Kontrollierte Verstörung: Tomáš Netopil rundet seinen Essener Mahler-Zyklus ab

Die Essener Philharmoniker bei der Generalprobe zu Gustav Mahlers Dritter Sinfonie unter dem Dirigat von Tomáš Netopil. (Foto: Volker Wiciok)

Es wäre so schön gewesen: Schon bei seinem Amtsantritt hatte sich der Essener Generalmusikdirektor Tomáš Netopil mit Mahler vorgestellt. Hätte es Corona nicht gegeben, wäre die Dritte Sinfonie der Abschluss eines Zyklus über die letzten zehn Spielzeiten geworden.

Die Erste war zum Einstand 2013 ein Versprechen für die Zukunft, das der in Přerov im Osten Tschechiens geborene Dirigent immer überzeugender einzulösen wusste. Jetzt, da sich seine Zeit in Essen zum Ende neigt, hätte er bis auf die riesenhafte Achte alle Sinfonien Mahlers mit seinem Orchester erarbeitet. Doch die Siebte, im Februar 2021 geplant, blieb auf der Strecke; die Dritte eigentlich im Juni 2020 terminiert, konnte er jetzt erst nachholen. Sie geriet zum Fest: Zunächst ein leider allzu vorwitzig auf den letzten Ton aufsetzender Klatschorkan, als Netopil seinen Arm noch in die Höhe hielt, dann langer Jubel und Begeisterung. Ein verdienter Triumph für die Essener Philharmoniker, die an diesem Mahler-Abend hingebungsvoll und hinreißend gespielt haben. Der Nachfolger Netopils, Andrea Sanguineti, hat in einem Interview bereits angekündigt, das Auge auf Mahler und Strauss zu richten. Es wird ein reizvoller Vergleich werden.

Tomáš Netopil am Pult der Essener Philharmoniker. (Foto: Volker Wiciok)

Netopil macht aus der Dritten kein brutales Schlachtfest, wetzt nicht die Klingen, um das kontrollierte musikalische Chaos zu zerfetzen. Sein Zugang war stets der gemessene, manchmal sogar elegante. Vor zehn Jahren, in der Ersten, führte das noch zu rund geschliffenen Konturen. Das Schroffe, Irritierende der Sprache Mahlers fand sich samten und seidig ausgekleidet. Die in Essen uraufgeführte Sechste – wie die Neunte auf einer CD nachzuhören – klang da schon anders, entschieden aufgeraut und zugespitzt. Jetzt, mit der 1902 beim 38. Tonkünstlerfest in Krefeld erstmals erklungenen Dritten, schafft Netopil so etwas wie eine Synthese. Das Chaos fährt nicht in zermalmendem Fortissimo auf, die Philharmoniker bleiben selbst in Momenten höchster Erregung kontrolliert statt ungezügelt furios. Aber das Doppelbödige, Verstörende dieser Musik äußert sich in der smarten Ästhetik ihrer Darbietung vielleicht noch bedrohlicher als in unmittelbarem, rabiatem Zugriff.

Grinsende Schönheit

Dass diese Schönheit satanisch grinsen kann, dass mit ätherischer Transparenz der Hauch des Fauligen hereinweht, macht Netopil an diesem Abend in der ziemlich voll besetzten Essener Philharmonie erschreckend klar. Zu Beginn tun die triumphalen Hörner so, als gäben sie ein Thema vor, aber ihr schwankendes Motiv verlischt fast folgenlos. Der bald einsetzende Trauermarsch, in dem das Fagott den Messingglanz des Blechs ärgert, hat etwas von Berlioz’scher „Fantastique“-Groteskerie. Das Pianissimo der Posaunen ist nicht geheuer; in die wiegende Wagner-Idylle der Geigen quäken die Klarinetten ihren Misston. Nach der Reprise – einer der wenigen Momente, die an das Formmodell eines ersten Satzes erinnern – driften ein Märschlein und eine ungenierte Schlagermelodie endgültig in Ironie ab.

Die Essener Philharmoniker halten den Klang offen, auch wenn sich über aufgeregte Streichertremoli ein sonores Blech-Forte legt. Selbst wenn sich Mikro-Stimmen verschlingen und verheddern, bleiben die Vorgänge durchhörbar. Der Klang plustert sich nie ins Breiige, erschöpft sich aber auch nicht in kalter Analytik. Die surrealen musikalischen Traumlandschaften ziehen in scharfen Konturen vorbei.

Bettina Ranch. (Foto: Volker Wiciok)

In der ziselierten Ornamentik des zweiten Satzes, in dem Mahler das Kunstvolle ins Verkünstelte degenerieren lässt, bewähren sich die Philharmoniker in luftigen Klanggebilden. Und wenn im vierten Satz Bettina Ranch die menschliche Stimme in flutendem Alt in die Instrumente mischt, trifft das Orchester die dunkel grundierte Atmosphäre ebenso wie in der aufgelichteten Naivität der religiösen Nazarener-Idylle des fünften Satzes.

Die zurückhaltende Damenriege des Philharmonischen Chores Essen (Patrick Jaskolka) trägt diese Klangkonzeption ebenso mit wie der Aalto-Kinderchor und der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin (Christian Lindhorst). Nachzuhören ist dieses musikalische Weltengemälde demnächst auf einer weiteren CD der Essener Philharmoniker oder im Video-Stream. Und für den neuen Chef des Orchesters hat Netopil die Messlatte hoch gelegt: Der Startpunkt für die Spannungskurve ist da.




Raum des blauen Wassers: Piero Vinciguerra schafft für Puccinis „Trittico“ in Essen eine magische Bühne

Die Bühne von Piero Vinciguerra für Giacomo Puccinis Dreiteiler „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. Ein magischer Raum von Distanzierung, Verklärung und Selbstentäußerung. (Foto: Matthias Jung)

Was wäre bei Giacomo Puccini denn ein anderes Thema, das drei so unterschiedliche Opern wie in seinem „Trittico“ miteinander verbinden könnte, wenn nicht die Liebe?

So trivial die Feststellung klingt – denn fast alle Opern haben irgendetwas mit Liebe zu tun –, so grundlegend ist sie für Puccinis Experiment, drei Werke zu einem „Triptychon“ zu verbinden, die wie drei Flügel eines Kunstwerks einzeln stehen und doch zusammengehören. Aber Regisseur Roland Schwab hat in seiner dritten Inszenierung am Aalto-Theater Essen (nach Verdis „Otello“ und Leoncavallos „Pagliacci“) eine andere Antwort: der Tod.

Schwab entdeckt also, was Puccini in seiner letzten Oper „Turandot“ im schmerzlichen Scheitern letztlich bekräftigt hat. Doch schon das „Trittico“ beantwortet die Frage Friedrich Nietzsches, ob Liebe und Tod nicht Geschwister seien, in drei Versionen: dem gewaltsamen Mord, dem verklärenden Übergang und einem Satyrspiel mit dem Tod, dem Schwab durch den Suizid des Buoso zum Beginn von „Gianni Schicchi“ ein verstörendes Gewicht gibt. Aus dem Überdruss am Luxus – Buoso erschießt sich am Rand eines mondänen Pools – keimt die zerstörerische Gier nach Reichtum als Quelle materieller Völlerei. Von daher, und verbunden mit dem Blick auf die außerordentliche Qualität der Musik Puccinis, kann das „Trittico“ auf gleicher Höhe wie Verdis „Aida“ oder Wagners „Tristan und Isolde“ auf das unerschöpfliche Thema von Liebe und Tod blicken.

Die Scharniere zwischen den Werken interessieren Schwab bei seiner Neuinszenierung des „Trittico“ am Essener Aalto-Theater besonders. Am liebsten hätte er, so bekennt er im Programmheft-Interview, die drei Stücke ohne Pause aneinandergehängt, und begründet das tiefsinnig mit der Dreiteilung von Dantes „Göttlicher Komödie“: Der Beginn, „Il Tabarro“, als Abgrund der Welt, „Suor Angelica“, das ungeliebte Mittelstück, als das „Purgatorio“, den Reinigungsort. Und schließlich „Gianni Schicchi“, die rabenschwarze Komödie, als Verweis auf das Paradies. Abwegig? Sicher nicht, denn die einzige Liebe, die eine Chance auf Gelingen hat, ist die zarte, sich selbst sichere Beziehung zwischen den jungen Menschen Lauretta und Rinuccio.

Zerstiebt Hoffnung wie Seifenblasen?

Heiko Trinsinger (Gianni Schicchi), Lilian Farahani (Lauretta) in „Gianni Schicchi“. Foto: Matthias Jung.

Aber wer stärker ist, die Liebe oder der alles verbindende Tod, wird in „Gianni Schicchi“ Bild und Szene virtuos in der Schwebe gehalten. Zwar bekommt das kleine Luder Lauretta genau das, was sie will, aber hinter dem fröhlich posierenden Paar schäumen Seifenblasen auf. Und der Schelm Gianni Schicchi hält eine rote Kugel in der Hand, die während des gesamten „Trittico“ als Chiffre in der Szene präsent war. Ist es der Apfel der Eva, mit dem das Paradies unzugänglich und das Böse in der Welt wirksam wurde? Die verbotene Frucht, die den Menschen „wie Gott“ um sich selbst wissend, frei, aber auch der Mühsal unterworfen der Welt auslieferte? Und verheißt die Leuchtschrift „Addio Speranza“ nicht auch auf die vergebliche Liebesmüh‘? Die Hoffnung – addio, also „zu Gott“?

Schwab arbeitet gerne (und manchmal zu viel) mit solchen symbolischen Fingerzeigen, mit chiffrierten Hinweisen. In „Il Tabarro“ spielt ein Drehorgler einen verstimmten Walzer. Er sollte in den beiden anderen Teilen wiederkommen – stummer Repräsentant des Todes im Komödiantenkostüm und so ein Echo des „Leierkastenmannes“ Schuberts. Das Kleid in sanft abgestuften Rosa-Tönen – die Kostüme sind Gabriele Rupprechts sensible Schöpfungen – verbindet die Protagonistinnen der drei Opern, betont das Gemeinsame der Frauenfiguren, die bei Puccini von Manon bis Liu stets zu Opfern verurteilt sind.

Wesentlich getragen wird Schwabs jeden Realismus transzendierende Sicht von einem großen Wurf Piero Vinciguerras: Für diese erste komplette Realisierung des Puccini-Dreiteilers in Essen hat der international erfolgreiche italienische Bildmagier die Bühne mit einem riesigen Wasserbecken ausgefüllt. Doch was anderswo lediglich zum szenischen Aufreger taugte, erhält in Essen sinnliche fassbare Bedeutung: Das Wasser wird selbst zum symbolhaften Element von Zeit, Vergänglichkeit, Elendsstrom und Tränensee. Selbst in „Il Tabarro“, in dem der Verismo und das Sozialdrama Émile Zolas grüßen, illustriert es nicht das Ufer der Seine. Und in Verbindung mit dem meisterlich eingesetzten Licht wandelt es den Raum zur Sphäre. Hier geht es nicht mehr um Schauplätze, sondern um Seelenräume.

Das Licht schafft Verbindungen zwischen den Opern: Wenn Luigi im „Tabarro“ bitter feststellt, das Leben habe keinen Wert mehr, schimmert die Bühne in dem blauen Licht, das später Schwester Angelica umfließt, wenn sie sich vergiftet. Dieser Moment ist große Bühnenkunst: Der riesige Spiegel über der Wasserfläche senkt sich in der Hinterbühne und lässt die Zuschauer wie von oben auf die im Blau hingestreckte Angelica blicken. Der Moment des Sterbens als Selbstentäußerung, Transzendierung und Verklärung wird wie selten sinnlich fassbar. So legt Schwab Spuren aus, die sich im Lauf des Abends zu festen Banden zwischen den drei Teilen entwickeln. Puccini hätte seine helle Freude gehabt.

Sänger garantieren musikalische Qualität

Das Aalto-Theater kann mit einer Riege von Sängern aufwarten, die auch die musikalische Qualität des Abends garantieren. Bettina Ranch etwa spielt als Frugola den Frust einer derangierten Schönheit aus und streift die Spur des Naturalismus, ohne die Dichte der Szene zu durchbrechen. Als Fürstin in „Suor Angelica“ repräsentiert sie – bezeichnend mit der Chiffre des Lichts durch ihre Sonnenbrille spielend – die eiskalte Unerbittlichkeit, die empathielos auf das Erbe konzentriert schon die Gier der Nachfahren in „Gianni Schicchi“ präfiguriert. Jessica Muirhead ist ein Schatz im Ensemble des Aalto-Theaters: Die ganze Sensibilität, Verletzlichkeit und innere Qual der ins Kloster verbannten unehelichen Mutter legt sie für Schwester Angelica in ihre freie, blühende, im Piano reich schattierende Stimme.

Der Tod zerreißt das begrenzende Gespinst und öffnet den Raum: Jessica Muirhead in „Suor Angelica“. Foto: Matthias Jung.

Marie-Helen Joël hat als Äbtissin und vor allem als Zita in „Gianni Schicchi“ stimmlich sicher unterfütterte, szenisch dichte Auftritte. Auch die kleineren Rollen sind niveauvoll besetzt, etwa mit Liliana de Souza (Schwester Eiferin, La Ciesca), Giulia Montanari (Genovieffa) oder Christina Clark (Nella). Annemarie Kremer setzt als Giorgetta einen imposant-kraftvollen Sopran ein, aber den scharfen, vibratoreichen Tönen fehlt der sinnliche Schmelz einer Puccini-Stimme. Auch Lilian Farahani ist als Lauretta nicht optimal besetzt: „O mio babbino caro“, der Schlager des gesamten „Trittico“, erklingt zu leicht, zu soubrettig, und ohne fließende melodische Bögen.

Mit Heiko Trinsinger als Michele („Il Tabarro“) und als Gianni Schicchi kann sich das Aalto-Theater auf eine sichere Nummer verlassen. Er erfasst trotz eines nicht so sehr italienisch gefärbten Baritons die resignierte Trauer und den impulsiven mörderischen Ausbruch eines Mannes, der ratlos zusehen muss, wie ihm die immer noch geliebte Frau im Fließen des Schicksals entgleitet. Dem Gianni Schicchi gibt er weniger die Eleganz des gewitzten Betrügers mit, sondern eher virile Kraft, unbändige Komödiantenlust, aber auch einen Flash von Zynismus.

Sergey Polyakov (Luigi) und Annemarie Kremer (Giorgetta) im ersten Teil des Abends, „Il Tabarro“ („Der Mantel“). (Foto: Matthias Jung)

Sergey Polyakov ist ein standfester, zu kraftvollem Nachdruck fähiger Luigi, der dennoch die drückende Trostlosigkeit seiner Existenz und die leise Trauer in seiner Leidenschaft in flexiblen Tönen auszudrücken weiß. Baurzhan Anderzhanov (Il Talpa/Betto di Signa) fällt wie stets durch seine makellos geführte Stimme und den Wohllaut seines kühlen, aber schön abgerundeten Timbres auf. Zu hoffen ist, dass Christopher Hochstuhl aus dem Opernstudio NRW als Liedverkäufer künftig nicht auf ein paar Sätzchen und stumme Auftritte beschränkt bleibt. Zumal in „Gianni Schicchi“ machen die Sänger – mit Carlos Cardoso als erfrischendem Rinuccio und Uwe Eikötter als erfahrenem Gherardo – dem Begriff des „Ensembles“ alle Ehre. Opern- und Kinderchor des Aalto-Theaters unter Patrick Jaskolka bewältigen die schwierige Aufgabe, aus der Ferne und in ungünstiger Aufstellung zu singen, mit solider Sicherheit.

Im Orchester erklingt ein „moderner“ Puccini

Am Pult der Essener Philharmoniker waltet diesmal Roberto Rizzi Brignoli, Generalmusikdirektor in Santiago de Chile und häufiger Gast an Häusern wie der Mailänder Scala, Berlin, Hamburg oder Stuttgart. Er präsentiert einen „modernen“ Puccini, bedacht auf Transparenz und genaues Nachzeichnen der Komplexität von Puccinis Komposition. Das ist gerade für „Il Trittico“ ein passender Zugang. In „Il Tabarro“ betont er nach einem luftig-lockeren Beginn nicht die Qualitäten des Verismo-Reißers, sondern die diskret schattierten Töne, die lyrischen Momente, in denen sich die verletzten Seelen musikalisch äußern.

In „Suor Angelica“, die der Operntradition des 19. Jahrhunderts am nächsten liegt, hätte man sich stellenweise einen süffigeren Klang vorstellen können. Aber die Essener Philharmoniker bringen das mystische Kolorit zum Leuchten, funkeln in der differenzierten Instrumentierung in aparten Farben, spielen Lyrisches gelöst und ohne Druck. Beste Voraussetzungen für die agile Musik des „Gianni Schicchi“, in der die Moll-Klage ebenso geheuchelt klingt wie das heroische Preislied auf Florenz, und in der sich die Philharmoniker vergnügt auf punktierte Details und schräge Sprünge kaprizieren. Eine Burleske mit schaurigem Hintergrund – der Kreis ist geschlossen.

Vorstellungen am 13. Februar (mit Nachgespräch), 2., 20., 31. März, 24. April, 15. Juni 2022. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/2022-02/iltrittico/6384/




Menschheitsfamilie mit Gott und Teufel: Dietrich Hilsdorf inszeniert in Essen Alessandro Scarlattis „Kain und Abel“

Ein von der Zeit ausgezehrter, nobler Raum, verblichene Tapeten, ein halbblinder Spiegel. Man sitzt bei Tische, zwei Violinisten spielen Tafelmusik. Die Gewänder entsprechen der Mode kurz nach Beginn des 18. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, in der Alessandro Scarlatti in Venedig sein Oratorium über Kains Mord an seinem Bruder Abel geschrieben hat, eine der Schlüsselgeschichten des Alten Testaments aus dem vierten Kapitel des Buches Genesis.

Das Drama kennt keinen Ausweg: „Kain und Abel oder der erste Mord“ (Cain, overo il primo omicidio) von Alessandro Scarlatti am Aalto-Theater Essen. Von links: Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam), Tamara Banješević (Eva), Xavier Sabata (Gott), Philipp Mathmann (Abel). (Foto: Matthias Jung)

Am Aalto-Theater Essen kleidet sie Dietrich Hilsdorf mit seinen Ausstattern Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) ins Ambiente der Entstehungszeit, doch er pflegt damit keinen Historismus, sondern entwickelt ein hochartifizielles Zeichensystem, das für Scarlattis verkappte Oper aus dem Jahr 1707 komplexe Aspekte einer Deutung zulässt.

In seiner 20. Inszenierung für das Essener Theater – erinnert sei an die Skandale mit Verdis „Trovatore“ und „Don Carlo“, aber auch an spannende psychologisch fundierte Kammerspiele – macht Hilsdorf aus der biblischen Geschichte ein Familiendrama: Gott und der Teufel sind keine aus dem Off dröhnenden Übermächte, sondern heben am Tisch mit den Menschen das Glas, geraten mit ihnen in körperlichen Kontakt. Wesen aus Fleisch und Blut und dennoch durch ihre Positionen im Geschehen auf der Bühne oft seltsam enthoben: Ein treffend erfundenes Bild für die Präsenz des Transzendenten in, aber nicht seine Identität mit den Lebensvollzügen der Menschen.

Spannung in jedem Moment

Hilsdorfs Fähigkeit, die Bühne auch bei stillstehender Interaktion mit Leben und Spannung zu erfüllen, macht aus diesem pausenlosen 140-Minuten-Stück einen Abend ohne Leerlauf. In jedem Moment auf die Personen auf der Bühne konzentriert, erschließt er mit seinen Darstellern in präzis ausgeformten Gesten und Gängen ihre seelische Verfassung, ihre Emotionen, ihre inneren Entscheidungen. Und das in einem äußerlich handlungsarmen Verlauf, denn das Libretto des Kardinals Pietro Ottoboni – der gleichzeitig mit Scarlatti auch den jungen Händel förderte – stellt die theologische Reflexion gleichrangig neben die biblische Erzählung. Hilsdorfs Vorzug ist, dass er diese Ebene in seine Inszenierung integrieren kann. Der Provokateur von früher hat sich zum genau analysierenden Beobachter gewandelt.

Die Verführung tarnt sich weiblich-erotisch: Baurzhan Anderzhanov (Teufel), Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam). (Foto: Matthias Jung)

Hilsdorfs Zeichensystem lebt aus sinnenfrohen Details, die sich dennoch zu einem schlüssigen Ganzen fügen: Adam und Eva tragen Gewänder in der Bußfarbe Violett. Der Teufel tritt, in eine kostbar gearbeitete Prachtrobe gehüllt, als mondäne Frau auf – mit einer Anmutung von Macht und Erotik, die Kain in ihren Bann ziehen muss. Dass der Böse die Macht Gottes nachäfft, wird deutlich beim Entschluss zum Brudermord: Wie der Schöpfergott Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle streckt er den Finger aus, der quasi den mörderischen Funken auf Kain überträgt.

Das Böse bleibt in der Welt

Zwei Kerzen signalisieren die Opfer: Abels Kerze flammt hoch, Kains Kerze raucht nur. Zurücksetzung und die damit empfundene Ungerechtigkeit, Neid und der Dünkel des „Erstgeborenen“ motivieren die Tat Kains. Er bläst die Kerze des Bruders aus und erschlägt ihn unter der festlichen Tafel. Kain und Luzifer trinken sich zufrieden zu. Später wird Gott den Teufel aus dem Reifrock schälen und so die Täuschung aufheben: Im Untergewand am Rande sitzend, wird dieser die Trauer Adams und Evas beobachten und dabei versonnen einen Apfel schälen. Das Böse bleibt Bestandteil der Welt; es ist aber auch an der Rettung beteiligt: Wenn Adam am Ende auf die Menschwerdung Gottes in Jesus anspielt („aus meinem Blut soll der Erlöser geboren werden“), nagelt der Teufel ein Kreuz mit einem Corpus an die Wand. Das Ende bleibt ambivalent: Dass alle Protagonisten am Tisch die Suppe auslöffeln, wirkt unverkennbar ironisch, lässt aber eine endzeitliche Versöhnung nicht außer Acht. Familiendrama und universales Schöpfungs- und Erlösungsdrama gehen ineinander über.

Hilsdorf ist ein Regisseur, der – ursprünglich aus dem Schauspiel kommend – selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie vergessen hat, szenisch mit der Musik zu interagieren. In Essen führt die musikalische Sensibilität zu einer glücklichen Einheit von Bild und Klang, die über die Integration des Orchesters in das Bühnenbild hinausgeht. Dirigent Rubén Dubrovsky hält so den direkten Kontakt zu Szene, die Sänger und die Musiker stellen sich ideal aufeinander ein.

Inspirierte Musik Alessandro Scarlattis

Scarlattis Musik erweist sich in ihrer Tonarten-Dramaturgie und in ihrer vielfältigen, klangsensiblen Durcharbeitung geradezu als theologisch inspiriert. In ihrer Arie „Sommo Dio“ etwa äußert Eva die bittende Hoffnung auf Befreiung durch das „heilige Holz“ und das „geopferte Lamm“ und bringt damit die neutestamentliche, christologische Perspektive ein. Das Lamm, das Abel opfern will, ist ein anderer Verweis auf Christus, das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Die Arie steht in g-Moll, und in dieser Tonart kündigt sich das Erscheinen Gottes in einer Sinfonia – also zunächst rein instrumental – an.

Gott und Abel: Philipp Mathmann (Abel) und Xavier Sabata (Gott). (Foto: Matthias Jung)

Gottes Arie – durch die Art („mezzo carattere“) mit Abel verbunden – steht dann in F-Dur und hebt sich damit deutlich ab – die Transzendenz des Erlösung verheißenden Gottes wird betont, während er, wenn er Kain die Folgen seiner Tat klarmacht, das „menschliche“ g-Moll in G-Dur moduliert, verbunden mit einem unerbittlichen Streicher-Ostinato, welches das Schicksal des mit dem Kainsmal zugleich gezeichneten und vor dem Tod geschützten Mörders in scharfen, harten Akzentuierungen verdeutlicht.

Auf diese Weise schafft die dramatisch begründete, dennoch souverän formal gestaltete Musik Scarlattis eine enge Verbindung mit der Szene. Die Essener Philharmoniker sind in ihrem wachen, flexiblen, in Klang, Phrasierung und Artikulation nahe an historisch informierten Spezial-Ensembles. Eine fabelhafte Leistung der Musiker, die sich ja mit Repertoire aus allen Epochen befassen müssen, aber auch von Dubrovsky: Der Wahl-Wiener, der demnächst Händels „Alcina“ in Hannover und „Giulio Cesare“ in St. Gallen dirigiert, stellt die Beziehung zwischen Bühne und Orchester her und führt die Sänger sicher und in organischen, wenn auch manchmal sehr beschaulichen Tempi. Die Instrumente, etwa das Fagott in den g-Moll-Arien Evas oder die beiden Flöten sind szenisch zugeordnet, und für den Auftritt des Teufels pervertiert Felix Schönherr mit unheimlich schnarrenden Registern den sakralen Klang der Orgel.

Vorzügliche Sänger

Gesungen wird in Essen ebenfalls vorzüglich. Bettina Ranch führt ihren Mezzo elegant durch die Bravour und das Cantabile der Arien Kains, beleuchtet stimmlich die Facetten dieses Charakters, der sich keineswegs im „Bösen“ erschöpft und im Widerstand gegen die zweite Versuchung des Teufels, sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen und damit ultimativen Widerstand gegen Gott zu leisten, einen heroischen Zug erhält.

Tamara Banješević kleidet die Trauer und Reue Evas, aber auch ihre Hoffnungen mit einem weich formenden, innigen, flexibel ausgestaltenden Sopran. Dmitry Ivanchey als gebrochener, am Stock gehender Mann in edlem Justaucorps, muss sich in seiner ersten „aria di bravura“ noch mit Mühe und fest sitzender Stimme durch Sechzehntelketten kämpfen, gewinnt aber im Lauf des Abends souveräne Präsenz. Xavier Sabata setzt einen virilen Alt für die Stimme Gottes ein, die er auch mit Schärfe und profunder Energie dramatisch aufladen kann.

Baurzhan Anderzhanov als mondäner Teufel. (Foto: Matthias Jung)

Baurzhan Anderzhanov kann mit seinem unverschleierten, in der Artikulation unbestechlichen, klanglich schlank-leuchtenden Bass in einer weiteren Glanzrolle am Aalto-Theater brillieren. An Philipp Mathmanns Stimme werden sich die Geister scheiden: Der Counter intoniert traumsicher, singt aber die Töne steif, manchmal überzogen schrill an und pflegt das geradlinige „weiße“ Timbre, das in Alte-Musik-Kreisen bisweilen sehr geschätzt wird, mit italienischem Belcanto aber wohl wenig zu tun hat. Dietrich Hilsdorf, der nach sieben Jahren an das Essener Haus zurückgekehrt ist – und in zwei Jahren eine neue Inszenierung verantworten wird – erhielt einhellige Ovationen; das gesamte Ensemble genoss den langen, herzlichen und verdienten Jubel des Publikums.

Vorstellungen am 30. Januar, 20. und 29. Februar, 4., 8., 13., 20. März und 3. Mai. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kain-und-abel/3798/




Rasendes Protokoll des Verfalls: Roland Schwab inszeniert Giuseppe Verdis „Otello“ am Aalto-Theater Essen

Das Prinzip des Bösen: Nikoloz Lagvilava als Jago in der Essener Neuinszenierung von Giuseppe Verdis "Otello" in Essen. Foto: Thilo Beu

Das Prinzip des Bösen: Nikoloz Lagvilava als Jago in der Essener Neuinszenierung von Giuseppe Verdis „Otello“ in Essen. Foto: Thilo Beu

Der Jubel über den Sieg ist falsch und schal. Mag sein, dass der hochmütige Muselmane zerschmettert am Grund des Meeres liegt. Aber der Mann, den die tarngrünen Truppen da hereinschleifen, ist alles andere als der kraftstrotzende Sieger. Er ist ein Gezeichneter: Otello, halbnackt, kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten, schreit ein dünnes „Esultate“ heraus und wankt hinkend von der Bühne. Ein strahlender General sieht anders aus.

Und der andere, der Fähnrich, der so gerne Hauptmann geworden wäre, dem Otello aber einen anderen vorgezogen hat? Der vernebelt in Roland Schwabs neuer Inszenierung von Verdis vorletzter Oper am Aalto-Theater in Essen erst einmal den Raum. Dann zerbricht er eine schwarze, löchrige Fahne – das Banner des Aufruhrs, des Verderbens? Jago schnippt mit dem Finger und das Inferno bricht aus. Er ist, das macht Schwab von Anfang an klar, der Regisseur des Bösen. Sein Prinzip: „Ich bin nichts anderes als ein Kritiker.“ Der Geist, der stets verneint.

Die „Feuer der Freude“ tauchen die Szene in gespenstisches Orange. Später fährt auf der karg-schwarzen Bühne von Piero Vinciguerra im Hintergrund ein Dschungel hoch. Cassio wankt in die Röte hinter den Palmen; Napalmbrand oder Höllenfeuer, von Jago entzündet. Francis Ford Coppolas Apocalypse Now oder Stanley Kubricks Full Metal Jacket lassen grüßen.

Doppeltes Opfer Otello

Roland Schwab interessiert sich nicht so sehr für die feinen psychologischen Verästelungen einer Eifersucht, die ihre fahlen Fäden in die Seele von Otello bohren, auch nicht für den schrecklichen Mechanismus, mit dem der Nihilist Jago sein tödliches Garn spinnt. Er zeigt keinen Krieger auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, der dann durch einen Gespinst, fein wie das Taschentuch seiner Desdemona, zu Fall gebracht wird. Bei ihm ist Otello ein doppeltes Opfer – das seines furchtbaren Traumas, befeuert durch einen ebenso furchtbaren Widersacher. Die Oper ist ein rasendes Protokoll des Verfalls, der sich von Akt zu Akt steigert, um am Ende in unheilvoller Lethargie auf einem Designer-Sessel zum Erliegen zu kommen.

Gitterwerk einer traumatisierten Kriegerseele: Gaston Rivero auf der Bühne von Piero Vinciguerra zu Verdis "Otello". Foto: Thilo Beu

Gitterwerk einer traumatisierten Kriegerseele: Gaston Rivero auf der Bühne von Piero Vinciguerra zu Verdis „Otello“. Foto: Thilo Beu

Liebe, Eifersucht, der Außenseiter, der in seiner Frau einen Anker in der Welt gefunden hat: Diese Motive werden am Aalto-Theater sekundär. Im Vordergrund stehen die psychischen Folgen des Grauens, das den Krieger einholt. Es fängt die Seele in kaltglänzenden Lamellenrollos – eine Assoziation zur französischen „jalousie“, der Eifersucht –, es bannt Otello zwischen die Stäbe eines inneren Gefängnisses.

Dahinter wird die Gesellschaft in kitschigen, im Halbdunkel verschwimmenden Bildern sichtbar. Sie weicht ängstlich zurück, wenn Otello wie ein neurotisches Zootier an den Drähten entlangtigert. Dann gibt das Gitterwerk den Blick frei auf blutglänzende Körper, die in den verzweifelten Wiederholungszwängen kranker Seelen zucken und sich winden: Otello, vervielfältigt. Ikonen psychischer Verderbnis, in Blitze des Wahnsinns getaucht. Dämonisch klares Licht – Manfred Kirst und sein Team leisten Großartiges – und giftige Nebel lösen einander ab.

Projektion des Objekts einer Macho-Begierde

Und Desdemona? Das neue Ensemblemitglied Gabrielle Mouhlen, blond, lange Beine, steckt in einem ungeheuer schnulzigen Hochzeitskostüm, als sie wie von ungefähr im Hintergrund der Bühne auftaucht, wenn das Orchester die wundervolle Cello-Einleitung zum Duett „Già nella notte densa“ anstimmt. Gabriele Rupprecht (Kostüme) will die Figur mit diesem Aufzug nicht denunzieren, sondern kennzeichnet sie als Projektion: eine nur vordergründig reale Gestalt, in der sich alles zusammenfasst, was der Macho vom Objekt seiner Begierde, von der Projektionsfläche seiner Fantasien erwartet. Wenn „Venus leuchtet“, hockt Desdemona wie ein Incubus auf dem liegenden Otello – ein geschmackloses Bild, das genau in diesem Moment unheimlich sinnhaft wird: Der Mann der Siege erliegt der Macht seiner unbewussten Vorstellungen.

Gabrielle Mouhlen (Desdemona) und Gaston Rivero (Otello). Foto: Thilo Beu

Gabrielle Mouhlen (Desdemona) und Gaston Rivero (Otello). Foto: Thilo Beu

Gabrielle Mouhlens stets mit kühlem Metall versetzte Stimme, im Piano nicht schmeichelnd oder schmelzend, passt zu dieser unwirklich unerotischen Desdemona. Die Taschenlampen, mit denen die Venezianer im dritten Akt auftreten, sind einmal kein abgelebtes Versatzstück des Regietheaters, sondern lassen die Katastrophe vorscheinen, in die Otello, wild um sich schlagend, hineintaumelt. Desdemona, sein letztes, klischeehaftes Ideal, einziger Halt im verletzlichen Winkel seiner verhärteten Seele, ist im vierten Akt gefangen zwischen den kaltsilbernen Lamellen der klackend sich schließenden Jalousien. Der Mord ist kein Vorgang äußerer Realität: Er ereignet sich unsichtbar im grellen, gegen die Zuschauer gerichteten Scheinwerferlicht. Danach kauert ein gebrochener Mann in der entsetzlichen Leere seiner Existenz: „Otello fu.“ Es gibt ihn nicht mehr. Und Jago hinterlässt zynisch eine teuflische Spur von Schwefeldampf.

Weitergeführte Kriegs-Metaphorik

Roland Schwab führt in seiner Otello-Version mit schlüssiger Konsequenz die Kriegs-Metaphorik fort, die er bereits in seiner Augsburger Inszenierung von Bedřich Smetanas selten gespieltem „Dalibor“ (demnächst ist die Oper auch in Frankfurt zu sehen) – dort noch ein Stück zu gegenständlich – eingesetzt hat. Das Essener Aalto-Theater hat damit eine beachtliche Alternative zu Michael Thalheimers nachtschwarzem Psychodrama an der Deutschen Oper am Rhein geschaffen, das im April wieder in Düsseldorf zu sehen ist – dort als ausweglose Geschichte zweier Außenseiter im Raum einer Paranoia, die selbst ein harmlos-naives Requisit wie das Taschentuch zum Existenz zerstörenden Fanal vergrößert. In Essen spielt das „fazzoletto“ auch eine Rolle – als zynisches Signal, das Otellos fiebrige Wahnwelt anheizt, bis die finale Zersetzung beginnt.

Enttäuschende Performance des Dirigenten

Essen hätte also eine fulminante Premiere erleben können, wäre da nicht die enttäuschende Performance des italienischen Dirigenten Matteo Beltrami gewesen. Er glättet Verdis Dramatik zu einem lyrisch grundierten Moderato, das wie ein fauler Kompromiss zwischen einem faden Gounod und einem zahnlosen Massenet wirkt: Der brachiale Orchesterschlag zu Beginn ohne Schärfe, die Piani ohne Drohung, das Fortissimo ohne Aufruhr und Katastrophenahnung. Die Artikulation des Orchesters ohne Bestimmtheit, ohne zupackende Erregung. Der Wechsel zwischen angespanntem Drive und gefährlich dräuender Entspannung ohne Biss. Die schwärmerischen, sehnsuchtsvollen, aufbrausenden, leuchtenden Momente des Duetts Otello – Desdemona im ersten Akt glattgebügelt zu einem gefällig-unverbindlichen Moderato.

Blässliche Akkuratesse also im Graben zu starken Bildern auf der Bühne. Dazu kein fokussierter Ton des Chores: Jens Bingert mag sein Bestes gegeben haben, aber die federnden Tänzchen am Dirigentenpult bleiben ohne Resonanz, und über die Präzision zieht sich so mancher Schleier. Beltramis leidenschaftsloses Verdi-Exerzieren hat bereits nicht in „Il trovatore“ und noch weniger in „Rigoletto“ überzeugen können. Ein Rätsel, warum man sich für diese wichtige Premiere wieder auf einen derartigen Mangel an Profil eingelassen hat.

Jago triumphiert auch als Sänger

Von den männlichen Protagonisten sichert sich der Jago von Nikoloz Lagvilava auch vokal den Triumph: Sein durchsetzungsfähiger Bariton basiert auf einer sicheren Stütze ohne doppelten Boden atemtechnischer Tricks, behält in der Höhe Rundung und Fülle und schillert in der Tiefe in einer satt-gefährlichen Farbe. Die Duette mit Otello strotzen vor Kraft, ohne dass dem Ton Gewalt angetan würde. Der Mann kennt keinen durch sfumature abgetönten Zweifel; auch sein „Credo“ ist ein Bekenntnis ohne Zwischentöne. Dieser Jago ist keine philosophische Gestalt, sondern ein abgebrühter Verbrecher.

Gaston Rivero hält in den Ausbrüchen, in denen sich seine Realität immer unverrückbarer verschiebt, in Kraft und Nachdruck mühelos mit. Aber seine Rolle braucht die gebrochenen Momente, die Palette emotionaler Farben von der Erinnerung an einstigen Seelenfrieden über die unkontrollierbare Glut bis hin zur tonlosen Erschöpfung des Endes. Da fehlen der soliden Mittellage dann die Farben des Sarkasmus; da flackert der Lyrismus des Duetts mit Desdemona; da fehlen in „Dio! Mi potevi scagliar …“ die Schmerzenstöne über den verlorenen inneren Halt.

Carlos Cardoso macht mit strahlendem Timbre und einer präsenten Emission auf sich aufmerksam; sein Cassio ist auch als Figur gelungen. Dass Bettina Ranch im Finale nur aus einem blechernen Off erklingt, ist schade, aber konsequent; ihre Präsenz auf der Bühne ist eher die einer Aufseherin als die der mitfühlend-ahnungslosen Gefährtin. Dmitry Ivanchey als Rodrigo, Tijl Faveyts als Lodovico, Baurzhan Anderzhanov als Luxusbesetzung für Montano und Karel Martin Ludvik als Herold ergänzen das Ensemble.

Weitere Vorstellungen: 8., 20., 27. Februar; 9. März; 7., 18. April; 12. Mai; 28. Juni 2019.
Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/otello/




Alfried Krupp auf der Bühne: Heinrich Marschners Bergbau-Oper „Hans Heiling“ als Ruhrgebiets-Familienstory in Essen

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Die Schätze, die schliefen in ewiger Nacht, fördern die Erdgeister in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ ans Licht – den Menschen zum „Heil und Verderben“. Das „schwarze Gold“, das dem Ruhrgebiet fast 200 Jahre lang Reichtum und Elend gebracht hat, versiegt in diesem Jahr: Mit Prosper-Haniel in Bottrop schließt am 21. Dezember 2018 die letzte Steinkohlenzeche. So lag es für das Aalto-Theater nahe, sich mit Marschners romantischer Oper an den vielfältigen Aktivitäten rund um das Ende dieser Ära zu beteiligen.

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Marschner wusste, worüber er Musik schrieb; er erinnerte sich wohl an die Braunkohlenförderung rund um seine Heimatstadt Zittau und den traditionsreichen Bergbau im benachbarten Gebirge.

Regisseur Andreas Baesler und sein Bühnenbildner Harald B. Thor knüpfen daran an: Sie rücken die böhmische Sage vom designierten König der Erdgeister, der auf die Erde flieht, um menschliche Liebe zu erlangen und dabei scheitert, eng an eine Geschichte aus dem Ruhrgebiet. Und decken verblüffende Parallelen auf: Hans Heiling wird zu Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, die Königin der Erdgeister schreitet als perlenbehangene Mutterfigur Bertha Krupp umher.

Zwei gescheiterte Verbindungen

Der Konflikt erinnert an die Heirat Alfrieds mit der geschiedenen Anneliese Lampert im Jahr 1937. Sie mag den Krupp-Erben glücklich gemacht haben, war aber eine Ehe gegen den Willen seiner Eltern. Nach drei Jahren trennte er sich – wohl auf Betreiben der Mutter – von Frau und Sohn, übernahm die Firma, führte aber ein zurückgezogenes, innerlich einsames Leben.

Hans Heiling muss entsetzt erkennen, wie seine mit „rasendem Verlangen“ geliebte Anna ihrem unheimlichen Bräutigam aus einer anderen Sphäre immer fremder wird, sich in der Gesellschaft der einfachen Leute wohler fühlt und schließlich (ihre wahren Gefühle erkennend und unter dem Einfluss der Geisterkönigin und ihres dämonischen Gefolges) Konrad heiratet, einen einfachen Mann aus ihrer Schicht.

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Bis ins Detail arbeitet das Produktionsteam die Gleichsetzung durch: Gabriele Heimann lässt sich von dem bekannten Familienporträt der Krupps zu nobel-dezenter Nachkriegsmode inspirieren. Der Chor trägt das Gewirk einfacher Leute aus den sechziger Jahren, als sich die Zechenstilllegungen ankündigten, aber in dem im Bild zitierten Essener „Blumenhof“ bei Tanztee und Schnitzeltag das gesellschaftliche Leben florierte.

Der gewaltige vertäfelte Saal der Villa Hügel kontrastiert mit der beengten Stube mit Bett, Kohleherd und Schwarz-Weiß-Fernseher, in der Witwe Gertrud die Rückkehr ihrer Tochter Anna bei nächtlichem Sturm erwartet. Gefeiert wird in einem hohen, schmutzigweißen Raum, wie einst auf großen Zechen als Lohnhallen oder Waschkauen zu finden. Dort spielt auch das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen in schönsten Bergmannsuniformen das Glückauf-Lied.

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Popularmythen des Potts strapaziert

Couleur locale also allenthalben, liebevoll entworfen. Das geht immerhin über die bloße Äußerlichkeit hinaus, wie sie 2008 in Essen in Wagners „Tannhäuser“ von Hans Neuenfels und Reinhard von der Thannen bemüht wurde. Lästig wird’s dann aber, wenn Hans-Günter Papirnik langwierige Dialoge in breiten Ruhri-Slang überträgt und von der Brieftaube bis zum Karnickel alle Popularmythen des Potts bemüht. Zur Sinnfindung tragen derlei biedere Anleihen, wie wir sie aus missglückten Operettenabenden kennen, nichts bei.

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Auch im ehrgeizig gedachten dramaturgischen Ausbau knirschen die Stempel. Die Bergleute-Metapher funktioniert noch einigermaßen: Unter Tage sind die Arbeiter mit Helm und Grubenlampe die Geister, die ihren König zurückhalten wollen und deshalb gegen die Verbindung mit einem Menschen opponieren. Oben demonstrieren sie mit Spruchband und Schildern gegen Stilllegungen und damit gegen den Krupp-Heiling aus der Oberschicht.

Grenzen der soziologischen Sicht

Aber wenn Anna in der neusachlichen Sechziger-Jahre-Villa ihres noblen Bräutigams im „Zauberbuch“ blättert und maßlos erschrecken soll, aber nur die Vorhänge wehen wie in einem schlechten Gruselfilm; wenn in der von Marschner genial konzipierten Arie „An jenem Tag“ Hans Heiling plötzlich in türkisgrünes Licht getaucht ist, wenn im nächtlichen Park rotes Hilfslicht die Erscheinung der „Geister“ beglaubigen soll, ist sichtbar, wie das Konzept Baeslers an seine Grenzen kommt. Der Konflikt erschöpft sich eben nicht in der Klassen-Herkunft seiner Protagonisten, lässt sich soziologisch nur oberflächlich beschreiben. Eher wäre danach gefragt, die Konstellationen psychologisch zu erschließen oder die romantische Doppelnatur eines Hans Heiling überzeugend zu dechiffrieren.

Noch eins ist schade: Die bemühte Verortung in der Region rückt Marschners allzu selten gespielte Oper in die Ecke einer Ausgrabung, die man gerade mal aus passendem Anlass auf den Spielplan setzen kann. Mitnichten: Schon in den siebziger Jahren haben Aufführungen in Frankfurt, Zürich oder Bielefeld die innovativen musikalischen Errungenschaften Marschners und die dramatische Qualität des Librettos von Eduard Devrient erwiesen. Dass „Hans Heiling“ auf der Bühne selten zu erleben ist – zuletzt am Theater an der Wien und in Regensburg – spricht nicht gegen die Oper, sondern eher gegen routinierte Spielplan-Bastler.

Der Dirigent der Premiere von "Hans Heiling", Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Der Dirigent der Premiere von „Hans Heiling“, Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Frank Beermann und die Essener Philharmoniker machen die Qualität der Musik hörbar – und lassen nebenher erfahren, wie ungeniert sich etwa der Bayreuther Meister Richard Wagner bei Marschner bedient hat, dessen Oper er 1833 brandneu in Würzburg mit einstudiert und den er später in seinen Schriften höhnisch niedergemacht hat.

Dirigent Beermann setzt auf eine aufgehellte, vor allem zu Beginn im Tempo etwas zu rasche Lesart, auf brillant-durchsichtige Bläser und schlanke, manchmal zu wenig betonte Streicher. Aber in Szenen wie dem unerhört expressiven Melodram der Gertrud, in den bedeutenden Arien von Heiling und Anna oder in den auffallend großräumig konzipierten Finali kehrt er die vielgestaltige und farbenreiche Musik heraus und zeigt, dass sich Marschner vor Zeitgenossen nicht verstecken muss.

Bedauerlich, dass der spätere Hannoveraner Hofkapellmeister nie wieder ein so zündendes Libretto gefunden hat: In späteren Jahren beklagt er sich bitter über die Qualität der Opern-„Dichtungen“. Aber über die Qualitäten seiner Musik lässt sich nichts aussagen. Opern wie „Des Falkners Braut“, „Das Schloss am Ätna“ oder „Der Bäbu“ kennt einfach kein Mensch mehr, und die Forschung ist über tradierte Allgemeinplätze auch kaum hinausgekommen.

Bewährtes Ensemble im Einsatz

Das Aalto-Theater setzt bei den Sängern auf sein bewährtes Ensemble und fährt in den meisten Partien gut damit. Heiko Trinsinger fügt mit „Hans Heiling“ seinem breiten Repertoire – das etwa auch Marschners „Vampyr“ umfasst – eine weitere wichtige Bariton-Rolle hinzu. Wirkt die fordernde Höhe anfangs noch etwas erzwungen und fest, steigert sich Trinsinger in der früher noch in Wunschkonzerten und Arienabenden beliebten große Szene „An jenem Tag“ überzeugend, befeuert den brennend schmachtenden Ton des rasend Verliebten, verliert sich in seine Rachefantasien, falls Anna – was später ja auch geschieht – ihm die Treue bräche. Als Darsteller bleibt er in der steifen Rolle des Außenseiters in allen Welten; am Ende bricht er als Entwurzelter zusammen und löst eine Sprengung aus: Im Hintergrund fliegt in historisierendem Schwarz-Weiß ein Zechengebäude in die Luft, stürzen Fördergerüste ein – eine Projektion, die Heilings innere Katastrophe nachzeichnet: Den Wunsch, diese Welt hinter sich zu lassen, die ihm kein Heil, aber bitteres Verderben brachte.

Psychologisches Meisterstück in der Musik

Oft unterschätzt wird die Figur der Anna, die Jessica Muirhead vor Soubretten-Putzigkeit bewahrt. Die Rolle entwickelt sich vom leichten Tonfall der jungen, noch recht naiven Tochter zu den dramatischen Linien einer jungen Frau, die sich und ihrer wahren Gefühle bewusst wird. In der Stimme beglaubigt Muirhead diesen Weg in leuchtendem Ton, in der Gestaltung der Rolle lässt sie die Regie in diesem Punkt eher im Stich. Auch Bettina Ranch als Gertrud erfasst das Spektrum der Figur zwischen den angedeutet buffonesken Zügen der Mutter, die ihrer Tochter die reiche Partie zuschanzen will, und des im Melodram vom Unbewussten ins Erkennen wandernden Schrecken – ein stimmlich einfühlsam nachgezeichnetes psychologisches Meisterstück in Marschners Musik.

Jeffrey Dowd ist über den Konrad längst hinaus: Statt seines reifen Tenors, dem in der Höhe Glanz und Frische fehlt, bräuchte es ein jugendliches Timbre für den Liebhaber und Retter Annas. Rebecca Teem orgelt als Königin der Erdgeister nach schlechter Wagner-Manier – das bedeutet flackernde, bisweilen gewaltsame Tonemission, und eine monochrome tour de force. Teem ist freilich nicht die einzige Sängerin, die mit dieser Partie ihre Probleme hat: Den Typ des dramatischen, aber schlank-beweglichen Soprans mit strahlender Höhe, wie ihn etwa auch Rezia in Webers „Oberon“ fordert, gibt es kaum mehr. Karel Martin Ludvik und Hans-Günter Papirnik stehen ihren Mann an der Seite des forschen Konrad.

Der Opernchor des Aalto-Theaters wirkt in der Szene der Erdgeister anfangs noch dünn und inhomogen – liegt das an der breiten Aufstellung im Hintergrund? –, findet aber schnell seine bewährte Form, für die Jens Bingert als Chordirektor in allen Stilformen einsteht.

Heinrich Marschners Oper „Hans Heiling“ steht bis Juni auf dem Spielplan in Essen. Am 10. März um 19.05 Uhr wird die Aufzeichnung aus dem Aalto-Theater auf Deutschlandradio Kultur übertragen, am 1. April um 20.04 Uhr auf WDR 3. Eine CD-Aufnahme ist geplant.




Wunderbare Ausdrucks-Vielfalt: Tomáš Netopil dirigiert Mozarts „La Clemenza di Tito“ am Aalto-Theater Essen

Erregte Auseinandersetzung zwischen Sesto (Bettina Ranch, links) und Vitellia (Jessica Muirhead). Foto: Thilo Beu

Erregte Auseinandersetzung zwischen Sesto (Bettina Ranch, links) und Vitellia (Jessica Muirhead). Foto: Thilo Beu

Die Bewertung von Wolfgang Amadeus Mozarts „La Clemenza di Tito“ hat sich grundlegend gewandelt. Die Rezeption der in Mozarts Todesjahr 1791 uraufgeführten Oper hat in den letzten Jahrzehnten freigelegt, dass es sich nicht um ein widerwillig ausgeführtes Auftragswerk mit einem hoffnungslos veralteten Libretto handelt. Vielmehr haben Mozart und sein Librettist Caterino Tommaso Mazzolà die häufig vertonte Vorlage Pietro Metastasios zu einem erstaunlich differenzierten Stück über Menschlichkeit und Macht weiterentwickelt, dessen Offenheit für zeitgenössische Deutungen den Vergleich mit der „Hochzeit des Figaro“ oder „Cosí fan tutte“ nicht zu scheuen braucht.

Am Aalto-Theater in Essen ließ sich Tomáš Netopil nicht nehmen, diese letzte Premiere der Spielzeit 2016/17 selbst zu dirigieren und nach „Don Giovanni“, „Idomeneo“ und „Le Nozze di Figaro“ seinem Mozart-Spektrum eine neue Farbe hinzuzufügen. Mit fabelhaftem Erfolg: Netopil schwört die Essener Philharmoniker auf ein zurückhaltendes, transparentes, vielfältig aufgefächertes Piano-Klangbild ein, das den Sängern jeden Raum gewährt, sich zu entfalten, aber nicht verhehlt, welche entscheidende Rolle dem Orchester auch in dieser Mozart-Oper zukommt.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Bei Netopil wirken – von dieser Voraussetzung ausgehend – die Forte-Passagen auch wirklich groß, ohne lärmend zu werden, die Akzente und musikalische Ausrufezeichen markant, aber nie brutal. Die Streicher halten sich im Vibrato zurück, entwickeln expressive Klangnuancen zwischen warm-farbig und fahl-wesenlos.

Die Bläser erfüllen Akkorde plastisch und luftig, wirken in selbständigen Stimmen Wunder aus diskreter Geschmeidigkeit. Johannes Schittler und Tristan von den Driesch lassen Klarinette und Bassetthorn mit eleganter Tongebung springen und singen. Und eine Klasse für sich zeigt Boris Gurevich beim Begleiten der Rezitative am Hammerflügel: So mitatmend, flexibel und sinngebend hört man die begleitenden Figürchen, Arpeggien und Stützakkorde aus der „Schülerhand“ – wahrscheinlich Franz Xaver Sußmayr – nicht eben häufig.

Abstand vom Geschwindigkeitswahn

Netopil erliegt nicht dem Geschwindigkeitswahn, der momentan wieder von gewissen Modedirigenten angeheizt wird. Seine Tempi wirken organisch, lassen nie den Eindruck von Hetzerei aufkommen, geben der Musik den Raum, um Nuancen zu entwickeln. Netopil weiß offenbar die Polarität zwischen der Musik als „absoluter“ Größe und als Partnerin der Sprache einzuschätzen: Er gestaltet mit den Mitteln fein variierter Tempi und eines gelösten Metrums. Wenn die Rede von einem Mozart-Wunder nicht so elend abgegriffen wäre – hier könnte man sie mit Recht verwenden.

Abgelebte Metapher, aber geshicktes Raumkonzept: Der Airport in Mozarts "La Clemenza di Tito" in Essen. Foto: Thilo Beu

Abgelebte Metapher, aber geschicktes Raumkonzept: der Airport in Mozarts „La Clemenza di Tito“ in Essen. Foto: Thilo Beu

Die Sänger fühlen sich offenbar wohl, selbst wenn man sich die eine oder andere Phrasierung Netopils atmender vorstellen könnte. Das Essener Ensemble braucht sich nicht zu verstecken; Dmitry Ivanchey glänzt in der Titelrolle mit einem unerschütterlich fokussierten Tenor, der anfangs etwas festgesungen anmutet, sich aber bald als wendig und agil genug erweist, um Titus aus der farblosen Rolle als Abziehbild herrscherlicher Tugenden für Kaiser Leopold II. zu lösen – zu dessen Krönung als König von Böhmen die Oper uraufgeführt wurde – und zu einem idealistisch denkenden, aber anfechtbaren und verletzlichen Menschen zu machen.

Jessica Muirhead legt als Vitellia die äußerliche Brillanz in die Stimme, die ihr entschiedenes, aggressiv geladenes Auftreten als Gegenspielerin des Kaisers beglaubigt. Doch Mozart erschöpft diese starke Frau nicht in den eindimensionalen Zügen einer gerissenen Furie, sondern gewährt ihr im zweiten Akt in ihrem anspruchsvollen Rezitativ („Ecco il punto, o Vitellia“) und Rondo („Non piu di fiori“) eine erstaunlich modern wirkende Selbstanalyse und den Ausdruck einer seelischen Tiefe, die nicht nur Macht und Intrige, sondern auch Sehnsucht nach menschlicher Nähe und nach Liebe kennt.

Bettina Ranch als Sesto. Foto: Thilo Beu

Bettina Ranch als Sesto. Foto: Thilo Beu

Bettina Ranch singt den Sesto, diesen sich zwischen Zuneigung, Schuld, Freundschaft und (sexueller) Hörigkeit zerquälenden Charakter, mit einem schmelzenden Mezzo, ausgeglichen und klangsinnlich geführt, fähig zu schmerzvoller Innigkeit und zu loderndem Ausbruch. Eine Mozart-Stimme, die kaum einen Wunsch offen lässt – so wie auch der klare, sauber geführte Bassbariton von Baurzhan Anderzhanov als Publio.

Christina Clark als Servilia und Liliana de Sousa als Annio schließen an dieses Niveau an: Beide singen frei, unangestrengt und mit bezauberndem Charme. Der Essener Opern- und Extrachor, einstudiert von Jens Bingert, zeigt im Schlusschor des ersten Akts, wie Mozart über Gluck hinaus schon das edle Pathos anschlägt, das Giovanni Simone Mayr in Italien und Luigi Cherubini in Frankreich weiterführen sollten.

Dass die szenische Seite der Essener Neuproduktion von „La Clemenza di Tito“ der musikalischen nicht gleichziehen konnte, ist vor allem auf die Idee zurückzuführen, als Schauplatz eine VIP-Lounge eines Flughafens zu wählen. Thorsten Macht setzt das „Raumkonzept“ des Regisseurs Frédéric Buhr um und stellt das Ambiente standardisierter Bussiness-Zweckmäßigkeit geschickt auf die Bühne: zwei Ebenen, verbunden durch eine zentrale Freitreppe, eine Bar und eine Sitzgruppe in den Nischen, ein Panoramafenster mit Aussicht auf das Terminal als Hintergrund.

Kein Staat mit alten Römern

Reichlich Spiel-Raum für Frédéric Buhrs erste selbständige Regiearbeit also. Er macht uns auch schon in der Ouvertüre überdeutlich, dass mit der alten Römer-Oper kein Staat mehr zu machen ist: Da sitzt ein gelangweilter Darsteller im Legionärskostüm am Bühnenrand, schaut genervt auf die Uhr und zündet sich eine der im Plastikhelm versteckten Kippen an. Warum ihn dann aber irgendwelche Kumpels in Alltagsklamotten in einer Art Polonaise hinausgeleiten, erklärt sich schon nicht mehr so einfach.

Dmitry Ivanchey als Titus, im Hintergrund Baurzhan Anderzhanov (Publio) und Liliana de Sousa (Annio). Foto: Thilo Beu

Dmitry Ivanchey als Titus, im Hintergrund Baurzhan Anderzhanov (Publio) und Liliana de Sousa (Annio). Foto: Thilo Beu

Alles weitere spielt sich im Airport-Ambiente ab: Vitellia, in aggressiv rotem Kostüm, hat noch eine Rechnung mit dem milden Titus offen und nötigt den ihr verfallenen Sesto, einen graumausigen Funktionär mit Hornbrille und linkischen Bewegungen, als Instrument ihrer Rache zu dienen.

Titus und seine Entourage wirken wie südländische Politiker mit der Anmutung gegelter Mafiosi – die Kostüme von Regina Weilhart sagen mehr über die Personen als die immer wieder ins Stereotyp flüchtende Regie. Sesto lässt sich auf einen Brandanschlag aufs Kapitol und einen – scheiternden – Mordversuch ein. Da rumst es gewaltig hinter der Bühne, die Anzeigetafeln flackern und der Mörtel rieselt von der Decke. Die Wirkung freilich ist flau; seibst die Hostessen der Statisterie wirken nicht besonders beeindruckt. Die Flughafen-Metapher hat ihr kreatives Potenzial längst hinter sich, wirkt abgelebt – und Buhr kann szenisch nicht erschließen, was sie für das Stück bedeuten könnte.

Das ist schade, denn der Regieassistent am Aalto-Theater hätte das Zeug dazu, ein spannendes Kammerspiel zu erarbeiten. Das zeigt sich in Szenen, in denen er seinen Figuren wirklich nahe kommt: Vitellia etwa, die am Ende des zweiten Akts von Rot auf beruhigtes Blau wechselt, aber die flammenden Gelb-Rot-Töne unter dem eleganten Frack nicht verloren hat, punktet nicht zuletzt durch die Regie in ihrer großen Szene.

„Was wird man von mir sagen?“, fragt Vitallia sich und beginnt sich hektisch zu schminken, eine intuitive Reaktion einer auf Außenwirkung bedachten Frau, die befürchtet, nun aufzufliegen oder auf immer mit Verstellung und Lüge an der Seite des begehrten und endlich in greifbare Nähe gerückten Kaisers leben zu müssen. Ihren Entschluss zu radikaler Ehrlichkeit unterstreicht sie, als sie am Ende ihres Rondos die Handtasche ausleert und angewidert wegwirft. Buhr weiß, Zeichen en détail zu setzen. Das rettet einen Abend, der sonst an seiner verkrampften Aktualisierung erstickt wäre.

http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/titus-la-clemenza-di-tito.htm




Ohne Profil: Essener „Norma“-Inszenierung erstickt in Belanglosigkeit

Große Gesten, wenig Inhalt: Katia Pellegrino als Norma in Vincenzo Bellinis Oper am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Große Gesten, wenig Inhalt: Katia Pellegrino als Norma in Vincenzo Bellinis Oper am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Norma ist sauer. Bisher war es gelungen, ihre gallischen Landsleute ruhig zu stellen. Jetzt regt sich der Widerstand gegen die römischen Besatzer. Die Geduld ist am Ende. Norma hat ein vitales Interesse, den Konflikt zu dämpfen: Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin pflegt seit Jahren eine verborgene Beziehung, noch dazu zu einem Römer, dem kommandierenden Prokonsul der Besatzungstruppen.

Noch einmal will sie die Lage unter Kontrolle halten: „Sediziose voci“, ihr Auftritt in Bellinis wohl berühmtester Oper, weist die aufrührerischen, kriegerischen Stimmen in die Schranken. Doch in der neuen „Norma“ am Aalto-Theater Essen, der ersten von nur fünf Neuinszenierungen der Saison, wendet sich Katia Pellegrino, ganz in Weiß, ans Publikum. So als ob der Unmut aus dem Essener Publikum und nicht aus den Reihen der brav angetretenen, ordentlich gereihten Gallier käme.

Was Tobias Hoheisel und Imogen Kogge in ihrer Regiearbeit präsentieren, mag Anhängern von „Werktreue“ angemessen vorkommen, ist aber tatsächlich weit von dem entfernt, was Vincenzo Bellini seinem Genius und Felice Romanis gekonnten Versen abgewonnen hat. Norma wird noch öfter das Parkett ansingen; auch der Römer Pollione und seine neue heimliche Geliebte Adalgisa werden in Hoheisels kalt glänzendem Bühnenbeton – oder sind es metallisch angestrahlte Bretter? – ihre Kantilenen brav aufgereiht von sich geben.

Zwischen zwei drehbaren Halbkreisen, die sich problemlos für die nächsten Premieren von „Lohengrin“, „Le Prophète“ oder  „Rigoletto“ wiederverwenden ließen, wird viel gestanden und würdig dahergeschritten. Der Chor bewegt sich nach den Mustern der italienischen Provinz der siebziger Jahre; ringende Hände und schräg gelegte Köpfchen wollen ein Drama szenisch vergegenwärtigen, in dem jede der flammenden Emotionen ins Extrem gesteigert wird. Denn die Schönheit der Melodien Bellinis darf nicht mit klassizistischer Gemessenheit verwechselt werden.

Für die Qualität einer Inszenierung – das muss gelegentlich betont werden – ist nicht entscheidend, ob sie sich aktueller politischer Chiffren oder der inzwischen auch zur Konvention erstarrter Versatzstücke des Regietheaters bedient. Man braucht Pollione nicht als Donald Trump oder Norma im billigen Top, um aus Bellinis Oper herauszudestillieren, was gerade als aktuell empfunden werden könnte. Man muss sich nicht den Konzepten anschließen, die in den letzten Jahren etwa in Bonn oder jüngst in Gelsenkirchen und Mainz zu packend zugespitzten, sicher auch anfechtbaren Deutungen geführt haben. Aber diese Inszenierungen hatten, was der Essener Premiere abgeht: Profil und Mut zur inhaltlichen Positionierung.

Norma (Katia Pellegrino) und Adalgisa (Bettina Ranch). Foto: Matthias Jung.

Norma (Katia Pellegrino) und Adalgisa (Bettina Ranch). Foto: Matthias Jung.

Hoheisel und Kogge packen ein Gesten- und Bewegungsrepertoire aus, das spätestens seit den neunziger Jahren ins Museumsdepot gehört. Wie die italienische Primadonna den Busen hebt und die Fäuste von sich streckt, erreicht nicht einmal minimale psychologische Glaubwürdigkeit. Als sich die beiden Damen, Norma und Adalgisa, in ihrem Duett im zweiten Akt am Souffleurkasten lagern wie Goethe in der Campagna, scheint der Gipfel dekorativer Belanglosigkeit erreicht. Doch weit gefehlt: Diese zweifelhafte Ehre gebührt dem orangeroten Licht, das Wolfgang Göbbel nach drei Stunden inspirationsloser Ausleuchtung zum Finale von hinten aufglühen lässt: der Scheiterhaufen! Der Abend der „großen Gefühle“, den Intendant Hein Mulders bei der Premierenfeier hervorgehoben hat, findet jedenfalls auf der Szene nicht statt.

Das war zum Glück musikalisch anders: Nicht so sehr bei Dirigent Giacomo Sagripanti, der das Orchester mit viel Liebe zur Melodie, aber oft nur beiläufigem Blick auf instrumentale Details und begrenzter Finesse der metrischen Flexibilität führt. Aber Jens Bingerts Choreinstudierung überzeugt nicht nur im martialischen Vorzeigestück des „Guerra! Guerra!, sondern auch im emotionalen Ausnahmezustand im Finale.

Unter den Solisten gelingt dem neuen Ensemblemitglied Bettina Ranch als Adalgisa die Balance zwischen technisch superbem, von feinem Glanz geadeltem Gesang und emotionaler Hingabe. Schöne Stimmen aus dem Ensemble hört man auch in den Nebenrollen: Albrecht Kludszuweits Tenor kann als Flavio unangespannt leuchten, Liliana de Sousa zeigt als Clotilda eine samtene Noblesse, die man in einer größeren Rolle gerne genauer studieren würde. Insung Sim kann als Oroveso nur wenige Kostproben eines klangvollen, abgerundeten Basses geben.

Die Rache findet nicht statt. Gianluca Terranova (Pollione) und Katia Pellegrino (Norma) am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Die Rache findet nicht statt. Gianluca Terranova (Pollione) und Katia Pellegrino (Norma) am Aalto-Theater Essen. Foto: Matthias Jung.

Katia Pellegrino hat 2012 in der legendären „Norma“-Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito in Stuttgart die Titelpartie gegeben. Dort waren die seelischen Kämpfe und Verwundungen der zweifachen Mutter, die ihr öffentliches Amt beschädigt, und der Priesterin, die ihre menschlichen Regungen verbergen muss, psychologisch detailliert ausinszeniert.

Pellegrino hat davon nichts mitbringen können, sie ist in Essen wieder auf das antiquierte Rollenbild mit seinen Primadonna-Zügen und seinem hohlen Heroismus festgelegt. Zunächst sieht es so aus, als trete sie in die Spur veristisch geprägter Norma-Darstellerinnen mit wuchtigem Timbre und von stilistischer Finesse nicht angekränkelten Tönen. Doch in der Belcanto-Probe von „Casta diva“ lässt sie mit einem gestützten, weich geformten Piano-Beginn aufhorchen und entwickelt einen schwellenden, satten, aber kaum einmal übertrieben üppigen Klang.

Auch die Duette mit Adalgisa und der große Monolog zu Beginn des zweiten Akts sind bei Pellegrino ausdrucksstarkes, mit technischer Präzision und expressivem Instinkt gestaltetes Singen. Das würde man gerne auch über den Pollione Gianluca Terranovas sagen, der ihm weit besser gelingt als sein Don Carlo an der Düsseldorfer Rheinoper. Aber in seinem Auftritt („Meco all’altar di Venere“) stellt er doch eher die Stimme aus, als an den Schattierungen zu feilen, mit denen er die unheimliche Traumvision einer gespenstisch gestörten Hochzeit hätte ausdrücken können. Und Terranovas Piani – die für seinen Gestaltungswillen zeugen – scheitern dann an mangelnder Formung und Stütze.

Am Ende wurde das Regieteam buhlos gefeiert; der Beifall zögerte nur kaum merklich und schwoll gleich wieder an, als sei es gleichgültig, wie diese Inszenierung Bellinis Oper an die Bedeutungslosigkeit verraten hat.

Aufführungsdaten und Karten: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/norma.htm