ vormerken. Ab 23.15 Uhr dauert sie über sechs Stunden. Ein typischer Fall für den Recorder.




TV-Nostalgie (5): „Liebling Kreuzberg“ – Das Glück des Müßiggangs im Kiez

Vielleicht waren die 1980er Jahre die letzte wirklich fruchtbare Fernsehzeit. Damals liefen beispielsweise grandiose, ja unsterbliche Serien wie „Monaco Franze“, „Kir Royal“ – und „Liebling Kreuzberg“.

Manfred Krug als Anwalt Liebling war sozusagen die Berliner Antwort auf die genannten Münchner Edelserien. Die Autoren galten etwas in der literarischen Welt, sie erwiesen sich hier zudem als Schriftsteller, die ein Millionenpublikum auf hochbeachtlichem Niveau zu unterhalten vermögen: Die ersten drei Staffeln schrieb Jurek Becker, dann übernahm Ulrich Plenzdorf. Ach, das waren noch Zeiten, als solche Leute TV-Serien verfassten.

Ganz entspannt in der Kanzlei: Anwalt Robert Liebling (Manfred Krug). © ARD/Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=3kHio8EwgBc

Ganz entspannt in der Kanzlei: Anwalt Robert Liebling (Manfred Krug). © ARD/Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=3kHio8EwgBc

Dreitagebart und Schlapphut

Ich habe mir jetzt die allererste Folge vom 17. Februar 1986 noch einmal angesehen und mich dabei keine Sekunde gelangweilt. Der Folgentitel „Der neue Mann“ bezog sich nicht einmal in erster Linie auf Robert Liebling, obwohl der damals als Figur ja auch völlig neu war. Nein, um endlich seiner natürlichen Faulheit frönen zu können und mehr Zeit für die holde Damenwelt zu haben, sucht der Dreitagebartträger mit dem Schlapphut einen fleißigen Sozius für die Kanzlei – eben den „neuen Mann“ mit dem etwas seltsam klingenden Namen Dr. Giselmund Arnold (Michael Kausch). Der kommt – gleichsam ein Vorbote der Schwabenschwemme in Berlin – übrigens ausgerechnet aus Stuttgart.

Wie Berlin sich veränderte

Ein sinnreicher Kunstgriff. Durch den Kontrast zum neuen, überaus eifrigen Kollegen wird Liebling gleich so charakterisiert, wie es ein Soloauftritt schwerlich bewirkt hätte. Man bekommt nebenher nette Kostproben über den flapsigen Umgangston in der Kreuzberger Kanzlei und erste kleine Lektionen über den „Kiez“ an sich. Überhaupt ist es ja ein Glückfall und eine Gunst der historischen Stunde, dass „Liebling Kreuzberg“ noch im alten West-Berlin beginnt und dann die Zeit vor und nach dem Mauerfall begleitet.

Gleich mittendrin im prallen Leben

Nach der ersten Folge, die sofort mit einigen lebensprallen Fällen aufwartet, ist man jedenfalls gleich mittendrin im Geschehen. Schon sehr bald hat man die Figuren und das ganze Drumherum ins Herz geschlossen. Und man will unbedingt wissen, wie sich das alles weiter entwickelt.

Manfred Krug geht jedenfalls zumeist wunderbar tiefenentspannt durch all die kommenden Folgen. Ähnlich glaubhaft wie Helmut Fischer alias Monaco Franze, wenn auch persönlich und landsmannschaftlich anders getönt, verkörpert er das Glück des Müßiggangs und des erotischen Tändelns.

Bestimmt kein Zufall, dass solche Serien vor der exzessiven Handy- und Computer-Nutzung erfunden worden sind. Und auch von manchen Niederungen des Privatfernsehens wusste man damals noch wenig.




Politiker mit Widersprüchen: Buch lenkt den Blick auf die menschliche Seite von Willy Brandt

Die Willy-Welle schwappt durch das Land, unter anderem Spiegel, Stern und Zeit haben ihm ausführliche Rückblenden gewidmet. Der 100. Geburtstag von Willy Brandt am 18. Dezember ist auch der Anlass für die Neuauflage der Biographie von Gregor Schöllgen.

„Eine Annäherung“ wäre für das Buch des renommierten Professors für Neuere Geschichte an der Uni Erlangen wohl der treffende Untertitel, schaut der Autor doch vor allem auf den Menschen Willy Brandt mit allen seinen Widersprüchen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Schöllgen, der den Nachlass des Friedensnobelpreisträgers von 1971 mitherausgegeben hat, legt hier keine Homestory vor. Er zeichnet vielmehr den Lebensweg des langjährigen SPD-Politikers nach, einen Weg, auf dem Siege und Niederlagen, Höhen und Tiefen meist ganz nah beieinander lagen.

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Dabei war es wohl, wenn man den Ausführungen Schöllgens folgt, die menschliche Seite Brandts (der durchaus das Leben zu genießen wusste), die zu seiner Popularität maßgeblich beitrug. Aber es war auch die Achillesferse. Sehr deutlich arbeitet der Geschichtswissenschaftler heraus, dass Brandts Rücktritt 1974 keine zwingende Konsequenz aus der Guillaume-Affäre darstellte, sondern der Kanzler politisch müde, gesundheitlich angeschlagen und von Gegnern bedrängt das Amt aufgab.

Intimfeind Herbert Wehner

So sehr der Intimfeind, SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, an Brandts Sturz mitgewirkt haben mag, so kann man aber auch nicht übersehen, wie massiv den Sozialdemokraten die Strapazen, die die Aufgaben als Regierungschef mit sich brachten, und die ständigen Quengeleien in Fraktion und Koalition ihm zugesetzt hatten. Schöllgens Schilderungen lassen das Bild vom allzu schnell verglühten Stern am Polithimmel aufkommen, der mit dem zweiten Wahlsieg 1972 eigentlich schon seinen Zenit überschritten hatte.

Ein neuer Stil, weltoffen, modern und diskussionsfreudig, hatte mit ihm und seiner Frau Rut Einzug gehalten in das politische Bonn Ende der 60er Jahre. Trotz des positiven Echos, das dem Paar gegönnt war, ist Brandt selbst aber nie wirklich in Bonn heimisch geworden.

Sehnsucht nach Berlin

Mit Wehmut dachte er häufig an die Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin zurück, wo er sich eins fühlte mit der Bevölkerung und diese ihn hochachtete. In der geteilten Stadt gründete sich eine Popularität nicht zuletzt auf sein Verhalten beim Mauerbau. Er stand zu den Berlinern, als diese sich von Kanzler Adenauer und den Westmächten im Stich gelassen fühlten. Neue Pfade hatte Brandt aber auch in Berlin beschritten. Er setzte auf eine vorwärtsgewandte SPD, die sich zum einen mit den Realitäten des geteilten Deutschlands abfinden und zum anderen nicht mehr nur als Arbeiterpartei verstehen sollte. Seine Wahlkämpfe waren von Anleihen in der amerikanischen Politik geprägt, gezielt wusste er sein Familienleben in Szene zu setzen und für seine Zwecke zu nutzen.

Jemand wie Brandt reizte folglich zum Widerspruch – auch und gerade in den eigenen Reihen. Die Stärke des Buches liegt vor allem darin, diese Konfliktlinien sehr deutlich herauszuarbeiten. Die Partei wusste, was sie an ihm hatte, und für ihn, der nach heutigen Maßstäben in einer Patchwork-Familie aufwuchs, erfüllte die Partei eine Ersatzfunktion familiärer Art. Sein Redetalent, seine Schreibbegabung (als gelernter Journalist), seine Fähigkeit, „mit Menschen zu können“, brachten ihm viele Sympathien und anfänglich auch den Rückhalt von Wehner ein, der immer mehr von ihm ließ, als vermeintliche Schwächen sich bemerkbar machten. Zu einer echten Versöhnung sollte es auch später nicht mehr kommen, anders beim innerparteilichen Kontrahenten Helmut Schmidt, mit dem er sich in den letzten Lebensjahren zumindest aussprach.

Schwieriges Verhältnis zur SPD

Das Verhältnis zwischen Brandt und der SPD war längst nicht durchgängig entspannt. Beispielhaft steht dafür die Haltung des Vorsitzenden zum Nato-Doppelbeschluss und die Proteste Anfang der 80er Jahre.
Partei hin oder her, sind mit dem Namen Willy Brandt aber nicht viel mehr Ereignisse wie der Kniefall von Warschau, der Tag von Erfurt oder sein Slogan „Mehr Demokratie wagen“ verbunden? Wo bleiben sein Engagement als Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen oder der Nord-Süd-Kommission? Das alles sind, daran lässt Schöllgen keinen Zweifel aufkommen, Marksteine im politischen wie auch persönlichen Leben des Sozialdemokraten.

Wer Brandt aber verstehen möchte, der muss seinen Werdegang von Beginn an nachvollziehen. Dazu gehört die kleinbürgerliche Welt in der Geburtsstadt Lübeck, was keineswegs despektierlich zu verstehen ist, dazu gehört vor allem auch sein Exil in Norwegen und Schweden, als er vor den Nazis flüchtete. Die Jahre sollten Stoff liefern für Diffamierungen und Verleumdungen, unter anderem machte man ihm zum Vorwurf, mit der Sowjetunion kollaboriert zu haben. Verbindungen hätten zwar in Ansätzen existiert, aber nach dem Überfall Hitlers auf die UdSSR sei er da keineswegs allein gewesen, unterstreicht der Autor. Die immer wiederkehrenden Anwürfe gegen den Sozialdemokraten lassen nach den Worten von Schöllgen vor allem übersehen, dass Brandt sich politisch gegen die Nazis engagierte und der Widerstand in Deutschland sehr wohl den Kontakt zu ihm gesucht habe.

Frauengeschichten nur Nebensache

Widersacher, die ihm das Leben schwer machen, hat Brandt zur Genüge erlebt, doch auch er wusste auszuteilen, beispielsweise, als die Teilung Deutschlands überwunden war. Von Oskar Lafontaine, den er zunächst protegierte, wandte er sich enttäuscht ab, als der die Einheit Deutschlands mit großer Skepsis betrachtete.

Ist Brandts Biographie eigentlich unvollständig erzählt, wenn man die Frauengeschichten weglassen würde? Wurden sie ihm nur angedichtet, um ihn zu Fall zu bringen? Schöllgen stellt hier eher Aussage gegen Aussage und lenkt, und da ist man als Leser auch nicht befremdet, den Blick auf die Lebensleistung des Sozialdemokraten.

Sein eigenes Leben hat Willy Brandt vor allem durch Schreiben verarbeitet und so viele Bücher veröffentlicht wie kaum ein anderer Politiker des 20. Jahrhunderts. Es wurde aber auch über kaum einen anderen so viel geschrieben wie über den Mann, mit dem die SPD erstmals einen Kanzler stellte, der zwei Mal in dieses Amt gewählt wurde, der drei Mal verheiratet und Vater von vier Kindern war. Schöllgen gibt einen Überblick über die Literatur und ordnet sie ein – auch das ist eine lesenswerte Orientierungshilfe.

Gregor Schöllgen: „Willy Brandt. Die Biographie“. Berlin Verlag. 336 Seiten. 19,99 Euro.




„Nach dem Applaus“ – ein Krimi aus dem Theatermilieu in Berlin und Wien

Es ist bitterkalt. Schnee und Eis haben die Mitte Europas fest im Griff. Eigentlich möchte man sich es sich nur noch mit einem heißen Getränk und einem guten Buch in der gut geheizten Wohnung gemütlich machen. Doch dann müssen der Berliner Kommissar Thomas Bernhardt und seine Wiener Kollegin Anna Habel doch vor die Tür und hinaus ins Frostige.

In den Hauptstädten Deutschlands und Österreichs geschehen Morde, die offensichtlich enger zusammenhängen, als es auf den ersten Blick scheint. In Berlin wird eine junge Schauspielerin grausam zerstückelt, die noch vor gar nicht langer Zeit in Wien große Bühnentriumphe feierte. Und war sie nicht mit jener Frau näher befreundet, deren kopflose Leiche man in Wien auf den Gleisen eines Rangierbahnhofs findet?

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„Nach dem Applaus“ heißt der neue, nunmehr dritte „Fall für Berlin und Wien“, den das Autoren-Duo Bielefeld & Hartlieb mit liebevoll-zynischer Lust geschrieben hat. Nachdem der Berliner Literaturkritiker Claus-Ulrich Bielefeld und die Wiener Buchhändlerin Petra Hartlieb ihr unterhaltsames Spiel mit den blutigen Machenschaften unter Schriftstellern und Verlegern („Auf der Strecke“) und mit den politischen Irrungen und Wirkungen unter ehemaligen RAF-Terroristen („Bis zur Neige“) geführt haben, wagen sie diesmal einen Ausflug ins Theatermilieu. Das ist schon deshalb nicht ohne Hintersinn und Humor, weil Berlin und Wien seit jeher um die Theaterkrone im deutschsprachigen Raum kämpfen.

Natürlich war die in Berlin ermordete Schauspielerin eine Lieblings-Diva von Claus Peymann, dem ehemaligen Chef des Wiener Burgtheaters, der seit einigen Jahren das Berliner Ensemble leitet und immer wieder vollmundig verkündet, sein Theater solle Reißzahn im Hinterteil der Herrschenden sein. Peymann wird im Krimi zwar nicht direkt beim Namen genannt, aber auch so ist jedem Leser klar, wer da seine aufbrausenden Bühnenweisheiten und arroganten Kunstsentenzen von sich gibt.

Dass der Theaterdirektor ausgerechnet von einem Kommissar namens Thomas Bernhardt (mit „dt“) verhört wird, raubt dem ehemaligen Weggefährten des (fast) gleichnamigen österreichischen Schriftstellers (mit „d“) beinahe den Verstand. Auch als Kommissar Bernhardt in eine Schauspielprobe platzt, bei der „Peymann“ sich an einer Bühnenversion von Georg Büchners „Lenz“-Erzählung abarbeitet und sich – ausgerechnet! – vom prolligen Volksbühnen-Kollegen Frank Castorf ein paar Ratschläge erbittet, ist der Humorfaktor groß.

Aber bei allen komischen Seitenhieben auf die Theaterszene kommt das bizarre mörderische Treiben nicht zu kurz. Ein zum Eisklotz gefroren toter Schriftsteller im See, ein in luftiger Höhe an die Flügel eines Windrades gebundener Schauspieler, ein Kunst-Mäzen, der gern Gutes tut, aber selbst nicht ohne Makel ist: Es wird Zeit, dass Bernhardt und Habel, die nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander können, gemeinsam am komplizierte Fall bosseln.

Ob die beiden bei ihren Recherchen in Szene-Cafés oder Theater-Kantinen Station machen, immer spürt man, dass jedes Detail stimmt und jede Anspielung bis aufs I-Tüpfelchen durchdacht ist. Zwar versichern Bielfeld&Hartlieb, dass alle Personen und Ereignisse frei erfunden sind. Trotzdem ist es ein kriminalistischer Spaß, die Fantasie mit der Realität abzugleichen.

Bielefeld & Hartlieb: „Nach dem Applaus“. Kriminalroman. Diogenes Verlag, Zürich. 390 Seiten, 14,90 Euro.




Das zwiespältige Phänomen John F. Kennedy – eine neue Biographie von Alan Posener

Die Welt am Rande des Nuklearkrieges, politisches oder auch militärisches Desaster in Kuba und Vietnam, massive Rassenunruhen im Inneren des eigenen Landes und schließlich der Bau der Berliner Mauer, der den Fall des Eisernen Vorhanges für Jahrzehnte besiegeln sollte: Eine solche Bilanz scheint eigentlich nicht geeignet, einen Mythos zu begründen. Warum John F. Kennedy bis zum heutigen Tage dennoch wie ein Säulenheiliger betrachtet wird, damit befasst sich Alan Posener in seiner Biographie über den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Eine Spurensuche. Dabei drängt sich unweigerlich die Frage auf: Kann der Autor, Korrespondent bei der „Welt“-Gruppe, der schon Monographien u.a. über Franklin D. Roosevelt, John Lennon und William Shakespeare verfasst hat, Altbekanntem überhaupt etwas Neues hinzufügen? Darauf hebt Posener auch gar nicht ab, ihm geht es um das Phänomen Kennedy, dem er sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähert. Eben diese verschiedenen Betrachtungsweisen auf das Wesentliche zu konzentrieren, zusammenzuführen und sich nicht in Verschwörungstheorien über den Mord vom 22. November 1963 zu verheddern oder Kennedys Frauenaffären weidlich auszubreiten, genau darin liegt die Stärke des Buches.

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Aus dem familiären Hintergrund filtert Posener sehr anschaulich heraus, welchem Anspruchsdenken „Jack“ Kennedy durch seinen ehrgeizigen Vater ausgesetzt war: Nur die Sieger zählen, niemals die Nächstplatzierten. Dieses Denken sei, so der Autor, tief im Bewusstsein des Präsidenten verhaftet gewesen. Als die Demokraten ihn als Kandidaten für das höchste Staatsamt auf den Schild heben, hat er es zuvor geschafft, sich als „Politiker neuen Typs“ zu positionieren, der über Fraktionskämpfen und Interessengegensätzen steht. In ihm und seinen politischen Zielen, welche es auch immer sein mögen, können sich viele Amerikaner wiederfinden.

Das Bild von Kennedys Amtsführung, das der Nachwelt erhalten bleibt, ist, wie der Autor hervorhebt, ebenfalls von einem Kurswechsel geprägt, einer neuen Kultur, die mit dem Präsidenten und seiner Frau Jackie Einzug ins Weiße Haus hielt. Hier ist nicht mehr nur Platz für den politischen Führungszirkel, sondern vor allem auch für Intellektuelle und Persönlichkeiten aus Film, Musik und Wirtschaft.

Im kollektiven Gedächtnis erhalten ist von Kennedy, dass er die Kuba-Krise zu meistern wusste, den Berlinern das Gefühl verlieh, der mächtigste Mann der Welt sei einer von ihnen („Ich bin ein Berliner“), und dass er den Schwarzen versicherte, ihr Kampf sei ein gerechter. Poseners Buch ist aber auch durchaus eine Fundgrube für gegenteilige Positionen, stand doch die Welt 1962 am nuklearen Abgrund, reagierten die USA sehr spät auf den Mauerbau und schließlich: War nicht Kennedys Eintreten für die Rechte der Schwarzen vor allem wahlkampftaktischem Kalkül geschuldet?

In der Frage der Vietnampolitik besteht für Posener kein Zweifel, dass Kennedy ein hohes Maß an Verantwortung für die Eskalation des Krieges getragen hat. Sicherlich sei bei ihm eine gewisse Skepsis gegenüber einer Militärhilfe noch in den 50er Jahren erkennbar gewesen, aber die Sichtweise habe sich später geändert. „In Kennedys Denken spielt Südvietnam also für Asien eine ähnliche Rolle wie West-Berlin für Europa“. Dass Kennedy im Falle einer Wiederwahl einen Rückzug aus Indochina angestrebt habe, gehört für Posener in das Land der Legenden.

Zur Wahrheit über Kennedy zählt nach den Ausführungen von Posener nicht zuletzt auch dessen Medikamentenabhängigkeit. Ohne Arzneien hätte er seine Rücken- und Magenprobleme und schließlich auch seine Antriebslosigkeit nicht beherrschen können. Für den Autor eine Dimension, die angesichts der Machtfülle eines Präsidenten Angst mache – auch in einer historischen Rückschau.

Bedenklich stimmt zudem das „Herrschaftssystem“, das nach den Ausführungen von Posener mit Kennedy verbunden war. Es passt so gar nicht in das Bild eines liberalen Politikers und vorbildlichen Demokraten. Neid, Missgunst, Intrige und Machtmissbrauch gehörten laut Autor zum Alltag. Doch Kennedy habe es sehr geschickt verstanden, sich selbst in Szene zu setzen.

Zum Nimbus des Präsidenten habe sicherlich, erläutert der Autor, auch das Attentat auf ihn beigetragen. Es bot Anlass für eine Fülle an Mutmaßungen über mögliche Hintermänner und internationale Verflechtungen. Was aber hätte es zur Folge, wenn Harvey Oswald nichts anderes als ein (verwirrter) Einzeltäter war? Kennedys Tod wäre dann eben nicht von Castro oder Chruschtschow in Auftrag gegeben worden und somit auch kaum geeignet, ein Heldenepos zu schreiben. Schlicht- statt Lichtgestalt.

Alan Posener: „John F. Kennedy. Biographie“. Rowohlt-Verlag, 200 Seiten, 18,95 Euro




Verspielte Chancen, kein Mitleid: Der Roman „Rechnung offen“ von Inger Maria Mahlke

RechnungoffenBerlin, Neukölln. Ein gewachsener Stadtteil, der teils noch als schwierig gilt, sich aber bereits anschickt, das nächste Szeneviertel für junge, erfolgreiche Menschen mit „urbanem Lifestyle“ und „hippen Kinderwagen“ zu werden.  

Ein Mietshaus in Neukölln. Ein Haus mit schönen, aber leicht heruntergekommenen Wohnungen. Begehrtes Sanierungsobjekt in einer Stadt, die offiziell arm und sexy ist, inoffiziell aber längst nicht mehr genug Platz und Raum für ihre Bewohner bietet. Die Mieter dort sind die Protagonisten in „Rechnung offen“, dem neuen Roman der Autorin Inger Maria Mahlke. Oder treffender ausgedrückt: Sie sind ihre Forschungsobjekte, denn wie unter dem Mikroskop beobachtet und seziert Mahlke die verschiedensten Lebensentwürfe. Jeder in sich gescheitert, jede Existenz bedroht. Wahlweise von der Krise, der Entmietung, der Globalisierung, zum allermeisten aber von eigener Unfähigkeit.

Die Menschen scheitern nebeneinander her

Die Menschen in diesem Haus leben und scheitern nebeneinander her, ihre Wege kreuzen sich kaum. Da gibt es die alte, einsame Elsa. Früher hat sie in einer Seidenblumenmanufaktur gearbeitet, daran erinnert sie sich noch genau. Eine Seidenblumenblüte kann sie en détail erklären, aber nicht, wie man mit einer Zitronenpresse umgeht. Beginnende Demenz liegt bereits wie ein dunkler Schatten auf ihr. So weiß sie zwar irgendwie, dass sie keinen Enkel hat, aber dem Hochstapler Nicolai, der sich als solcher ausgibt, öffnet sie gerne die Tür zu einem Stück Kuchen.

Eine andere Wohnung wird bewohnt von Manuela Schrader und ihrem Sohn Lucas. Manuela hat ihre Arbeit in einer Backstube gekündigt. Zur Abwechslung versucht sie sich als Domina, wenn sie nicht gerade ihre Zeit damit verbringt, die Ordnungsversuche ihres Sohnes zu zerstören. Lucas treibt sich gerne in der Spielwarenabteilung von Karstadt herum, zuhause sucht er Trost und Klärung in einer manischen Pedanterie. Zwanghaft ordnet er seine Spielsachen, immer und immer wieder, egal, wie oft die Mutter durch seine Spielzeugautos tobt.

Selbstmitleid und Weltschmerz

Das Haus gehört dem kaufsüchtigen Claas. Nachdem ihn seine Frau Theresa verlassen hat, besetzt er eine leerstehende, besonders vergammelte Wohnung in seinem Haus, welches schon der Zwangsversteigerung harrt. Anders kann er sich nicht mehr behelfen, er hat sich um seine Existenz gekauft und hat längst den Überblick über seine offenen Rechnungen verloren, nicht nur im übertragenen Sinn. Seine äußerst karge Übergangs-Möblierung leiht er sich von Theresas Tochter Ebba, der er eine Wohnung in diesem Haus überlassen hat. Ebba lässt sich gehen, hat ihr Studium geschmissen und verbringt ihre wenige wache Zeit mit Ausreden und Drogen.

So wie diese Menschen nebeneinander her leben, erzählt auch Inger Maria Mahlke von ihnen in ihrem Roman. Fragmentarisch, ungeordnet, nacheinander. Es gibt kaum Berührungspunkte, einen sich schließenden Kreis sucht man vergebens, findet dafür aber erbarmungslos beobachtete Charaktere. Gnadenlos beschreibt Mahlke, wie sich ihre Protagonisten in Selbstmitleid und Weltschmerz suhlen.

„Gib Dir doch ein wenig Mühe“ – immer wieder fleht Theresa ihre Tochter Ebba, die Hohepriesterin des Phlegmatismus, an. „Gib Dir doch ein bisschen Mühe“ – genau das ist es, was der Leser den Figuren zurufen möchte. Das ewige Gejammer, das ewige sich ins Schicksal Ergebende, es macht den Leser ungeduldig. Die Frage nach dem eigenen Verschulden spielt bei allen Mietern eine untergeordnete Rolle. Sie alle hatten ihre Chancen, sie alle haben sie verspielt. Trotzig und kindisch sind ihre Reaktionen, wenn man sie mit nicht beglichenen Rechnungen oder auch nicht eingetriebenen Außenständen konfrontiert. Offene Rechnungen treiben sie alle um – wenn auch auf unterschiedlichen Seiten des buchhalterischen T’s. Nur der kleine Lucas zahlt die Zeche für etwas, was er nicht selbst bestellt hat

Fragmentarisches Erzählen in sperriger Sprache

Inger Maria Mahlke findet eine mitleidlose, sehr eigene Sprache für ihre Erzählung über eine Mittelschicht vor dem schleichenden Untergang. Ihre Sprache ist schwer zu erschließen, sie ist unmelodisch, nicht geschmeidig und nicht gefällig. Oft ist sie abgehackt, dann wieder verstrickt sie sich in endlose Schachtelsätze. Schachtelsätze allerdings ohne jeden Schnörkel. Das alleine ist schon eine Kunst für sich. Ihre Sprache geht weit über gängige Melancholie hinaus, sie transportiert endgültige Hoffnungslosigkeit. Genau, wie die Umwelt gleichgültig bleibt ob der gescheiterten Existenzen, bleibt ihre Sprache gleichgültig. Sie gibt nichts, kein Mitleid, kein Verständnis.

Leider ist es auch dies, was den Zugang zum Roman, zu den Protagonisten schwer macht. Man bleibt eigentümlich außen vor, schon nach wenigen Seiten interessiert das Beschriebene kaum noch. Darin liegt der Zwiespalt des Romans. Denn indem es der Autorin gelingt, die Empfindungen der Leser in ihre Sprache aufzunehmen, stößt sie die Leser gleichermaßen von sich. Zu gut korrespondiert ihre Sprache mit den Empfindungen der Leser. Irgendwann ist genug gejammert, irgendwann weiß man, dass die Welt schlecht ist und immer die anderen schuld sind. Das Buch erzeugt keine Anteilnahme, kein Mitgefühl, der Leser stagniert bei der Kenntnisnahme der offenen Rechnungen. Mahlke zeigt keinen Ausweg, sie belässt es bei ihren gnadenlosen Beobachtungen. Mit dem erzeugten Gefühl von Hoffnungslosigkeit lässt sie ihre Leser alleine, selbst wenn einige Umschuldungen zum Schluß noch gelingen.

Die Autorin lebt in Berlin, ist studierte Rechtswissenschaftlerin und bekam für ihren ersten Roman „Silberfischchen“ mehrere Preise.

Inger Maria Mahlke: „Rechnung offen“. Roman. Berlin Verlag, 284 Seiten, €19,99.




Die dreiste Markt-Strategie des Iman Rezai oder: Folter ist kein Mittel der Kunst!

Wäre Schweigen in diesem Fall eigentlich Gold? Warum dem Törichten eine öffentliche Plattform bieten?

Die Zeiten, in denen der Kritik das Wahre der Kunst von anderen Waren zu unterscheiden als Kernpflicht oblag, sind längst vorbei. Das System hat neben dem scheinbar reinigenden Meinungsgeblähe der Medien seinen eigenen Filter, um Qualität von, na sagen wir Scharlatanerie zu scheiden. Dennoch, wider den Stachel zu löcken ist im vorliegenden Fall einer unangenehmen Aktion von Iman Rezai angebracht, und zwar bewusst bildlos und linkfrei. Sie macht deutlich, dass eine neue Generation von Biografie-Designern am Werk ist, denen es vor allem um eins geht: PR. Und damit um Kohle. Hierbei sind die eingesetzten Mittel offensichtlich vollkommen zu Werkzeugen dieses Vermarktungssystems verkommen.

Das ist keine Kunst, das ist schlicht degoutant. Iman Rezai, 1981 im iranischen Schiraz geboren, im vergangenen Jahr Abschlusskandidat der Berliner Universität der Künste, tritt mit scheinbar provokanten Aktionen an die Öffentlichkeit. Neuester „Coup“: Er bietet – sofern es nicht ein Fake ist – dem geneigten Probanden zwischen dem 29.11. und 6.12. ein waschechtes Waterboarding an. Also diejenige Foltermethode, mit der das Opfer nicht getötet, sondern durch gewaltsames Untertauchen gequält und zermürbt wird. Diese menschenverachtende Perfidie kam während der Präsidentschaft George W. Bushs durch CIA und andere US-amerikanische Regierungsbehörden bei der Vernehmung von Terrorverdächtigen zum Einsatz und damit breiten Kreisen weltweit zu Bewusstsein.

Betroffenheitsklauseln aus der Hobbykiste

Man kann sich den ganzen hobbytheoretischen Begründungssermon hinter Rezais Pseudo-Polit-Anliegen sehr gut vorstellen. Denn seine PR-Maschine läuft wie geschmiert. In etwa so? „Der Berliner Künstler Iman Rezai kreiert Ausnahmesituationen, in denen Kunstbesucher mit einer Realität konfrontiert werden, die sie ansonsten nur aus den Medien zu kennen glauben…“ Noch ein paar Betroffenheitsklauseln in Fremdwort-Teig geknetet: Fertig ist die „große Kunst“. Besuche man nur die Webseite. Abstruse Sentenzen ummanteln in der Produktwerbung den eigentlichen Zweck mit billigen kulturhistorischen Behauptungen, um die Ausstellung – lasse man sich den verschwurbelten Titel auf der Zunge zergehen – „Die performative Postmoderne als Ausdruck moderner Austerität im Zeitalter der Prekarisierung Edition 1 – Illusion H2O“, in deren Kontext die Aktion stattfindet, zu bewerben. Neben Rezai bespielen zudem fünf weitere Nachwüchsler den Bereich eines Hotels am Checkpoint Charlie. Schaut man sich deren Werk an, wird die Lage auch nicht unbedingt interessanter.

Aktionen für den Boulevard

Wie unendlich differenzierter hat es 2006 Santiago Sierra mit „245 Kubikmeter“ in der von ihm mit Abgasen von sechs Pkw gefluteten Synagoge Stommeln vorgemacht, dass man – schockierend – Kunstbetrachter auf freiwilliger Basis in Extremsituationen bringen kann. Aber hier liegt der Fall anders, weil sinntragend und historisch kontextualisiert und auf die Gegebenheiten hin lokalisiert. Iman Rezai hingegen setzt ausschließlich auf Boulevard. Hinter ihm steht eine Agentur mit Namen „The Coup“, die sich selbst mit den Sätzen „Wir verstehen weder Fashion, Lifestyle noch Kunst als Charitybranchen. Im Fokus steht der Mehrwert und folglich der Profit des Kunden“ anpreist. Und wenn das kein Witz ist, heißt es: Wir verhökern jeden Dreck auf dreckige Weise, wenn’s nur Profit einbringt. Es geht also ausschließlich um Publicity und ums Kasse machen. Wie anders erklären sich die zwei törichten Vorläuferaktionen, mit denen Rezai sich ins Gespräch gebracht hat.

Zwischenruf: Sollen wir uns allen Ernstes an den Zustand gewöhnen, dass Modefotografen als Künstler proklamiert und von ein und derselben Agentur wie Rezai im gleichen sprachlichen Duktus vertreten werden? Der Künstler und die Kunst als gelabelte Luxushandtaschen. Und wie verkommen sind eigentlich diese „Nachwuchskünstler“, dass sie auf jene unverschämte Weise mit gestylter Dummheit in den Markt drängen und sich von PR-Schleudern wie „The Coup“ ein Image und Sprachgewand verpassen lassen?

Fingierte Guillotinen-Abstimmung

Doch zurück zur Sache: Das erste Mal fingierte Rezai im Internet eine Abstimmung über das Guillotinieren eines Schafs. Über 2,5 Millionen Klicks soll das eingebracht haben. Das Mordwerkzeug hat ein Sammler angeblich für 2,3 Millionen Dollar erworben. Anfang November verschickte er im Namen der der Neuen Nationalgalerie E-Mails, die behaupteten, Rezai habe den Server des Instituts unter Kontrolle gebracht. Täuschung wohin man schaut. Die Erregungsmaschinerie fand ihr Futter und der Schaumschläger seine billige Propaganda. Selbst gestandene Nachrichtenagenturen fielen auf den Blödsinn herein. Und nun dieses Wasserspielchen mit dem Publikum. Nein, das ist nichts. Das tut nur so, als ob es Kunst sei, dieses Deckmäntelchen niederer Interessen. Es ist ein albernes Spektakel für eine profitgeile Aufmerksamkeitsindustrie, das die niederen Instinkte einer ennuyierten Gesellschaft bedient, in der die Anliegen der künstlerischen Kritik und Aufklärung in Form rhetorischer Vehikel zum Rauschmittel des Glamours verkommen sind. Das einzig Kunsthafte an der Sache ist höchstens noch die Dreistigkeit, mit der Iman Rezai in den orchestrierenden Medien seine dürftige Karriere fingiert.




Regina Schmekens Fotos von der Ästhetik eines Spiels namens Fußball

Fußball ist Geometrie. Die Beine gehören Toni Kroos. Foto: Regina Schmeken

Als Fredl Fesl, eine Art bayerischer Hippie der sanft-spöttelnden Natur, 1976 sein Lied von den „44 Fußballbeinen“ singsprechend zur Gitarre anstimmte, mochte ein wenig Gesellschaftskritik dahinter stecken (Heute würde das wenig nett gemeinte „Millionäre in kurzen Hosen“ bemüht). Doch eher ging es ihm wohl um das Beschreiben einer Sportart, die den einen Kult ist, anderen hingegen als sinnlose Rennerei vorkommt. Dass es sich um ein Spiel handelt, das gar ästhetische Komponenten in sich birgt, scheint der öffentlichen Wahrnehmung absolut fremd (geworden).

Hier nun hat sich die Fotografin Regina Schmeken zu Wort gemeldet. Mit aussagekräftigen Bildern, die nicht auf Action ausgerichtet sind, sondern auf Schönheit und (skurrilen) Witz. Die bisweilen Rätsel aufgeben, weil der Betrachter gerade nicht weiß, wo etwa der Ball ist. Weil er überhaupt nur Beine sieht, die sich in Verbindung mit Mittelkreis oder Seitenlinie zu einem grafischen Konstrukt formen. Keine Gladiatoren betreiben hier knallharten Sport, sondern der spielende Mensch gewinnt oder verliert in Schönheit.

Schmekens Fotos sind zurzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Großformatige Schwarzweiß-Studien, denen das Wort Fußballfieber fremd scheint. Eher verbinden sich mit ihnen die Begriffe Ruhe, Kontemplation, ja Intimität. Davon spricht jedenfalls Oliver Bierhoff. Ihm ist es zu danken, dass die in Gladbeck geborene Fotografin die Nationalmannschaft von März 2011 bis zum Juni dieses Jahres begleiten durfte. Die 40 ausgestellten Exponate fallen dabei vor allem durch eine choreographische Note auf. Und das kommt nicht von ungefähr.

Denn die Fotojournalistin hatte nicht nur selbst Ballettunterricht, sondern suchte stets tänzerische Elemente in ihren Bildern. Berühmt wurde eine Aufnahme vom Weltwirtschaftsgipfel 1992 in München. Da waren Staatsmänner in quirliger Unordnung offensichtlich auf der Suche nach ihrem rechten Platz fürs Gruppenfoto – heiter wirkende Wuselei abseits des steifen Zeremoniells.

Schmekens Fußballbilder also: eingefrorene Bewegungen, gruppendynamische Momente, Szenen abseits des Brennpunktes namens Strafraum. Da liegt etwa der Ball im Netz, und Torwart Ron Robert Zieler mit fragendem Blick daneben: Wie ist die Kugel bloß dahin gekommen? Oder Sami Khedira: Liegt da im patschnassen Gras und schaut offenbar versonnen aufs Regenwasser in seinen Händen.

Vier Beine und ein Kopf oder: Klose und Podolski. Foto: Regina Schmeken

Geradezu skurril die Aufnahme, in der sich Klose und Podolski nach dem Ball bücken: Perspektivisch so eingefangen, dass wir vier Beine, aber nur einen Kopf sehen. Manchmal winden sich Arme umeinander, tänzeln zwei Füße mit dem Spielgerät. Regina Schmeken blickt auf Details, wo der Zuschauer – im Stadion – nur ein Gesamtbild hat. Fans hat die Fotografin übrigens auch abgelichtet: Konzentriert dreinblickende, angespannt sitzende Menschen im deutschen Nationaltrikot, vielleicht in Erwartung eines Freistoßes.

Brutalität aber, randalierende Fans, schimpfende Spieler oder Trainer, brutale Fauls gar sind nicht Schmekens Welt. Man mag ihr Abkehr von der Realität vorhalten, von der Tatsache, dass es letztlich um eine Menge Geld geht und somit wichtige Dinge auf dem Spiel stehen. Doch was ist dagegen zu sagen, dass sie auf die Ästhetik eben jenes Spiels hinweist, zu dem 44 Fußballbeine gehören?

Berlin, Martin-Gropius-Bau, Regina Schmeken, bis zum 6. Januar 2013.

http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/ueber_uns_mgb/aktuell_mgb/start.php




Sang- und klangloses Ende für Berlins Kunsthaus „Tacheles“

„Die Bank hofft auf einen zweistelligen Millionenbetrag!“ Kernaussage eines Berichtes von Radio Berlin-Brandenburg über die künstlerisch-friedliche Räumung des „Tacheles“ an der Oranienburger Straße in Berlin.

Das gleichnamige Kunsthaus wird bald nicht mehr existieren, die HSH Nordbank, die gern mal über Wertberichtigungen (das sind nichts anderes als Verluste) berichten lässt und Beteiligungen im Finanzbereich auf den Cayman Inseln pflegt, will es dringend versilbern. Und Berlin verliert an einer seiner tollsten Straßen ein gutes Stück aus seinem prallen „Kessel Buntes“.

Es lohnt nicht, sich darüber auszulassen, wie es nach zweiundzwanzigeinhalb Jahren zu diesem finalen Akt kommen konnte, wie gering die Protestwellen gegen den drohenden Verlust ausfielen, der vor geraumer Zeit noch einen Tsunami ausgelöst hätte und ganze Stadtbezirke unter Wutwasser versenkt hätte, wie relativ still Künstler und rund um sie Handelnde das Streitfeld räumten und den „freien (?) Märkten“ überließen, was sie kurz nach der Einverleibung (auch Wende genannt) für sich in Anspruch nahmen.

Allein Martin Reiter, Sprecher der Besetzer (ja, das waren mal Hausbesetzer) rumpelte vor laufenden Kameras von „Kunstraub unter Polizeischutz“ und fand daselbst heraus, dass es folgerichtig heißen müsse: „Tacheles weg, Wowereit weg!“

Demo-Plakat zur Tacheles-Räumung (© Kunsthaus Tacheles)

Demo-Plakat zur Tacheles-Räumung (© Kunsthaus Tacheles)

Wie gesagt, es lohnt nicht, in diese Richtung Tiefenbohrungen anzustellen, leicht erkennbar ist indes, dass Kulturformen keine einflussreichen Wortführer mehr finden, die sich allzu weit abseits vom Mainchic bewegen und deren Duftmarken mehr nach Brecht als nach Precht (mediengewandter Jung-Vordenker der aktuellen Republik) riechen. Seit „Tacheles“ existiert, kannte ich es und hatte stets meinen Heidenspaß daran, in einer langsam Hauptstadtflair annehmenden Oranienburger Straße dieses hinfällig-charmante Haus wiederzusehen, wenn ich Berlin besuchte. Es blieb zwischen Straßenstrich und Feinschmeckermeile konstant und erinnerte verwittert und dennoch jung daran, dass seine Straße, in der es einst als Kaufhaus wirkte, von Krieg und Nachkriegssozialismus ziemlich zerschlissen worden war.

Vom angesagten Hackeschen Markt bis zur Mündung in die Friedrichstraße – dazwischen heute die schwer bewachte neue Synagoge – bildete und bildet die Oranienburger ein herrlich buntes Bild, zu dem das „Tacheles“ stets wie eine Festinstallation gehörte. Und die ist inhaltlich bereits vertrieben und wird als Hardware auch nicht mehr lange bestehen, falls nicht Investoren das Gelände ersteigern, die Vielfältigeres im Schilde führen als pure Gewinnmaximierung (was ich zwar erhoffe aber keinesfalls erwarte). Vielleicht gibt es ja was ganz Neues, Mediamarkt garniert mit H&M und eine Prise Liebeskind (Taschen, nicht Architektur), dazu ein Schuss Bubbletea.

Die Oranienburger wird das auch noch aushalten – sie überstand Übleres als Kapitalsucht. Die nachhaltig kreative Szene Berlins findet wieder neue Quartiere und: „Die Bank hofft auf einen zweistelligen Millionenbetrag!“




Was den designierten Chefdirigenten Gabriel Feltz in Dortmund erwartet

Der Berliner Gabriel Feltz soll neuer Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker werden. Foto: Stadt Dortmund

Nun also Gabriel Feltz. Er soll 2013 die Nachfolge Jac van Steens als Generalmusikdirektor (GMD) der Stadt Dortmund antreten. So hat es die Findungskommission einstimmig beschlossen. Nun hat der Rat das Wort, dieses Votum zu bestätigen. Es ist wohl davon auszugehen, dass die Politiker dem folgen. Alles andere wäre eine Sensation, die einem kleinen Eklat gleichkäme.

Dem neuen Mann am Pult der Dortmunder Philharmoniker ist Glück zu wünschen. Denn Fortune wird er brauchen in einer Stadt, deren Kulturdezernent (und Kämmerer) Jörg Stüdemann beim überfallartigen Rauswurf van Steens verkündete, die meisten Dirigenten der Stadt seien nach fünfjähriger Amtszeit ausgewechselt worden. Das mag richtig sein, für die künstlerische Entwicklung eines Orchesters indes ist diese Hire-and-fire-Mentalität eine Katastrophe. Bochum, Essen oder Duisburg haben ohnehin längst bewiesen, dass Kontinuität zum Erfolg führt.

Feltz ist Berliner, 1971 geboren, Absolvent der Hanns-Eisler-Musikhochschule und gegenwärtig Leiter der Stuttgarter Philharmoniker sowie erster Gastdirigent des Theaters Basel. Feste Engagements neben Dortmund wird er sich aber wohl verkneifen müssen. Sein Anstellungsvertrag soll entsprechend streng formuliert sein, ist zu hören. Damit reagiert die Stadt offenbar auf die Causa van Steen, dem sie mangelnde Präsenz vorwarf.

Feltz wird sich zudem wappnen müssen gegen ein höchst kritisches Publikum. Die Musik des 20. oder gar 21. Jahrhunderts hat in dieser Stadt keine ernstzunehmende Lobby. Und viele werden sich daran erinnern, dass Jac van Steen als sympathischer Menschenfischer im Dienste der Tonkunst sehr geschickt zu Werke ging und geht. Feltz, so heißt es, sei eher der analytische, weniger der emotionale Typ.

Damit nicht genug: Jüngst erst hat sich eine Initiative „PPP – Publikum Pro Philharmoniker Dortmund“ gegründet. Das klingt nach Unterstützung des Orchesters, ist aber in Wahrheit eine Bürger-Gruppierung, die sich gezielt gegen den Rauswurf van Steens wendet. Bei Bekanntgabe des Votums der Findungskommission pro Feltz wurde eilends ein Flugblatt gedruckt, das eben jene Entscheidung in Frage stellt und die Ratsmitglieder zumindest indirekt auffordert, den Gang der Ereignisse möglicherweise noch aufzuhalten. Die Initiative sieht vor allem die vertragliche Fesselung des neuen GMD als Problem. Dies würde zu einer künstlerischen Verarmung der Stadt führen, heißt es. Und weiter: „Lokale Fixierung führt schnell zur Degradierung. Wir sehen die Gefahr, dass die Philharmonie, die sich derzeit im Aufwind befindet, auf diese Weise auf das Niveau eines ,Provinzorchesters’ absinken könnte.“

Solcherart Pessimismus mag übertrieben sein, wie es auch seltsam anmutet, dass „PPP“ relativ spät (zu spät?) ans Licht der Öffentlichkeit drängt. Doch andererseits legt sie äußerst gezielt den Finger in eine gefährliche Wunde: Gabriel Feltz ist nicht Wunschkandidat des Orchesters. Eine Tatsache, die übrigens auch der Findungskommission bekannt war. Ulrike Märkel (Grüne), Mitglied der Kommission, wird jedenfalls mit den Worten zitiert, Nicholas Milton (zuletzt GMD in Jena) sei der Favorit der Dortmunder Philharmoniker gewesen. Die Musiker hätten sich indes auch positiv über Feltz geäußert.

Wer das Orchester kennt, weiß, dass dieses Positive sich schnell als Giftpfeil entpuppen kann. Aus dem jubilierenden „Habemus GMD“ wird dann bald ein „Kreuzigt ihn“. Erst den Neuen feiern, dann beginnt die Nörgelei. Ein Insider hat dies mit Blick auf van Steens Rauswurf so umschrieben: Der Dirigent sei an Intrigen, ernsten Problemen und Irrationalität gescheitert.

Deshalb steht am Ende dieser Betrachtung ein (wohlfeiles) Wortspiel: Der neue Chef der Dortmunder Philharmoniker, so er es denn wird, muss sich als „Feltz“ in der Brandung erweisen.




„Gottschalk live“: Onkel Thommy plaudert brav und voller Selbstmitleid

Gottschalk in seinem Element, vor Publikum 2005 zur Eröffnung einer Haribo-Ausstellung in Koblenz. Foto: Weinandt

Einer muss es ja schließlich tun. Sich todesmutig hinabstürzen ins öffentlich-rechtliche Vorabendprogramm. Die Courage besitzen, einem Giganten der Fernsehunterhaltung etwa 25 Minuten lang Aug’ und Ohr zu leihen. Also tapfer sein und Thomas Gottschalk gucken. Kritiker, Du gehst einen schweren Gang. Muss es sein? Es muss sein!

Und ach: So groß ist die Hemmschwelle nun wieder nicht. Wir sitzen im Wohnzimmer, der Entertainer auch. Ein lieber Onkel, der da zu uns spricht. Er gibt sich familiär und artig, redet in moderatem Tonfall. Nun liebe Kinder (und Erwachsene), gebt fein acht… Was er uns kredenzt, ist indes der Beachtung wenig wert: schale Gags, selbstmitleidige Reminiszenzen an seinen größten Erfolg namens „Wetten, dass..?“ und nach wie vor das unterschwellige, gleichwohl subtile Betteln um Zuschauer.

„Gottschalk live“ heißt dieses neue ARD-Format. Es kommt nicht an, die Einschaltquoten purzeln ins gefühlte Nirvana. Vielleicht, weil sich der Moderator selbst im Weg steht. Steif wirkt er, wie ein sedierter Harald Schmidt. Gut, ihn begleitet weder eine Live-Band noch kann er sich vor Studiopublikum austoben. Zugegeben, im Verhältnis zu „Wetten, dass..?“, hat er nur eine Minute Zeit. Aber warum dann nicht in Würde aufhören, statt sich ins Korsett der kurzen Dauer zu zwingen?

An diesem Montag ist Helge Schneider zu Gast. Der sieht seltsam zivilisiert aus, richtet sich in Gottschalks behaglicher Stube brav ein. Man plaudert, und dann darf Schneider, der vorzügliche Jazzpianist, dem Flügel im Hintergrund sanfte Klänge entlocken. Währenddessen erzählt Katherine Heigl, amerikanische Schauspielerin deutsch-irischer Abstammung (bekannt durch die Krankenhaus-Serie „Grace Anatomy“), wie sie sich auf die Spuren ihres Großvaters in Esslingen gemacht hat. Dass Gottschalk dabei der Simultanübersetzerin allzuoft ins Wort fällt, ist ein ärgerlicher Schönheitsfehler.

So plätschert der Vorabend dahin. Die Lider werden schwer. War noch was? Ach ja, ein Berliner Würstchenverkäufer, der seinen Grill am Fahrradlenker befestigt hat, bringt „Würstchen für die Würstchen“ (Originalton Gottschalk, haha) ins Studio. Und ganz zu Beginn der Sendung stimmt uns eine Haribo-Reklame ein – nur froh werden wir nicht. Dirty Harry, übernehmen Sie!




Politskandal aus der Bismarck-Zeit: Als der Kanzler gegen die Liberalen vor Gericht zog

Wenn man die Reinwaschungsversuche unseres Bundespräsidenten sieht, dann fallen sie gegenüber den Sitten in früheren Zeiten ja noch richtig harmlos aus. Hier soll deshalb an einen ähnlich ungewöhnlichen Vorgang vor mehr als 120 Jahren im Berliner Reichstag erinnert werden, den so genannten „Hödur-Skandal“.

Otto von Bismarck

Reichskanzler Bismarck hatte in einer Debatte über die Kolonialpolitik deren Gegner, die „Freisinnigen“ (Liberalen), beschimpft und ihre Wähler mit jenem Hödur aus der germanischen Sagenwelt verglichen, der blind sei und sich nur durch Verführung (durch die liberalen Führer) dem nationalen Fortschritt in den Weg stelle.

Diese Wähler-Beschimpfung führte im ganzen Reich zu Protesten in den liberalen Vereinen. Resolutionen wurden verfasst und verschickt, und eine davon kam aus dem Wahlkreis Hagen. Der liberale Verein Voerde (heute Ennepetal) hatte seinen Protest gegen den „dämlichen Hödur-Vergleich“ dem Kanzler per Einschreiben zukommen und in der Hagener Zeitung veröffentlichen lassen.

Weil dieser Protest den Reichskanzler ausgerechnet an seinem 70. Geburtstag erreichte, an dem sich die übrige Nation in einem regelrechten Bismarck-Taumel befand, ließ Bismarck über eine Anwaltskanzlei die Voerder herauspicken und vor Gericht bringen. Es folgte also am 18. Juli 1885 der „Hödur-Prozess“ am Landgericht Hagen, der später im Wahlkreis Hagen-Schwelm noch über Jahrzehnte für Gesprächsstoff sorgte. Der Staatsanwalt warf den sechs Beschuldigten – Kaufleute, Unternehmer und der Hagener Verleger – vor allem die Formulierung vor, der Reichskanzler habe sich mit seinem Hödur-Vergleich einer „bedauerlichen Anmaßung“ schuldig gemacht. Er forderte fünf Monate Haft, doch der Landgerichtsdirektor Consbruch verurteilte die Angeklagten „lediglich“ zu Geldstrafen. Außerdem musste das Urteil in der Hagener Zeitung veröffentlicht werden, was auch geschah. Zuvor hatten die Verurteilten noch vergeblich versucht, beim Reichsgericht in Leipzig Revision zu erreichen.

Die Voerder Liberalen sahen sich nach dem Urteil jedoch nicht als Verlierer, sondern sie feierten den Prozess, weil sie so Aufmerksamkeit für die Sache der Freisinnigen erreicht hatten, und sie ließen sich in einer Weise fotografieren, wie es sonst nur erfolgreiche Jagdgesellschaften zu tun pflegten.

Bei der anschließenden Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus wurden alle Verurteilten zu Wahlmännern gewählt, und ihre Partei errang im Wahlkreis Hagen-Schwelm einen deutlichen Sieg.




Von der Schönheit zum Schrecken: Die Deutschen und ihr Wald

Walter Leistikow "Abendstimmung am Schlachtensee" (Öl auf Leinwand, um 1900). Copyright: Stiftung Stadtmuseum Berlin. Foto: Hans-Joachim Bartsch, Berlin

Walter Leistikow "Abendstimmung am Schlachtensee" (Öl auf Leinwand, um 1900). Copyright: Stiftung Stadtmuseum Berlin. Foto: Hans-Joachim Bartsch, Berlin

Der deutsche Wald ist mehr als die bloße Summe seiner Bäume. Mit 800.000 Beschäftigten und 108 Milliarden Euro Umsatz ist er ein riesiger Wirtschaftszweig und ein Wunderwerk der Ökologie. Vor allem aber ist er ein Ort der Mythen und Märchen, der Freizeitgestaltung und Kunstbetrachtung, der nationalen Selbstvergewisserung und Verblendung.

Seit Heinrich von Kleist die „Hermannsschlacht“ im Teutoburger Wald zur Geburtsstunde deutscher Größe und Widerstandskraft stilisierte, seit die feingeistigen Romantiker mit des „Knaben Wunderhorn“ sehnsuchtsvoll seufzten und unter grünen Bäumen Geborgenheit suchten, hat der deutsche Wald symbolische und spirituelle Kraft. Dass er auch politisch und ideologisch aufgeladen ist, wissen wir nicht erst seit dem vermeintlichen „Waldsterben“ der 1980er Jahre. Schließlich hatten bereits die Nazis den Wald zum „Kraftquell“ des deutschen Volkes und zur semitischen Sperrzone erklärt: „Juden sind in unseren deutschen Wäldern nicht erwünscht.“

Das steht auf einem antisemitischen Schild, das der Arbeiterfotograf Eugen Heilig 1936 in einem Waldstück bei Mittenwalde aufgenommen hat. Das ungeheuerliche Foto belegt, wie der deutsche Wald zur Projektionsfläche nationalen Wahnsinns und rassistischer Verblödung wurde. Es ist eines von 550 Exponaten, welche das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin zusammengetragen hat, um der Deutschen Lust und Last mit ihrem ebenso realen wie märchenhaft verklärten und ideologisch besetzteb Wald zu dokumentieren. „Unter Bäumen“ heißt die Ausstellung, die den deutschen Wald von allen Seiten künstlerisch, politisch und wissenschaftlich einkreisen will.

"Rast im Wald" (Fotografie, um 1930). Voller Ernst Gbr, Berlin

"Rast im Wald" (Fotografie, um 1930). Voller Ernst Gbr, Berlin

Es ist die erste Ausstellung, die Alexander Koch, der neue Chef des DHM, verantwortet. Der 45-Jährige hat vorher das Historische Museum der Pfalz in Speyer geleitet und sich einen Ruf als unkonventioneller Denker erworben, der keine Scheu hat vor populären Inszenierungen. „Wir wollen neue Kontexte schaffen“, meint Koch zum Antritt seines „Traumjobs“. Und: „Wir müssen vielgestaltiger werden“, hat er seinen Kuratoren mit auf den Weg gegeben.

Otto Geiger "Wandern mit 'Kraft durch Freude'" (Plakat der NS-Organisation "Kraft durch Freude", um 1935). Copyright: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Foto: Arne Psille

Otto Geiger "Wandern mit 'Kraft durch Freude'" (Plakat der NS-Organisation "Kraft durch Freude", um 1935). Copyright: Deutsches Historisches Museum, Berlin. Foto: Arne Psille

Auf 1100 Quadratmetern Fläche werden deshalb mehr Fragen gestellt als vorschnelle Antworten gegeben. Das Spektrum der Exponate reicht von der romantischen Malerei eines Caspar David Friedrich bis zum „Spiegel“-Cover über besagtes „Waldsterben“, von den röhrenden Hirschen in deutschen Schlafzimmern bis zum deutschen Heimatfilm („Der Förster vom Silberwald“), von guten Jägern und bösen Wilderern bis zur großformatigen „Hermannsschlacht“ eines Anselm Kiefer. Es gibt Bäume aus Holz und aus Plastik, Filmvorführungen und Lesungen, Volkslieder und einen Raum, in dem der deutsche Wald zum kriminalistischen TV-„Tatort“ wird: Immer ist der Wald ein Ort der Schönheit und des Erschreckens, der Geheimnisse und der Vergänglichkeit. Denn: Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus!

Dass die Deutschen ein Bundeswaldgesetz haben, wundert kaum. In Paragraph 14, Absatz 1 heißt es: „Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist gestattet.“ Dann steht eigentlich nichts im Wege, damit jeder Besucher den aus viel Kunst und noch mehr Kitsch geformten Wald-Parcours für sich zu einem sowohl echten wie metaphysischen Natur-Erlebnis machen kann.

Deutsches Historisches Museum (DHM): „Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald.“ Unter den Linden 2, Berlin-Mitte, bis 4. März 2012, täglich von 10-18 Uhr. Eintritt 6 Euro (Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei). Katalog (320 S., ca. 250 Abb., 25 Euro). Weitere Infos unter Telefon 030/20 30 44 44 oder http://www.dhm.de/ausstellungen/unter-baeumen/

 

"Die Wilderer" (Chromolithographie, um 1880). Copyright: Staatliche Museen zu Berlin - Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia

"Die Wilderer" (Chromolithographie, um 1880). Copyright: Staatliche Museen zu Berlin - Museum Europäischer Kulturen. Foto: Ute Franz-Scarciglia




„Verträgen halte Treu'“ – Kann Castorf den „Ring“?

Er macht’s. Er, das ist Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, Regie-Berserker und Stückezerfledderer. Er wagt sich ans Größte, Hehrste des musikalischen Theaters – also an Richard Wagners gewaltige, episch breite Trilogie „Der Ring des Nibelungen“. Kann er’s? Vor allem: Schafft er’s ausgerechnet am würdevollen Weihetempel namens Bayreuth? Die da das Sagen haben, Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, rufen ein klares „Ja“.

So steht es also fest: 2013, im Jahr des 200. Geburtstags von Richard Wagner, inszeniert ein Beinahe-Grünschnabel in Sachen Opernregie den mächtigen Vierteiler des Genius. Was nicht unbedingt ein Problem sein muss: Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder Werner Herzog waren auch nicht unbedingt die geborenen Opern-Deuter – auf dem Grünen Hügel lieferten sie Achtbares. Andererseits: Die Filmemacher Lars van Trier (Melancholia) und Wim Wenders (Der Himmel über Berlin) hatten vor dem „Ring“ bereits kapituliert, einen entsprechenden Bayreuther Auftrag dankend zurückgegeben.

Nun also Frank Castorf. Er ist im Revier kein Unbekannter. 2004 hatte der DGB den Einjahresintendanten ganz unsolidarisch vom Ruhrfestspielhof Recklinghausen gejagt. Weil das Publikum weggeblieben war. Niemand wollte sehenden Auges in eine Image-Katastrophe schlittern. Ein Regisseur aus (Ost)-Berlin, der gerne suburbanes Elend auf die Bühne wuchtete, war zuviel des Üblen.

Richard-Wagner-Büste im Garten auf Bayreuths Grünem Hügel, in grimmiger Erwartung.

An Opern wiederum hat sich Castorf bisher zweimal versucht. Giuseppe Verdis Eifersuchtsdrama „Otello“ brachte er 1998 in Basel heraus. Er geruhte, die Konventionen und Illusionen des Musiktheaters zu zerstören. Alles lief beiläufig ab, nichts berührte. 2006 folgten in Berlin „Die Meistersinger von Nürnberg“. Jedenfalls ein bisschen davon – mit Schauspielern und einem „Chor der werktätigen Volksbühne“, mit Textbrocken aus Ernst Tollers Revolutionsdrama „Masse – Mensch“.

Kann Castorf also den Ring in Bayreuth? Er wird sich an jede Note, jede Silbe halten müssen, sonst wird ihn der „Wagnerianer“  ins ewige Walküren-Feuer verbannen. Doch er hat einen Vorteil: Er ist, nach Wenders‘ Absage, der Retter in der Not. Ohnehin ist die Zeit knapp, einen anständigen Ring aus dem Boden zu stampfen. Im übrigen: Nach dem „Tannhäuser“, den Sebastian Baumgarten heuer in der Biogasanlage verortete, kann’s kaum schlimmer kommen.

Den wohl größten Skandal auf dem Grünen Hügel hat sowieso Patrice Chéreau zu verantworten. Dessen „Jahrhundertring“-Deutung (1976) datierte in Zeiten der Frühindustrialisierung – mit entsprechend antikapitalistischem Einschlag. Störungen im Festspielhaus und Debatten nach den Aufführungen, die bisweilen in Prügeleien kulminierten, waren das Ergebnis. So gesehen, soll Castorf ruhig kommen. Bayreuth ist bereit.

 

 




Als Joseph Beuys nach Japan kam

29. Mai 1984: Joseph Beuys lächelt gequält und sieht ein bisschen verloren aus. Ein Suchender und Staunender, einer, der noch nicht recht weiß, was ihn dort, wo er gerade mit dem Flugzeug gelandet ist, erwartet. Von Kameras begleitet und beäugt, bahnt sich der erstmals von Düsseldorf nach Tokio gereiste Künstler seinen Weg durch die mit Koffern und Menschen verstopfte Ankunftshalle.

Beuys trägt, was ihm zur zweiten Haut geworden ist: den grauen Filzhut, die multifunktionale Weste, weißes Hemd, dunkle Hose, grobe Schuhe mit dicken Gummisohlen. Der Kunstprofessor, der schon mit Studenten Räume der Düsseldorfer Kunstakademie besetzt hielt und mit seinem Konzept ökologisch-ganzheitlicher Kunst für Aufsehen sorgte, ist freundlich, freut sich über die roten Rosen, die ihm seine Gastgeber überreichen. Ein harmloser, fast heimeliger Auftakt eines achttägigen Aufenthalts, der es in sich hat und in der kulturpolitischen Landschaft Spuren hinterlassen wird.

Beuys wird im Seibu Museum of Art in Tokio eine Ausstellung mit seinen Werken einrichten und eröffnen, er wird Pressekonferenzen geben und vor erregten und verstörten Studenten sein Konzept einer antikapitalistischen Kunst-Utopie vorstellen. Beuys wird eine Manufaktur besuchen und zusammen mit Videokünstler Nam June Paik eine legendäre Performance veranstalten.

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Das dreißigstündige Filmmaterial, das Zeugnis von einer seltsamen Begegnung zwischen Ost und West ablegt und in Wort und Bild die meisten Schritte und Aktionen festhält, die Beuys vom 29. Mai bis zum 5. Juni 1984 in Japan unternahm, galt lange Zeit als verschollen. Vor einem Jahr tauchten die Film-Dokumente wieder auf und wurden in Japan gezeigt. Jetzt sind sie, in einer überwältigenden Ausstellung, erstmals in Deutschland zu sehen: „Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA“ ist der Titel der Berliner Schau, die im Hamburger Bahnhof, dem „Museum für Gegenwart“, präsentiert wird.

Im Westflügel des Museums, dort, wo ohnehin eine große Beuys-Sammlung beheimatet ist, die einige aus Kunstklassiker mit Schiefertafeln, Filzmatten und Fettecken beherbergt, ist eine ganze Etage für die überraschende Wiederentdeckung und großzügige Präsentation der japanischen Film-Sequenzen frei geräumt worden. Im Zentrum: eine dunkle Video-Höhle. Auf einer riesigen Leinwand wird ein 3-stündiger Mitschnitt der „Coyote III“- Performance nebst anschließender Diskussion gezeigt. Während Nam June Paik auf einem Klavier klimpert, hechelt Beuys Hundelaute ins Mikrofon.

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Um die Video-Höhle herum ist ein Kunst-Parcours mit zehn TV-Bildschirmen installiert. Dokumentiert werden, in unkommentierten und umfangreichen Filmsequenzen, sowohl Ankunft wie Abreise, Debatten und Diskussionen, Interviews und Museumsbesuche. Und immer wieder muss ein leicht genervter Beuys seinen fernöstlichen Gastgebern sein Kunstkonzept erklären. Man will verstehen, warum Beuys bereits 1963 die Partei EURASIA gegründet hat und vom Zusammenschluss östlicher und westlicher Kulturen träumt. Man will wissen, was es mit seinem ätzenden Anti-Kapitalismus auf sich hat und warum er Sätze sagt wie: „Ein Eisenwalzwerk muss zugleich eine Universität sein.“

Das Konzept des universellen Künstlers ist den Zuhörern noch fremd: „Jeder Mensch ist ein Künstler. Jeder Mensch ist ein Superstar. Jeder Mensch ist ein elitäres Wesen.“ Wenn Beuys seine kunstpolitischen Visionen in Japan ausbreitet, schaut er in viele fragende Gesichter, gebetsmühlenartig muss er dann seine Theorien darlegen. Japan mag für Beuys ein lang ersehntes Reiseziel und ein utopischer Kunsttraum gewesen sein. Dass ihn zwar japanische Kultur und Mentalität erregten und interessierten, ihm aber letztlich durchaus fremd blieben, auch davon erzählt diese Ausstellung, für deren Besuch man vor allem eines braucht: sehr viel Zeit.

Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA,
Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart Berlin, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin, bis 1. Jan. 2012,
geöffnet Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen,
Eintritt 12 Euro, ermäßigt 6 Euro.

Weitere Infos unter http://www.hamburgerbahnhof.de




Friedrich Seidenstücker: „Zille an der Linse“ kam aus Unna

Er ist d e r Berliner Fotograf, liebkoste Mensch und Alltag humorvoll und zeitkritisch, ein „Zille an der Linse“ – und quasi der Knautschke (legendärer Urvater vieler Bewohner des Nilpferdhauses im Zoo) der Tierfotografie: Friedrich Seidenstücker. Ihm widmet die Berlinische Galerie vom 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012 eine Ausstellung, die 226 (nur 21 davon sind Neuprints) seiner Bilder zeigt und mit ihnen einen drallen und im wahren Wortsinne liebevollen Ausschnitt der Metropole von 1925 bis 1958.

Friedrich Seidenstücker (1882 bis 1966) hat in seiner Heimatstadt Unna nur eine kleine Skulptur als Spur hinterlassen, der man nachsagt, dass sie aus seiner formenden Hand stamme. Sein abbildendes Werk entstand in Berlin und blieb dort, weil diese Stadt Friedrich Seidenstückers Universum wurde.

In Hagen hatte er das Maschinenbaustudium begonnen, das er 1904 in Berlin-Charlottenburg fortsetzte. Während des 1. Weltkrieges war er, obschon mit Fotografie und Bildhauerei in Kontakt, Flugzeugkonstrukteur bei der Zeppelin Bau AG in Potsdam, was er einige Jahre später den Nazis verschwieg, so dass er die dunkelste Zeit relativ unbehelligt als (politisch) mäßig beachteter Fotograf „überwintern“ konnte.

Friedrich Seidenstücker: Frühling (1948). Copyright: bpk/Friedrich Seidenstücker

Nach dem Krieg dokumentierte Friedrich Seidenstücker Zerstörung und Wiederaufbau, bekam anlässlich seines 80. Geburtstages eine große Ausstellung, um danach langsam der Vergessenheit der Menschen anheim zu fallen, die im zerschlissenen Berlin mit immer neuen und moderneren Reizen beschäftigt waren.

1971 entdeckte das Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz bei einem Trödler Friedrich Seidenstückers Nachlass und erwarb den für 500 Deutsche Mark. Wohl getan, denn dieser Fund ermöglichte die Ausstellung in der Berlinischen Galerie. Und – wesentlich kleiner – eine Erinnerung an den Sohn der Stadt in Westfalen mit vier Buchstaben im dortigen Hellweg Museum. Wann, das weiß ich nicht mehr.

Ausstellung 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012.
Berlinische Galerie
Landesmuseum für Moderne
Kunst, Fotografie und Architektur
Stiftung Öffentlichen Rechts
Alte Jakobstraße 124-128
10969 Berlin
http://www.berlinischegalerie.de
Tageskarte 8 Euro
Ermäßigt 5 Euro
jeden ersten Montag im Monat 4 Euro
Freier Eintritt bis 18 Jahre

Teaserbild: Friedrich Seidenstücker: Ohne Titel (Die Zwillinge Hilde und Helga Fischer), 1948. Copyright: bpk/Friedrich Seidenstücker




Weiß – die Synthese aller Farben

Callum Innes, Installationsansicht Loock Galerie, Berlin, 10, Foto CL

Callum Innes, Installationsansicht Loock Galerie, Berlin, 10, Foto CL

Jawohl, Euer Ehren: Ich gestehe. Ich gehöre auch zu denen, die mit der Kamera im Anschlag durch Ausstellungen ziehen, und von denen man sich fragt, was sie mit all den erlegten Terabytes eigentlich anstellen. Naja, erstmal beschriften und in entsprechenden Ordnern versenken. Selbige tragen so unverfängliche Titel wie „Malerei“, „Skulptur“, „Installation“ und so. Guckt man aber rein, fällt – in meinem Fall – eine gewisse Einseitigkeit auf.

Es sieht nicht allzu farbenfroh aus da drinnen. Die Palette der Gemälde beispielsweise bewegt sich zwischen Zartgrau und Titanweiß, die der Objekte zwischen Vanille und Beige, und nur unter den Installationen finden sich dunklere Grautöne. Der Anblick dieses ziemlich blassen Sortiments, das ich inzwischen zusammen geknippst habe, veranlasst schon mal die Frage, warum mich inmitten des allgegenwärtigen Farbrausches ausgerechnet die gespenstisch blutleeren Leinwände und Objekte anziehen. Leide ich unter diesem psychischen Waschzwang, der so manche Personen mit mörderischer Gesinnung veranlasst, sich vorzugsweise in schneeweißer Garderobe zu präsentieren?

Anders gefragt: Was hat Weiß, was all die umwerfend schönen Farben nicht haben?

Rosella Bellusci "Uomo diafano D, B, C", 07, Foto CL

Rosella Bellusci „Uomo diafano D, B, C“, 07, Foto CL

Dabei sind mir die Vorzüge bunter Farben durchaus geläufig. Ich gehör sogar zu den fantasiearmen Langweilern, die im einst legendären Fragebogen der FAZ auf die Erkundigung nach der „Lieblingsfarbe“ einfallslos aber wahr „alle“ geantwortet hätten. (Bedauerlicherweise hat mich die FAZ nie gefragt.) Dennoch können sie „alle“ mir zuweilen sowas von gestohlen bleiben. Und dabei weiß (!) ich mich in bester Gesellschaft – nämlich in eurer.

Wir alle sind einem Farbgewitter ausgesetzt, gegen das wir uns eher selten durch bewusstes, weitaus häufiger durch unbewusstes Ausblenden wehren. Umso wohltuender erleben wir die Sicht in eine unbunte Weite. Ja, Weite, denn Sehen ist entspannend, wenn wir den Blick ausrollen können, ohne irgendwo anzustoßen. Dieses unscharfe Schweifenlassen funktioniert besonders gut, wenn es mangels Form- und Farbunterschieden nichts zu fokussieren gibt: Himmel, Wasser, Erde – eine gewisse Reizarmut zugunsten von Weitläufigkeit macht relativ unaufgeregte Elemente zur Badewanne für die Augen.

 

Esperanza Spierling "Fünf Würfel", 09, Foto CL

Esperanza Spierling „Fünf Würfel“, 09, Foto CL

Da sich in Ausstellungen aber eher selten die Gelegenheit ergibt, selbige an Horizonten oder Wolkendecken zu räkeln, suchen sich diese unsere „Eierbecher der Blicke“ andere Schlupflöcher aus dem visuellen Overkill. Dazu gehören Flächen und Körper, die die optische Entsprechung sog. Schalltoter Räume darstellen – Kammern, deren Wandverkleidungen keinerlei Ton reflektieren.

Diese Analogie jedoch trifft nur begrenzt zu, denn hat sich der vom Farbgeflimmer betäubte Gesichtssinn erst an die plötzliche Ruhe gewöhnt, gewinnt er an Schärfe und fängt an, die anfängliche Reizarmut „rein“ weißer Situationen in Nuancen zu zerlegen – ein Phänomen, das einst zum gern zitierten Irrtum der vermeintlichen Vielzahl von Wörtern für Schnee in den Sprachen der Eskimo geführt hat.

 

Markus Amm, Installationsansicht Galerie Guenther, Berlin, 10, Foto CL

Markus Amm, Installationsansicht Galerie Guenther, Berlin, 10, Foto CL

Weiß erzeugt eine unvergleichliche Sensibilität für seine nicht-weißen Bestandteile. So stellt es die zu seiner Erfassung notwendige Trennschärfe selbst her, indem der Blick ins vermeintlich einheitlich Helle alsbald die darin verborgenen Unterschiede offenbart.

Das lustvolle Auflösen anfänglich kompakter Homogenität in eine Vielzahl verschiedener Helligkeiten, Schärfen und Entfernungen ist wohl auch der Grund, weshalb wir bis heute hartnäckig an der inzwischen mehrfach widerlegten Illusion festhalten, die Heroen und Göttinnen der Antike habe man sich weiß gewandet und ungeschminkt vorzustellen. Trotz pädagogisch ambitionierter Ausstellungen solcher Statuen entsprechend des historisch belegten, papageienbunten Dresscodes der griechischen Klassik, bevorzugt die Mehrheit heutiger BetrachterInnen die unbemalte, und daher erst richtig „edle Einfalt, stille Größe“, wohl wissend, dass sie eine geschichtliche Fälschung ist.

 

Antonella Zazerra, Installationsansicht Art Cologne, 11, Foto CL

Antonella Zazerra, Installationsansicht Art Cologne, 11, Foto CL

Während andere monochrome Flächen zwar ebenfalls sensibilisieren, leisten sie dem investigativen Blick dennoch mehr Widerstand. Je mehr Licht eine Farbe absorbiert, desto eindringlicher müssen wir sie fixieren, wohingegen Licht reflektierende Flächen uns die Arbeit des scharfsichtigen Beleuchtens abnehmen. Das als Schneeblindheit bekannte Kippen des Lichten ins Überbelichtete inszenierte einst Terence Koh in einer Installation namens Captain Buddha, die nur durch eine Luke erreichbar war. Die beim Eintreten erlebte Blendung verdankte sich weniger einer einzelnen Lichtquelle als vielmehr dem erbarmungslosen Weiß der Situation – ein optischer Nebel, aus dem die Konturen symbolisch aufgeladener Gegenstände nur widerwillig herauf dämmerten. Dieses Auflösen der Formen in einem nicht fassbaren, gleißend hellen Raum ähnelt einer in buddhistischer Terminologie als Leerheit umschriebener psychischer Erfahrung, die Koh wie folgt erläutert: „schon immer wollte ich eine ausstellung über die ideen des buddhismus machen, sie werden heutzutage sehr gebraucht“.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, Foto CL

Wie dem auch sei, wurde die philosophische Kapazität des Weiß, über sich hinaus ins Nicht-Materielle zu verweisen, traditionell auch Gold zugesprochen. Anders als diese grundsätzlich mit dem Wert eines Edelmetalls assoziierte Farbe aber wahrt Weiß eine gedankliche Freiheit, welche die Betreiber der Mailänder Galerie Grossetti Arte Contemporanea veranlasste, der diesjährigen Art Cologne ein Kuckucksei namens White Meditation Room ins Nest zu legen. Und in dem war tatsächlich drin, was drauf stand. Das Aufgebot einer Vielzahl (mehr oder weniger) weißer Exponate erzeugte eine kontemplative Ruhe und fungierte somit als exotische Insel inmitten des Rummelplatzes der Messehalle.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Es ist seine Doppelnatur, die Weiß als Synthese aller Farben über diese hinausgehend ins Immaterielle erhebt. Denn es ist materielle Präsenz sowie deren Abwesenheit, eine barrierefreie Spielwiese umherwandernder Blicke, die gleich darauf zur Implosion örtlicher Begrenzungen und somit vollständigen Orientierungslosigkeit führen kann, eine Projektionsfläche zur dramatischen Inszenierung subtiler Abweichungen, die ebenso zur Auslöschung jeglicher Unterscheidung führt. Dieser Verweis des Gegenständlichen aufs Nicht-Gegenständliche nebst aller vorher beschriebenen Eigenschaften hat jedenfalls bewirkt, dass sich meine Festplatte unter dem Etikettenschwindel „Malerei“ und „Skulptur“ mit allerlei Varianten weißen Rauschens füllt, die innerhalb der Kakophonie von Messe- und Ausstellungshallen den Durchblick ins Jenseits von Hinguckern und Must-Sees erlauben.

 

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

Stand von Grossetti Arte Contemporanea auf der Art Cologne, 11, (Detail), Foto CL

 





Erhabene Schönheit der Renaissance

Diese Schönheit und Anmut, dieser Stolz, dieses Selbstbewusstsein, diese Eleganz. Seit Wochen beherrschen die von zeitloser Erhabenheit erzählenden „Gesichter der Renaissance“ das Berliner Stadtbild. Überall hängen Plakate und Transparente.

Jetzt endlich ist die Zeit des neugierigen Wartens vorbei. Und das Ergebnis lässt den Betrachter vor Ehrfurcht in die Knie gehen: Das auf der Berliner Museumsinsel gelegene Bode-Museum öffnet die Pforten zu einer opulenten Bilderschau und zeigt mehr als 170 Hauptwerke der Renaissance, Gemälde, Zeichnungen, Medaillen und Büsten, die erstmals zusammen zu sehen sind. Zu den Leihgebern der fragilen und nur selten auf Reise geschickten Kunstwerke gehören die Florentiner Uffizien und der Pariser Louvre, die National Gallery in London und die Sammlung Czartoryski aus Krakau.

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Leonardo da Vinci: "Dame mit dem Hermelin" (Portrait der Cecilia Gallerani), 1489/90, Copyright bpk/Scala

Ob Sandro Botticelli oder Filippo Lippi, Domenico Ghirlandaio oder Gentile Bellini, Antonio del Pollaiuolo oder Andrea d´Assisi: Kaum einer der großen italienischen Meister, die im 15. Jahrhundert die Kunst revolutionierten, sie aus den Zwängen der Kirche befreiten und das selbstbewusste Antlitz des Finanzadels künstlerisch veredelten, fehlt in der grandiosen Schau. Natürlich auch nicht Leonardo da Vinci. Seine „Dame mit Hermelin“ (1489/90) ist Höhe- und Schlusspunkt der Kunst-Exkursion, die zu einem ästhetischen Erlebnis wird. Dass das Bildnis der etwas spöttisch und missgelaunt über ihre Schulter in eine abstrakte Ferne schauenden Cecilia Gallerani überhaupt von Krakau nach Berlin reisen durfte, ist eine Sensation: leider eine von begrenzter Dauer. Denn schon Ende Oktober (vier Wochen vor Ende der Ausstellung) muss das Bild zur großen Leonardo-Schau nach London reisen. Und ins Metropolitan Museum of Art darf die schöne Dame schon gar nicht: Für die zweite Station der Ausstellung über die „Gesichter Renaissance“ in New York (19.12. 2011-18.3.2012) wird es ein neues Glanzstück geben müssen.

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Sandro Botticelli "Profilbildnis einer jungen Frau" (Simonetta Vespucci?), um 1476, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Trotzdem: Für Michael Eisenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, ist das, was in Berlin seinen Anfang nimmt und in New York weitergeführt wird, die „weltweit größte und bedeutendste Ausstellung zur Portrait-Kunst der italienischen Renaissance“. Da hat er Recht.

Den Ausgangspunkt bildet Florenz, weil dort das autonome Portrait erstmals in großer Zahl auftritt. Danach richtet sich der Blick auf die Höfe von Ferrara, Mantua, Bologna, Mailand, Neapel und des päpstlichen Rom. Schließlich geht es nach Venedig, wo sich die Portrait-Kunst erst mit Verspätung etablierte. Der durch ein schummriges Halbdunkel flanierende Betrachter macht überall wunderbare Entdeckungen, sieht inszenierte Machtfülle (Botticellis „Bildnis des Giuliano de´Medici“) und überirdische Schönheit (Pollaiuolos „Bildnis einer Dame“).

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Andrea Mantegna: "Bildnis des Kardinals Ludovico Trevisano", um 1459, Copyright Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders

Der Kunstflaneur wird Zeuge, wie sich das Einzelportrait, das früher nur Herrschern und historischen Persönlichkeiten vorbehalten war, zur autonomen, vielgestaltigen Kunstform entwickelt. Doch wer Italiens künstlerischen Beitrag zur Erfindung von Individualität und Identität miterleben will, braucht Geduld. Aus konservatorischen und ästhetischen Gründen werden immer nur 300 Besucher auf einmal zugelassen. Da werden sich lange Schlangen bilden.

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Filippo Lippi: "Bildnis eines Mannes und einer Dame", um 1440, Copyright The Metropolitan Museum of Art, New York

Die Wartezeit kann man sich dann mit einer aufs Mobiltelefon herunter geladenen kostenlosen Online-Applikation versüßen: Die „App“ hat unzählige Kunstwerke und Kommentare, Künstlerbiografien und Videos im Angebot. Ob der Kunstliebhaber allerdings auch Statements von Hair-Stylist Udo Walz oder Modemacher Wolfgang Joop hören und sehen will, sei dahin gestellt. Diesen zeitgeistigen Firlefanz hat die zeitlos schöne Ausstellung gar nicht nötig.

Infos:

+ „Gesichter der Renaissance – Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst“, bis 20. November 2011, Fr – Mi 10 -18 Uhr, Do 10 – 22 Uhr.
+ Bode-Museum, Museumsinsel Berlin, Am Kupfergraben 1, 10117 Berlin,
+ Rund 170 Meisterwerke der italienischen Renaissance (Gemälde, Zeichnungen, Medaillen, Büsten), zusammengetragen aus über 50 Museen.
+ Danach im New Yorker Metropolitan Museum of Art, 19.12. 2011-18.3.2012,
+ Service und Tickets unter www.smb.museum/gesichter,
+ Eintritt: 14 Euro, ermäßigt 7 Euro,
+ Katalog: In der Ausstellung 29 Euro, im Buchhandel 47,50 Euro




„Humboldt-Box“: Temporäres Raumschiff mitten in Berlin

Nach der Wende wurde Berlin nicht zur Hauptstadt der Deutschen, sondern auch zur Metropole des Temporären und Unfertigen.

Keine Kunst, kein Neubau ohne Infobox und Eventprogramm. Die Baustelle am Potsdamer Platz konnte man von einem auf Stahlstelzen stehenden riesigen roten Container aus verfolgen. Weil ein Haus für moderne Kunst fehlte, baute man einen „White Cube“ vors Rote Rathaus.

Jetzt ist in der historischen Mitte Berlins, in direkter Nachbarschaft zu Lustgarten, Museumsinsel und Dom, ein außerirdisch anmutender Würfel aus Glas und Beton gelandet. Wo einst das vom Krieg zerstörte und von Walter Ulbrichts Baubrigaden weggeräumte Hohenzollernschloss stand und nach dem Abriss des asbestverseuchten Palastes der Republik ein städtebauliches Loch gähnt, steht nun die „Humboldt-Box“: 28 Meter ist sie hoch, auf fünf Etagen und 3000 Quadratmetern gibt es Ausstellungsflächen und Erlebnisräume, Veranstaltungsbereiche und Museums-Shops. Und ganz oben wartet nicht nur nicht nur ein schickes Restaurant, sondern auch ein fantastischer Rundblick über Berlins Mitte.

Die „Humboldt-Box“ soll Appetit machen und einen Überblick ermöglichen über das, was auf der daneben liegenden architektonischen Wüste einmal entstehen soll: Das Humboldt-Forum, das im wieder aufgebauten Berliner Schloss zur Heimstatt für ein multikulturelles Projekt aus ethnologischen Sammlungen, Universitätsforschung, Bibliothek und Debattenforum werden soll.

Wenn es denn entsteht. Denn seit der Bundestag 2002 ein parteiübergreifendes Bekenntnis zum Wiederaufbau des Berliner Schlosses ablegte, ist viel architektonisches und politisches Porzellan zerschlagen worden. Der Wettbewerb, aus dem der italienische Architekt Franco Stella mit seinem Entwurf (drei barocke und eine postmoderne Fassade) als Sieger hervorging, hatte ein juristisches Nachspiel. Außerdem wurde der für 2011 geplante Baubeginn wegen der Finanzkrise auf 2013 verschoben. Ob die wieder aufgebaute Schlosshülle mit einer nach historischem Vorbild rekonstruierten Glaskuppel versehen wird, steht in den Sternen: Die dafür anfallenden 28 Millionen Euro will niemand berappen.

Überhaupt wird mehr um das liebe Geld als um das noch immer nebulöse museale und künstlerische Konzept des Humboldt-Forums gestritten. Bisher galt: 440 Millionen Euro kommen vom Bund, 32 Millionen vom Land Berlin, 80 Millionen aus Spenden, die ein von Wilhelm von Boddien gegründeter Förderverein auftreiben soll. Derzeit sind aber erst 15 Millionen in der Kasse, für 7 Millionen gibt es unverbindliche Zusagen. Boddien: „Ich hoffe, dass mit der Humboldt-Box der Spenden-Knoten platzt!“ Ob die vom Berliner Architekturbüro „Krüger Schuberth Vandreike“ und von der Firma Megaposter (Neuss) betriebene Box auch den Bund ermuntern wird, den wegen des späteren Baubeginns anfallenden Inflationszuschlag von 28 Millionen Euro auszugleichen, entscheidet sich in den kommenden Tagen.

Hermann Parzinger, als Leiter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz oberster Schlossherr, freut sich über die mit Architekturmodellen, ethnologischer Kunst und interdisziplinären Büchern voll gestopfte Box. Kritikern, die über das futuristische Raumschiff die Nase rümpfen, tröstet er: „Je schneller das Schloss kommt, desto schneller ist die Box wieder weg!“ Wenn alles gut geht, der Bau termingerecht abgewickelt wird und die versprochenen Gelder tatsächlich fließen, könnte das im Jahr 2019 der Fall sein. Ernsthaft glaubt daran aber niemand.

Humboldt-Box, Schlossplatz 5, 10178 Berlin, täglich 10-18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2,50 Euro, Kinder bis 12 Jahren freier Eintritt, Humboldt-Terrassen: täglich bis 23 Uhr. http://www.humboldt-box.com

(Bild = Simulation: Megaposter GmbH, Neuss)




Verschaukelt

Die Einheit ist Geschichte, und sie ist nach wie vor unvollendet. Vollendete Tatsachen schaffte jedoch die Einheitsdenkmalsjury mit ihrer Auswahl des Entwurfs aus dem Stuttgarter Architekturbüro Milla, das zusammen mit Sasha Waltz die Möglichkeit des Andenkens an die Prozesse, die zu dem Staatsgebilde von heute geführt haben, grandios dämlich verschaukelte. Dieses Werden als 50 Meter breite Wippe materialisieren zu wollen, mag vielleicht als Metapher im Hirn funktionieren. Die Vorstellung, das Ganze dann in der Nähe des rekonstruierten Disney-Objekts namens Stadtschloss aufgestellt zu erleben, führt zu einem Ensemble, das an Peinlichkeit nicht zu überbieten ist.

Sicherlich, unter keinem guten Stern stand das Projekt von Beginn an. Zuerst die Schmach des Scheiterns von Wettbewerb Nummer eins. Aber auch der zweite Rundgang verhieß nach der Vorauswahl nichts Gutes. Man denke etwa an die Beliebigkeit von Stephan Balkenhols „Kniendem“. Unentschieden eben. Und das trifft gleichermaßen auf die Wippe zu. Viel lässt sich heineinsehen. Oh, körperlich erlebtes Pendeln im großen Format. Kommt es dann zur existenziellen Erfahrung, wenn bewegungsfreudige Kids Touristengruppen in Bewegung bringen? Nun, so hoch kann die Amplitude schon aus baurechtlichen Gründen nicht ausschlagen. Sicher und gepampert, wird alles der üblichen Artigkeit angepasst. Also doch nur Symbolik mit wohlmeinendem Label „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk“. Selbst wenn auf dem Plateau kein Kaiser Wilhelm mehr aufragt, sondern egalitär jeder Besucher den Fuß auf das Werk zu setzen vermag, so wird es doch dadurch weder aus gestaltungslogischer noch ikonografischer Perspektive besser um das Projekt.

Letztlich spiegelt der Entwurf die herrschende Tagespolitik eines Landes, in dem die Akteure der derzeitigen Regierung hin und her wackeln. Sie reflektieren eine wankelmütige Kanzlerin, einen Außenminister, der etwa mit Blick auf die arabische Revolution erst vollmundige Hilfe verspricht, dann aber wiederum nur den lähmenden Takt für ein unentschiedenes Pendeln zwischen verhaltenem Aktionismus und Rückzieherei vorgibt. Ganz gleich in welches Ressort man schaut – sieht man vielleicht einmal von, man höre und staune, Frau Leutheusser-Schnarrenberger ab, ist es ein bleiernes Schwanken auf niedrigem Niveau. Wenn das Denkmal für diesen Nicht-Zustand der Berliner Republik geschaffen worden wäre, meinen Segen hätte es bekommen. Der deutschen Einheit wird ein derartiger Fun-Park jedoch keineswegs als dauerhafter Anlass der Erinnerung oder des An- und Überdenkens gerecht.




Suhrkamp – verhext?

Der traditionsreiche Suhrkamp-Verlag zieht von Frankfurt nach Berlin um. Mit diesem Entschluss hat sich Siegfried Unselds Witwe Ulla Berkéwicz nicht nur über den Willen von 80 Prozent der Verlagsmitarbeiter hinweggesetzt, sondern auch über die (geistige) Verwurzelung dieses Verlages im Umkreis der „Frankfurter Schule“. Ob sich Adorno nun im Grabe umdreht?

Wie der Süddeutschen Zeitung (heutige Ausgabe) zu entnehmen ist, hat Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit offenbar seit langem heftig gelockt, dass Suhrkamp an die Spree kommen möge. Wer weiß, ob und aus welchen Töpfen da womöglich noch Subventionen / Ansiedlungs-Prämien fließen. Falls es so wäre, könnte man von einem handfesten Skandal sprechen. Wie gleichfalls in der SZ von heute steht, ist just Hessen einer der größten Geber beim Länderfinanzausgleich, Berlin hingegen das Empfängerland mit den meisten Ansprüchen. Somit hätte es Hessen den Berlinern ermöglicht, etwaige Subventionen überhaupt erst aufzubringen, um einen der wichtigsten deutschen Verlage abzuwerben, ihn von Hessen nach Berlin zu holen.

Das Satireblatt „Titanic“ hat die Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz einst als „schwarze Witwe“ und als „die neue Yoko Ono der deutschen Schriftkultur“ bezeichnet. Beatles-Kenner wissen, was damit gemeint sein könnte. U. B. gibt offenbar ohnehin ein geradezu hexenhaftes Feindbild ab. Auch mit dem Umzugsbeschluss (oder besser: Umzugsbefehl) hat sie sich außerhalb Berlins wohl keine neuen Freunde gemacht.




Attacke auf Hitler-Wachfigur

Kommentar:

Reichlich wirr

Von Bernd Berke

Ganz gleich, ob es nun eine Wette war oder ob wirklich politische Motive mitgespielt haben: Der 41-jährige Mann, der am Samstag der Berliner Wachsfigur von Adolf Hitler den Kopf abgerissen hat, muss ein reichlich wirrer Zeitgenosse sein. Gewiss verbirgt sich auch eine persönliche Misere dahinter.

Niemand kann ernsthaft glauben, dass eine Aktion dieser Sorte irgend etwas am schrecklichen Lauf der Geschichte ändert. Ja, selbst als noch so gut gemeintes antifaschistisches Signal für die Gegenwart taugt diese Handlung nicht. Dazu ist der Vorgang einfach zu lächerlich. Ein Spektakel, das der Berliner Tussauds-Filiale zu allem Überfluss auch noch unfreiwillige Werbung beschert.

Es knüpft sich jedoch eine weitere Frage an den Zwischenfall: Warum muss man überhaupt eine Wachsfigur Hitlers für exorbitante 200 000 Euro anfertigen lassen und sie derart zur Schau stellen? Der bloße Anblick sagt nichts, aber auch gar nichts über die Verbrechen Hitlers aus. Er verniedlicht die Gestalt des NS-Diktators zum Erlebnismoment für Touristen.

Zwar ist es offiziell verboten, sich im Wachsfigurenkabinett neben der Figur fotografieren zu lassen. Doch wer will dies eigentlich verhindern, wenn schon der rabiate Zugriff am Samstag nicht unterbunden werden konnte? Am besten wäre es daher wohl, wenn das beschädigte Stück nicht repariert und nicht mehr gezeigt würde, wenn also künftig eine (vielsagende) Leerstelle bliebe.

Bemerkenswert, dass es auch in Hamburg und London „Hitler in Wachs“ gibt. In der Hansestadt ist seit 48 Jahren nie etwas passiert, die Figur in London wurde hingegen schon mehrfach beschädigt. In Berlin und London wiegt die wahrhaft zwiespältige Symbolwirkung einer solchen Darstellung schwerer als andernorts. Somit ist das Ganze denn doch ein schauriges Lehrstück über die anhaltende, manchmal geradezu unheimliche Kraft des Symbolischen.




„Berliner Orgie“: Im schäbigen Garten der Lüste

Vor seinen Feldforschungen für dieses Buch hat Thomas Brussig nach eigenem Bekunden nie ein Bordell betreten. Das ganze Milieu der käuflichen Sexualität war ihm völlig fremd.

Der Autor wird in „Berliner Orgie” nicht müde zu betonen, wie unwissend und „unschuldig” er sich ans Thema herangepirscht habe. Er bescheinigt sich selbst „die köstliche Freiheit des Naiven” und stellt klar, dass es auch im Verlauf seiner jetzigen Recherchen kein einziges Mal zum Äußersten gekommen ist. Das hatte er vorher seiner Frau versprechen müssen. Ist ja schon gut. Jetzt wissen wir’s: Brussig („Sonnenallee”) ist offenkundig kein Asphaltdichter, sondern ein Gegenbild zu abgebrühten, szenekundigen Poeten wie etwa Wolf Wondratschek.

Brussig hat sich also staunend in diversen Rotlicht-Vierteln und Sexhandels-Bezirken der Hauptstadt umgetan. Seine Wege führen vom miesen Straßenstrich bis zum vermeintlichen Edelpuff, von der schummrigen Kontaktbar über die Escort-Agentur bis zum weitläufigen Swingerclub und in Porno-Kinos.

Die Namen der Stationen lauten branchenüblich verheißungsvoll: „Lustgarten”, „Sexyland”, „Artemis”, „La Folie”, „Tempel-Oase” oder „Villa Venus”. Doch hinter den glitzernden Fassaden sieht’s oft ganz anders aus. Wer hätte das gedacht? Mal ehrlich: Ein guter Journalist hätte mindestens ebenso tragfähige Ergebnisse erzielt. Doch Brussigs Name macht sich natürlich besser auf einem Buchdeckel. Wofür Schriftsteller sich früher allerdings geniert hätten: Er war im Auftrag des Berliner Springer-Boulevardblattes „B. Z.” unterwegs. Der Zeitungsverlag zahlte die Spesen. Problem des Autors: Fast überall war’s schwierig, Quittungsbelege zu bekommen. Jedenfalls erhoffte sich die Zeitung wohl knackige Resultate.

Die liefert Brussig freilich kaum. Vielfach schildert er redlich und nüchtern die schäbige Ödnis der Etablissements, in denen meist routiniertes Abzocken (Nepp mit Schampus & Co.) angesagt ist. Die Metropole Berlin erscheint dabei vielfach als trübes, ja nahezu „totes” Gelände – und das zur angeblich so brünstigen Zeit der Fußball-WM 2006. Vom Weltstadt-Knistern keine Spur. Aus Brussigs Streifzügen erwächst denn auch ein (weitgehend negativer) Stadtführer; stets werden die besuchten Adressen benannt.

Zuweilen gibt sich Brussig geradezu rührend gestrig. Herkömmliches „Anbaggern”, so meint er, bestehe hieraus: „Kreide fressen, Mit-Blumen-Antraben, den Romantiker mimen, Schwüre schwören usw.” Ist das wirklich noch so? Immer erst glühende Schwüre, bevor es lustvoll ins Bett geht?

Beim Sex für Geld hingegen, so Brussig, herrsche allemal Sachlichkeit. Hier hätten die Frauen das Heft in der Hand, sprich: Die Huren bestimmen die Regeln. Klingt fast nach Befreiung – und ist sicherlich nur der kleinere Teil der Wahrheit. Übrigens glaubt Brussig den Mädchen und Damen des Gewerbes auch ihre standardisierten Lebensgeschichten, als könnten es keine Legenden sein.

Nur zweimal lässt sich der literarische Berichterstatter zur Begeisterung hinreißen. Nach einem Stelldichein im Swingerclub sinniert er: „Die Orgien haben starken Eindruck auf mich gemacht.” Über ein anderes Lusthaus (ohne würdeloses Gefeilsche um die Preise) heißt es sogar euphorisch: „Ich habe die Zukunft der Prostitution gesehen.” Ob dieser starke Werbespruch dort wohl bald über dem Eingang prangen wird?

Thomas Brussig: „Berliner Orgie”. Piper Verlag. 205 Seiten. 16,90 Euro.




Aus dem Vorrat der Idyllen – „Kleine Nationalgalerie“: Bilder des 19. Jahrhunderts auf lange Zeit in Dortmund

Dortmund. Sehen wir es mal s0 herum: „Dies ist eine Kunst, die nicht quält“, sagt Brigitte Buberl vom Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte („MuKuKu“). Gewiss, auch sie habe vor einigen Bildern spontan gedacht: „Oh Gott, was für ein Schinken!“ Ja, man zeige hier in der Tat auch „verlogene Idyllen“, immerhin Balsam fürs Gemüt.

Sie spricht von jenen 120 Bildern und Skulpturen, die sie selbst aus dem überquellenden Depot-Fundus der Alten Nationalgalerie in Berlin ausgewählt hat – für Dortmund, wo dieser Querschnitt durch die Kunst des 19. Jahrhunderts ab jetzt drei Jahre lang (!) zu sehen ist. Die Kollektion, die in etwa den Sammlergeschmack der Gründerzeit in den 1870er Jahren widerspiegelt, firmiert unter „Kleine Nationalgalerie“. Sie könnte eines Tages im „Dortmunder U“, einem ehemaligen Brauereiturm, ihren Platz finden. Zukunftsmusik.

Berlin steht bei dem „Handel“ nicht schlecht da: Man konnte Depot-Bestände entstauben und restaurieren (Dortmunder Kostenbeitrag: 80 000 Euro). Dortmund wiederum begegnet den Schöpfungen einer Zeit, die zum Eigenbesitz des MuKuKu passt und sonst in Westfalen nicht so reichlich vertreten ist.

Von der Frühromantik bis zum Impressionismus

Ein Jahrhundert wird besichtigt: Der Epochenrahmen reicht von der Goethezeit bis zum Ersten Weltkrieg, die stilistische Palette von Frühromantik über Biedermeier und Realismus bis hin zu Impressionismus und Jugendstil. Man erlebt hier viel akademische Feinmalerei, etliches Historien-Pathos und Genre-Süßlichkeit: Herzig schmelzendes Beispiel hierfür sind Eduard Steinbrücks „Badende Kinder“. Kunst, die (sich und uns) nicht quält…

Spitzenstücke und bekanntere Künstlernamen sind rar: Arnold Böcklin, Lovis Corinth, Max Slevogt, Wilhelm von Kaulbach, Adolph Menzel, Otto Modersohn, Franz von Stuck, Moritz von Schwind, Hans Thoma, Johann Gottfried Schadow. Das wär’s eigentlich schon.

Allerlei mythologische Gestalten

Der große Rest muss der Vergessenheit entrissen werden. In Einzelfällen könnte es‘ sich lohnen. Bernhard Maaz, Leiter der Alten Nationalgalerie, hat aber eine „Revision des 19. Jahrhunderts“, eine umfassende Neubewertung im Sinn. Kaum zu erwarten, dass die Dortmunder Auswahl diesen hohen Anspruch erfüllt. Am besten wappnet man sich wohl mit freundlicher Ironie – ganz im Sinne einer Postmoderne, die in konservativer werdenden Zeiten so manches wieder lächelnd gelten lässt, was längst abgehandelt schien. Dann kann man an allem sein stilles Vergnügen haben. Hie und da geht einem gar das Herz auf.

Ein Segen übrigens, dass die Exponate erläuternd beschriftet sind, denn über den mythologischen Bildungsvorrat der damaligen Künstler gebietet heute niemand mehr.

Schwebende Engel, heroische Ritter, orientalische Gewänder, Huldigungen an königlich-kaiserliche Hoheiten: Tatsächlich trifft man hier das wesentliche Bilderinventar des 19. Jahrhunderts an. In diesem hehren Umfeld wirkt schon Oskar Zwintschers zartsinniges Frauen-„Bildnis in Blumen“ (1904) wie ein Gruß nach vorn – und Otto Modersohns leuchtender „Birkendamm“ (1901) wie eine mittlere Offenbarung.

• „Kleine Nationalgalerie“. Dortmund, Museum für Kunst und Kulturgeschichte (Hansastraße). Für ca. drei Jahre (Austausch von Exponaten mittelfristig geplant). Di-So 10-18, Do 10-20 Uhr. Eintritt 6 Euro. Katalog im Oktober.




Das Theater sieht sich als Pflichtaufgabe – beim Berliner Kongress zur Krise der Bühnen

Aus Berlin berichtet
Bernd Berke

Ein ums andere Mal konnte man staunen beim Berliner Kongress „Bündnis für Theater“. Debattenbeiträge kamen in dichter Folge von Teilnehmern aus Dortmund, Siegen, Köln, Bonn, Düsseldorf, Krefeld und Münster. Schließlich wunderte sich auch Moderator Hansjürgen Rosenbauer: „Eine alte Befürchtung wird wahr: NRW hat Berlin übernommen.“

Offenbar ist an Rhein und Ruhr das Bewusstsein für die Finanzkrise der Bühnen am meisten geschärft. Prominente Berliner Theaterleute, die im schmucken Kronprinzenpalais ein „Heimspiel“ gehabt hätten, blieben hingegen der Veranstaltung fern.

Auf einen zentralen Begriff konnten sich praktisch alle Anwesenden einigen. Bundespräsident Rau, seit geraumer Zeit mahnender Fürsprecher der Theaterkunst und Miturheber des „Bündnis“-Gedankens, gab das Stichwort vor: Kulturförderung dürfe von der Politik nicht mehr als freiwillige Leistung, sondern müsse als öffentliche „Pflichtaufgabe“ verstanden und auch verankert werden.

Das Gejammer ist man leid

Fortan kam der Kongress immerwieder auf das Zauberwort „Pflichtaufgabe“ zurück. Stünde es erst einmal (wie in Sachsen bereits geschehen) in den Gesetzen, so könnten Kulturmittel nicht mehr ohne weiteres gestrichen werden. Endlich einmal dürfte man sich dann „auf Augenhöhe“ mit anderen Bereichen sehen. Kulturstaatsministerin Christina Weiss möchte überdies erreichen, dass derlei kulturelle Verpflichtungen nicht nur auf dem Papier sich ausbreiten, sondern „vor allem in den Köpfen“.

Theaterleute und engagierte Kulturpolitiker sind das jammervolle Krisen-Gerede offenbar ziemlich leid. Amelie Niermeyer, finanziell gebeutelte Intendantin in Freiburg: „Wenn wir immer nur die Krise beklagen, hört uns irgendwann keiner mehr zu.“ NRW-Kulturminister Michael Vesper bilanzierte zum Schluss, dies sei gottlob „kein Jammer-Kongress“ gewesen, sondern ein selbstbewusster Auftritt der Theaterschaffenden nach dem Leitsatz: „Wir bieten das, was die Gesellschaft braucht.“ Genau so müsse die Kultur auf die Politik zugehen.

Boulevardisierung greift um sich

Beklagt wurde freilich das mediale Umfeld. Die Boulevardisierung greife derart um sich, dass man damit nicht mehr konkurrieren könne. „Wir dürfen nicht alle Mensehen erreichen wollen“, lautete ein bemerkenswerter Befund. Gewiss wolle man sich um jedes Publikumssegment bemühen, doch wenn etwa bei der ZDF-Sendung über „Die größten Deutschen“ ein Daniel Küblböck mehr gelte als manche Klassiker, so dürfe man solchen Entwicklungen nicht hinterherlaufen.

In vier thematischen Foren sichtete der Kongress etliche konkrete Ansatzpunkte – von der theatergerechten Reform der Tarifverträge bis hin zu neuen Marketing-Konzepten. Dortmunds OB Gerhard Langemeyer erläuterte die womöglich bundesweit beispielhaften Vorteile des Theater-Eigenbetriebes, der über die Verwendung kommunaler Mittel selbstständig entscheidet. Essens Kulturdezernent Oliver Scheytt suchte schließlich nach starken Bündnispartnern fürs Theater und hoffte, sie in Schulen, Medien und Kulturbetrieben anderer Sparten zu finden.

Idealistisch gab sich Wolfgang Suttner, Kulturdezernent von Siegen/Wittgenstein. Wenn Menschen erst einmal von Kultur „angezündet“ seien, so sei diese „nicht mehr so leicht kaputt zu machen“. Ihm wurde freilich entgegengehalten, dass eine Mehrheit kulturell zu „erkalten“ drohe. Sollte denn am Ende alles eine klimatische Frage sein?

 




Das schrille Krähen der Apokalypse – Thomas Ostermeiers Berliner „Nora“-Inszenierung gastiert bei den Ruhrfestpielen

Von Bernd Berke

Marl. Brütende Hitze herrscht in der Marler Eisenlagerhalle Victoria 1/2, dieser industriellen Stätte der Ruhrfestspiele. Doch was soll’s. Hier sieht man ein gepriesenes Hauptereignis der Theaterspielzeit: Henrik Ibsens „Nora“ in Thomas Ostermeiers Berliner Schaubühnen-lnszenierung lohnt manchen Schweiß.

Der moderne Klassiker von 1879 ist ein heimliches Stück der Saison. Viele Bühnen, darunter Dortmund, haben das dramatische Prägemuster weiblichen Aufbegehrens ins Programm genommen. Doch die Berliner Fassung im kühlen Bauhaus-Ambiente, das vom vorläufig wachsenden (aber stets bedrohten) Wohlstand kündet, dürfte bei weitem unerreicht sein. Dem frisch ernannten Bankdirektor Helmer (Jörg Hartmann) geht die Karriere so sehr über alles eheliche Maß, dass er Nora jederzeit opfern würde.

Gewaltphantasien wie aus Horrorfilmen

Bei Ostermeier flackern allerlei jetzige, vorwiegend medial aufgepeitschte Krisen-Gespenster durchs Geschehen. Es ist wie ein schrilles Krähen der Apokalypse: Eingestreute Slapstick-Nummern beschwören krude Gewaltphantasien wie aus Video-Ballerspielen oder blutigen Horrorfilmen herauf. Die Machtfrage zwisehen den Geschlechtern wird zuweilen körperlich drastisch ausgetragen: Nicht nur ihr Besitz ergreifender Gatte, dieses Laptop- und Handy-Monster, sondern auch der erpresserische Krogstad und der todkranke Hausfreund Dr. Rank geben sich so unverfroren, als sei Noras Leib durchaus „verfügbar“ wie der eines sadomasochistischen Pornostars. Erschreckend: All das kommt einem ziemlich plausibel vor. Ostermeier webt das Stück vom Tod der Emotionen ins Heute hinein, er zerrt es nicht bloß herüber.

Die anfangs so sorglos-flatterhafte Nora (umwerfend präsent: Anne Tismer) wirkt zunächst wie ein Plappermäulchen vom Schlage einer Verona F.: atemlos konsumgierig, über alles hinweg trappelnd.

Der Weg führt nicht ins Freie

Unter steigendem Leidensdruck wirft sich Nora in (hilflose) Posen der Selbstbehauptung, als wolle sie wenigstens aufrecht durchs Martyrium staksen. Zugleich wachsen Hysterie und Selbstentfremdung: Entgeistert betrachtet sie ihre Hände, die ein seltsames Eigenleben führen. Bin ich das noch. die da handelt?

Schließlich handelt sie ungeheuer haltlos! Sie geht nicht einfach fort, sondern feuert kaltblütig ein Pistolenmagazin auf ihren Mann ab: ein grotesker, gurgelnder Tod im heimischen Aquarium. Als Nora die Haustür hinter sich schließt, führt der Weg nicht ins Freie, sondern in ein Niemandsland fortwährender Verzweiflung.

Termin: Heute, 31. Mai (19 Uhr). Karten: 02361/92 180.




Beim Schwinden und Scheitern des Lebens – Claus Peymann inszeniert Franz Xaver Kroetz‘ „Das Ende der Paarung“ in Berlin

Von Bernd Berke

Berlin. Bert will Sibylle über ihre Depressionen hinwegtrösten: „Wir kaufen uns die schönsten Cashmere-Pullover, die man in Bonn kriegen kann. Aber vorher wird gegessen. Iss!“ Doch die Abgemagerte mag weder essen noch kaufen, denn ihre Moral lässt es nicht zu: „Die Welt macht Holocaust, und wir kaufen uns Cashmere-Pullover…“

Sie ist eben eine unbedingte, eine unerbittliche Kämpferin für das Gute, gegen Not und Elend auf Erden. Eine, wie Petra Kelly gewesen sein mag, jene Vordenkerin der Grünen, die im Oktober 1992 von ihrem Gefährten, dem zur Umweltpartei konvertierten Ex-General Gert Bastian, erschossen wurde, der sich daraufhin selbst richtete. Nie ist der bestürzende Vorfall ganz geklärt worden.

Die Legende von Kelly und Bastian

Von den Legenden, die sich um das ungleiche Polit-Gespann ranken, hat sich Franz Xaver Kroetz zu seinem Stück „Das Ende der Paarung“ inspirieren lassen, wenngleich er anfügt, der Text sei „Fleisch von meinem Fleisch“, handle also von ihm selbst. 1996 wies Dieter Dorn in München eine Inszenierung von sich, jetzt hat Claus Peymann zugegriffen und damit seine erste eigene Premiere am Berliner Ensemble bestritten; ein Merkpunkt der Theatergeschichte.

Die Zuschauer erleiden, als seien sie mit den beiden eingesperrt, den allerletzten Tag des Paares – vom Frühstück bïs zu den tödlichen Schüssen. Es ist (wie bei Kroetz gang und gäbe) mal wieder ein Gebräu aus Körpersäften, deren Fließen oder Stocken ausgiebig beredet und in bittere gegenseitige Vorwürfe gegossen wird.

„Bärli“ (Bert alias Bastian) ist alt, vertrocknet und impotent, bei „Rehlein“ (Sibylle, sprich Kelly) bleibt die Periode aus, das Klimakterium der Kinderlosen kündigt sich an. Und beide leiden an Inkontinenz, so dass der Geruch des Harns sich nun sozusagen mischen kann mit dem Vorgeschmack des Todes; wie auf einer Siechenstation.

Das düstere Ende ist immer schon Inbegriffen. Bezeichnend Berts Hörfehler: Sibylle, politisch tief enttäuscht vom Weltenlauf und am eigenen Unvermögen verzweifelnd, zudem offenbar in der Partei weitgehend kaltgestellt (das Telefon läutet zu ihrem Leidwesen nicht mehr), Sibylle also will, dass jemand sie von sich selbst erlöse – und Bert versteht „erschießen“…

Das Elend eines isolierten Paares

Im niederdrückend geschmacklos möblierten Bonner Reihenhaus, dessen Zimmer auf schräg stürzender Bühne klaustrophobisch spitz zulaufen, erleben wir das Elend eines isoliert eingeschlossenen Paares, wie es wohl manche geben dürfte. Wir sehen, wie sie einander belauern, umschleichen, argwöhnisch ausspionieren, jeder ein letzter Halt für den anderen, aber auch gnadenloser Zeuge beim Schwinden und Scheitern des Lebens.

Sibylles infantile Angst- und Ohnmachtsanfälle (Therese Affolter windet sich in Verkrampfungen oder embryonalen Haltungen) prallen ab an der stoischen Ruhe Berts (Traugott Buhre, oft schier unnahbar, von fast staatsmännischer Statur). Im einen Moment sucht sie Schutz bei ihm, im nächsten beschimpft sie ihn als Nazi und Militaristen. Doch politische Begriffe sind hier sowieso nur noch ein dünnes Substrat, aus dem Verletzungen und Beleidigungen rinnen. Rund drei Stunden dauert das ewiggleiche Auf und Ab, die ermüdende Abfolge aus Provokationen und Bitten um Verzeihung.

Schauen wir da etwa nur voyeuristisch in die Abgründe einer üblichen Mesalliance, oder ist die Liaison exemplarisch im weiteren Sinne?

Genrebild der Bonner Republik?

Die ganze Szenerie (Bühnenbild: Karl-Ernst Herrmann) ist eingefaßt in einen großen goldenen Bildrahmen, als sei’s denn doch ein Genrebild aus den Tagen der ach so beengten Bonner Republik, wie der Neu-Berliner Peymann findet. Doch nur wenige Szenen greifen ins Allgemeinere aus, so wenn Sibylle/Kelly an die Unerbittlichkeit einer Ulrike Meinhof anknüpft und sich deren militante Sätze zu Eigen macht: „Entweder Schwein oder Mensch…entweder Problem oder Lösung – dazwischen gibt es nichts“. Oh, du ewig rigide, erzdeutsche Sinnesart, Marke 70er Jahre!

Vielleicht eine Temperamentsfrage: Peymann beschwichtigt Kroetz‘ Furor. Der Text hebt gleich schäumend an und will sich immerzu steigern. Das lässt die Regie ihm nicht durchgehen. Zum bedrohlichen Ticken eines Metronoms werden die Szenen immer wieder für Sekunden als Standbilder eingefroren – eine Gratwanderung zwischen Spannungs-Stau und Spannungs-Verlust. Es ist, als wolle Peymann in solchen Momenten sanfte Zwischentöne erlauschen. Aber welche?

Termine: 22. und 23. Februar. Karten: 030/28 408-155.




Der Idiot auf der Klippe – Edith Clever inszeniert die Uraufführung von Botho Strauß‘ „Jeffers – Akt I und II“ in Berlin

Von Bernd Berke

Berlin. Botho Strauß, unser vielleicht empfindsamster, aber auch umstrittenster Theaterdichter. hat einen erlesenen Geistesverwandten gefunden – den amerikanischen Lyriker Robinson Jeffers (1887-1962). Ihm huldigt Strauß in seinem neuen Stück „Jeffers – Akt l und II“. Ebenso leichtgläubig wie schwerblütig hat Edith Clever die Uraufführung für die Berliner Schaubühne inszeniert.

Jeffers war – ganz wie Strauß – ein Eremit der Literatur. Aus der Abgeschiedenheit von Carmel an Kaliforniens Küste verdammte er die moderne Zivilisation und allen Gegenwarts-Plunder im Namen einer gleichsam überirdischen Schönheit der Steine, des Meeres und der Falken. Der Naturfriede gedeihe am besten ohne Menschen, befand Jeffers in langen Poemen. Ökologie radikal, sozusagen. Nur: Für wen denn eigentlich noch?

Solch entschiedene Abkehr vom schnöden Menschenalltag hat es auch Strauß seit langem angetan. War es ihm in früheren Stücken gegeben, aus haarfeiner Beobachtung gängiger Bewußtseins- und Beziehungs-Formen unvermittelt ins Mythische abzuheben, so setzt er diesmal gleich ganz oben beim Mythos an.

Auf der Bühne kreisen die Steine

In „Akt I“ vernehmen wir zwei lange Monologe von Jeffers (Bruno Ganz) und seiner todkranken Frau Una (Edith Clever). Zwischen ihnen besteht keine mindere „Appartement-Liebe“, sondern eine unendliche Kraft der Sehnsucht. Wie zwei alte Rosensträuche wachsen diese beiden Menschen immer mehr zusammen, heißt es an einer Stelle.

Nach Unas Tod sinniert Jeffers über derlei Schönheit bewegungslosen Gleiçh-Bleibens auf einer „Insel hinter der Zeit“ – und schmäht alle Intellektuellen, denen er als reaktionärer „Idiot auf der Klippe“ gilt. Während er still dasitzt, kreisen auf der Bühne die Steine. Siehe, das finale „Heil“ einer menschenleeren Welt scheint nahe…

Mit Hilfe etlicher Jeffers-Originalzitate vermag es Strauß, aus den Lebensbilanzen des Paares einen hochpoetischen Gesang von einfachem Dasein und Dauer zu destillieren. Edith Clever und Bruno Ganz, die Größen der guten alten Schaubühnen-Zeit, sind – wie ihre Figuren – zwei, die nichts mehr forcieren oder beweisen müssen. Sie müssen nur reden, schon leuchtet etwas auf. Da schwebt, aus Jeffers und Strauß Elfenbeintürmen, tatsachlich ein hauchzarter Geist. Ein Mirakel des Theaters – und ein wundervoll milder Nachklang der vergehenden Schaubühnen-Ära.

Dem milden Nachklang folgen die Nachwehen

Doch dann heben die doppelt so langen Nachwehen an. Leider hat Strauß es nicht beim kostbaren Kleinod „Akt I“ bewenden lassen, es drängte ihn, Jeffers Gedicht „Mara“ in szenische Form zu pressen. Das Unglück beginnt mit dem Explosions-Blitz eines Zeppelinabsturzes, den einige Farmer und Töchter des Landes saufend begaffen. Nach diesem Menetekel der Zivilisation sehen wir sie später noch bei einem Hillbilly-Tanzvergnügen. Strauß hochmögende Worte in einer Saloon-Atmosphäre – das ist arg und sorgt des öfteren für unfreiwillige Komik.

Kern der Geschichte: Farmer Bruce (Bruno Ganz) muß argwöhnen, daß es seine jungeFrau Fawn (Karoline Eichhorn) mit seinem Bruder treibt; eine Leidenschaft, die sich in gurrenden Ausrufen wie „Oh, du Tier!“ artikuliert. Man schreibt zudem dasJahr 1939. Jenseits des Ozeans hat Hitler-Deutschland Polen überfallen. Schmutz also aus den Radio-Nachrichten, Lüge und Schmutz auch in den Seelen – dies treibt Bruce allmählich in einen Wahn, in dem „alle Zeit stillsteht“.

Hoher Ton und niederes Tun

Noch so einer an der Kante zur menschenleeren Welt, bis zu deren Grenze ihn die einstige Wasserleiche und jetzige Algenteppich-Hure „Mara“ (somnambul: Corinna Kirchhoff) geleitet. Hoher Ton und niederes Tun geraten wirr durcheinander. Mystisches Raunen, bedeutungsschwere Erstarrung und derber Mummenschanz ergeben ein unfrohes Gemenge, in dem selbst Bruno Ganz unterzugehen droht. Groteske1 Geisterstunden.

Großer Beifall für „Akt I“, Buhkonzert für Regie und Autor am Schluß von „Akt II“. Ein Abend, zwei Weiten.

Termine der Schaubühnen-Produktionen im Hebbel-Theater, Stresemannstraße 29: am  23., 24., 25. April, 6., 7.. 8. Mai (20 Uhr).