Die Zähne des Haifischs: Vor 125 Jahren wurde der Komponist Kurt Weill geboren

Kurt Weill (li.) und Bert Brecht. (Foto: Kurt-Weill-Fest Dessau)

Ernste Musik? Unterhaltungsmusik? Dieser Unterscheidung gab es für Kurt Weill nicht. Für ihn gab es nur „gute und schlechte Musik“. Verwirklicht hat er dieses Konzept, mit dem er die Grenzen zwischen „hoher“ und „populärer“ Kunst niederriss, 1928 mit dem Sensationserfolg der „Dreigroschenoper“. Gemeinsam mit Bertolt Brecht schuf der 28-Jährige dieses Meisterwerk des musikalischen Theaters, das zu den größten Bühnenerfolgen des 20. Jahrhunderts gehört.

Von Anhalt an den Broadway

Der am 2. März 1900 geborene Sohn des Kantors der jüdischen Gemeinde in Dessau ging diesen Weg nicht freiwillig. Schon 1933 floh er vor den Nazis nach Paris; zwei Jahre später emigrierte er mit seiner Frau Lotte Lenya in die USA. Weill gelang es, jenseits des großen Teichs Fuß zu fassen. Er tauchte tief in die amerikanische Kultur ein, wollte ein durch und durch „amerikanischer“ Komponist werden. Ab 1936 baute er eine stetige Musical-Karriere auf, die von „Johnny Johnson“ über die Erfolgsstücke „Lady in the Dark“, „A Touch of Venus“ und „Street Scene“ bis zu seiner „musikalischen Tragödie“ mit dem Titel „Lost in the Stars“ 1949 führt. Über der Arbeit zu einem Musical nach Mark Twains „Huckleberry Finn“ erlitt Weill einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er vor rund 75 Jahren, am 3. April 1950 starb.

Prägende Zeit in Lüdenscheid und Berlin

Weills musikalische Entwicklung begann früh: Schon in der Schulzeit in Dessau schrieb er erste kleine Kompositionen und betätigte sich als Liedbegleiter. Mit achtzehn Jahren ging er nach Berlin und studierte u.a. Komposition bei Engelbert Humperdinck. Seine Suche nach Neuem hätte ihn beinahe zu Arnold Schönberg nach Wien geführt, aber die prekäre Situation seiner Familie – sein Vater hatte die Stellung als Kantor der jüdischen Gemeinde in Dessau verloren – zwang den Neunzehnjährigen zum Geldverdienen.

Seine erste Stelle fand er am Friedrich-Theater seiner Heimatstadt Dessau als Korrepetitor unter dem damaligen musikalischen Leiter Hans Knappertsbusch. Dessen autoritärer Stil ließ den jungen Weill bei erster Gelegenheit das Weite suchen. Ende November 1919 trat er ein Engagement als Kapellmeister am Stadttheater Lüdenscheid an. Dort sollte er viel über den Alltagsbetrieb eines Theaters lernen, fand er doch die „typischen Verhältnisse einer ‚Schmiere‘ vor, wie Weill-Biograf Jürgen Schebera beschreibt.

Seiner Schwester Ruth berichtet Weill in Briefen vom anstrengenden Alltag an einem kleinen Dreispartentheater, wo fast in jeder Woche eine Premiere stattfinden musste: „Du kannst Dir denken, wie ich zu tun habe. Sonntag nachmittag ,Fledermaus‘, abends ,Cavalleria rusticana‘, Montag nachmittag ,Zigeunerbaron‘, abends Premiere einer neuen Operette. Wie ich mit den Proben fertig werden soll, ist mir schleierhaft …“. Und ein anderes Mal beklagt er sich: „Morgen habe ich wieder Premiere, eine furchtbar dreckige Gesangsposse ‚Im 6. Himmel‘ …“. Dennoch: In Lüdenscheid, so erinnert er sich Jahre später in den USA, habe er erkannt, „dass das Theater meine eigentliche Domäne werde würde“.

Meisterschüler bei Busoni

Weill blieb nicht lange in Lüdenscheid; Ende Mai war die Spielzeit zu Ende. Sein Vater hatte eine neue Stelle angetreten; Weill strebte nach Berlin zurück und hatte Glück: Ferruccio Busoni nahm ihn Ende 1920 als einen von fünf Meisterschülern in seine neue Kompositionsklasse auf. Die Zeit in der brodelnden Kulturmetropole sollte für Weill prägend werden. Als Student schrieb er bereits sein Streichquartett h-moll, eine Suite für Orchester und 1921 eine einsätzige Symphonie No. 1. Andere seiner frühen Werke sind verloren.

Weill hielt daran fest, dass seine große Begabung die Arbeit für die Bühne sei. Mit 22 Jahren schrieb er die Musik zu einer Ballettpantomime „Zaubernacht“. Darin geht es um einen Kindertraum: Sobald Jungen und Mädchen eingeschlafen sind, kommt die Zauberin und lässt Spielsachen und Märchenfiguren lebendig werden. Partitur und Stimmen waren verschollen und wurden zufällig in der Yale Universität wiederentdeckt. Erst 2010 wurde das Stück beim Musikfest Stuttgart wieder aufgeführt. Eine Kritik würdigte die Musik: „Weill verwendet genial alle Möglichkeiten seiner Zeit, arbeitet mit atonalen Passagen, lässt die Streicher in schönster Walzerseligkeit schluchzen, imitiert den Neoklassizismus, aber auch die harmonischen Errungenschaften der Zweiten Wiener Schule.“

Ein „Ruhrepos“ mit Bertolt Brecht

Nach der erfolgreichen Aufführung seiner ersten Oper „Der Protagonist“ lernte Weill im April 1927 Bertolt Brecht kennen. Ihr erstes großes gemeinsames Projekt hätte eine monumentale „Ruhroper“ werden sollen, deren Konzept bereits im Juni 1927 weit gediehen war. „Das Ruhrepos soll sein ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes, seiner eminenten Entwicklung im Zeitalter der Technik, seiner riesenhaften Konzentration werktätiger Menschen und der eigenartigen Bildung moderner Kommunen. Da nun aber der ganze Aufbau des Ruhrgebiets für unsere Zeit charakteristisch ist, soll das Ruhrepos gleichzeitig ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche überhaupt sein“, umreißt Brecht die künstlerische Absicht des Projekts.

Kurt Weill hatte für die Musik sehr konkrete Vorstellungen: Sie schließe „alle Ausdrucksmittel der absoluten und der dramatischen Musik zu einer neuen Einheit zusammen“, schreibt er kühn. Geplant seien keine „Stimmungsbilder“ oder „naturalistische Geräuschuntermalung“. Sondern die Musik präzisiere Spannungen der Dichtung und der Szene in Ausdruck, Dynamik und Tempo. Abgeschlossene Orchesterstücke sollten als symphonische Vor- und Zwischenspiele dienen. Arien, Duette, Ensemblesätze, kleinere Instrumentengruppen oder über den Raum verteilte Chöre mit ihren Instrumenten, aber auch Songs mit Jazz-Rhythmus oder „kammermusikalische Stücke komischer Art“ waren vorgesehen. Mit Filmen und Lichtbildern des Filmregisseurs Carl Koch sollte das Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen.

Das Projekt scheiterte an der antisemitischen Hetze nicht zuletzt in der Presse und an provinziellen Ressentiments gegen die Berliner Kultur, während das Mahagonny-Songspiel Weills und Brechts im Juli 1927 in Baden-Baden einen Skandal-Erfolg erlebte. Drei Jahre später hatte die aus dem Songspiel entwickelte Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Leipzig ihre sensationelle, aber bereits von den Nationalsozialisten massiv gestörte Uraufführung. Ein Jahr nach diesem wohl größten Theaterskandal der Weimarer Republik endete Weills Zusammenarbeit mit Brecht: Weill wollte sich mit der für ihn allzu restriktiven Rolle der Musik in Brechts politischem Theater nicht abfinden.

Gegen das Illusions- und Gefühlstheater

Für Brecht und Weill war es erklärtes Ziel, Formen des bürgerlichen Theater- und Opernbetriebs aufzubrechen und nach neuen Wegen zu suchen. In „Mahagonny“ sah Kurt Weill den Versuch, „das Wesen unserer Zeit von innen her zu beleuchten“. Er traf sich mit Brechts Intention, der damals verkündete: „Wenn man sieht, dass unsere heutige Welt nicht mehr in das Drama passt, dann passt das Drama eben nicht mehr in die Welt.“ Weill stand der herkömmlichen Form der Oper, dem Illusions- und Gefühlstheater, ebenso kritisch gegenüber: „Wenn also der Rahmen der Oper eine derartige Annäherung an das Zeittheater nicht verträgt, muss eben dieser Rahmen gesprengt werden.“

Vor diesem Skandal lag jedoch noch der Riesenerfolg der „Dreigroschenoper“: Die Story aus dem Gauner- und Proletenmilieu bedeutete für Weill nicht nur den endgültigen Schritt in eine neue Art von Musiktheater, sondern – ganz prosaisch – das Ende aller finanziellen Sorgen. Bis heute sind die Songs weltberühmt, allen voran die Moritat von Mackie Messer: „Und der Haifisch, der hat Zähne …“.

Passend zum Weill-Jubiläumsjahr 2025 bringt die Oper Bonn ab 6. April Brecht und Weills „Die Dreigroschenoper“ in einer Neuinszenierung von Simon Solberg. Daniel Johannes Mayr dirigiert. Termine: 6., 8., 20. April; 10., 29. Mai; 1., 8., 17., 19. Juni; 3., 9. Juli. Tickets im Internet unter www.theater-bonn.de oder telefonisch unter (0228) 77 8008.

Noch bis 16. März findet in Weills Heimatstadt Dessau das Kurt Weill Fest unter dem Motto „Farben des Lebens“ mit 72 Veranstaltungen statt. Info: www.kurt-weill-fest.de




Der Haifisch hat immer noch Zähne: Andreas Kriegenburg inszeniert Brechts „Dreigroschenoper“ in Düsseldorf

Das Lumpenproletariat sitzt im Käfig und spielt zum Tanz auf: Drumherum formiert sich die Bettel-Mafia, um den täglichen Angriff auf das Mitleid zu starten. Sie besteht aus skurrilen Typen – halb Punks, halb Clowns. Mit seltsam weißgekalkten Gesichtern sehen sie aus wie der Tod auf Urlaub. Befehligt werden sie von Bettlerkönig Jonathan Peachum (Rainer Philippi), gekleidet in eine Art Sträflingsanzug, der im schnarrenden Ton seine Anweisungen gibt.


Foto: Sandra Then/Düsseldorfer Schauspielhaus

Andreas Kriegenburg hat in seiner Inszenierung von Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ für das Düsseldorfer Schauspielhaus Stile und Zeitebenen wild gemixt. Tonfall und Sprachstil stammen aus der Zwischenkriegszeit, in der die (Bettler-)Oper uraufgeführt wurde (1928).

Da die Story in London angesiedelt ist, tut ihr ein Schuss Punk gut. Nicht zuletzt kann man die sozialen Probleme von damals und heute zumindest teilweise vergleichen. Verteilungskämpfe am unteren Rand der Gesellschaft nehmen wieder zu, selbst im Sozialstaat wäre der Mensch zwar gerne gut und großzügig, doch „die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

Foto: Sandra Then


Foto: Sandra Then

Der Mix funktioniert also und macht das Ganze zu einem Gesamtkunstwerk, nicht zuletzt dank der Musik (Leitung der schmissigen Band: Franz Leander Klee) und der großartigen sängerischen Leistung des Ensembles. Allen voran ist Lou Strenger als Polly Peachum zu nennen: Auf dem Musiker-Käfig stehend singt sie den Song von der Seeräuber-Jenny, dass einem fast die Tränen kommen. Auch der Barbara-Song und die Duette mit Serkan Kaya als Mackie Messer sind einfach famos. Claudia Hübbecker brilliert mit dem Lied von der sexuellen Hörigkeit. Und der Kanonensong, dargeboten von Mackie Messer und Thomas Wittmann als Tiger Brown, macht einmal mehr deutlich, dass es im Krieg nur Verlierer gibt.

Überhaupt überzeugt Bertolt Brechts messerscharfe Analyse der sozialen und politischen Situation im Zusammenspiel mit den bös-witzigen Songs auf ganzer Linie. Obwohl Mackie absichtsvoll ein wenig stottert, nimmt man ihm den alten Schwerenöter problemlos ab; Sonja Beißwenger als Hure Jenny verkörpert das frivole Punkmädchen mit Biss und Gefühl perfekt und das Bettlerpersonal gefällt durch präzise Spielfreude.

Der große Saal im Ausweichquartier Central war bis auf den letzten Platz besetzt, Karten sind schwer zu bekommen. Kein Wunder, denn die 90 Jahre alte Moritat ist in der Jetztzeit gelandet und wirkt kein bisschen angestaubt: Der Haifisch hat immer noch Zähne…

Karten und Termine:
www.dhaus.de




Wenn Dichter baden gehen

Jeder Autor, der einmal ohne den geringsten Einfall auf ein leeres Blatt Papier gestarrt hat (jaja, heutzutage ist es der Bildschirm), der weiß: Auch der munterste Geist braucht gelegentlich Erholung an den Stränden ordinärer Lebenslust. Angeregt durch die Ferienzeit und eine kleine Ausstellung im Düsseldorfer Heine-Institut würdigen wir die „Dichter in Badehosen“.

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California

„Stilles Gestade, so nahe dem heftigsten Getriebe“: Der Schriftsteller Heinrich Mann (Mitte) plaudert mit seiner Frau Nelly und einem Freund 1935 am Strand von Nizza. (Foto: Feuchtwanger Memorial Library/University of California)

Aber was heißt hier Badehosen? Schon Johann Wolfgang Goethe, der Übervater des deutschen Bildungsbürgers, riss sich gerne sämtliche Kleider vom Leibe, um sich frei zu fühlen. Bei einer Reise durch die Schweiz 1775 hatten es ihm seine Freunde Friedrich Leopold und Christian von Stolberg vorgemacht, „die guten harmlosen Jünglinge“. Goethe notierte, dass er sich „halb nackt wie ein poetischer Schäfer oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit“ in Schweizer Seen tummelte – leider nicht weit genug von der Zivilisation entfernt. Entrüstete Anwohner sollen mit Steinen geworfen haben.

Heinrich Heine, Goethes junger und von ihm nie adäquat beachteter Düsseldorfer Kollege, reiste häufig an die Nordsee, um, bevor es ihn nach Paris verschlug, seine zarte Gesundheit zu stärken. Im Juli 1826 auf Norderney lernte er sogar schwimmen – wir wissen nicht, welches Outfit er dabei trug. Aber: „Das Meer war so wild, dass ich oft zu versaufen glaubte“, schrieb er mit jungenhaftem Stolz an seinen Hamburger Verleger Julius Campe. Die Brandung verschaffte Heine ein Hochgefühl. „O wie lieb ich das Meer“, schwärmte er im folgenden Herbst in einem Brief an seinen Dichterfreund Karl Immermann, „… und es ist mir wohl, wenn es tobt.“

Ganze Gedichtzyklen Heines sind vom Meer inspiriert, er besang „Poseidon“ und das „Seegespenst“, den „Untergang der Sonne“ und den „Gesang der Okeaniden“. Man kann also nicht sagen, dass der Müßiggang am Strand die Kreativität vernichtet. Ganz im Gegenteil. Hermann Hesse, ein früher Verfechter der Freikörperkultur, schrieb liebevolle Betrachtungen über seine „Jahre am Bodensee“ (1904-1912), in der Nähe des Wassers entstanden Romane und schwelgerische Verse: „Seele, Seele, sei bereit!“

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Mannsbild in Badehosen: Der Heimatdichter Wilhelm Schäfer 1911 am Bielersee (Schweiz). Er war ein Freund von Hermann Hesse und schrieb schwärmerische Texte über Seen und Berge. (Foto: Rheinisches Literaturarchiv/ Heine-Institut)

Hesses Freund Wilhelm Schäfer, ein vollbärtiges Mannsbild, liebte die Sommerfrische in Süddeutschland und der Schweiz. „Auch der See, in der Nähe kristallgrün, ging wie blaue Seide in die Tiefe hinein …“, schrieb er 1931 in „Wahlheimat“. Seine volksverbundene Prosa gefiel später leider auch den Nazis. Geplagt von Finanzsorgen und Schnaken, verbrachte der Rechtsanwalt Heinrich Spoerl 1931 einen dreiwöchigen Urlaub am Starnberger See, badete nur bis zur Taille („der See ist ziemlich kühl“) und hatte die Idee zu einer heiteren Pennälergeschichte, die als verfilmter Roman eine Legende wurde: „Die Feuerzangenbowle“.

Thomas Mann, der im Schutze eines Strandkorbs mitunter sogar den feinen Sommeranzug ablegte und im Badetrikot mit Sockenhaltern in der Sonne saß, stattete seine berühmtesten Helden mit Meeresliebe aus. „Tonio Kröger“ ließ er die „geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele“ sehen, „die über des Meeres Antlitz huschen“. Und Hanno, Sprößling der „Buddenbrooks“, liebt „dieses zärtliche und träumerische Spielen mit dem weichen Sande, der nicht beschmutzt, dieses mühe- und schmerzlose Schweifen und Sichverlieren der Augen über die grüne und blaue Unendlichkeit hin …“

Auch Manns Bruder Heinrich, der, wie viele verfolgte Intellektuelle, an der südfranzösischen Ferienküste vorübergehend den Naziterror vergessen konnte, fand große Worte für das Stranderlebnis: „Das Meer, sein tiefer Atem, seine windige, … ersterbende Bläue und dieser Glanz von abendlich feuchtem Gold …“. Ein anderer Emigrant, der kämpferische Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, hatte schon 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, dem Schwimmen ein Gedicht gewidmet: „Der Leib wird leicht im Wasser“, schrieb er da, und es ist, als befreite das Baden den Denker von den drückenden Problemen der Zeit: „Natürlich muss man auf dem Rücken liegen / so wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen. / … / Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut / wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.“

Info:
Angeregt wurde dieser Text von einer Treppenhausaustellung im Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Bilker Str. 12-14: „Dichter in Badehosen“ bis 11. September 2016, Di.-So. 11 bis 17 Uhr (Sa. 13-17 Uhr).

Büchertipps:
Heinrich Heine: „O wie lieb ich das Meer – Ein Buch von der Nordsee“, herausgegeben von Jan-Christoph Hauschild, Hoffmann und Campe. 128 Seiten. Vergriffen, aber antiquarisch und als E-Book ab etwa drei Euro über das Internet erhältlich.
Hermann Hesse: „Jahre am Bodensee – Erinnerungen, Betrachtungen, Briefe und Gedichte“. Herausgegeben von Volker Michels mit Bildern von Siegfried Lauterwasser. Insel Verlag. 238 Seiten. 28 Euro.




Klassenkampf light: Schauspielhaus Bochum zeigt Brechts „Im Dickicht der Städte“

Am Schönsten ist das Bühnenbild: Aus tausenden bunten LED-Leuchten zusammengesetzt, glitzert auf schwarzem Bühnenhintergrund das nächtliche Chicago. Auch in seiner Zerstörung funkelt es noch verführerisch, wenn sich die die kleinen Lämpchen schon längst über den Bühnenboden verteilt haben. Am zweitschönsten ist die Musik: Nadja Robiné im Amy Winehouse-Outfit bereichert die Szenerie mit coolen Songs und jazzig angehauchten Rhythmen, arrangiert hat das Daniel Murena für das Schauspielhaus Bochum.

Ansonsten führt Roger Vontobels Inszenierung von Bertolts Brechts „Im Dickicht der Städte“ vor, was aus dem guten alten Klassenkampf geworden wäre, gäbe es ihn heute noch. Statt in einer Leihbücherei würde George Garga (Florian Lange) in einer Videothek arbeiten, was der Zuschauer dann auch großformatig im Video zu sehen bekommt. Die armen Leute, in diesem Falle seine Eltern, säßen unförmig verfettet und chipsfressend auf dem Sofa und glotzten Unterschichtsfernsehen. Seine Schwester Marie ginge lieber mit dem trashigen Brutalo-Rapper, Typ nervöser Irak-Veteran, als sich mit einem „Schlitzauge“ einzulassen.

Foto: Arno Declair

Foto: Arno Declair

Obwohl das „Schlitzauge“ namens Shlink schweinereich und folglich von einer Gang halbseidener Mafia-Typen umgeben wäre. Aus reiner Willkür und um des Kampfes willen, hat der Holzhändler die Absicht, den armen George Garga in den Abgrund zu stoßen und ihm seine Überzeugungen gleich mit abzukaufen.

Doch warum Holzhandel? Hier hätte Vontobel in seinem Brecht 2.0 eigentlich so einen Internetfritzen mit Allmachtsfantasien entwerfen müssen – wie beispielsweise WikiLeaks-Gründer Julian Assange oder so. Aber bei genauem Hinsehen: Ähnelt Matthias Redlhammer mit seinem silbergrauen Haar und seinem schwarzen Anzug dem nicht sogar ein bisschen?

Im Grunde also hat der Relaunch von Brechts Frühwerk (Uraufführung 1923) ganz gut geklappt. Die Frage ist nun, warum die Inszenierung trotzdem nicht so recht zündet. Ist uns der Klassenkampf einfach zu fern? Kapieren wir nicht mehr seine existenzielle Schärfe, weil unser Unglück (teilweise) sozial abgefedert wird? Ist die Vereinzelung schuld, das Phlegma, sich zusammenzutun und zu engagieren? Oder das resignierte Gefühl, gegen einen übermächtigen Gegner, der einfach mal so die WR-Redaktionsstelle oder den Opel-Arbeitsplatz abschafft, sowieso nichts ausrichten zu können?

Dabei sagt doch Shlink: „Wenn ihr ein Schiff vollstopft mit Menschenleibern, dass es birst, wird eine solche Einsamkeit in ihm sein, dass sie alle gefrieren. Ja, so groß ist die Vereinzelung, dass es nicht einmal einen Kampf gibt.“

Vielleicht haben wir unseren Brecht ja inzwischen eingeholt oder er uns: Die Krieger sind müde, Kämpfe finden nur noch als Scheininszenierungen in der Glotze und im Videospiel statt. Und natürlich in Weltgegenden, die uns nichts angehen. Und zwei Kämpfern zuzusehen, die selbst gar keine Lust haben zu gewinnen, ist naturgemäß öde. Ach, zapp das mal weg und gib lieber die Chipstüte rüber. Ich trink noch einen Bubble Tea.

Informationen: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/11204749




Als Brecht bei Feuchtwanger klingelte – Klaus Modicks Roman „Sunset“

Winter 1918. Der Krieg geht zu Ende, in München wird die Räterepublik ausgerufen. Das lässt auch den Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der sich bisher eher für buddhistische Weisheiten und historische Themen interessierte, nicht kalt.

Gerade arbeitet er an seinem Theaterstück „Thomas Wendt“, einem „dramatischen Roman“ über einen Künstler, der sich zum politischen Engagement bekennt und sich in die Revolution einmischt. Da klingelt es an der Hautür und ein abgerissen wirkender junger Mann mit Stoppelbart, Schiebermütze und abgewetzter Lederjacke begehrt Einlass in die Wohnung des arrivierten Schriftstellers. Er habe ein Stück geschrieben und hoffe, dass der über beste Bühnen-Kontakten verfügende Feuchtwanger in der Lage sei, eine Aufführung zu erwirken, „weil ein Stück“, so der selbstbewusste Jungdichter, „das nicht aufgeführt wird, nichts wert ist.“

Das Drama, das der freche Dichter dem älteren Kollegen auf den Schreibtisch pfeffert, trägt den Titel „Spartakus“. Ein Geniestreich, einer, der Feuchtwanger fast das Leben kostet. Denn als die konterrevolutionären Freikorps seine Wohnung plündern und das Manuskript finden, vermuten sie, nicht ganz zu Unrecht, Feuchtwanger würde mit der Räterepublik sympathisieren. Nur durch einen Zufall entgeht Feuchtwanger dem Erschießungskommando. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine, die vielleicht ein andermal etwas genauer erzählt und zu einer Novelle ausgeschmückt werden sollte.

In Klaus Modicks Roman „Sunset“ hat der süffisante Hinweis auf das lebensbedrohliche „Spartakus“-Manuskript eine andere Funktion: er soll zeigen, dass die Freundschaft, die in jenem Revolutionswinter zwischen Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht entstand und sich im Berlin der 20er genauso fortsetzte wie im kalifornischen Exil der 30er und 40er Jahre, von vornherein nicht frei war von bizarren Umgangsformen und kuriosen Streitereien. Wie sollte es auch anders sein, begegneten sich doch hier zwei Schriftsteller, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch zeitlebens miteinander aufs Innigste verbunden waren: Hier der bürgerliche Erfolgsautor, der mit seinen historischen Romanen gigantische Auflagen erzielte und selbst im Exil eine riesige Villa bewohnte. Dort der marxistische Intellektelle, der zwar stets viele Frauen um sich scharte, aber ständig am Hungertuch nagte und dessen Stücke in Amerika niemand spielen wollte. Ohne Feuchtwangers finanzielle Hilfe, das kann man ruhig einmal laut sagen, wäre Brecht in Hollywood vor die Hunde gegangen.

Klaus Modick weiß das natürlich alles. Schließlich hat er vor über 30 Jahren bei Hans-Albert Walter, den Mentor der Exil-Literatur-Forschung in Deutschland studiert und über Feuchtwangers Leben und Literatur promoviert. Durch die Romane Modicks spukt seither ein von Feuchtwanger inspirierter, historisch fundierter, von Aufklärung und Humanismus geprägter Erzählgestus. Eigentlich war es längst überfällig, dass Modick seinen Lieblingsautor zur Romanfigur macht. Ein schwieriges Unterfangen, musste er doch die sich in seinem Kopf angehäuften Fakten zu einer fiktiven Geschichte komponieren. Es ist ihm wunderbar gelungen.

Denn Modick verdichtet die Handlung auf einen einzigen Tag im August 1956: Feuchtwanger ist einer der letzten im kalifornischen Exil verbliebenen deutschen Dichter. Selbst die Kommunistenhysterie der McCarthy-Ära konnte ihn nicht vertreiben. Feuchtwanger ist allein in seiner „Villa Aurora“, es ist heiß, Gattin Marta macht auswärtige Besorgungen, die Sekretärin ist verreist. Da erreicht ihn ein von Johannes R. Becher geschicktes Telegramm aus Ost-Berlin: „Bertolt Brecht gestorben.“ Natürlich kann er der Einladung Bechers zum bereits am nächsten Tag angesetzten Staatsakt im Berliner Ensemble nicht nachkommen. Statt sich über den stalinistischen Kulturminister zu ärgern, erinnert sich Feuchtwanger lieber an seine Zeit mit Brecht. Wie er sich als väterlicher Freund und Ruhepol des jüngeren, aufbrausenden Kollegen empfand. Wie sie zusammen an Feuchtwangers „Warren Hastings“-Drama arbeiteten oder am „Spartakus“-Manuskript von Brecht, das unter dem Titel „Trommeln in der Nacht“ Bühnengeschichte schrieb.

Wenn der Tag zu Ende geht und die Sonne im Stillen Ozean versinkt, hat der von Magenkrämpfen gequälte Feuchtwanger nicht nur wichtige Stationen seiner Freundschaft mit Brecht abgeschritten, er hat auch eine Lebensbilanz gezogen. Modick hat dabei vieles frei erfunden. Aber eine gut erfundene Geschichte, das wusste niemand besser als Feuchtwanger, ist allemal besser als Langeweile in der Wirklichkeit.

Klaus Modick: „Sunset“. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt, 192 S., 18,95 Euro.




Ein flexibler Sozialist mit Lebensstil – Zum 50. Todestag: 25 Gründe, sich mit Bert Brecht zu beschäftigen

Von Bernd Berke

Am kommenden Montag jährt sich der Todestag des „Stückeschreibers“ Bert Brecht zum 50. Mal. Wir machen es halblang: Hier sind 25 und nicht 50 Gründe, sich mit Brecht zu beschäftigen. Nicht alle lassen ihn sympathisch erscheinen. Doch man sollte sich seinen Werken zuwenden, weil…

l) …er sich angeblich die proletarisch wirkenden Klamotten zuweilen vom Maßschneider anfertigen ließ. Der Mann hatte schon Stil, bevor der Begriff Lifestyle aufkam.

2) Weil er 1916 – im Schüleraufsatz – den Satz des Horaz in der Luft zerfetzte, es sei süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben. Es war mitten im Ersten Weltkrieg.

3) Weil der flexible Sozialist souverän genug war, auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch zu antworten: „Sie werden lachen – die Bibel!“

4) Weil er mit 26 Jahren bereits drei Kinder von drei Frauen hatte. Man will ja keine Bücher von Stubenhockern, sondern von lebenserfahrenen Leuten lesen.

5) Weil er gern gesellig im Kollektiv gearbeitet und sich zur „grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ bekannt hat, sprich: Er bediente sich nach Ermessen in literarischen Vorlagen oder im Ideenfundus seiner jeweiligen Geliebten – und verwendete das Brauchbare. Manche, vor allem Frauen, finden dies „unmöglich“, andere sprechen von hochmoderner, arbeitsteiliger Textproduktion.

6) Weil seine Werke für eines der härtesten Kritikergefechte aller Zeiten gesorgt haben: Herbert Jhering pries ihn himmelhoch, Alfred Kerr verdämmte ihn höllisch.

7) Weil er sich karrierestrategisch ganz bewusst gegen den bürgerlichen Romancier Thomas Mann in Stellung brachte. Er wählte auch seine Feinde mit Bedacht.

8) Weil er den Boxsport und das Autofahren literaturfähig gemacht hat. Für ein gezieltes Auto-Lobgedicht bekam er einst sogar einen Wagen jener Marke geschenkt.

9) Weil er überhaupt die Mechanismen des (Literatur)-Betriebs durchschaut und geschäftstüchtig genutzt hat. Passendes Standard-Zitat: „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“

10) Weil er ein erstrangiger Zeuge und Deuter des wirren 20. Jahrhunderts war und weil er ein langjähriges Exil durchlitten hat – nach seinen Worten: „öfter die Länder als die Schuhe wechselnd“.

11) Wegen seines exemplarischen Daseins zwischen den beiden deutschen Staaten in den frühen 1950er Jahren, wobei er sich – bei Licht betrachtet – doch nicht allzu sehr „verbogen“ hat.

12) Weil er im Gegensatz zu fast allen deutschen Autoren weltweit gespielt wird – von , Korea bis Südamerika.

13) Weil er 1942 in Kalifornien geschrieben hat, er suche dort unwillkürlich nach den Preisschildchen an den e Menschen.

14) Weil seine besten, haltbarsten Texte heute rare Bastionen eines noch nicht diskreditierten Sozialismus sind.

15) Wegen der nachwirkenden Gründung des „Berliner Ensembles“ 1949. Wo wäre sonst heute dessen Intendant Claus Peymann?

16) Wegen der Versorgung der Brecht-Erben, die auf „Werktreue“ pochen wie sonst nur noch die Wagnerianer in Bayreuth. Das hat schon mancher juristisch zu spüren bekommen, der sich arglos an Brecht gewagt hat.

17) Weil seine Gesamt- und sonstigen Ausgaben bis heute etliche Verlagsmenschen in Lohn und Brot halten.

18) Wegen solcher Zitate: „Alle Künste tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst!“

19) Weil er sich 1947 beim Verhör vor dem antikommunistischen US-Ausschuss gegen „unamerikanische Aktivitäten“ so listig aus der Affäre gezogen hat, dass man ihm nichts anhaben konnte.

20) Wegen seines „Epischen Theaters“, das einem alles stocknüchtern zeigen wollte – auch die eigenen Illusions-Mittel. Danach konnte man Brechts sinnlichere Texte umso mehr genießen.

21) Wegen der reichlichen Auswahl aus seiner gedankenscharfen, ungemein umfangreichen Produktion: In den 58 Jahren seines Lebens hat er über 200 Erzählungen, 48 längere Dramen, rund 50 Theater-Fragmente und über 2300 Gedichte verfasst, hat noch dazu inszeniert, Theorien ausgefeilt. Und, und, und.

22) Weil er ein feines Ohr für den Zusammenklang von Musik und Text hatte – siehe die Zusammenarbeit mit den Komponisten Kurt Weill. Hanns Eisler und Paul Dessau.

23) Wegen dieses Klassikers: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“

24) Wegen der meisten Theaterstücke.

25) Wegen der Gedichte.

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ZUR PERSON

Die langen Jahre im Exil

  • 1898: Am 10. Februar wird Bert(olt) Brecht in Augsburg geboren.
  • 1917: In München studiert Brecht Medizin.
  • 1918: Sanitätssoldat.
  • 1922: Ausgabe seines ersten Dramas „Baal“, Kleist-Preis und Heirat mit der Sängerin Marianne Zoff.
  • 1924: Umzug nach Berlin.
  • 1928: Die „Dreigroschenoper“ wird uraufgeführt.
  • 1929:Nach der Scheidung: Heirat mit Helene Weigel.
  • 1933: Brecht flieht vor den Nazis in die Schweiz. Bis 1941 Exil-Aufenthalte in Dänemark. Schweden, Finnland.
  • 1941: Flucht in die USA.
  • 1947: Rückkehr nach Europa, zunächst in die Schweiz.
  • 1949: Mit Helene Weigel gründet er im Osten der Stadt das „Berliner Ensemble“.
  • 1956: Tod am 14. August nach einem Herzinfarkt.



Stückeschreiber, Macho, Poet und manches mehr – Bertolt Brecht vor 100 Jahre geboren

Von Bernd Berke

Bertolt Brecht würde am 10. Februar 100 Jahre alt werden. Theater und Verlage würdigen das Gedenk-Ereignis mit zahllosen Neuinszenierungen und Büchern. Stehen wir damit vor einer Wiederentdeckung seiner Werke, oder wird die Fülle der Publikationen jene „Brecht-Müdigkeit“ noch verstärken, die sich in den letzten Jahren bei manchen breit gemacht hat?

Was fällt einem denn zu Bertolt Brecht noch ein? Soll man etwa abermals seine berühmten Theaterstücke („Dreigroschenoper“, „Mutter Courage“ „Galilei“ und all die anderen) herbeten? Soll man wieder einmal die Vitalität seines Frühwerkes („Trommeln in der Nacht“, „Baal“, „Hauspostille“) gegen die ausgefeilten Techniken und Formeln späterer Arbeiten ausspielen?

Soll man gar, wie rigorose Kritiker dies getan haben, behaupten, sein ach so „trockenes“ Lehr- und Verfremdungs-Theater habe sich längst überlebt? Es werde nur ein Teil der Gedichte im Gedächtnis bleiben, befinden diese Skeptiker. Damit würde die einst überlebensgroße Figur der politischen Dichtung plötzlich zu einem Liebeslyriker schrumpfen. Darf das denn wahr sein? Nun, zumindest steht fest, daß Brecht (auch) wundervolle Liebesverse verfaßt hat. Beispiel, gewiß entstanden nach einer schönen Liebesnacht:

„Als ich nachher von dir ging / An dem großen Heute / Sah ich, als ich sehn anfing / Lauter lustige Leute. – Und seit jener Abendstund / Weißt schon, die ich meine / Hab ich einen, schönern Mund / Und geschicktere Beine. – Grüner ist, seit ich so fühl / Baum und Strauch und Wiese / Und das Wasser schöner kühl / Wenn ich s auf mich gieße.“

Laxheit in Fragen geistigen Eigentums

Mag sein, daß Brecht diese tänzelnden Zeilen geschrieben hat, während eine seiner häufig wechselnden Frauen für ihn schuftete; während sie seine Texte ins Reine tippte oder Ideen für ihn ausbrütete, die er hernach „nur“ noch zu formen brauchte – bevor er wieder mit ihr zu Bette ging. Möglich, daß manch ein Einfall in seinem Werk gar nicht von ihm stammt, sondern von der oder jener ausgenutzten „Muse“ – von Elisabeth Hauptmann etwa oder Margarete Steffin.

Brecht, genialer Verwerter traditioneller Vorlagen bis hin zur Bibel, hat derlei Fälle schon mal ganz cool mit dem Eingeständnis seiner „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ beiseite gewischt. Der Kerl mit der Lederjacke war nicht nur als Analytiker, sondern auch als Praktiker ein Kenner der Ausbeutung. Er war ein Macho. Aber davon gab es unzählige – nicht nur in der Literatur. Wenn deren Worte allesamt „erledigt“ wären, so stünde es schlecht.

Natürlich kann sich die Beschäftigung mit einer Jahrhundert-Figur wie Brecht nicht darin erschöpfen. Sie kann nicht den Gegner Hitlers und den politischen Emigranten ignorieren, der sich („öfter als die Schuhe die Länder wechselnd“) über halb Europa bis in die USA durchschlug und listig ein Verhör des Ausschusses für „unamerikanische Umtriebe“ überstand. Man darf ohnehin den stilbildenden Theatermann nicht außer acht lassen. Und man kann seine internationale Wirkung gar nicht übersehen. Welcher andere deutsche Stückeschreiber wird denn weltweit nachgespielt?

Jede Generation erlebte ihn anders

Mit Bert Brecht hat jede Nachkriegs-Generation eigene Erfahrungen gesammelt bzw. zunächst versäumt. Wer nämlich bis in die frühen 60erJahre hinein, zu Zeiten der Adenauer-Republik, in Westdeutschland Pennäler war, kannte ihn vielleicht nur als böses Gerücht. Als ostzonalen Kommunisten eben, der sich – man wußte nicht so recht, wie – mit dem SED-Regime gemein gemacht haben soll. Auf unseren Bühnen und in den Schulen kam er damals nur in Einzelfällen vor. Man ließ dort lieber Idylliker wie Carossa und Bergengruen lesen…

Im Laufe der 60er änderte sich das gewaltig. Besonders im Vor- und Umfeld der Revolte von 1968 gehörte Brecht, als einer der wenigen Schriftsteller überhaupt, zum Pflichtprogramm. Obwohl man damals den „Tod der Literatur“ ausrief: Seine bunten Bände aus der Edition Suhrkamp standen neben denen von Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Karl Marx. Und wie gut paßten einem, wenn man damals jung gewesen ist, etwa die sinnreichen „Geschichten vom Herrn Keuner“ ins Lebenskonzept: Jemand, der diesen „Herrn K.“ nach vielen Jahren wiedersieht, sagt ihm ins Gesicht, K. habe sich aber gar nicht verändert. Was anderen als Lob gilt, läßt diesen K. nur erbleichen. Ja, diese Verlegenheit hat man verstanden. Verändern wollte man sich und alles. Möglichst täglich.

Um die Mitte der 70er Jahre stellte sich die seither vielbeschworene „Brecht-Müdigkeit“ ein. 1978 glaubte Hellmuth Karasek feststellen zu müssen, Brecht sei „mausetot“. Im Zeichen einer „Neuen Subjektivität“ wurden linke Autoren wie Franz Xaver Kroetz abgewertet, während ein subtiler Einzelfall-Beobachter wie Botho Strauß plötzlich höchste Weihen genoß. Parallel dazu ließ man Brecht links liegen und holte Rilke wieder hervor.

Man kann wohl den Rückschluß wagen: Wer immer wieder so gründlich „umgewertet“ worden ist wie Brecht, dessen Werk muß eben genügend Wert und Substanz besitzen, um verschiedenste (Miß)-Deutungen zuzulassen.

Andererseits könnte man argwöhnen, man habe mittlerweile jeden denkbaren Aspekt in Brechts Oeuvre diskutiert, so daß man die Gesamtausgabe gleich in die Regale mit der vermeintlich folgenlosen Klassik stellen kann.

In diesem Gedenkjahr wird es aber dermaßen viele Neuinszenierungen seiner Stücke geben, daß Akzent-Verschiebungen nicht ganz auszuschließen sind. Wer weiß. Vielleicht entdecken wir hier und da doch noch einen „anderen“ Brecht! Und vielleicht kommt man ja eines Tages doch noch auf den Satz zurück, den sich der Mann mit der Zigarre einst als Grabinschrift gewünscht hat: „Er hat Vorschläge gemachte Wir / Haben sie angenommen“.

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Brecht-Zitate: „Erst kommt das Fressen…“

Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?

Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenrand
Der Fahrer wechselt das Rad
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Dauerten wir unendlich
So wandelte sich alles
Da wir aber endlich sind
Bleibt vieles beim alten.

Alle Künste tragen bei zur größten aller Künste, der Lebenskunst.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als letzter Gesellschafter / Uns das Nichts gegenüber.

Wenn Deutschland einmal vereint sein wird – jeder weiß, das wird kommen, niemand weiß wann – wird es nicht sein durch Krieg.

Der junge Alexander eroberte Indien. / Er allein? / Cäsar
schlug die Gallier. / Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist /
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt1

Ja, mach nur einen Plan
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höh’res Streben
Ist ein schöner Zug.