„Die Abräumer“: Realistischer Krimi um den Tod einer Bankräuberin in Dortmund

Man muss sich schon ein bisschen bemühen, um bei Thomas Schweres‘ neuem Krimi „Die Abräumer“ den Überblick zu behalten.

Schon gleich zu Beginn tauchen eine Menge Personen auf, von denen man meinen könnte, sie hätten eigentlich nichts miteinander zu tun. Ein recht zwielichtiger wirkender TV-Journalist, ein Taxiunternehmer, mitunter reichlich eigenwillige Mitarbeiter des Geldinstituts „Sparbank“ und Beschäftigte der Dortmunder Stadtverwaltung…

Autor Thomas Schweres (Foto: privat)

Autor Thomas Schweres (Foto: privat)

Nach wenigen Seiten gibt es das erste Opfer. Eine Frau namens Michaela Schmidt, die gerade zuvor besagte Bank überfallen und mehrere Tausend Euro mitgenommen hat, wird auf der Flucht erschossen.

Kommissar Schüppe, der auch schon in Schweres erstem Krimi „Die Abtaucher“ ermittelt hat, merkt schon bald, dass es sich um einen komplexen Fall handelt. Die Bankräuberin ist nämlich nicht nur Täterin, sondern auch Opfer. Ihre Familie wurde bei einem Immobiliengeschäft ziemlich gelinkt. Aber viel mehr bringt Schüppe (Spitzname „Spaten“) auch nicht in Erfahrung, denn Mann und Kinder sind wie vom Erdboden verschluckt.

Doch der Kommissar verfügt über viele Kontakte und so gelingt es ihm, Mosaikstein für Mosaikstein zusammenzusetzen. Er findet auch heraus, was es mit der Immobilienfirma auf sich hat, die hinter den Betrügereien steckt, oder welche Vergangenheit eigentlich dieser TV-Journalist namens Tom Balzack mitbringt.

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Zudem zeigt sich schon bald, dass in der Stadtverwaltung Korruption zum Alltag gehörte. Damit knüpft der Autor an gewisse Vorfälle aus dem Dortmunder Rathaus an, doch es ist es nicht der einzige Bezug zur realen Welt. Auch die Art und Weise, wie eine Bank mit dem ihr anvertrauten Geld umgeht, erinnert doch sehr stark an wirkliche Ereignisse.

Es kommen immer mehr Machenschaften ans Tageslicht, die noch weitere Opfer fordern. Bei solchen sehr heiklen und schwierigen Nachforschungen müsste Kommissar Schüppe eigentlich auf Vertrauen zu seinen Mitarbeitern setzen können, doch bei einem neuen Kollegen hat er da so seine Zweifel.

Thomas Schweres, der seit langem als Boulevard-Journalist, Polizei- und Gerichtsreporter arbeitet, verwendet gern authentisch klingende Umgangssprache. Sein Krimi spielt hauptsächlich in Dortmund und Bochum, was durch genaue Ortsbeschreibungen beglaubigt wird.

So verzwickt, wie Geschichte beginnt, so findet sie auch ihr Ende. Man ist erstaunt, dass – so viel sei verraten – die Kripoleute mit heiler Haut davonkommen.

Thomas Schweres: „Die Abräumer“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. 254 Seiten, 9,99 Euro.




Wer tötete Gregor Samsa? Kafka trifft Krimi und Mystery am Prinz Regent Theater

Scully (Maria Wolf) und Mulder (Helge Salnikau) auf der Suche nach Samsas Mörder. Foto: Sandra Schuck

Scully (Maria Wolf) und Mulder (Helge Salnikau) auf der Suche nach Samsas Mörder. Foto: Sandra Schuck

An Franz Kafkas „Verwandlung“ haben sich Generationen von Schülern die Zähne ausgebissen: Wie ist die Erzählung zu deuten, in der sich Gregor Samsa nach und nach in einen Käfer verwandelt, zum Entsetzen seiner Familie, die er nun nicht mehr ernähren kann, woraufhin die familiäre Situation eskaliert und Samsa schließlich verwahrlost und verhungert?

Schlüssige Deutungen gibt es viele, auch auf der Bühne, etwa 2012 in Oberhausen, wo sich nicht Gregor, sondern vielmehr seine parasitären Angehörigen in Tiere verwandelten. Nun bringt das Bochumer Prinz Regent Theater die Erzählung aus dem Jahr 1915 als popkulturelles Mysterien-Spiel – und das gnadenlos überzeugend.

Frank Weiß‘ Fassung liefert dabei keine neue Interpretation, sondern quasi die Meta-Studie: Vorhandene Deutungsmuster aus 100 Jahren Rezeptionsgeschichte werden auf ihre Plausibilität untersucht – in kriminalistischer Manier.

Als Folie dafür dient „Akte X“, jene US-TV-Serie, in der die FBI-Agenten Dana Scully und Fox Mulder mysteriöse Fälle aufklären – doch Autor und Dramaturg Frank Weiß sowie Regisseurin Romy Schmidt verwursten mit großem Spaß auch andere (pop)kulturelle Motive, etwa aus David Lynchs Kult-Serie „Twin Peaks“, aus Werbung, Musical und Science Fiction.

Zu Beginn jedoch begrüßt das Publikum schon im Foyer der Schriftsteller Vladimir Nabokov („Lolita“), der sich als Literaturwissenschaftler eingehend mit Franz Kafka beschäftigt hat: „Sie sollten Phantasie und Wirklichkeit auf ihre Wechselwirkungen untersuchen!“ Nabokov sei der Pathologe, der den Untersuchungsbericht geschrieben habe, erfährt man, doch Nabokov widerspricht: „Ich bin kein Pathologe, ich bin Literaturwissenschaftler!“ Gibt es da einen Unterschied? Ist Literatur tot?

Mutter Samsa (Marla Kiefer) beim Verhör. Foto: Sandra Schuck

Mutter Samsa (Marla Kiefer) beim Verhör. Foto: Sandra Schuck

Der Tatort, die Wohnung der Samsas, erweist sich jedenfalls als recht lebendig. Die Silhouette vom Fundort der Käfer-Leiche auf dem schwarz-rot gestreiften Fußboden (Ausstattung: Sandra Schuck) scheint eine Art Kraftfeld zu sein, wer ihm zu nahe kommt, dem kann es passieren, dass der Geist des toten Samsa in ihn fährt. Auch hinter den drei Türen lauert Unerklärliches.

In drei Verhören versuchen die kühle, rational denkende Scully (Maria Wolf auf High Heels) und der esoterischen Ideen nicht abgeneigte Mulder (herrlich irre: Helge Salnikau), die Wahrheit herauszufinden: War es Mord, wie der Untersuchungsbericht nahelegt? Oder Selbstmord, wie die Familie behauptet? Litt Gregor Samsa unter dem „Stockholm-Syndrom“ und solidarisierte sich mit seinen familiären Folterern? Oder arbeitete er in einem geheimen Militärprojekt, in dem es um Teleportation ging? „Sie sehen zuviel Fernsehen“, kanzelt Scully ihren Partner ab. „Wir müssen andere Fragen stellen“, beschwört Mulder sie.

Mutter, Vater und Tochter Samsa werden gespielt von der erst 14-jährigen Bochumerin Marla Kiefer – ein großes Talent, das schon mit 9 Jahren erste Bühnen-Erfahrungen sammelte. Ihr kindliches Gesicht und die Zahnspange nimmt man kaum mehr wahr, wenn sie als Mutter Samsa in gebückter Haltung, „Ay ay ay ay ay“ jammernd, beim Verhör schließlich hyperventiliert. Oder als kokette Grete Samsa den Kommissar abwechselnd mit Schmollmund, Augenrollen und Tränen bezirzt.

Die Ermittler visualisieren ihre Untersuchungsergebnisse auf der Bühnenwand, kombinieren, malen Verbindungen – bis das Wandbild die Form eines menschlichen Kopfes annimmt. Es ist der Kopf Kafkas, der als des Rätsels Lösung am Ende aufleuchtet. „Wir müssen langsam davon ausgehen, dass alle Beteiligten die Wahrheit sagen“, schließt man die Ermittlungen – es gibt im Fall der Literaturdeutung eben keine Wahrheiten, die vor Gericht standhalten könnten. Plötzlich segelt ein Brief von der Decke – Agent Mulder ist verhaftet. „Ich verstehe das nicht. Es muss mich jemand verleumdet haben“, sagt er. Willkommen in Kafkas Welt.

Termine hier, Karten: 0234 / 77 11 17

(Der Text erschien ebenfalls im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Sie geht, er geht auch: „Gift. Eine Ehegeschichte“ am Schauspielhaus Bochum

Irgendwann steht die Frau ganz alleine auf der Bühne der Bochumer Kammerspiele, der Theaternebel wabert langsam ins Publikum und mit ihm eine große Traurigkeit, während die Frau sich mit geschlossenen Augen dem Regen hingibt.

Die namenlose Frau (Bettina Engelhardt), die vor zehn Jahren erst ihr Kind, dann sich selbst und dann ihren Mann verlor, hat diesen gerade zum ersten Mal seit zehn Jahren wiedergesehen – auf dem Friedhof, auf dem das gemeinsame Kind liegt. Denn Jacob soll umgebettet werden: Der Boden des Friedhofs ist vergiftet. Die Frau fühlt sich nun bereit für die gemeinsame Trauerarbeit, die direkt nach dem tödlichen Unfall des Kindes unmöglich war. Doch ihr Ex-Mann (Dietmar Bär) fand eine andere Strategie der Bewältigung. Er, der sie nach dem Unglück verlassen hatte, hat sich „damit abgefunden, dass das Kind jeden Tag fehlt“, und ist nun dabei, eine neue Familie zu gründen.

Szene aus "Gift. Eine Ehegeschichte" mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Szene aus „Gift. Eine Ehegeschichte“ mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

„Gift. Eine Ehegeschichte“ heißt das Zweipersonen-Stück der holländischen Autorin Lot Vekemans, das am Samstag Premiere in Bochum hatte. Ein dichtes, intensives Konversationsstück, das davon erzählt, wie es sein kann, wenn ein Paar ein Kind verliert. 80 Prozent aller Ehen, heißt es, scheitern nach einer solchen privaten Katastrophe.

Ricarda Beilharz‘ Bühne spiegelt das Seelenleben der Eltern: Alle Erinnerungen und Spuren sind noch da, notdürftig verpackt und verhüllt. Weißer, fließender Stoff bedeckt Wände und Boden, Möbel und Kinderzimmerausstattung. Ein nur auf den ersten Blick leerer Raum, der auch an das Innere eines Sarges erinnert – und damit an die unendliche Einsamkeit der Trauernden.

Die Szene, in der sich der Nebel (das Gift?) verzieht und der Regen kommt, liegt genau in der Mitte des Stücks. Bislang war zu sehen, wie Mann und Frau die riesige emotionale und räumliche Distanz versuchen, in den Griff zu bekommen. Denn nicht nur der Friedhofsboden, auch die Atmosphäre ist vergiftet. Es dauert keine fünf Minuten, da verfallen die ehemaligen Partner in vertraute Mechanismen: „Ich rede von Jacobs Umbettung, du redest von den Kosten!“, wirft sie ihm vor. „Leiden macht süchtig, findest du nicht auch“, stichelt er. Die alten Psychospielchen. Er geht, er kommt zurück. Sie geht. Er geht auch.

Im Stücktext folgt dann eigentlich die Wende: Mann und Frau finden nach und nach im Gespräch wieder zu einer gemeinsamen Sprache, erinnern sich an die letzten Minuten mit ihrem Kind und schaffen es, ihre Geschichte nachträglich in Würde zu beenden.

Regisseurin Heike M. Götze hat sich etwas anderes ausgedacht. Bei ihr geht die Geschichte nach der Regen-Szene zunächst noch einmal von vorne los – allerdings mit vertauschten Rollen. Im zweiten Durchgang ist die Frau diejenige, die einen neuen Partner gefunden hat und schwanger ist. Der Mann ist zurück geblieben und hat sich in seiner Trauer eingerichtet. Das Publikum erlebt die gleichen Dialoge noch einmal – aus anderer Perspektive.

Damit rückt das Geschehen zwangsläufig ein Stück vom Zuschauer weg, der nun nicht mehr eine individuelle Geschichte sieht – sondern eine Studie zur Trauer- und Beziehungsarbeit. Götze nimmt dem Stück damit seine Wucht und Intensität. Der Erkenntnisgewinn bleibt dagegen gering und ein wenig im Vagen: Was soll das Experiment bedeuten? Dass Trauerstrategien nicht geschlechtsspezifisch sind? Dass Verständigung nur funktioniert, wenn man mal die Perspektive wechselt? Dass es keinen Unterschied macht, wie man nach so einem Ereignis weitermacht – Hauptsache man tut es?

Bettina Engelhardt und Dietmar Bär gehen ihre (wechselnden) Rollen sehr unterschiedlich an: Engelhardt macht sich komplett durchlässig, wirft sich mit voller Intensität in die Figuren und zeigt Aggression, Zynismus, Hysterie, dann wieder enorme Verletzlichkeit und tiefe, tiefe Trauer. Dietmar Bärs Spiel ist dagegen stark zurückgenommen, zeitweise wirkt er wie ein Stichwortgeber, dessen Sätze nur Reaktionen seiner Partnerin provozieren sollen. Körperliche Interaktion zwischen den Protagonisten findet kaum statt – ein heftiger, fast aggressiver Kuss – ansonsten halten beide die meiste Zeit über größtmöglichen Abstand. „Ich würde mich freuen, ab und zu von dir zu hören“, sagt am Ende die eine Figur. „Ich auch“, erwidert die andere – mehr Happy End kann man nicht erwarten.

Zu den Terminen, Karten unter 0234 / 33 33 55 55.

(Die Kritik erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Rheingold, Notwist, Pasolini: Johan Simons stellt sein erstes Ruhrtriennale-Programm vor

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Demnächst vor der Bochumer Jahrhunderthalle: Die Bikinibar aus dem Atelier Van Lieshout (Foto: Ruhrtriennale)

Johan Simons ist, wie bekannt, für die nächsten drei Jahre Intendant der Ruhrtriennale, und heute hat er sein Programm 2015 präsentiert. Erster Eindruck: Es kommt drauf an, was man draus macht, oder auch: Schau’n mer mal.  Der Chef selbst ist da nicht so zögerlich. „Seid umschlungen!“ ist das euphorische Motto dieses „Festivals der Künste“ (Untertitel), das programmatisch sehr gern in den Schöpfungs- und Erlösungsmythen der Menschheit gründelt.

Die richtig großen Namen, das, was man im Showgeschäft „eine sichere Bank“ nennen könnte, fehlen weithin. Der Regisseur Luk Perceval und die Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker sind vielleicht noch am ehesten Namen, die einer etwas breiteren Kulturöffentlichkeit bekannt sein könnten, wiewohl natürlich auch viele andere Auftretende ihre mehr oder minder große Fangemeinde haben werden.

In diesem Programm vermengt Klassik sich mit Pop und Zwölftönerei, um im nächsten Schritt auch noch elektronisch verfremdet zu werden, dort löst sich die Oper in eine Rauminstallation auf, und wenn schon nicht atemberaubend Crossovermäßiges auf die Spielstatt gestellt wird, dann sind zumindest doch Sprachenkenntnisse hilfreich, um fremdsprachige Schauspieltexte verstehen zu können. Immerhin sind deutsche Untertitel versprochen.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Johan Simons selbst, der das Theaterspielen auf der Straße begann, sich und seinen robusten Inszenierungsstil mit „Sentimenti“ bei der Ruhrtriennale früh schon unvergeßlich machte und selbst einen Stoff von Elfriede Jelinek noch als Burleske zu inszenieren wußte („Winterreise“, 2011 an den Münchner Kammerspielen), gibt jetzt den seriösen Einrichter bedeutungsschwerer Musikstoffe, inszeniert im September in der Jahrhunderthalle Wagners „Rheingold“, nachdem er schon Mitte August eine Bühnenfassung des Pasolini-Films „Accattone“ mit Musik von Johann Sebastian Bach auf die Bühne der Kohlenmischhalle Zeche Lohberg in Dinslaken zu stellen beabsichtigt.

Kohlenmischhalle Zeche Lohberg Dinslaken (c) Julian Roeder fuer die Ruhrtriennale

Nicht unbedingt ein Ausbund an Schönheit, trotzdem in diesem Jahr ein Spielort der Ruhrtriennale ist die Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken (Foto: Ruhrtriennale)

Die Zeche Lohberg übrigens ist neu im Strauß der Spielorte, der generösen Ruhrkohle-AG – bzw. deren mit anderen Großbuchstaben firmierenden Rechtsnachfolgerin – sei Dank. Hingegen, um auch das noch los zu werden, bleibt Dortmund wieder außen vor. Letztes Jahr noch war zu hören, daß die neue Triennale-Leitung auch Interesse an der berühmten Jugendstil-Maschinenhalle der Museumszeche „Zollern“ in Dortmund-Bövinghausen gezeigt hätte. Doch es ist wohl nichts daraus geworden. Statt dessen, neben den „Haupt-Städten“ des Festivals (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck) nun also Dinslaken. Voilà!

Auffällig viele Niederländer (und Belgier) bevölkern das neue Triennale-Programm. Doch ist dies letztlich nicht zu geißeln, da ein Intendant natürlich alle Freiheiten hat, Kunst und Künstler zu bestimmen. Für den Vorplatz der Jahrhunderthalle ist seine Wahl auf das „Atelier Van Lieshout“ gefallen, das hier rund um eine bespielbare Gebäudeskulptur mit Namen „Refectorium“ ein Dorf entstehen lassen will, in dem es ein „BarRectum“, einen „Domesticator“, eine „Bikinibar“ oder auch ein „Workshop for Weapons and Bombs“ geben soll. „The Good, the Bad and the Ugly“ ist das Projekt überschrieben. Was kommt da auf uns zu? Geistige Auseinandersetzung natürlich, hier, laut Ankündigung, mit Selbstbestimmung und Macht, Autarkie und Anarchie, Politik und Sex.

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Hier gibt es bald wieder Theater: Gebläsehalle Duisburg-Nord (Foto: Ruhrtriennale)

Schauen wir ein wenig durch das Programm, das sich (unter anderem) auf einem sehr ordentlichen, nach Spielstätte und Datum ordnenden Kalender abgedruckt findet. Den Reigen der „großen“ Produktionen eröffnet, wie schon erwähnt, am 14. August die musikalische Pasolini-Adaption „Accattone“ in Dinslaken. Sie wird sechsmal gezeigt – und mehr findet in Dinslaken dann auch nicht statt.

In Bochum steigt am 15. August die Eröffnungsparty mit dem Namen „Ritournelle“, und da geht es dann hübsch popmusikalisch zu, wenn nicht gerade Neue Musik von Karlheinz Stockhausen zum Vortrag gelangt, entweder das Frühwerk „Gesang der Jünglinge“ oder das Spätwerk „Cosmic Pulses“. Bißchen Namedropping für die, die etwas damit anfangen können: Das Berliner Plattenlabel City Slang, das seit 25 Jahren besteht, spielt eine Rolle und ebenso die Gruppe „Notwist“. Es wird bestimmt laut und lustig, doch danach auch ganz ruhig.

Lediglich zwei Auftritte des Collegium Vocale aus Gent und ein Termin mit dem 80jährigen Musik-Minimalisten Terry Riley (29. August) nämlich stehen noch auf dem Augustprogramm. Unter der Leitung von Philippe Herreweghe bringen die Genter Johann Sebastian Bach zum Klingen. Am 16. August heißt das Programm „Ich elender Mensch“, am 21. August „Ich hatte viel Bekümmernis“.

Ab dem 12. September jedoch wird, wie wir doch hoffen wollen, Johan Simons’ „Rheingold“ der Jahrhunderthalle einheizen und neue Maßstäbe setzen. Angekündigt ist „eine ,Kreation’ an der Grenze zwischen Oper, Theater, Installation und Ritual“ (!). Die Musik machen das Orchester MusicAeterna aus Perm unter dem Dirigenten Teodor Currentzis und der finnische Techno-Experimentierer Mika Vainio. Sieben Termine sind angesetzt.

Weiter geht es nach Essen, in die auch ohne Theater schon beeindruckende Mischanlage der Kokerei Zollverein. Ein „Parcours“ ist sie, seit hier vor vielen Jahren die Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ neue Maßstäbe in der kulturellen Umnutzung alter Industriebauten setzte. Nun erklingt hier, auf diesem Parcours, Monteverdis „Orfeo“, dezentral und verwirrend vorgetragen. Zur Musik werden Besuchergruppen von maximal acht Personen durch die Räume geführt, die nun die Stationen von Orfeos Abstieg zeigen nebst seinem Versuch, die Geliebte für sich zurückzugewinnen. Das Regisseurinnen-Trio Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot, sagt die Ankündigung, habe in dem alten Betonbunker Qualitäten einer Vorhölle erkannt, und das kann man nachvollziehen. Eurydike übrigens, die spätere Salzsäule, wird von mehreren Schauspielerinnen gespielt.

Etliche weitere Tanz- und Musikproduktionen sowie Rauminstallationen können in diesem Text keine Erwähnung finden, weil es sonst einfach zu viel wird. Von den Schauspielproduktionen sei noch „Die Franzosen“ erwähnt, ein Werk des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, in dem er Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ mit weiteren Stoffen des Romanciers zum großen Sittenbild einer „Gesellschaft im Umbruch zwischen 19. und 20. Jahrhundert“ verwebt. Sein Nowy Teatr spielt das alles in polnischer Sprache und will sechsmal die Halle Zweckel füllen. Das wirkt ein bißchen optimistisch, aber man soll ja nicht unken.

Ach ja: Von Anne Teresa De Keersmaeker wird Ende September dreimal die Uraufführung ihrer Choreographie „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ gezeigt, die Rilkes Erzählung über den begeisterten Türkenkrieg-Soldaten aktuell deutet; Regisseur Luk Perceval verarbeitet mehrere Stoffe Émile Zolas mit Darstellern des Hamburger Thalia-Theaters zu einem Gesellschaftsbild, das den Titel „Liebe – Trilogie meiner Familie I“ trägt. Die Teile II und III gibt es auf dieser Triennale noch nicht zu sehen.

So, das soll mal reichen. Glück auf!

www.ruhrtriennale.de




Melancholie eines umstrittenen Komponisten: Pfitzners „Von deutscher Seele“ in Bochum

Pfitzner auf einem Foto von Wanda von Debschitz-Kunowski, entstanden um 1910.

Pfitzner auf einem Foto von Wanda von Debschitz-Kunowski, entstanden um 1910.

Immer wieder stellt sich bei Aufführungen von Werken Hans Pfitzners die Frage: Soll man die Werke des verschrobenen Nationalisten mit unverkennbarer Nazi-Nähe überhaupt noch aufführen? Sicher, bei seinem Hauptwerk „Palestrina“ verstummen die Kritiken meistens. Um bei anderer Gelegenheit umso nachdrücklicher zu Worte zu drängen.

Vor allem politisch hochkorrekte Säuberer deutscher Gegenwart von braunen Restmüllbeständen holen dann das verbale Desinfektionsgerät heraus: Da werden schon einmal Pfitznerstraßen umbenannt – wie in Münster oder Hamburg – und ein namhafter, jeglichen braunen Unfugs unverdächtiger Dirigent wie Ingo Metzmacher wird in Interviews hochnotpeinlich befragt, weil er es wagte, zum Tag der Deutschen Einheit 2007 Hans Pfitzners romantische Kantate „Von deutscher Seele“ aufzuführen.

Eben jenem sperrigen und ungewöhnlichen, großdimensionierten und anspruchsvollen Werk auf völlig unverdächtige Texte von Joseph von Eichendorff widmete sich Hans Jaskulsky mit dem Chor der Ruhr-Universität und den Bochumer Symphonikern nun im Audi-Max der Bochumer Uni. Jaskulsky hatte die merkwürdige Mischung von Oratorium, Liedzyklus und Orchesterwerk schon 2002 einmal aufgeführt: Er schätzt Pfitzners Musik – und ist damit auf einer Linie mit komponierenden Zeitgenossen wie Wolfgang Rihm oder Dieter Schnebel.

Die kompetente Aufführung vor leider vielen leeren Plätzen belegt wieder einmal: So ruppig konservativ Pfitzner auch in seinen Polemiken gegen musikalische Neuerungen seiner Zeit auftritt, so indiskutabel sein Antisemitismus, seine politischen Einlassungen oder seine Freundschaft etwa zu Hans Frank, dem „Schlächter von Krakau“, sind – musikalisch muss er sich nicht verstecken. Auch wenn seinem gelehrten Satz manchmal etwas Altbackenes anhaftet, auch wenn er die kühne musikalische Chuzpe eines Richard Strauss nicht erreicht: Pfitzner kann mühelos mit dem Stand des Komponierens im Entstehungsjahr des Werkes 1922 mithalten.

Das Haus Hans Pfitzners in Straßburg. Er wirkte dort von 1908 bis 1918. Foto: Werner Häußner

Das Haus Hans Pfitzners in Straßburg. Er wirkte dort von 1908 bis 1918. Foto: Werner Häußner

Er setzt sogar Maßstäbe: Ein formal so innovatives, vielschichtiges Werk wie diese – mit Pause – zweistündige Kantate muss erst einmal gefunden werden. Die Transformation von Elementen aus der Choraltradition Bachs in seine Gegenwart oder die überlegene Freiheit der tonalen Entgrenzungen in den bedeutenden Orchester-Zwischenspielen „Tod als Postillon“ und „Abend – Nacht“ lassen Pfitzner nach wie vor als aufführungswürdigen Komponisten hervortreten. Abgesehen einmal von dem, was er mit anderen dirigierenden Komponisten wie Richard Strauss teilt: eine stupende Kenntnis des Kunst des Orchestrierens.

Der skeptischen Melancholie der Eichendorff-Gedichte war Pfitzner wohl aus eigenem seelischem Erleben sehr zugetan. In den Zeilen aus „Wandersprüchen“, „Sängerleben“ oder den „Geistlichen Gedichten“ geht es um trügerisches Weltenglück, Weltüberwindung und Welteinsamkeit, um die Chiffren von „Nacht“ und „Meer“, um „falschen Fleiß und Eitelkeit“ und das Wunderbare der Sterne und der nächtlichen Stille. Romantische Bilder also, weltfern und unpolitisch, durchtränkt von Schwermut und vom Leiden an der geschäftigen und fröhlichen Oberfläche des Daseins – dem der Postillon das Lassenmüssen verkündet.

So schwer lastend, blechgetränkt, tiefenverliebt und dunkel raunend gibt sich auch Pfitzners Musik. Kaum einmal, dass er ein angezogenes Tempo, einen kräftigen Rhythmus vorschreibt – und wenn, dann ist es die (vergebliche) Flucht stampfender Rosse vor der Nacht. Jaskulsky zeigt mit den anfangs befangenen, später freier spielenden Bochumer Symphonikern, dass Pfitzner kein Komponist des „ungebrochen Gestrigen“ (Wolfgang Rihm) ist.

Unverkennbar verweisen harmonisch spröde Stellen auf Gustav Mahler, unverkennbar steht Pfitzners schmeichellose Melodik gegen die gängigen Muster der Spätromantik. Orchester und Dirigent machen deutlich, dass Pfitzner nach einem Wort des Dirigenten Ingo Metzmacher viel moderner komponiert hat, als er selbst zugeben wollte.

Das gelingt trotz der problematischen Akustik des Audi-Max. Die Streicher haben es schwer, den filigranen Linien zu folgen, die ihnen Pfitzner gewährt. Die Blechbläser können erfolgreicher demonstrieren, wie sie vor allem die choralartigen Stellen klangvoll samtig auskosten können. Das Aufspannen des Klangraums zwischen Piccoloflöte und Posaune funktioniert. Tutti wirken allerdings oft verquollen und uneinheitlich – zweifellos ein akustischer Effekt. Wenn Harfe, Flöte, Horn, Klarinette oder Orgel solistisch zu hören sind, machen sie durchweg glücklich. Es ist zu hoffen, dass Jaskulsky seinen Pfitzner bald im neuen Konzerthaus vorstellen kann. Auch Pfitzners „Das dunkle Reich“ wäre eine Aufführung wert!

Der Chor der Ruhr-Universität macht seine Sache gut: konzentriert in den kurzen Einwürfen, artikulationsgenau in der Eröffnung von „Leben und Singen“, etwa auf den stockenden Worten „… und kommt doch nicht zur Quelle.“ Dank einwandfreier Projektion der Stimme in den Raum überzeugt Rebecca Broberg als Solo-Sopran auch in den Momenten stiller Innerlichkeit. Maria Hilmes, von zahlreichen Rollen am Theater Dortmund in guter Erinnerung, schafft das mit ihrem Mezzo nicht so pastos, bleibt nicht selten trocken und klangarm. Mit Manfred Hemm gibt ein gestandener Bass einen großen, profunden, wenn auch in der Höhe nicht erblühenden Klang. Corby Welsh, Tenor von der Deutschen Oper am Rhein, entledigt sich seiner Aufgaben mit solider Routine, aber ohne sonderlichen Glanz.




Peter Høegs „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ im Bochumer Schauspiel

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Logo des Bochumer Schauspielhauses

Was ist Zeit? Zeit ist zum Beispiel Rhythmus: Ein penetrantes Hämmern, ein ewiger Herzschlag. Wiederholung. Das kann beruhigen – oder in den Wahnsinn treiben. Eher letzteres ist der Fall in Peter Høegs Roman „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ – eine vor 20 Jahren erschienene Außenseiter-Geschichte des dänischen Autors, der zuvor mit „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ einen internationalen Bestseller geschrieben hatte.

Im „Theater Unten“ des Schauspielhauses Bochum feierte nun eine Bühnenversion der Romanvorlage Premiere (Bearbeitung: Christiane Pohle, Miriam Ehlers). Martina van Boxen richtete das Stück für vier Schauspieler und einen Musiker ein.

Nach einer unglücklich zusammengekürzten Hörspielfassung lautete die spannende Frage: Gelingt es, den Stoff zu visualisieren? Denn die Geschichte um drei Jugendliche, die an einer Privatschule in den 1970er Jahren Teil eines reformpädagogisches Experiments werden, ist nur der eine, vordergründige Teil des Romans. Auf einer anderen Ebene erzählt er von Zeit und davon, was sie mit den Menschen macht. Tatsächlich gelingt der Inszenierung, was dem Hörspiel nicht glückt: Zeit hör- und spürbar, sogar sichtbar zu machen.

Das Waisenkind Peter (Damir Avdic) lebt nach einer typischen Heimkarriere in Biehls Privatschule, ebenso wie Katharina (Jessica Maria Garbe). Beide leiden am streng reglementierten Alltag. Aus der totalen Unmündigkeit sehen sie nur einen Ausweg: Sie versuchen, die undurchschaubaren Strukturen und Gesetze der Erwachsenenwelt zu durchblicken, den „geheimen Plan“ zu verstehen.

„Wenn man leistet, was man leisten soll, hebt die Zeit einen empor. Man soll an die Zeit glauben“, vermutet Peter. Man kann Zeit manipulieren, glaubt Katharina. Dann kommt der psychisch kranke August (Matthias Eberle) an die Schule. Warum wurde er aufgenommen? Und wieso haben die Lehrer ihre eigenen Kinder von der Schule genommen? Nach und nach entdecken die drei: August hat seine Eltern getötet und ist an der Schule in Sicherheitsverwahrung. Alle Schüler sind Teil eines integrativen Schulexperiments. „Wir wollten allen Kindern das Licht zeigen“, rechtfertigt sich Schulleiter Biehl am Ende mit humanistischen Idealen. Doch das Dunkel lässt sich nicht so einfach abschaffen.

Erzählt, gedeutet und kommentiert wird die Handlung vom erwachsenen Peter (Michael Habelitz). Damit hat die Inszenierung wie der Roman drei Zeitebenen: Erzähl-Gegenwart, erzählte Gegenwart und erzählte Vergangenheit.

Die Schule – das Schulsystem – ist auf Michael Habelitz’ Bühne eine Landschaft aus miteinander verbundenen Holzgerüsten, die als Klassenzimmer, Bett, Büro dienen – karg, roh, lebensfeindlich. In der Mitte sitzt ein Musiker (Manuel Loos), der der Inszenierung mit Schlagwerk und Elektro-Sounds Takt und Rhythmus gibt. Ständig ertönt ein Gong, rennen die Schauspieler von links nach rechts, repetieren in abgehackten, synchronen Gesten die von Disziplin geprägten Abläufe des Tages: schreiben, lesen, sich melden, Kopf aufstützen, zusammenpacken, weiter geht’s. Die Lehrer, sogar die Schulpsychologin kommunizieren ausschließlich via Megaphon mit den Schülern. Der Stress der Kinder überträgt sich nahtlos aufs Publikum.

Erholsam sind lediglich die kleinen Fluchtpunkte außerhalb der Taktung, wenn sich Peter und Katharina hinausschleichen, um dem Geheimnis der Schule auf die Spur zu kommen. Am Ende, kurz vor der Katastrophe, die die drei für immer auseinanderreißt, kuscheln sie sich aneinander und bilden eine Ersatz-Familie. Ein herzzerreißendes Bild.

Nächste Termine hier

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm).




Tödliche Dreiecksbeziehung – „Einsame Menschen“ im Schauspielhaus Bochum

Man könnte sich in einer antiken Richtstätte wähnen. Gegenüber vom Saal ragen auf der Bühne weitere Zuschauerreihen auf, zwischen den Rängen befindet sich somit der Spielraum. In dessen Mittelpunkt wiederum dreht sich langsam eine Plattform mit fünf Stühlen, welche gemächlich von Schauspielern eingenommen werden, während seinerseits das Publikum seine Plätze einnimmt.

Man erkennt: Was immer in den nächsten zwei Stunden auf dieser Bühne geschehen wird, ist gründlichster allseitiger Betrachtung preisgegeben. Gespielt wird im Bochumer Schauspielhaus Gerhart Hauptmanns Stück „Einsame Menschen“ – genauer: das, was Regisseur Roger Vontobel daraus gemacht hat.

„Einsame Menschen“, uraufgeführt 1891 in Berlin, zählt zu den weniger bekannten Stücken Hauptmanns, behandelt aber doch einen durchaus aktuellen Konflikt. Johannes Vockerat, Wissenschaftler und Freigeist, empfindet wachsendes Unwohlsein in seiner engen, kleinbürgerlichen Existenz, in der Mutter und Vater (Katharina Linder und Michael Schütz), vor allem jedoch Gattin Käthe (Jana Schulz) nebst Nachwuchs seinem intellektuellen Streben enge Grenzen setzen.

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Junges Ehepaar, unglücklich: Jana Schulz und Paul Herwig als Johannes und Käthe Vockerat (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Als Anna Mahr, eigentlich eine Bekannte des Hausfreundes Braun (Felix Rech), die Szene betritt, ist Vockerat von ihrer Weltläufigkeit und ihrer Bildung geblendet. Er will sie binden, eine Art Dreiecksbeziehung schaffen mit der Intellektuellen hier und der jungen, schlichten Mutter dort, was erwartungsgemäß nicht funktioniert.

Käthe, eh noch geschwächt von der Niederkunft, kränkelt bald schon besorgniserregend, und die Leute reden. Ein väterliches Machtwort macht dem Unbotmäßigen ein Ende. Vockerat erträgt das nicht und erschießt sich – und Schluss.

Nun gut. Väterliche Machtworte sind etwas aus der Mode gekommen, doch ersetzte man sie durch ein zeitgemäßes Treuegebot für den jungen Familienvater Vockerat, so genügten die Postulate in „Einsame Menschen“ durchaus dem aktuellen Moralkodex. Seiner jungen Frau und dem gemeinsamen Kind untreu werden, das gehört sich auch heutzutage nicht. Trotzdem passiert es natürlich immer wieder, und die nächstliegende Frage für eine Inszenierung wäre doch, warum. Was macht Anna Mahr – nicht zufällig wohl klingt der Name ein wenig nach Nachtmahr – so attraktiv, was vor allem aber geht in Johannes Vockerat vor, der blind für die Kränkung seiner Frau ist und tatsächlich zu glauben scheint, die Nähe zu Anna Mahr werde völlig platonisch bleiben? Wirklich nichts Sexuelles?

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Ensemble am Klavier (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Das Desinteresse, das Roger Vontobels Inszenierung solchen zentralen Fragen entgegenbringt, ist, zurückhaltend ausgedrückt, bemerkenswert. Es bleibt auch unverständlich, warum Vontobel die Gelegenheit nicht nutzt, Anna Mahrs Attraktivität herauszuarbeiten. Therese Dörr muss in ihrer Rolle blass und wenig eindrucksvoll agieren und wirkt deshalb nicht eben wie eine Idealbesetzung.

Hingegen liegt das große Interesse der Inszenierung anscheinend darauf, das fragwürdige Glück in familiärer Enge plakativ zu machen. Dazu müssen Lieder herhalten, kirchliche zumal, doch auch Reinhard Meys etwas angekitschtes „Apfelbäumchen“ gelangt wiederholt zum Vortrag. Und weil vor Spielbeginn Notenblätter an das Publikum verteilt wurden, darf es sogar mitsingen.

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Dreiecksbeziehung, von links: Anna Mahr (Therese Dörr), Johannes Vockerat (Paul Herwig), Käthe Vockerat (Jana Schulz) (Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum)

Nötig für das Stückverständnis wäre all das sicherlich nicht, doch verhilft es der Veranstaltung zu Beginn vor allem zu einigen schönen Musiknummern. Der Sänger Tomas Möwes, ein drahtiger Mann im dunklen Anzug, der äußerlich wirkt wie vom Männergesangsverein abgeworben, hat einige großartige Auftritte und entwickelt sich zügig zum heimlichen Star des Abends. Zu preisen ist auch Cellist Matthias Herrmann, wenngleich aufs Ganze gesehen vielleicht etwas viel Musik im Stück ist. Mitunter verschlechterte sie (trotz Microports) das Verständnis des reichhaltigen Textes, der zudem oft etwas lieblos dargeboten wird.

Andererseits nötigt es einem Bewunderung ab, wie das gerade einmal sechsköpfige Ensemble gegen diesen brutalen, inszenatorische Konzentration konsequent verweigernden Bühnenraum erfolgreich anspielt. Vor allem den Darstellern galt daher der anhaltende, freundliche Schlussapplaus.

Termine: 16.11. (17 Uhr), 20.12. (19 Uhr), 28.12. (17 Uhr).
Karten Tel. 0234 / 3333 5555




Reales Drama: „Die Kinder von Opel“ am Schauspielhaus Bochum

OpoelEnde des Jahres schließt das Opel-Werk in Bochum für immer. Der Automobilhersteller kam Anfang der 1960er Jahre und läutete den Strukturwandel ein: Die ersten Zechen in Bochum hatten damals längst dicht gemacht, Opel war der Hoffnungsträger. Sein Ende hinterlässt ein Trauma.

Das Schauspiel Bochum, traditionell stark verwurzelt im Alltagsleben der Stadt, leistet schon seit einem Jahr kreative Traumatherapie mit seinem „Detroit-Projekt“. Einen Abschluss-Beitrag lieferte nun die Künstlergruppe „kainkollektiv“: Im Theater unter Tage, der kleinsten Spielstätte des Schauspielhauses, hatte „Die Kinder von Opel“ Premiere.

„kainkollektiv“, das sind Mirjam Schmuck und Fabian Lettow. Konzept, Regie und Text stammen von ihnen, und sie benötigen für ihren Abend keinen einzigen professionellen Schauspieler. Mit Mitteln des Theaters, der Performance, der Recherche holen sie das reale Drama auf die Bühne – und lassen keine „Typen“ zu Wort kommen – sondern echte Menschen. Den Großteil des 75-minütigen Abends verbringen die Zuschauer damit, sich die acht Stationen der Bühne zu erlaufen, in denen diese „Kinder von Opel“ ihre Geschichten erzählen.

Da ist die 12-Jährige, deren Opa Opelaner war. Sie sagt, dass sie sich einen Park auf der freiwerdenden Industriefläche wünscht, und dass sie den Anblick der schmutzigen Arbeiter beim Essen im Schnellrestaurant manchmal auch etwas ekelig fand.

Da ist der gelernte Zerspanungsmechaniker, der noch immer bei Opel am Band arbeitet. Im Live-Interview erzählt er, was in seinem Zwei-Minuten-Takt alles zu tun ist, berichtet von der Isolierung im Kotflügel, von Leitungen und Schläuchen, die im Motorraum verbunden werden müssen, von der Gasleitung im hinteren Radkasten rechts. Er braucht länger als zwei Minuten, um seine Arbeit zu beschreiben.

Da ist die Osteopathin, die die körperlichen und emotionalen Blockaden der Opelaner behandelt, und der Mann, der in Herne mit Leidenschaft ein Opel-Museum führt.

Eingebunden sind ihre Geschichten in eine aus dem Off gesprochene Erzählung, die Illustratorin Julia Zejn mit animierten, an die Wand projizierten Zeichnungen lebendig werden lässt: Kurz vor Ende der letzten Schicht ist das Opel-Werk einfach aus „Botown“ verschwunden. „Es war unser Werk, also haben wir es eingepackt und mitgenommen“, heißt es am Ende – „unsere eigene Transfergesellschaft“. Wieder aufgebaut wurde es bei General Motors im Zentrum von „Motown“ (Detroit), also „dort, wo es herkommt“.

Dass diese Verbindung einzelner Erzählungen kein ganz rundes Bild ergeben – geschenkt. Der Abend leistet einiges, bietet unbekannte Perspektiven auf ein zuende gehendes Stück Industriegeschichte, holt einmal mehr die Stadt ins Theater und bringt das Theater in die Stadt. Er bespielt eine künftige Leerstelle, und er holt ein Thema ganz nah heran, das für einen Gutteil des Theaterpublikums sonst ziemlich weit weg ist.

Die nächsten Termine stehen hier.




Klug und beschwingt: „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ in Bochum

Hier droht ein Nervenzusammenbruch. Szene mit (v.l.) Sabine Osthoff (Candela), Anna Döing (Marisa), Bettina Engelhardt (Pepa) und Matthias Eberle (Carlos). Im Hintergrund Katharina Linder (Lucia). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Hier droht ein Nervenzusammenbruch. Szene mit (v.l.) Sabine Osthoff (Candela), Anna Döing (Marisa), Bettina Engelhardt (Pepa) und Matthias Eberle (Carlos). Im Hintergrund Katharina Linder (Lucia). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Der langjährige Lebenspartner hat sich per Anrufbeantworter verabschiedet und das gemeinsame Apartment verlassen. Außerdem stellt sich heraus, dass er vorher verheiratet war und Vater ist. Und die Neue ist die Anwältin seiner Ex und nach eigenem Bekunden Feministin. Hemmungslos nutzt Iván, dieser Lump, die Frauen aus, mit ein paar belanglosen Worten – „Blablabla“ – bricht er scheinbar Mal für Mal mühelos ihren Willen.

Das wäre in Kürze die Grundkonstellation des Stücks, einer Beziehungskomödie ganz offenbar mit Neigungen zum politisch Unkorrekten und zu gewissen Schlüpfrigkeiten. Oder doch eher eine Tragödie? Gegeben wird im Bochumer Schauspielhaus das Musical „Frauen am Rande des Nervenbruchs“ nach dem gleichnamigen Film von Pedro Almodóvar aus dem Jahr 1987.

Wie dem spanischen Filmemacher, so ist auch Regisseurin Barbara Hauck vor kräftigen Klischees nicht bange. Den Hauptpersonen begegnen wir deshalb gleich zu Beginn natürlich beim Friseur, wo sie unter Trockenhauben sitzend bunte Magazine lesen und geziert Espresso trinken. Lucía (Katharina Linder), Candela (Sabine Osthoff) und Marisa (Anna Döing) entsprechen den gängigen Weibchen-Mustern voll und ganz, wackeln beim Gehen heftig mit dem Hintern und tratschen alles in Grund und Boden.

Pepa (Bettina Engelhardt), die aktuell Verlassene, lernen wir ein wenig später kennen, wenn sie das gemeinsame Apartment (weiter hinten, weiter oben auf der Bühne) verlassen vorfindet. Und an wieder anderer Stelle sehen wir bald schon das junges Paar Marisa und Carlos (Matthias Eberle), das endlich eine eigene Wohnung haben will und deshalb seine „klammernde“ Mutter (Lucía) samt gemeinsamer Wohnstätte loswerden muss.

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Stefan Hartmann (Ambite), Katharina Linder (Lucia), Bettina Engelhardt (Pepa), Lou Zöllkau (Ana Cristina), Nicola Mastroberardino (Taxifahrer). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Die häufigen Wechsel der Handlungsstränge und Spielorte bewältigt diese Inszenierung mit einem Bühnenbild aus Plattformen, die sich nach Bedarf heben und senken und auf denen die Szenen spielen. Treppen verbinden sie (Bühne: Mara Henni Klimek).

Auch die Musiker sitzen auf einer Plattform und verschwinden deshalb ab und zu im Untergrund. Requisiten schweben bei Bedarf vom Schnürboden herab, Telefonhörer vor allem, zudem Verkehrsschilder und Ampeln, wenn als Spielort die Stadt Madrid gemeint ist. Dann kommt auch einige Male der launige Taxifahrer (Nicola Mastroberardino) ins Spiel, ein großer Kundinnenversteher mit gut sortiertem Notfallsortiment.

Das Auf und Ab der Ebenen strukturiert die aufgekratzte Handlung sinnvoll, ohne deshalb dem Tempo zu schaden. Einige Male ergeben sich dabei zudem so erstaunliche Perspektivwechsel, dass man vermeint, dreidimensionalen Kamerafahrten beizuwohnen.

Kinofilme auf die Theaterbühne zu bringen, ist in den letzten Jahren Mode geworden, die Qualität der Resultate schwankt. Diese „Frauen am Rande des Nervenbruchs“ allerdings wurden nicht in Bochum adaptiert, sondern stammen von den Amerikanern Jeffrey Lane (Buch) und David Yazbek (Musik und Liedtexte). Sie machten aus Almodóvars Film ein veritables Broadway-Musical, das 2010 in New York seine Uraufführung erlebte. Deutschsprachige Erstaufführung war 2012 in Graz. Aber natürlich verleugnet dieses Bühnenstück seine filmische Vorlage keineswegs, und in Bochum pointiert es sie sogar.

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Veronika Nickl (Paulina), Michael Schütz (Ivan). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Der weltweite Erfolg von Amodóvars wahrscheinlich bedeutendstem Film liegt gewiss weniger im Gang der Handlung als in einer ungewöhnlichen Empathie und im Perspektivwechsel. Almodóvar hält zu den Frauen, zu allen, die hier vorkommen, er spielt sie nicht dramaturgisch gegeneinander aus. Und er zeigt, dass sie nicht wehrlos sind.

Wahrscheinlich stimmt es ja, dass das treulose und zynische Gebaren Iváns (Michael Schütz) sie eher an den Rand des Nervenzusammenbruchs als zum Griff nach dem Revolver treibt. Doch einerseits, das demonstriert die in die Handlung eingebaute Terroristenfahndung mit schusswaffenfuchtelnden Fahnderdeppen, wären Pistolen wohl auch keine Lösung. Andererseits entwickeln die von Iván betrogenen Frauen schließlich doch ein gewisses gemeinsames Selbstverständnis, aus dem Stärke erwächst, ein zartes Pflänzlein, für das das Wort Solidarität noch zu stark wäre. Aber immerhin.

Die Gesangsdarbietungen vermögen nur begrenzt zu überzeugen. Trotz Mikroports bleibt viel Text unverständlich, und angesiedelt irgendwo zwischen 60er-Jahre-Kino und Webber-Musical strotzen die Melodien nicht unbedingt vor Originalität. Immerhin jedoch singen Bochumer Theaterschauspieler besser als viele Kollegen anderer Revierbühnen.

Musiziert indes wird exzellent von einer (offenbar namenlosen) siebenköpfigen Kombo unter der Leitung von Tobias Cosler. Sie bringt eindrucksvoll auch die Ouvertüren vor und nach der Pause zu Gehör, die mit ihren manchmal schrillen Tönen auf moderat swingender Unterlage an das Weillsche Intro zur Dreigroschenoper denken lassen, die – ein Zufall? – sich dem Motiv der sexuellen Hörigkeit kaum weniger hingebungsvoll widmete als nun das Bochumer Almodóvar-Musical.

Anders als zum Beispiel Dortmund wählt Bochum zum Spielzeit-Auftakt die sichere Seite und verzichtet auf inszenatorische Experimente. Das ist nicht verwerflich. Diese „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ kommen erfrischend leicht daher, sind unterhaltsam, ohne seicht zu werden. Die gleichermaßen kluge wie beschwingte Einrichtung des Stoffs blendet tragische Valeurs keineswegs aus, ohne jedoch dem Publikum die Freude am Theaterbesuch zu nehmen. Wenn Pedro Almodóvar im Parkett gesessen hätte, wäre er wohl zufrieden gewesen.

Nächste Termine: 1. und 19. Oktober, 21. und 22. November 2014

http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/frauen-am-rande-des-nervenzusammenbruchs/




„Zeitgenössische Programmierung“: Rückblick auf die Triennale-Ära von Heiner Goebbels

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Die Triennale geht zu Ende, in die Bochumer Jahrhunderthalle kehrt Ruhe ein Bis 2015 Johan Siemons kommt (Foto: Ruhrtriennale/Jahrhunderthalle Bochum)

Es ist – das Ende. Der Platz vor der Jahrhunderthalle wirkt verlassen, hinten bei den Kühlbecken werden letzte Kulissen von „Neither“ in Container verladen. Man kann das Rund des Dampflokkessels erkennen, das in Wirklichkeit eben doch bloß schwarz angestrichenes Sperrholz war. Die Ruhrtriennale 2014 geht zu Ende.

Am Sonntag (28. September) ist in Bochum Schluß mit dem Royal Concertgebouw Orkest. Auch endet, was noch wichtiger ist, die Drei-Jahre-Intendanz von Heiner Goebbels. Er wird sich wieder seiner Professur für angewandte Theaterwissenschaften in Gießen widmen und komponieren. Johan Siemons ist, wie berichtet, sein Nachfolger. Und deshalb war die Abschluß-Pressekonferenz am Mittwoch nicht nur eine Spielzeit-Bilanz, sondern eine der Ära Goebbels, die von 2012 bis 2014 währte.

Drei Jahre Heiner Goebbels. Als sein Vorgänger Willy Decker das Zepter übergab, viele werden sich noch erinnern, fragte man Goebbels natürlich nach einem Konzept. Decker hatte da ja wuchtig vorgelegt und in seinen drei Jahren drei Weltreligionen zu den Zentralthemen gemacht, Judentum, Islam und Buddhismus. Goebbels jedoch schien kein Thema zu haben und wurde am konkretesten stets mit dem, was er nicht vorhatte: Keine religiös-philosophisch grundierten Rekonstruktionen des Welt- und Kunstgeschehens, keine systematischen Begrenzungen der Kunstformen, keine Imperative. Stattdessen: Kunst am äußersten Rand, Kunst, von der nicht alle glaubten, daß sie noch rezipierbar sei. Das gar nicht so erwartungsfrohe Publikum drückte sich bisweilen auch bösartiger aus: Minderheitenprogramm, esoterischer Firlefanz, viel heiße Luft in sündhaft teuren Produktionen.

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Die Intendanz von Heiner Goebbels ist zu Ende (Foto: Ruhrtriennale)

Heute muß man sagen: Goebbels hat tolle Programme gemacht. Unvergeßlich bleibt in seinem ersten Jahr John Cages „Europera“, ein Theaterguckkasten mit Schiebekulissen, wie man ihn sich in früheren Zeiten vor die Augen hielt, um die Tiefe eines Raumes im Modell zu erfahren, eine frühe 3D-Animation. In Bochum hatte der Guckkasten Hallendimension bekommen, hunderte Helfer schoben und zogen die scherenschnitthaften Elemente auf den verschiedenen Tiefenebenen ins Bild und wieder hinaus, und dem Publikum gab man noch die Botschaft mit auf den Weg, daß dies keineswegs eine Opernadaption darstellte. Es sei sinnlos, eine bekannte Handlung wiedererkennen zu wollen, hier erfahre das europäische Opernwesen zu den sparsamen Klängen von John Cage in Gänze seine Zerlegung.

Provokation? Ja, auch. Doch der Abend war grandios. Es war grandios, eine radikale Idee so hemmungslos materialisiert auf der Bühne zu sehen.

Keine Bange, jetzt werden nicht alle Produktionen durchgehechelt, die der Erwähnung würdig wären. Erinnert sei auf jeden Fall aber doch an die hoch emotionale, tief zu Herzen gehende Einrichtung von Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ im Jahr darauf. Robert Wilson führte Regie und spielte selbst mit. Partnerin und „Mädchen“ war Angela Winkler, das ganze fand vor eigens gezimmerten Zuschauerrängen statt, die eine Art vierseitigen Trichter bildeten und an deren oberem Rand sich rundherum die Musiker positioniert hatten. Dolby surround war nichts dagegen. Aber war das alles nötig für dieses kleine Zweipersonenstück?

Und was für ein wunderbarer Wahnsinn war Harry Partchs Glasschlaginstrumentenladen, in dem uns sein (tschuldigung) Kitschstück „Delusion of the Fury“ mit ziemlich voraussehbarem Soundtrack vorgespielt wurde! Zweimal teuer, zweimal ganz großes Theater.

Kommen wir zum Jahr 2014. Die beste Inszenierung der Jahrhunderthalle, also des Gebäudes selbst, war bisher wohl 2006, in der Ära Flimm, Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ in der Regie von David Pountney. Hier war die Bühne (je nach Blickwinkel) wenige Meter tief und einige hundert Meter lang oder umgekehrt, und das Publikum fuhr auf schienengebundenen Zuschauerrängen an dieser Bühne hin und her, immer dorthin, wo gerade etwas los war. Hier wurde das Stilmittel Kamerafahrt für die Bühne auf atemberaubende Art zur „Publikumsfahrt“ adaptiert. Und man „er-fuhr“ die riesige Halle.

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Furchterregend, jetzt im Container: die Lokomotive aus „Neither“. (Foto: Ruhrtriennale)

Wie gesagt: Überzeugender hat bisher keine Inszenierung die Riesendimensionen der Jahrhunderthalle zelebriert als nämliche „Solaten“. In dieser Triennale-Spielzeit jedoch ist ihnen Konkurrenz erwachsen. „Neither“ mit der Musik von Morton Feldman und dem extrem sparsamen Text von Samuel Beckett kann mit Fug für sich beanspruchen, es mindestens ebenso gut gemacht zu haben. Hier durchleuchten starke Scheinwerfer an einem Autokran das glasdurchwirkte nächtlich-schwarze Dach der Jahrhunderthalle und machen so deren schiere Größe ebenso sichtbar wie ihre Architektur, die zwischen industrieller Zweckmäßigkeit und schönem Gleichmaß Charakter zeigt. Da sich die Außenstrahler am Autokran mitunter auch heftig – choreographisch – bewegen, haben sie einen großen Anteil am Spielgeschehen. Überhaupt muß man „Neither“ eine der bedeutendsten Produktionen dieses Jahres nennen, allein schon wegen des (wiederum) erheblichen materiellen Aufwands inklusive fahrender Dampflok und fahrbarer Tribüne.

Nicht weniger grandios war der opulente Opener „De Materie“ in der Rege des Intendanten, alles vom Feinsten, aus dem Vollen geschöpft, teuer und schön. Als Komponist schließlich brachte Goebbels sich noch mit den 1994 uraufgeführten „Surrogate Cities“ in Erinnerung, in Duisburg naheliegenderweise mit der „Ruhr“-Version. Steven Sloane dirigierte die Bochumer Symphoniker, die Sängerin Jocelyn B. Smith und vor allem der „virtuose Vokalist“ David Moss bleiben in dankbarer Erinnerung. (Weniger die wuselige Chreographie von Mathilde Monnier, die mit der Aufbietung von 140 Freiwilligen aus der Region zwar unbedingt eine Fleißleistung ist, aber zu keinem Zeitpunkt mit der Musik kraftschlüssig zusammenwuchs.)

Endlos könnte man aufzählen, doch was nützte es? Unbestreitbar waren die Stücke, deren Auswahl Heiner Goebbels sehr nüchtern „Zeitgenössische Programmierung“ nennt, die wichtigsten Produktionen seiner Intendanz. Sie erbrachten einen unerwarteten Strauß von Kunsterlebnissen, unvergeßlich in seiner Einmaligkeit. Und in einer solchen Qualität wahrscheinlich nicht wiederholbar. Glücklich, wer dabeigewesen.

Nachklapp

Bei Bilanzpressekonferenzen wird in der Regel eine Erfolgsbilanz gezogen. Festivals und Spielzeiten sind immer erfolgreich, wenn nicht größte Katastrophen dies verhinderten. So war auch diesmal nur Gutes zu vernehmen, beginnend bei über 90-prozentiger Auslastung der Plätze und sich fortsetzend bei formidablem Echo der Medien und der Fachwelt.

Deutlich wird aber auch wieder, daß Triennale-Kunst teuer ist. 14 Millionen betrug der Jahresetat, Goebbels konnte in seinen drei Jahren mithin 42 Millionen ausgeben. Das ist viel Geld, vor allem auch mit Blick auf das allgegenwärtige deprimierende Geknappse bei anderen Kultureinrichtungen. Aber Kunst muß nicht billig sein, und der Versuch, gute Kunst abseits der ausgetretenen Pfade zu machen, kann noch teurer werden.

Warum also eine Triennale? Weil wir es uns – als Gesellschaft – wert sind, könnte man vielleicht sagen. Und erst im zweiten Satz auf die positiven wirtschaftlichen Wirkungen eines Festivals wie der Ruhrtriennale für die Region hinweisen, auf internationale Strahlkraft und Imageverbesserung.

www.ruhrtriennale.de

 




Die Leiden des Unternehmers: Peter Handke in Bochum

Foto: Pinetzki

Foto: Pinetzki

„Egal was du machst – mach das einzig Wahre“, spricht Unternehmer Hermann Quitt resigniert und bleibt einfach sitzen, während die Drehbühne ihn weiter und wegdreht. Mit diesem Werbespruch einer Brauerei endet in Bochum Peter Handkes „Die Unvernünftigen sterben aus“.

Wäre es nach Handke gegangen, hätte Protagonist Quitt den Abend nicht überlebt – im Original schlägt Quitt seinen Kopf so lange gegen einen Fels, bis er reglos liegen bleibt. Das Überleben aber, soviel wird klar, ist für den erfolgreichen, aber an sich selbst scheiternden Unternehmer nicht unbedingt die gnädigere Variante.

Vor zwölf Jahren stand Handkes Stück über den unglücklichen Kapitalisten Quitt zum letzten Mal auf dem Bochumer Spielplan, damals in einer Inszenierung des Publikumsschrecks Jürgen Kruse. Der junge Regisseur Alexander Riemenschneider (Jahrgang 1981), der die Premiere in den Kammerspielen verantwortete, verstörte mit seiner Inszenierung wohl niemanden mehr.

Unternehmer Quitt (Matthias Redlhammer) steht bei ihm am Rande des Burnouts. Er verabredet mit seinen Mitbewerbern ein Kartell, hält sich jedoch an keine Absprache und ruiniert seine Geschäftspartner. Antrieb ist jedoch weder Gier noch Bosheit: Quitt scheint sich mit seinem Handeln selbst strafen zu wollen. Voller Ekel liefert er sich den Regeln des Kapitalismus bis zum bitteren Ende aus. Handelt er nun vernünftig oder unvernünftig, indem er sich der Logik des ökonomischen Systems konsequent unterwirft? Klar ist nur: Auf die Vernunft berufen sie sich alle in diesem Stück.

„Die Unvernünftigen sterben aus“ ist eigentlich ein (Geschäfts-)Beziehungsdrama, das Psychogramm einer Gesellschaftsschicht, in der Menschen immer nur Mittel zum Zweck sind. Da ist Diener Hans (Roland Riebeling mit blasiertem Blick), der als Quitts Sparringpartner bezahlt wird. Da sind die Unternehmerfreunde (Bernd Rademacher, Nils Kreutinger, Kristina Peters) und der Unternehmenspriester (Marco Massafra), denen es weder mit erotischen noch mit rhetorischen Manipulationen glückt, Quitt wieder auf Spur zu bringen. „Du ruinierst unseren Ruf, weil du dich genauso gebärdest, wie sich Otto Normalverbraucher einen Unternehmer vorstellt“, appellieren sie verzweifelt.

Und da ist ihr Widersacher, Kleinaktionär Kilb. Daniel Stock gibt ihn als dynamischen Systemkritiker, der mit seinem Engagement ständig mit voller Wucht ins Leere läuft. Mit großen Augen steht er wie ein Maskottchen stets am Rande des Geschehens, darf alles mithören und sehen – in der sicheren Gewissheit der Unternehmer, dass er eh nichts ausrichten können wird.

Geschäftliches und Privates sind hier untrennbar miteinander verzahnt; das zieht sich bis in Bühne und Kostüme fort: Quitt trägt Strickjacke zu Anzug und Krawatte (Kostüme: Lili Wanner), und die Drehbühne besteht aus zwei exakt gleichen Zimmern, die in ihrer modernen Gesichtslosigkeit gleichermaßen Vorstandsbüro und Wohnzimmer sein könnten (Bühne: David Hohmann).

Dann und wann geistert Quitts Frau (Judith van der Werff) durch die Zimmer und spielt die Rolle, die Handke ihr in diesem Drama zugedacht hat: keine, abgesehen vom Plappern, Kichern, Posieren.

In dieser durchökonomisierten Welt, in der Migranten „unsere Importe aus südlichen Ländern“ heißen und  Werbung als Lebenshilfe durchgeht, erinnern nur mehr kleine, Tic-artige Ausbrüche und Verrücktheiten daran, dass hinter diesen Unternehmerfiguren Individuen, Menschen stecken. Quitt zumindest scheitert daran, sich zu befreien. Desillusioniert erkennt er: Selbst wenn er es denn täte, das „einzig Wahre“ – dann folgte er doch nur wieder den Regeln der Ökonomie. Es gibt eben kein wahres Leben im falschen. Was daraus folgt, bleibt auch bei Riemenschneider offen.

 Weitere Termine

(Der Text entstand für den Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Rache ist auch keine Lösung – ein begeisternder „Orest“ im Bochumer Prinzregenttheater

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Schwarz ist die Heimaterde, rot das Blut – die neuen Herausforderungen haben Orest (Alexander Ritter) gezeichnet. (Foto: Martin Kaufhold/Prinzregenttheater)

Ein König, eine Königin, eine Tochter – der größte Teil des Personals steht schon am Bühnenrand, wenn das Publikum eintrifft. Nur einige Papierbahnen, die auf dem Boden liegen oder von der Decke hängen, deuten die Spielstätte zwischen den Rängen an, einziges Möbel im Bild ist ein Ledersessel. In großer Kargheit und strenger Fokussierung erwartet uns die Tragödie. Das Bochumer Prinzregenttheater zeigt „Orest“.

Orest, zur Erinnerung, Prinz aus dem antiken Mykene, wird nach seiner Rückkehr von Schwester Elektra dazu veranlasst, Stiefvater und Mutter zu erschlagen, weil die das Leben ihrer beider Vater auf dem Gewissen haben. Doch Volk und Gottheit akzeptieren die Bluttat nicht, den königlichen Geschwistern droht die Hinrichtung. Onkel Menelaos und Tante Helena sind auch keine Hilfe.

Die Mordtaten reihen sich, die Erdgeister zürnen. Vergebung und Erlösung, die den Wahnsinn stoppen könnten, sind nicht in Sicht. Einige wenige Videoeinblendungen am Ende des Stücks zeigen aktuelle Bombardierungen in arabischen Bürgerkriegsgebieten und sollen wohl andeuten, dass desaströses Rachedenken bis in unsere Zeit hinein seine Fortsetzung findet. Leider kein abwegiger Gedanke.

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Familienbild mit Mutter (von links): Orest (Alexander Ritter), Klytaimnestra (Hella-Birgit Mascus), Chrysotemis (Anna Purwa). (Foto: Martin Kaufhold/Prinzregenttheater)

Auch wenn der Titel des Stücks ein wenig abgespeckt hat, wenn in Bochum nur noch „Orest“ statt „Orestie“ gegeben wird, weckt er doch tiefe Ehrfurcht. Bedeutende Regisseure haben die tragische Geschichte des Atriden-Prinzen und seiner familiären Entourage nach den Übersetzungen von Sophokles, Aischylos oder Euripides in mitunter mehrtägigen Inszenierungen auf die Bühne gestemmt.

Und nun macht sich das kleine Prinzregenttheater anheischig, den ganzen Stoff in spärlicher (wiewohl stimmiger) Kulisse und gerade einmal hundert Minuten zu erzählen, zuzüglich Pause. Und das nicht als Klamauknummer à la „Shakespeares sämtliche Werke leicht gekürzt“, sondern als präzise, konzentrierte Analyse dessen, was beim Stamme der Atriden in die Katastrophe führte. Und vielleicht auch, was über den Einzelfall hinausweist.

Den Text für die neue Produktion des Prinzregenttheaters lieferte – das Programm spricht viel zu bescheiden von einer „Bearbeitung“ der antiken Vorlagen – John von Düffel, ausgewiesener Dramatiker mit erheblichem Renommee. Sein Text mit den prägnant kurzen, deutlichen Sätzen, die gleichwohl noch antikes Versmaß spüren lassen, ist ein radikaler Gegenentwurf zu den schmuckreichen, unendlich gewundenen und in hoher Emotion vorzutragenden (wenngleich oft auch sehr schönen) älteren Übersetzungen, die dem heutigen Publikum den Zugang zu Antikenstoffen nicht eben erleichtert – sofern Theater sich überhaupt noch die Mühe der Textvermittlung macht. In der kongenialen Umsetzung durch Regisseurin und Hausherrin Sibylle Broll-Pape sind seine Zeilen ein ausgesprochener Glücksfall.

Nicht zuletzt diesem „modernen“ Text ist es zu verdanken, dass die kompakte Nacherzählung des blutrünstigen Geschehens ihre Charaktere in unerwarteter Individualität zeichnet. Wir begegnen einer keineswegs verbrecherisch sich wähnenden Klytaimnestra (Hella-Birgit Mascus), die Verständnis für den Mord an ihrem Gatten Agamemnon einfordert, weil der (warum wird nicht klarer) es besser nicht verdient habe; wir erleben Orest (Alexander Ritter) als unglücklichen Zauderer und seine Schwester Elektra (Magdalena Helmig) als Aufwieglerin, deren Hass pathologische Züge zeigt. Stephan Ullrich gibt Aigisthos wie Menelaos als zynischer Machtmensch, Ana Purwa gefällt in der Rolle der kleinen Schwester, die das Richtige sieht und benennt, es aber nicht durchsetzen kann. Fünf Personen – mehr braucht es hier nicht.

Auf unseren Bühnen sind solche konzentrierten, der Schauspielkunst verpflichteten Inszenierungen selten geworden. Es ist dies die letzte Saison der Theaterleiterin Sybille Broll-Pape, die ab 2015 Intendantin in Bamberg wird. Das ist ein Grund mehr, die jüngste Produktion des Prinzregenttheaters nicht zu versäumen.

Herzlicher, anhaltender Applaus.

Weitere Vorstellungen: 23. September, 19.30 Uhr. 3. Oktober, 19 Uhr. 4. u. 31. Oktober, jeweils 19.30 Uhr.

www.prinzregenttheater.de, Tel. 0234 – 77 11 17

 




Aufstand, Entschleunigung, Dunkelheit – „I am“ von Lemi Ponifasio bei der Ruhrtriennale

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Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Dunkel ist es in der Jahrhunderthalle, aber nicht dunkel genug. Der Anfang verzögert sich um runde 20 Minuten, weil noch zu viel Licht durch die Scheiben hinter der Bühne dringt. Dabei ist der Beginn von Lemi Ponifasios Stück „I am“ eh schon auf 20:30 Uhr gelegt worden. Doch erst kurz vor neun geht’s los.

Wenn es losgeht, heißt das aber nicht, daß es auf der Bühne schlagartig heller würde. Die Personen agieren im letzten Schein des dahindämmernden Tages, wandeln auf dem First der schrägen Ebene, die den Bühnenhintergrund abgibt, quellen in großer Langsamkeit links und rechts davon auf die Bühne. Womit ein erstes, sehr zentrales Element dieses Abends genannt ist: Langsamkeit.

Das Programmheft spricht zwar sehr viel vornehmer von „Entschleunigung“, doch gemeint ist das gleiche. Abgesehen von einigen schnellen und aggressiven Kampfmotiven spielt sich das Bühnengeschehen in Langsamkeit ab, die nicht quälend zu nennen schwer fällt. Am ehesten ist sie noch zu Beginn zu ertragen, wo Bilder der Bühne sich mit der assoziativen Maschinerie im Kopf des Zuschauers und der Zuschauerin synchronisieren müssen. Das funktioniert auch recht gut; es ist nicht so, daß die Dinge gänzlich unverständlich blieben, wenngleich so etwas wie faktische Eindeutigkeit sich nicht ergibt und wohl auch nicht erwünscht ist.

Doch wenn das Geschehen seinen Lauf nimmt, wenn beispielsweise die endlos lange (und in unverständlicher Sprache vorgetragene) Rede eines männlichen Führers, in deren Verlauf dieser sich anscheinend vom redlichen politischen Ankläger zum gewalttätigen Demagogen wandelt, einige Zeit später mit einem weiblichen Pendant seine kaum weniger zeitraubende Entsprechung findet, dann dehnt sich das schon. Dann fängt man an, die Sitze unbequem zu finden, die Funktionsfähigkeit der Armbanduhr anzuzweifeln und sich nach dem künstlerischen Mehrwert des ganzen zu fragen.

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Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Verstörenderweise beginnt der Abend mit der deutschen Nationalhymne, die etwas verzerrt und verknistert von einem Plattenspieler im Off kommt.  Aha, es geht um Migrantenschicksale im reichen Deutschland, denkt man. Doch man irrt, wie einem das Programmheft verrät. Dort steht sinngemäß, daß dieser Abend auch so etwas wie eine Gedenkfeier für die 20 Millionen Toten des Ersten Weltkrieges sei, daß dieser Krieg auch die Pazifikinseln nicht verschont habe, die seinerzeit zu einem kleinen Teil deutsches Kolonialgebiet waren und „Kaiser-Wilhelm-Land“ hießen.  Deshalb also ganz am Anfang „Deutschland über alles“, ein Intro mit Bitternote, denn es kündigt auch Aufstand und blutige Niederschlagung an.

Während der nämliche Redner an der Rampe seine unverständliche Rede hält, schieben hinter ihm gebeugte Schattengestalten vor dunklem Bühnenhintergrund lorengleiche schwarze Quader (Särge?) von rechts nach links. Bald wird sich das Volk nach seinen Kommandos auf dem Boden wälzen. Und er wird selbst dann noch schreien, wenn sich alle (nach links) von der Bühne fortgewälzt haben.

Im weiteren Verlauf ändert sich der Sprachduktus des Geschehens. Den brutalen Schreien des Redners folgen aus dem Off scheu vorgetragene Selbstbekundungen einer jüngeren Männerstimme in der Ich-Form und in englischer Sprache. Mit moderner Projektionstechnik werden sie zudem in einer Art Schreibschrift auf die Hallenwand hinter der Bühne projiziert. Doch bleiben sie trotz kombinierten Schrift- und Sprachvortrags überwiegend unverständlich. Und wiederum müssen wir annehmen, daß das gewollt ist, denn in „De Materie“, der Eröffnungsproduktion der Ruhrtriennale, hatte uns Intendant Heiner Goebbels vorgeführt, mit welch brillanter Projektionstechnik Textzeilen in das szenische Geschehen zu integrieren sind, wenn man es denn will. Hier will man nicht, auch wenn, wie wiederum dem Programmheft zu entnehmen ist, Texte von Heiner Müller und Antonin Artaud zum Vortrag gelangen. Bei aller Unverständlichkeit bleibt aber doch hängen, daß neben dem Schicksal der Völker auch so etwas wie die Entwicklung einer Persönlichkeit vorgeführt wird.

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Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Zu den wenigen Requisiten der Produktion gehören Gummihandschuhe, weiße Nelken und ein Schießgewehr, und gegen Ende liegt einer der muskulösen, tattooverzierten Mimen in Jesuspose auf dem schrägen Bühnenhintergrund und kommt auch nicht mehr hoch und wird, wenn er schließlich nur noch still daliegt, von einem sehr gelenkigen Vierfüßler mit Eiern beworfen. Christentum? Folter? Urzustand?

Zugegeben, mit der Zeit fällt es immer schwerer, bei all den langsam sich auf- und abbauenden Bildern stets die Sinnfrage zu stellen. Es bricht das Gefühl sich Bahn, es hier mit Kryptifizierungen um ihrer selbst willen zu tun zu haben, mit dem Bestreben, Sachverhalte ohne Not zu verrätseln, einzig aus dem Drang, ein schwer begreifliches und deshalb hochwertig wirkendes Kunstprodukt zu erstellen. Daß der Autor dieser Performance Lemi Ponifasio („Konzept, Bühne, Choreographie, Regie“) aus Samoa stammt und von dort auch seine MAU-Company mitgebracht hat, macht diese Tendenz nicht eben erträglicher. Allerdings werden durch die Herkunft von Stück und Autor manche Elemente verständlicher: die Ausgebeuteten, der Diktator, die Ringkämpfer mit ihren nackten Oberkörpern, die „Volksmassen“ mit ihrer „asiatischen“ Gruppendisziplin.

Preisen kann man die Choreographie, die in großer formaler Strenge starke Bilder in schwarz-weiß-grauen Einfärbungen erschafft, die das Spiel des Auftauchens und Verschwindens in Dunkelheit souverän beherrscht, die (vor allem in den letzten Bildern) mit großformatigen Rückprojektionen und geneigten Projektionsflächen (welche die Darsteller vor diesen Flächen als Schattenrisse erscheinen lassen) zu operieren weiß.

Nicht preisen soll man das laute und sehr laute Gebrummel der Lautsprecher sowie die technischen Kreischgeräusche, die dem Publikum in Permanenz die Wichtigkeit des Geschehens um die Ohren hauen.  Und obwohl es sich natürlich verbietet, dem Künstler zu sagen, wie er seine Arbeit machen soll, hätte man sich ab und zu eine kleine inhaltliche oder formale Brechung sehr schön vorstellen können.

Das Triennale-Publikum schließlich zeigte sich höflich. Nur wenige Zuschauer verließen während des Spiels die Halle, allerdings setzte der Exodus nach den ersten Verbeugungen des Ensembles schlagartig und massenhaft ein. Bis auf die üblichen Jauchzer blieb der Beifall verhalten.

Jahrhunderthalle Bochum. Termine: 30., 31. August, 20:30 Uhr. Intro 19:45 Uhr. Karten zwischen 20 und 40 Euro. www.ruhrtriennale.de




Durch die Röhre ins Museum – Gregor Schneiders irritierende Raumplastik in Bochum

Zugegeben: Für ein paar Momente war ich wirklich etwas verunsichert und habe mich gefragt, wie schnell ich wohl aus dieser Röhre wieder herausfinde. 100 Meter können einem recht lang vorkommen. Doch das etwas flaue Gefühl hat sich dann sehr rasch wieder verflüchtigt.

„Ich freue mich, den Haupteingang des Museums zu schließen.“ Diesen seltsamen Satz hatte der international renommierte Künstler Gregor Schneider („Haus U r“) in einer Email an den Ruhrtriennale-Intendanten Heiner Goebbels geschrieben. Ein Museum schließen? Was geht denn da vor?

Man soll das Haus der Kunst jetzt bis zum 12. Oktober durch ein Röhrensystem betreten. Wer sich davor fürchtet, kann freilich auch ein Hintertürchen nehmen. Doch dann versäumt man eine ungewohnte Erfahrung.

Außenansicht: So führt die Röhre ins Bochumer Kunstmuseum. (Alle Fotos: Bernd Berke)

Außenansicht: So führt die Röhre ins Bochumer Kunstmuseum. (Alle Fotos: Bernd Berke)

Das Ereignis, von dem hier die Rede ist, trägt den schlichten Titel „Kunstmuseum“, sorgte heute für einen gehörigen Medien-Auftrieb am Bochumer Museum und dürfte dem weltoffenen Image der Kommune zuträglich sein. Wenn man es sarkastisch sieht, kann sich die Stadt Bochum beim Duisburger Oberbürgermeister Sören Link bedanken.

Link hatte bekanntlich höchstselbst verfügt, Gregor Schneiders Installation „totlast“ am Lehmbruck-Museum abzusagen. Fadenscheinige Begründung: Nach der Katastrophe bei der Loveparade (24. Juli 2010) sei Duisburg immer noch nicht bereit für solche, womöglich Angst auslösende Ereignisse. Dabei ging es hier beileibe nicht um einen gefährlichen Massenauflauf.

Bei der federführenden Ruhrtriennale sah man Links Entscheidung als einen Akt der Kunst-Zensur – und sann auf Abhilfe. Und siehe da: Bochum sprang für Duisburg ein – nicht mit einer Übernahme der „totlast“, sondern mit einer anderen Installation Schneiders.

In einem wahren Kraftakt haben Triennale, Museum Bochum und natürlich Gregor Schneider selbst binnen fünf Wochen dafür gesorgt, dass jetzt eine begehbare Raumskulptur (eben die Röhre) durchs Kunstmuseum Bochum führt. Tatsächlich kann man den Bau nun nicht mehr durch den Haupteingang betreten, sondern wird just durch jenes Röhrensystem geleitet, das Schneider quer durchs Museum gelegt hat.

Nur einzeln oder allenfalls zu zweit darf man die rund 100 Meter lange Röhre (Durchmesser 1,80 Meter) betreten, die nächsten Besucher werden dann erst im gemessenen Abstand hinein gelassen. Wirkliche Panik kann da schwerlich aufkommen.

Schild mit genauen Instruktionen für die Besucher

Schild mit genauen Instruktionen für die Besucher

Man geht also durch das Museum (oder quasi durch dessen Eingeweide), ohne es eigentlich zu betreten. Es ist unterwegs hie und da ziemlich dunkel, niemals aber so finster, dass man die Hand vor Augen nicht mehr sähe.

Gewiss: Man fühlt sich in der Röhre etwas beengt. An einer Stelle kam es mir ziemlich heiß vor. Vielleicht die Sonneneinstrahlung? Die Windungen des Weges führen auch schon mal in eine Sackgasse. Man muss auch einige Türen öffnen und betritt schließlich noch ein paar rätselhafte Räumlichkeiten. Soll man jetzt noch mehr verraten? Oder sollte nicht lieber jede(r) Besucher(in) eigene Erfahrungen machen?

Im Inneren der Röhre...

Im Inneren der Röhre…

Keine Angst: Niemand wird dort drinnen wirklich allein gelassen. Es gibt zwischendurch mehrere Notausgänge und Leute, die an beiden Enden der Röhre aufpassen. Allerdings beschleicht einen zwischendurch auch das zwiespältige Gefühl, man werde insgeheim überwacht.

Und wie steht’s mit dem künstlerischen Mehr- und Nährwert?

Der Kunstkurator Veit Loers schreibt, Gregor Schneider unterwandere mit dieser Installation die „Rolle des Besuchers im Kunstmuseum als die eines Bild-Voyeurs“. Und: „Die Röhren-Expedition ins Museum fördert eher den Albtraum als das Bildungserlebnis.“

Licht am Ende des Tunnels

Licht am Ende des Tunnels

Ja, wenn man recht ordentlich grübelt, mag man sich solche und andere Sätze zurechtlegen. Bochums Museumsdirektor Hans Günter Golinski, der es gleichsam als Ehrensache fürs Ruhrgebiet betrachtet, dass eine Revier-Stadt eine solche Installation beherbergt, sagt, es gebe für diese Arbeit viele Lesarten. Gut wär’s, wenn diese nicht ins völlige Belieben gestellt wären.

Hat man den Röhrentunnel bewältigt, kann man denn doch, schließlich im „richtigen“ Museum angekommen, Kunst auf herkömmliche Weise betrachten – beispielsweise derzeit die Sammlung des Bochumer Unternehmers Frank Hense (u. a. Mel Ramos, Mischa Kuball, Stephan Balkenhol). Soll ich ehrlich sein? Ich war irgendwie froh, als ich in der sonstigen Eingangshalle gleich ein Paarbildnis von Max Pechstein gesehen habe. Ob das auch eine Wirkung des Tunnels ist?

Künstler Gregor Schneider dankte der Ruhrtriennale und der Stadt Bochum für die Unterstützung.

Künstler Gregor Schneider dankte der Ruhrtriennale und der Stadt Bochum für die Unterstützung.

Die Irritationen (im Kulturjargon: „Verstörungen“), auf die es Gregor Schneider immer wieder anlegt, sind also vorübergehend. Ob man nach dieser temporären Erfahrung gleich die ganze Institution Museum nachhaltig anders betrachtet, bleibe dahingestellt. Ob man existenziell mit sich selbst konfrontiert wird, wäre gleichfalls zu erörtern, notfalls als Streitfrage. Manch eine(r) mag sich zunächst auch an einen kleinen Abenteuer-Parcours oder eine (fast leere) Geisterbahn erinnert fühlen, mithin an eher kunstferne Gefilde.

Aber eins steht unverbrüchlich fest: Auf diese Weise hat man ein Museum noch nie betreten!

Gregor Schneider: „Kunstmuseum“. – Raumskulptur im Kunstmuseum Bochum. Produktion der Ruhrtriennale in Kooperation mit dem Museum. 29. August bis 12. Oktober 2014. Di-So 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Tickets 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Weitere Infos: www.ruhrtriennale.de oder www.kunstmuseumbochum.de




Emsige Proben und guter Vorverkauf – in wenigen Tagen startet die Ruhrtriennale 2014

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Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord, zentraler Aufführungsort der diesjährigen Ruhrtriennale. Hier realisiert Heimer Goebbels „De Materie“. Foto: Matthias Baus/Ruhrtriennale

Intendant Heiner Goebbels probt schon seit Wochen „De Materie“ in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord, der Italiener Romeo Castellucci justiert rund 40 Maschinen, die für seine Inszenierung des Balletts „Le Sacre du Printemps“ „Knochenstaub zum Tanzen bringen“ sollen.

Der Schweizer Boris Nikitin hat in der Halle der Zeche Zwickel in Gladbeck eine Art Raum im Raum installiert, in dem seine sehr eigenwillige Musikproduktion „Sänger ohne Schatten“ nun zur Vorführungsreife gebracht werden soll. Und Katja Aßmann von den Urbanen Künsten Ruhr kann verkünden, daß die rund 50 polierten Aluminiumplatten, aus denen das interaktive Kunstwerk „Melt“ von Rejane Cantoni und Leonardo Crescenti besteht, auf dem Weg nach Duisburg seien. Kurz: Das vielgestaltige Kulturspektakel Ruhrtriennale schickt sich wieder an, ganz unübersehbar Wirklichkeit zu werden. Am 15. August geht es los.

Die Zahlen, die man jetzt schon hat, geben wie stets Anlaß zur Zuversicht. Von den rund 40 000 Eintrittskarten sind 75 Prozent bereits verkauft. Ausverkauft jedoch, so Goebbels, sei noch nichts, mit Ausnahme der Filmoper „River of Fundament“, die nur ein einziges Mal im Essener Kino Lichtburg gezeigt wird (31. August).

Die begehbare und wohl auch ein wenig bedrohliche Großskulptur „Totlast“ von Gregor Schneider wird, wie berichtet, nicht im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen sein. Die Schau wurde, grantelt Goebbels, „gecancelt oder zensiert, wie immer man das nennt“.

Man kann sicherlich auch nicht ganz ausschließen, daß das Duisburger Loveparade-Trauma bei dieser vermeintlich überängstlichen Entscheidung eine Rolle gespielt haben könnte. Bekanntlich springt kurzfristig Bochum ein und zeigt die „Totlast“ im Kunstmuseum. Start ist wegen des verspäteten Aufbaus allerdings nicht zu Beginn der Triennale, sondern erst am 29. August. Dafür läuft die Ausstellung länger, bis Mitte Oktober. Wird das unselige Hin und Her um Gregor Schneiders begehbare Skulptur ein juristisches Nachspiel haben? „Ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken“, sagt Goebbels.

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Ungefähr so soll es aussehen: Das interaktive Kunstwerk „Melt“ aus begehbaren Aluminiumplatten von cantoni crescenti. Bild: Leonardo Crescenti/Ruhrtriennale

Als die Videoinstallation „Eine Einstellung zur Arbeit“ für das Essener Folkwang-Museum geplant wurde, ahnte noch niemand, daß diese Schau zur postumen Würdigung des Ende Juli plötzlich verstorbenen Filmemachers und Videokünstlers Harun Farocki werden würde. Am 24. August sollten er und seine Frau Antje Ehmann in der Gesprächsreihe „tumbletalks“ zu Gast sein. Nun ist offen, wer an diesem Tag diskutieren wird.

Der Intendant wirkt ungeduldig, die Proben zu „De Materie“ warten. Geradezu beseelt ist er vom Stück des niederländischen Komponisten Louis Andriessen, das er als grandiosen Opener der Triennale auf die Bühne stellen wird. Nichts weniger als „eine kopernikanische Wende in der Oper“ sei dieses Werk, „in dem sich Verlust und Erfolg auf fast unerträgliche Weise begegnen“. Wegen der Probenarbeit schlafe er derzeit schlecht, fährt Goebbels fort, er sei auch letzte Nacht um drei Uhr wach gewesen und habe seine Mails gecheckt. Und da habe ihm Gregor Schneider rund 40 Fotos zu seinem „Totlast“-Projekt geschickt, offenbar schlafe auch der derzeit nicht gut. Man sieht an dieser Episode: In den letzten Tagen vor Festivalstart hat der Streß die abgebrühten Kulturprofis fest im Griff.

 

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Szene aus „manger“ von Boris Charmatz. Foto: Ursula Kaufmann/Ruhrtriennale

So startet die Ruhrtriennale 2014 am Wochenende 15./16./17. August:

Freitag (15.8.) ist ab 15 Uhr der interaktive Aluminiumsteg „Melt“ auf der Straße unter den Hochöfen im Landschaftspark  Duisburg-Nord begehbar. Nur wenn hier Menschen unterwegs sind, „lebt“ die Installation. Auch Radfahren soll auf der Alu-Piste möglich sein. Der Eintritt ist frei.

Um 17 Uhr rieselt zum ersten Mal „Le Sacre du Printemps“ in Duisburg über die Bühne (Musik: Igor Strawinsky, Inszenierung: Romeo Castellucci). Dauer 1. Stunde, Tickets 20 bis 30 €.

Um 19.30 Uhr hat in Duisburg das Mammutwerk „De Materie“ des Niederländers Louis Andriessen in der Regie von Festivalchef Heiner Goebbels Premiere. 1. Stunde 50 Minuten, Tickets 20 bis 80 Euro.

Am Samstag (16.8.) sind außerdem im Angebot:

Ab 12 Uhr die Videoinstallation „Eine Einstellung zur Arbeit“ des jüngst verstorbenen Harun Farocki und seiner Frau Antje Ehmann im Essener Folkwang-Museum.

Ab 10 Uhr die Filminstallation „Levée“ von Boris Charmatz und César Vayssié, ebenfalls im Essener Folkwang-Museum (Eintritt frei).

Die „freitagsküche“, die immer samstags stattfindet und in der im Anschluß an die gewichtigsten Aufführungen gegessen und getrunken, geschwärmt und diskutiert werden kann. Die erste „freitagsküche“ lädt am 16.8. nach „Le Sacre du Printemps“ im Landschaftspark Duisburg-Nord ein. Ticket 15 € (exkl. Getränke).

Als „Pas de deux mit der Musik von Arnold Schönberg“ ist Anna Teresa De Keersmakers Tanzproduktion „Verklärte Nacht“ ausgeflaggt. Ab 21 Uhr in der Jahrhunderthalle Bochum, 40 Minuten, Tickets zwischen 15 und 25 Euro.

Schließlich ist für 20 Uhr in der Zeche Carl in Essen das erste „Nachtkonzert“ angesetzt. 2 Stunden, eine Pause.

Am Sonntag (17.8.) geht das Spektakel weiter, um 12 Uhr ist im Essener Folkwang-Museum zudem die erste Diskussion der Reihe „tumbletalk“ angesetzt. Auf dem Podium sitzen dann Louis Andriessen und Heiner Goebbels.

So, das soll mal reichen. Das weitere Programm läßt sich in den mustergültigen Programmheften der Ruhrtriennale, die an allen Spielorten kostenlos erhältlich sind, oder im Netz nachlesen.

www.ruhrtriennale.de

Tel. 0209 / 60 507 100




„Bochum“ in Bochum – ein wehmütiges Singspiel mit Liedern von Herbert Grönemeyer

BochumTief im Wehesten, wo die Sonne verstaubt„…gibt es Theateraufführungen, die sind noch viel besser, als man glaubt. Die Rede ist von „Bochum“ in Bochum, genauer gesagt im Schauspielhaus Bochum.

Das Bochumer Ensemble belebt seit einiger Zeit mit großen Erfolg das Genre Singspiel neu. Die Qualität der „Tribute to Johnny Cash„-Inszenierungen hat sich mittlerweile revierweit herumgesprochen, die Inszenierung „Heimat ist auch keine Lösung“ riss das Publikum im letzten Jahr zu Begeisterungsstürmen hin und rührte nicht nur mich zu Tränen.

Seit der Spielzeit 2013/2014 zeigt das Haus nun „Bochum“, ein Singspiel von Lutz Hübner mit Liedern von Herbert Grönemeyer. „Bochum“ ist weit mehr als eine Würdigung des berühmten Sohnes der Stadt, „Bochum“ ist auch eine Reminiszenz an die Vergangenheit der Stadt, ein wehmütiger Rückblick, ein Abschied. Abschied von „diesem Handy-Hersteller, dessen Namen nicht genannt werden darf„, von „diesem Auto-Hersteller, dessen Name bald nicht mehr genannt werden darf„, wohl auch der Abschied vom „Pulsschlag aus Stahl“. Was der Stadt nebem dem Namen der Currywurst, „der nicht genannt werden braucht, weil ihn ohnehin jeder kennt“ bleibt, ist ungewiss. „Bochum“ zeigt nur den Abschied, keine Lösung, keinen Ausblick, nur die Wehmut, keinen Protest. Den findet man dann wohl eher im ambitionierten Detroit-Projekt.

Im Theaterstück selbst ist es der Abschied von einer Eckkneipe. Die Band spielt ein letztes Lied. Lotte, die gute Seele der Kneipe, räumt die letzten Gläser zusammen, das Bierfass ist leer. Im Morgengrauen werden die Abrissbagger anrücken. Roger, Ralf, Peter und Sandra sind Stammgäste, seit sie vor fast 30 Jahren nach ihrer Abiturfeier mehr oder weniger zufällig in dieser Kneipe versackten. Unglücklich versuchen sie, den Moment des Abschieds noch hinaus zu zögern. Lotte spendiert ihnen schließlich die letzten Schnäpskes, für jedes Jahr einen.

Und so trinken sie „auf die alten Zeiten. (Denn worauf sonst sollte man in Bochum trinken können?)“. Der Alkohol entfaltet den „Fallschirm in der Not„, die Vier und Lotte beschwören Erinnerungen herauf, alte Träume, aber auch alte Gespenster. Worte alleine reichen nicht, ihre Gefühlslage zu beschreiben und so wird „das alte Liedgut“ rausgekramt und inbrünstig gesungen. Vom Mensch(en), vom Vollmond, von der Zeit, als sich was drehte, von Männern, von Flugzeugen im Bauch und natürlich von Bochum.

Die musikalische Leitung liegt wie oft in Bochum bei Torsten Kindermann, somit quasi beim legitimen Nachfolger Grönemeyers. Im Zusammenspiel mit der an jedem denkbaren Instrument versierten Band wirken die Lieder überraschend und eigenwillig arrangiert. Aber wenn man sich auf die ungewohnten Arrangements einlässt, sind sie großartig. Das Stück „Bochum“ als Ballade funktioniert wunderbar – wer hätte das gedacht? Ausgefallene Percussion, gelegentlicher A-cappella-Gesang – man entdeckt die altvertrauten Stücke neu, plötzlich findet man sogar an Liedern, die man nie mochte, großen Gefallen.

Regisseurin Barbara Hauck inszeniert behutsam, an keiner Stelle überfrachtet oder kitschig, den Schauspielern viel Raum lassend. Lächelnd entdeckt man kleine Würdigungen des dramaturgischen Aufbaus eines Grönemeyer-Konzerts – das Steiger-Lied vor „Bochum“, als letztes Lied „Halt mich“. Und wie so oft in Bochum möchte man die großartigen Schauspieler gar nicht mehr von der Bühne lassen. An und für sich möchte man gar keinen hervorheben aus dieser Riege, aber ich bin jedes Mal wieder begeistert von der Bühnenpräsenz des Michael Schütz und meine persönliche „Entdeckung“ des Abends war Günter Alt. Selten hat eine Bühnenfigur so viel Sympathie ausgelöst.

Verdiente standing ovations gab es nach der Aufführung, die Künstler revanchierten sich gerne. Unter anderem „Bochum“ gab es nochmal, diesmal als gewohnte rockige Version, die Zuschauer mitklatschend und singend. Es mag Einbildung gewesen sein, aber nach den jüngsten verbalen Entgleisungen des Oberbürgermeisters der Landeshauptstadt, hörte sich das gemeinsam gegröhlte „Wer wohnt schon in Düsseldorf“ noch einen Tick inniger und trotziger an als sonst.

Drei Zugaben und ungezählte Vorhänge später findet man sich wieder, draußen vor der Tür und kann Lotte nur zustimmen: „Realität ist nur die kleine häßliche Schwester der Kunst„. Aber wenigstens wissen wir jetzt, was Glückauf auf englisch heisst: Luck up. Gesprochen, Lack ab. Das mag im Moment (noch) für Teile des Reviers gelten, für das Schauspielhaus Bochum auf gar keinen Fall.

„Bochum“ wird auch in der Spielzeit 2014/2015 noch auf dem Spielplan stehen. Termine und Informationen auf der Homepage des Schauspielhauses Bochum.




Es gibt ein Leben nach Opel – das Bochumer Detroit-Projekt

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Das Motto der Ausstellung weist, auf den Asphalt gesprüht, den Weg – jedenfalls manchmal. Foto: rp

Der Bus steht. Auf der anderen Spur geht es auch nicht schneller. Unter normalen Verhältnissen wäre die Strecke vom Exzenterhaus nahe dem Schauspielhaus zum Bergbaumuseum in zehn, fünfzehn Minuten zu schaffen, im freitagnachmittäglichem Berufsverkehr jedoch nicht. Doch Bochum hat viele hübsche Fassaden. Das wäre einem sonst vielleicht nie aufgefallen.

Eingeladen zur Rundfahrt im Bochumer Stadtgebiet haben das Schauspielhaus und „Urbane Künste Ruhr“. Zusammen haben sie in diesem Jahr das „Detroit-Projekt“ aus der Taufe gehoben, das an etlichen Stellen der Stadt Kunst präsentiert. Und alles hat irgendwie mit Opel zu tun, der Traditions-Automarke, die bald schon in Bochum keine Autos mehr bauen wird. Das Kunstprojekt ist nach der Stadt benannt, wo Opels Mutterkonzern General Motors sitzt, außerdem steht der Name für den dramatischen Niedergang, den die Schließungen der Autofabriken dort für die US-Stadt bedeuteten. So schlimm soll es in Bochum natürlich nicht kommen, auch wenn das Schlagwort von der „postindustriellen Gesellschaft“ gern und häufig Verwendung findet. Nein, die Unterzeile des Projekts wie auch eine ihrer Internetanschriften pochen auf den eigenen Weg: „This Is Not Detroit“, beziehungsweise www.thisisnotdetroit.de.

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„HOW LOVE COULD BE“ steht in flammendem Rot auf dem Förderturm des Bergbaumuseums. Eine Lichtkunst-Intervention des Briten Tim Etchells. Foto: Schauspielhaus Bochum

Allerdings sollen die künstlerischen Arbeiten durchaus das Postindustrielle reflektieren. Künstlerinnen und Künstler kommen aus Ländern, in denen es noch General Motors-Standorte gibt, aus Großbritannien, Polen, Spanien, den USA und natürlich weiterhin auch Deutschland.

Bevor der Bus sich in den Dauerstau begab, hatten sich seine Insassen im Exzenterhaus, das wie eine gigantische Nockenwelle aussieht, die Videoinstallation „The Pigeon Project“ des Polen Michal Januszaniec angesehen. „Das Tauben-Projekt“, so die Übersetzung, zeigt uns deutsche, polnische, deutsch-türkische „Taubenväter“ und läßt sie ausgiebig zu Wort kommen, erzählt vom Abwicklungsstreß bei Opel, läßt uns einer Schauspielerin zusehen, die mühsam einen vor Selbstbewußtsein strotzenden Text einstudiert, und verweist mit solchen Elementen unaufdringlich, aber schlüssig auf eine Zukunft, der soziale wie kollektive Gewißheiten zunehmend fehlen werden.

Aber ist das wirklich die Zukunft? Wird es wirklich so trostlos, wie Januszaniec behutsam andeutet? Jedenfalls ist die Arbeit im 13. Stockwerk des asymmetrischen Hochhauses zu besichtigen, was zum einen zwar 8 Euro Eintritt kostet, zum anderen aber einen grandiosen Blick über die Stadt bietet, die von hier oben aus überhaupt nicht hinfällig wirkt, sondern grün und vital und sehr ordentlich. Andererseits ist zu hören, daß sich die Vermarktung des Hauses schwierig gestalte – weshalb die 13. Etage für das Kunstprojekt noch zu haben war. Alles hat seine zwei Seiten.

Das Bergbaumuseum, endlich hat es der Bus geschafft, ziert eine Leuchtschrift. „How Love Could Be“ steht in roten (LED-befeuerten) Buchstaben oben am mächtigen Förderturm. Die Zeile, die der Brite Tim Etchells dort platziert hat, stammt aus dem ersten Song, der bei der legendären Detroiter Schallplattenfirma Motown 1961 herauskam: „Bad Girl“ von den Miracles. Denkanstoß: Bochum, Detroit, Liebe, Menschen… Die Museumsleute haben einen Rekorder mitgebracht und spielen den Song vor. Auf den Bänken vor dem Bergbaumuseum gucken die Leute irritiert.

Außerhalb der Bochumer City geht es zügiger voran. Im Viertel hinter der Jahrhunderthalle wurde eine ehemalige Schlecker-Filiale zum Kunstraum. Hier zelebrieren Chris Kondek, Christiane Kühl und Klaus Weddig mit grimmigem Humor das Scheitern einer Idee. Es ist ein Kunstwerk mit (erfundener) Geschichte: Das Hochglanz-Magazin „Reconquer“ beauftragte im Frühjahr 2014 eine renommierte Werbeagentur, die „sieben gelungenen Überlebensformen der geldlosen Gesellschaft (Tauschen, Klauen, Betteln, Besetzen, Jagen, Verzicht und Saufen)“ für eine fetzige Geschichte ins Bild zu setzen. Der Vesuch scheiterte völlig, das „Making of“ jedoch hinterließ Videos und Fotos, die nun hier, in der einstigen Schlecker-Filiale, gezeigt werden. Eine originelle und hintersinnige Idee, ganz ohne Frage; noch bemerkenswerter jedoch ist das Vorkommen von Humor, was in der zeitgenössischen Kunst ja sonst eher selten ist. Gleichzeitig aber wird im quasi ernsten Kern des Projekts auch viel Hilflosigkeit erkennbar angesichts des großen Rades, das diese Künstlergemeinschaft, das Elend der („postindustriellen“) Welt streng im Blick, gerne drehen würde. Wie kann man einer Gesellschaft noch helfen, in der wegen Streß immer weniger Schnaps getrunken wird?

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Hier ist einem nicht recht geheuer:“Der Keller“ des Polen Robert Kusmirowski. Foto: Schauspielhaus Bochum

Weiter geht die Tour zu juvenilen künstlerischen Interventionen im Stadtgebiet, zur Thyssen-Industriebrache, auf der eine Ein-Mann-Sauna steht, zum Prinzregent-Theater, wo im Keller (von Robert Kusmirowski) ein Toter liegt… Und immer wieder vorbei an großformatigen Bochum-Fotos, die an markanten Punkten im Stadtgebiet hängen. Sie stellen eine Auswahl aus dem Material dar, das beim Projekt „Mein Bochum – unsere Zukunft“ zusammenkam. 29 Motive hat Hans-Günter Golinski vom Bochumer Kunstmuseum daraus ausgewählt.

Befindet Bochum sich also jetzt im Detroit-Fieber, vibriert die Stadt im Rhythmus des Motown-Sounds, pilgern Heerscharen von Kunstliebhabern zu den Ausstellungsstätten? Eher wohl nicht. Die Standorte liegen weit auseinander, über die Erreichbarkeit scheinen sich die Veranstalter wenig Gedanken gemacht zu haben, sieht man einmal vom kostenlos angebotenen zweistündigen Fußmarsch „durch ausgewählte Arbeiten des Projekts“ ab. Touren mit dem Reisebus sind, wie erlebt, Glückssache, eine ÖPNV-Tour (welches Ticket?) findet sich in den Unterlagen nicht. Geführte Fahrradtouren sind wegen hoher Sicherheitsauflagen angeblich kaum genehmigungsfähig.

Eine Ausstellung für Kunst-Flaneure ist das „Detroit-Projekt“ aber auch nicht, weil die Öffnungszeiten einiger Standorte recht eingeschränkt sind und man dort, wo sie sich befinden, einfach nicht flaniert. Die Kunstwerke wiederum, sieht man einmal von der Leuchtschrift am Förderturm des Bergbaumuseums ab, sind so unauffällig,  daß sie es kaum schaffen werden, aus sich heraus Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Doch freuen wir uns auf die Spanier, die eingeladen wurden! Ab dem 23. Mai führen Tänzerinnen und Tänzer von Trayectos „choreographische Vermessungen“ in der Stadt durch, gibt es „Saludos de Zaragoza“ (Grüße aus Zaragossa) von der Gruppe Asalto im Bochumer Hauptbahnhof, fördert basurama „kollektive Freizeit und Pflege“ auf einem ehemaligen Fabrikgelände. „Esto no es un solar“ schließlich kündigt die Ankunft des Küchenmobils an, was immer das bedeuten mag. Jedenfalls klingt es recht vital. Am 29. Juni feiert das Detroit-Projekt sein Zukunftsfest, offizielles Ende ist am 5. Juli.

www.schauspielhausbochum.de

www.urbanekuensteruhr.de

www.thisisnotdetroit.de, Info-Hotline 0234 / 3333 5555




Klavier-Festival Ruhr beginnt mit Werken für die linke Hand – Gedenken an den 1. Weltkrieg

Die Pianisten Leon Fleisher (l.) und Nicholas Angelich sowie die Neue Philharmonie Westfalen mit Dirigent Dennis Russell Davies eröffneten das Klavier-Festival Ruhr 2014. Foto: Mohn/KFR

Die Pianisten Leon Fleisher (l.) und Nicholas Angelich sowie die Neue Philharmonie Westfalen mit Dirigent Dennis Russell Davies (r.) eröffneten das Klavier-Festival Ruhr 2014. Foto: Mohn/KFR

In der Geschichte des Klavier-Festivals Ruhr, wurzelnd im Klaviersommer, den Jan Thürmer 1984 in Bochum ins Leben rief, ist die Nutzung großer Industriehallen als Spielstätte zunächst kein Thema gewesen. Erst 2002 gab es die Premiere auf Zollverein in Essen, mit einer sensationellen Doppelvorstellung von George Antheils skurriler Maschinenmusik namens „Ballet mécanique“. Ein Jahr später folgte die Bochumer Jahrhunderthalle, das Festival wurde hier Teil der „Extraschicht“.

Dabei ist es kein Zufall, dass die neuen Podien erst so spät ins pianistische Rampenlicht rückten. 2002 ist das Gründungsjahr der Triennale, die ihre Theaterbretter vornehmlich in eben jenen Werkshallen der Kohle- und Stahlindustrie aufbauen wollte. Dafür bedurfte es allerdings zunächst einer millionenschweren baulichen Aufhübschung. So bekam etwa die Bochumer Jahrhunderthalle ein gläsernes Foyer. Und das Dach wurde ausgebessert, um den Regen fernzuhalten.

In diesem Ambiente wurde nun das diesjährige Klavier-Festival Ruhr eröffnet. Es war zu erfahren, dass der Vertrag des seit 1996 amtierenden Intendanten Franz Xaver Ohnesorg um fünf weitere Jahre verlängert wurde. Es war zu erleben, dass prasselnder Regen ein akustischer Störfaktor sein kann. Denn es handelt sich hier nicht um einen isolierten Konzertsaal. Nur gut, dass der Hagelschauer vor Beginn der Aufführung niederdonnerte, sonst hätte es wohl eine Zwangspause geben müssen.

Seit 2003 ist das Klavier-Festival bei der "Extraschicht" in Bochums Jahrhunderthalle präsent. Das lockt durchaus neue Publikumsschichten. Foto: -n

Seit 2003 ist das Klavier-Festival bei der „Extraschicht“ in Bochums Jahrhunderthalle präsent. Es lockt so durchaus neue Publikumsschichten. Foto: -n

Im Vorlauf des eigentlichen Aufführungs-Raumes durfte sich das Publikum übrigens einer erheblichen olfaktorischen Reizung stellen. Der Gestank gab durchaus Anlass zur Beschwerde. Wie denn auch das Imbissangebot im Foyer von der eher mageren Art war. Keine Frage, die Spielstätte mag ihren Reiz haben. Und das Ansinnen des Klavierfests, vor allem durch die „Extraschicht“ neues Publikum zu gewinnen, ist natürlich legitim. Doch die äußeren Bedingungen, der hauseigene Service zumal, sollten schon, soweit möglich, einen gewissen Standard erfüllen. Nun, für Herbst 2015 ist die Eröffnung der Bochumer Symphonie geplant – ein Konzertsaal als ernstzunehmende Alternative.

Musikalisch wurde die Jahrhunderthalle jetzt zum Schauplatz des Gedenkens an den 1. Weltkrieg. Diese „Urkatastrophe“ führte nicht zuletzt dazu, dass sich ein neues pianistisches Repertoire herausbildete, Klavierstücke für die linke Hand entstanden. Das war dem unglücklichen Umstand geschuldet, dass es Pianisten wie Paul Wittgenstein gab, die im Krieg den rechten Arm verloren hatten. Viele Komponisten schrieben für ihn Konzerte, aber auch Kammermusik. Manches davon gilt es neu zu entdecken. Eine Spurensuche, der sich das große Pianistentreffen nun annimmt. Zum Einstieg erklingen deshalb die Klavierkonzerte für die linke Hand von Sergej Prokofjew, mit Leon Fleisher als Solisten, und Maurice Ravel, gespielt von Nicholas Angelich.

Der rote Flügel, Markenzeichen des Festivals, vor der Bochumer Industriehalle. Foto: Wohlrab/KFR

Der rote Flügel, Markenzeichen des Festivals, vor dem Bochumer Industriedenkmal. Foto: Wohlrab/KFR

Fleisher geht das in seiner Struktur klassizistisch anmutende Werk Prokofjews behutsam an, in nuancierter Tongebung. Manches aber wirkt allzu zaghaft, der spöttische Biss fehlt, den diese Musik eben auch bietet. Schön ist dabei, dass die Neue Philharmonie Westfalen (in erweiterter Kammerbesetzung) mit Dirigent Dennis Russell Davies die Klangbalance hält, den Solisten trägt.

Düsterer, teils monumentaler, herber und fiebriger gibt sich das Ravel-Konzert. Die Jazzelemente mögen den Großstadtsound der wilden 20er wiederspiegeln, doch die vorangegangene Katastrophe wird nicht ausgeblendet. Solist Nicholas Angelich spielt entsprechend mit  packendem Zugriff, zudem elegant, teils rhythmisch pointiert.

Der Abend ist indes auch einer des Orchesters. Wie die Neue Philharmonie Westfalen Ravels „Rhapsodie Espagnole“ interpretiert, beseelt, leidenschaftlich, den Klangfarbenreichtum des Werks auf Schönste herausstellend, verdient allen Beifall. Und zu Beginn, mit Prokofjews Opern-Suite „Die Liebe zu den drei Orangen“, stürzen sich die Musiker mutig, manchmal allerdings allzu plakativ, ins Brachiale, Martialische.

Informationen: http://www.klavierfestival.de




Kleists „Amphitryon“ in Bochum: Von Göttern und Gatten

Ach, was für ein Schluss: Alkmenes bedeutungsvoller Seufzer am Ende des „Amphitryon“. Auf dieses letzte „Ach“ läuft alles hinaus, es ist der Höhe- und Wendepunkt – und für Alkmene der Beginn eines neuen Lebens mit einer bitteren Erkenntnis:  Der vergötterte Gatte ist in Wirklichkeit auch nur ein Mensch, der dem Idealbild selten gerecht wird. In den Bochumer Kammerspielen inszenierte Lisa Nielebock Kleists „Amphitryon“ ganz pur, klug komprimiert und temporeich auf seinen komischen Kern fokussiert.

Sascha Gross‘ Bühne macht dem Publikum schon zu Beginn klar, worum es geht: Um die Frage nach dem wahren Gesicht, dem wahren Wesen der Menschen – und Dinge. Eine riesige Spiegelwand dominiert den Bühnenraum. Sie steht auf Rollen, bald wird sie sich drehen und drehen, bis den handelnden Figuren und den Zuschauern alle Sinne verwirren. Auf der Rückseite der Spiegelwand sieht man ein stabiles, hölzernes Gerüst. Welche Seite die richtige ist, lässt sich nicht beantworten – Spiegel und Gerüst funktionieren nur zusammen.

Bei Amphitryon liegen die Dinge da schon komplizierter. Als der Feldherr der Thebaner von einer siegreichen Schlacht zurückkehrt, muss er erkennen, dass offenbar ein Doppelgänger ihm den Triumph des Sieges genommen und bereits am Vorabend mit Frau und Hof gefeiert hat. Gattin Alkmene, noch ganz berauscht von der Liebesnacht, kann und will nicht akzeptieren, dass sie den eigenen Gatten nicht erkannt haben soll, erfüllte er nach langer Abwesenheit doch genau ihre Sehnsüchte und Erwartungen.

Der Doppelgänger heißt Jupiter, gemeinsam mit seinem Götterkollegen Merkur ist er gekommen, um in Theben Herzen zu brechen und Verwirrung zu stiften. Oder kam er etwa, um den in Identitätsfragen etwas einfältigen Menschen eine Lektion zu erteilen: Du bist nicht nur, was du glaubst, sondern auch, was die anderen in dir sehen? Jupiters wahre Motive werden nicht ganz klar in der Inszenierung, die darauf abhebt, die Handlung – das Verwechslungsspiel – der Auflösung entgegen zu treiben, ohne sich von ihr treiben zu lassen.

In kurzweiligen, sogar fesselnden anderthalb Stunden kosten die Akteure jede Gelegenheit zum Witz aus: Während Alkmene und Jupiter in Amphitryon-Gestalt im Hintergrund Versöhnung feiern, wackelt und rumpelt die ganze Spiegelwand – und im Vordergrund pfeift Merkur  „Großer Gott, wir loben dich“,  sicher zur Erheiterung vieler Schüler, die diese Inszenierung hoffentlich erleben werden. Sie werden staunen, wie lebendig und modern fünfhebige Jamben klingen können.

Und die Schauspieler ziehen nicht nur sprechend alle Register. Marco Massafra als Amphitryon und Nicola Mastroberardino als Jupiter spielen die Kontraste zwischen ihren Figuren deutlich aus: Dieser eher ein pflichtbewusster, ernster Langweiler, jener ein draufgängerischer Charmebolzen. Therese Dörr zeigt, wie ihre Alkmene zwischen existenziellen Gefühlen hin und her geworfen wird: Wut und Glückseligkeit, Unsicherheit und Überzeugung, Liebe und Hass.

Extra-lauten Applaus erhielt in der Premiere Roland Riebeling als Amphitryons Diener Sosias. Seine komisch angelegte Figur bringt eine weitere Ebene in das Spiel mit Identitäten. Sosias erkennt als erster, dass die Götter Identitätsklau begehen und reagiert darauf höchst menschlich – als Wendehals, der blitzschnell bereit ist, die Seiten zu wechseln, und das sogar zu Recht: Schließlich dient er weniger einer Person als einem Funktionsträger.

Doch Menschen, sogar Götter wollen nun einmal um ihrer selbst willen geliebt werden. Ein klassischer Konflikt, der seit Kleists Zeiten nichts an Dramatik verloren hat.




Uraufführung in Bochum: Aus der neuen Arbeitswelt

Es ist die vielleicht banalste und zugleich wichtigste Frage: Wie soll ich leben? Banal, weil man das doch eigentlich wissen sollte. Und wichtig, weil es viele Menschen gibt, die sich diese Frage niemals stellen. Laura Naumann hat ein Stück über die Suche nach Antworten geschrieben. „Raus aus dem Swimmingpool, rein in mein Haifischbecken“ erlebte nun im „Theater Unten“ am Bochumer Schauspielhaus seine Uraufführung – es geht um Menschen, die suchen und um solche, die noch nicht wissen, dass sie auf der Suche sind.

Die junge Autorin, Förderpreisträgerin und Absolventin eines Studiengangs für kreatives Schreiben, mixt in ihrem fünften Stück Dialoge voller Schärfe und pointierten Spitzen mit Erzähl-Passagen, in denen die Figuren ihr Erleben aus der Ich-Perspektive schildern. Das gibt dem Stück Witz und Tiefe zugleich. Die temporeiche Inszenierung von Malte C. Lachmann wurde dem Text vollauf gerecht.

Auf der Bühne prallen Lebensentwürfe aufeinander, dass es funkt: Moana (Sarah Grunert) hat gerade ihren stressigen Job als Unternehmensberaterin begonnen und will alles richtig machen, um im Team für Paris zu landen: „Ich weiß, ich tauge zur Leadership.“ Ihre Mutter Christiane (Nicola Thomas) möchte auch alles richtig machen – allerdings nicht im Hinblick auf ihre Karriere als Nachrichtensprecherin, sondern auf eine bessere Welt. Dank der Nachrichten, die sie liest, könnten sich die Menschen schließlich ein Bild von der Welt machen und entsprechend handeln. Nur: Warum bleibt trotzdem immer alles beim Alten?

Höchst unterhaltsam streiten sich Mutter und Tochter um die Zukunft des Planeten, das richtige Business-Kostüm und die Badewasser-Temperatur. Moanas Freund, der Flugbegleiter Boris (Matthias Eberle), schneit zwischen seinen Flügen herein und vermittelt – er selbst ist familiär belastet und führt ein Leben wie auf der Flucht.

Unweigerlich steuert die Konstellation auf eine Katastrophe zu: Mutter und Tochter katapultieren sich selbst mehr oder weniger unbewusst aus der Bahn. Moana bricht sich bei einem Verkehrsunfall beide Arme, und ihre Mutter beschimpft das Nachrichten-Publikum live als passiv und verantwortungslos: „Ich werde Ihnen diese Scheiße nicht mehr vorlesen.“

Mit diesem Wendepunkt tritt Nikita (Torsten Flassig) in das Leben der drei. Nikita hat Moana beim Verkehrsunfall gerettet und zieht vorübergehend bei den Frauen ein. Ob Nikita Mann ist oder Frau, ob er oder sie einen Beruf hat, Familie oder einen Plan fürs Leben – nichts von alledem bekommen sie aus Nikita heraus. Nikita will sich nicht festlegen, sondern lebt vollkommen im Hier und Jetzt. Mit buddhahafter Gleichmütigkeit ist er einfach nur präsent – und schon projizieren die drei bedürftigen Mitbewohner ihre Sehnsüchte auf ihn.

Als Nikita plötzlich wieder verschwindet, wird allen dreien die große Leere in ihrem Leben erst richtig bewusst.

Im Gedächtnis bleibt unter anderem Moanas Monolog eines Anti-Gutmenschen: Boshaft engagiert, gänzlich unironisch und dabei sehr traurig erklärt Sarah Grunert als Moana, wie geil sie es findet, wenn auf Flügen viel CO2 in die Luft geblasen wird. Wie sie ohne schlechtes Gewissen Plastikflaschen ins Meer wirft. „Mir ist vor allem wichtig, möglichst viel kaputt zu machen“, sagt sie.

Man mag das Stück als Kommentar auf die moderne Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf den Menschen von der Anlage her etwas platt finden – es funktioniert jedoch allemal, es unterhält, und es führt unweigerlich zu der Frage: Wo stehen wir eigentlich selbst?

Nächste Termine hier

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(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger)




„Menschheitsdämmerung“ – die Bochumer Symphoniker erinnern vielfältig an 1914

Georg Heym gilt als Begründer der expressionistischen Lyrik.

Georg Heym gilt als Begründer der frühen expressionistischen Lyrik. 1911 verfasste er die wichtigen Gedichtsammlungen „Die Stadt“ und „Der Krieg“.

1914 – Das Gedenken an einen der markantesten Punkte der deutschen/europäischen Geschichte, von manchen als Ur-Katastrophe des Kontinents bezeichnet, ist vielfältig. Das Jahr, in dem der 1. Weltkrieg ausbrach, und heuer ein Zentenarium zurückliegt, haben Historiker und andere Geisteswissenschaftler zum Anlass genommen, um in Buchform erneut auf die Ereignisse zu blicken – sei es in Form einer Gesamtschau oder in der Fokussierung auf Einzelaspekte. Zahlreiche Museen, auch und besonders in Nordrhein-Westfalen, wollen das Interesse ebenfalls wecken – mit zahlreichen Dokumenten oder Zeugnissen der Kunst jener Zeit.

Vom Allgemeinen zum Besonderen: Die Bochumer Symphoniker haben einen Reigen namens „Endspiel“ aufgelegt – Konzerte, Musiktheatralisches, Lesungen und ausgewählte Bildbetrachtungen (in Kooperation mit dem Museum Bochum) sollen nicht zuletzt auf die Verflechtung der Künste in der Vorkriegszeit hinweisen. Das Schlüsselwort ist der Expressionismus, der in der Literatur die Einsamkeit des Menschen im Moloch Großstadt anprangert, dann wieder jubilierend vom Aufbruch in bessere Zeiten schwärmt, oder in aller Düsternis die Schrecken des „großen Krieges“ vorausahnt. In der Musik wiederum entsteht eine Gegenbewegung zu Romantik und Impressionismus – Arnold Schönberg und die „2. Wiener Schule“ lösten sich von alten tonalen Strukturen, beschworen den Ausdruck als wirkmächtigstes Merkmal einer Komposition.

Exemplarisch blicken die Bochumer Symphoniker in einer gesonderten, vierteiligen Reihe auf dieses Wechselspiel von Dichtung (Textauswahl: Werner Streletz) und Musik . Der Titel „Menschheitsdämmerung“ verweist auf das Endzeitdenken vieler Autoren jener Jahre, und der erste Abend, „Verfall und Aufbruch“ überschrieben, zeugt von Ambivalenz: hier die Hoffnung auf neue Ufer, dort Resignation bis hin zur Todessehnsucht. Veronika Nickl und Martin Bretschneider vom Bochumer Schauspiel lesen die Lyrik von Georg Trakl, August Stramm, Ernst Wilhelm Lotz oder Georg Heym eindringlich, ohne ins falsche Pathos zu verfallen. Und wenn Lotz’ Gedicht „Aufbruch der Jugend“ in flammenden Worten vom Wegfegen der Alten, von leuchtenden neuen Welten spricht, und Martin Bretschneider dann fast nüchtern feststellt, Lotz sei im Alter von 24 Jahren in den Schützengräben des 1. Weltkriegs umgekommen, dann wird die grausige Tragik jener Zeit beklemmend greifbar.

Gelesen und musiziert – es spielt das heimische Streichquartett „Bermuda4“ – wird im Bochumer Wassersaal. Gut 160 Menschen hören zu. Der Raum, mit seinen halbrunden Bögen wie ein Gewölbe wirkend, weist erstaunliche akustische Qualität auf. Das Quartett – mit Raphael Christ und Katrin Spodzieja (1./2. Violine), Marko Genero (Bratsche) und Wolfgang Sellner (Cello) – klingt noch in den zartesten Strukturen von Anton Weberns Bagatellen op. 9 sehr präsent. Die aphoristische, spieltechnisch komplexe, fragile Musik des Schönberg-Schülers ist in ihrem Wechsel zwischen Aufbäumen und Ersterben sinnfällige Ergänzung zur expressionistischen Lyrik.

Frühe Werke Weberns wiederum – „Langsamer Satz“ (1905) und Rondo (1906) – verweist in ihrem dunklen, elegischen Tonfall sogar noch auf Johannes Brahms. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass „Bermuda4“ zum Ausklang dessen 2. Quartett spielt. Mit eindringlicher, teils großer Geste wird die bisweilen fiebrige Musik interpretiert, so ernst und kernig wie strahlend, wenn auch mit wenigen Problemen in der Tongebung.

Die weiteren Termine der Reihe „Menschheitsdämmerung“ sind der 11. und 25. Mai sowie der 22. Juni (Beginn jeweils 19 Uhr).




Ess-Kastanien im Park von „Haus Weitmar“

In den fünfziger Jahren war es für uns als Kinder ganz selbstverständlich, dass wir in den großen Ferien vom grünen Münsterland aus mit der Eisenbahn zu unseren Großeltern ins Ruhrgebiet fuhren. Ruß und Lärm und Kohlenstaub machten uns nichts aus, schließlich wogen das Spielen mit Cousins und Cousinen und die Spaziergänge mit dem Opa alles andere auf.

Unsere Mutter stammte aus Weitmar, und in diesem Bochumer Stadtteil wohnten unsere Verwandten. Ebenso wie der Opa waren auch die Onkel im Bergbau beschäftigt oder beschäftigt gewesen, meist sogar unter Tage. Kohle und Zechen gehörten also zum selbstverständlichen Alltag, genauso wie die Folgen der Steinstaublunge schon für uns Kinder hörbar waren.

Als mir jetzt ein Bild vom Kunst-Kubus auf den Ruinen des ehemaligen Adelssitzes Haus Weitmar unter die Augen kam, gab es einen Erinnerungsblitz. Im weitläufigen Park dieses 1943 durch Fliegerbomben zerstörten Gutshauses der Familie Berswordt gab es mehrere große Esskastanien. In Südeuropa findet man ganze Wälder dieser Edelkastanien, aber in unserer Gegend war das etwas ganz Besonderes, und erst recht für Münsterländer Kinder. Zusammen mit einem Cousin schlichen wir uns im Herbst durch ein Loch im Zaun in den Park und sammelten die Maronen für eine Mahlzeit vom Herd der Oma. Angeblich gab es im Park scharfe Wachhunde, was dem Abenteuer noch mehr Würze gab.

Inzwischen ist die Ruine des Hauses Weitmar, das vor genau 550 Jahre errichtet wurde, durch einen modernen Aufbau zu einer Kunst- und Kulturstätte veredelt worden. „Jedes Jahr im Sommer treten die Schüler der jeweiligen zweiten Klasse der Schauspielschule Bochum im Schlosspark Weitmar auf. Dabei wird traditionell ein Stück oder Szenen von Shakespeare gezeigt. „Der Eintritt ist frei und wird von den Bochumern immer gut besucht“ heißt es bei Wikipedia. Ob die Edelkastanien noch stehen und zuhören? Ich weiß es nicht.




[FI’LO:TAS] leidet im Bochumer Schauspielhaus

Ein Mensch hockt bewegungslos auf der Bühne, schreibt dann mit den Händen hektisch Zeichen in den Sand, verwischt sie wieder, erstarrt. Er wechselt die Position, seine Handlungen wiederholen sich. Schon diese ersten Minuten in Roger Vontobels Einpersonenstück „Filotas“ im Kleinen Haus des Bochumer Schauspiels lassen erkennen, dass dies ein Gefangener ist, gefangen von Feinden ebenso wie in zwanghaften Vorstellungswelten, deren Sinnlosigkeit er ahnt und erleidet, ohne sie jedoch überwinden zu können.

Foto: Jana Schulz als gequälte Kreatur in Roger Vontobels Lessing-Adaption "Filotas". (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Foto: Jana Schulz als gequälte Kreatur in Roger Vontobels Lessing-Adaption „Filotas“. (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Der Mensch ist die Schauspielerin Jana Schulz, das Stück die Bochumer Wieder-Inszenierung jener Arbeit, mit der der junge Schweizer Regisseur Roger Vontobel (Jahrgang 1977) im Jahr 2002, damals in Hamburg noch, unter Verwendung von Motiven aus Gotthold Ephraim Lessings Drama „Philotas“ seine Karriere begann. Den Stücktitel schreibt das Theater in einer Art Lautschrift: „[FI’LO:TAS]“, was möglicherweise den Charakter der Interpretation betonen soll.

Lessing erzählt in seinem Stück die Geschichte des Königssohnes Philotas, der sich in der Kriegsgefangenschaft entleibt, um nicht vom gegnerischen König Aridäus als Druckmittel gegen den eigenen Vater eingesetzt werden zu können. Im Sterben erst muss er erkennen, dass die Tat sinnlos ist, weil, kurz gesagt, auf gegnerischer Seite ebenso viel Heldentum zu finden ist, sich kriegerisches Töten und Sterben zum Nullsummenspiel verrechnen. Eine klare, friedliche Botschaft, wie vom großen Menschenfreund Lessing nicht anders zu erwarten.

Das tragische antike Geschehen nun, so ist allerdings eher im Programmheft zu lesen als auf der Bühne wahrzunehmen, verbindet Vontobel mit der Geschichte des jungen US-Amerikaners John Walker Lindh, der in Afghanistan auf Seiten der Taliban kämpfte und 2001 20-jährig in Kriegsgefangenschaft geriet. Bei den jungen Männern, so die These, gibt es Parallelen.

Der Menschen auf der Bühne ist sicherlich eher gefangener Taliban als Königssohn. Lessing kommt nur mit wenigen Sätzen ins Spiel, die angesichts der starken Erregung des Helden ebenso auch persönliche Beruhigungsmantras sein könnten, seelische Positionierungsversuche im traumatischen Geschehen. Das zwanghafte Memorieren diverser Zahnbürstengrößen aus vergangenen amerikanischen Jugendzeiten verfolgt den selben Zweck.

Satzfragmente sind zu vernehmen, Wörter wie König, Vater und Sohn, die an ein ödipales Problem denken lassen, ohne dass dies indes Kontur gewönne. Das Spiel mit einem Stuhl, dessen Beine zum Schwert werden, nimmt breiten Raum ein. Doch alles in allem geschieht wenig. Zu sehen sind 55 Minuten im Leben eines Gefangenen, der mit seiner Situation überfordert ist und am Ende gar noch – piff! – eine Sprengladung zündet. Möglich, dass der „amerikanische Taliban“ Lindh irgendwie ein Seelenverwandter des Königssohns Philotas ist, zumindest jugendliche Radikalität mag beiden eigen sein.

Doch damit hat es schon sein Bewenden. Keine radikalisierenden Ohnmachtserfahrungen deuten sich an, keine psychischen Krisen in früheren Zeiten und auch nichts anderes aus dem Bereich Motivforschung. Man wundert sich, wie wenig Energie dieses Bühnenprodukt für ein intellektuelles Durchdringen des vermeintlich Ungeheuerlichen aufwendet. Hätte es sich nicht aufgedrängt, jetzt, in der Bochumer Neuauflage nach immerhin zehn Jahren, etwas mehr in die Tiefe zu gehen? Doch nach wie vor herrscht dort, wo es wirklich spannend werden könnte, geradezu unverständliche Gleichgültigkeit.

Wenn diese Momentaufnahme aus einem Kriegsgefangenenlager unbefriedigend bleibt, ist das sicherlich nicht der Schauspielerin Jana Schulz (Jahrgang 1977) anzulasten. Sie, die diese Rolle vor über 10 Jahren auch in Hamburg spielte, formt den Titelhelden mit androgyner Kreatürlichkeit berührend aus, verkörpert seine existentiellen Dimensionen überzeugend. Ihr galt in Bochum der größte Applaus.

 

Nächster Termin: 15. Januar. Karten Tel.: 0234 / 33 33 55 55 

tickets@schauspielhausbochum.de

 




Was Willy Brandt und Erich Ollenhauer gemeinsam haben

Weil Willy Brandt an diesem 18. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre, werden allerorten sein Wirken und seine Persönlichkeit gewürdigt – auch in diesem Blog natürlich. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat in diesen Tagen aber auch noch eines anderen großen Streiters zu gedenken: Erich Ollenhauer. Er starb am 14. Dezember vor 50 Jahren.

Die beiden sozialdemokratischen Politiker haben außer diesen beiden Daten im Dezember aber noch einiges mehr an Gemeinsamkeiten: Beide arbeiteten zeitweise als Journalisten und begannen ihre politische Arbeit für die SPD in der Weimarer Republik – Ollenhauer nach seiner Buchdruckerlehre in seiner Geburtsstadt Magdeburg seit 1919 als Redakteur der „Magdeburger Volksstimme“, Willy Brandt ab 1927 als Autor ebenfalls in seiner Geburtsstadt für den „Lübecker Volksboten“, allerdings unter dem Klarnamen Herbert Frahm. Den Decknamen Willy Brandt nahm er sich erst 1934.

Beide Politiker waren selbstverständlich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv. Erich Ollenhauer gehörte 1933 bereits dem Parteivorstand der SPD an und ging mit diesem ins Exil, zunächst nach Prag, ab 1938 nach Paris und 1940 nach London. Willy Brandt arbeitete ab 1933 von Oslo aus für den Untergrund, er war damals noch in der SAPD, einer Abspaltung von der SPD.

Erich Ollenhauer wurde 1946 Stellvertreter des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, und als dieser 1952 verstarb, wählte ihn die Partei am 27. September 1952 zum Vorsitzenden. Für den Deutschen Bundestag kandidierte der gebürtige Magdeburger übrigens im Ruhrgebiet, in einem Wahlkreis in Bochum.

Auch Erich Ollenhauer starb während seiner Amtszeit, eben an jenem 14. Dezember 1963, gestern vor fünf Jahrzehnten. Sein Nachfolger im Amt wurde am 16. Februar 1964 Willy Brandt, der damals Regierender Bürgermeister in Berlin war und der zwei Jahre später die Sozialdemokraten in die Große Koalition mit der CDU/CSU führte und der dann zwischen 1969 und 1974 der vierte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war.

In diesen Tagen geht es wieder um eine „GroKo“, und weil die entscheidende Phase des SPD-Mitgliedervotums und der Regierungsbildung auf den gestrigen 14. Dezember 2013 fiel, ging die Erinnerung an den 50. Todestag Erich Ollenhauers wohl etwas unter. Die SPD-Zentrale in Bonn hieß zwar im Volksmund „die Baracke“, aber offiziell trug sie den Namen Ollenhauers. Erst nach dem Mauerfall und dem Umzug der SPD-Führung nach Berlin ging auch dieses Gedenken verloren: Das neue Parteihaus in der Hauptstadt heißt „Willy-Brandt-Haus“.

Hat er doch auch verdient, der unvergessliche Willy.




Sub:city von Urbanatix in der Bochumer Jahrhunderthalle – eine Erfolgsgeschichte

Wenn man bereits nach drei, vier Jahren Anlauf die Jahrhunderthalle ausverkauft, so ist das eine Ruhrgebietserfolgsstory, die kein Beispiel kennt.

Die „Bude“ ist voll und an die tausend Leute applaudieren begeistert schon nach dem ersten Act. Angefangen hatte alles in kleinen Formaten, wie es im Revier gang und gäbe ist. Große Produktionen in der freien Szene gibt es nicht. Dafür fehlen die Strukturen, Gelder und Räume nach wie vor. Und niemand will das ändern. Die RuhrTriennale zählen wir nicht mit, denn die Produktionen, die dort großräumig entstehen, bleiben nicht hier und  sind nicht von hier.

„Sub:city“ heißt die neue Show von Urbanatix unter der engagierten Leitung von Christian Eggert, ohne dessen Glauben und Durchhaltefähigkeit die Idee mutmaßlich schnell verschwunden wäre, Street Art – wie man es im Feuilleton nennt –  mit authentischen jungen Menschen auf die Bühne zu bringen.

Authentisch und akrobatisch

Das Repertoire ist klar: „Akrobatik naturell“.  Opa und Oma können das nicht. Früher wurden Tretroller und Rollschuhe im Spiel auf der Straße genutzt, heute ist mehr Hightech, aber auch mehr Körperlichkeit. Und heute wird fast alles, was an jungen Trends zu entdecken ist, schnell zu einer Industrie und Marken beherrschen das Outfit. Dennoch ist das, was man in den Shows sieht, keine künstlich bearbeitete Spiegelung einer Bewegung in den Straßen von New York oder Chicago, sondern eine Entnahme aus der Wirklichkeit des Reviers. Und das ist der Hauptgrund für den Zuspruch, den diese Truppe durch die Bevölkerung erhält. Das wird goutiert und inzwischen kommen die Leute aus allen Teilen der Republik.

Dass durch Gäste aufgebessert und verbreitert wird, ist aus Sicht einer guten Show verständlich und wahrscheinlich notwendig. In „Sub:City“ agieren in einem sachlichen, zweckmäßigen, weil schnell veränderbarem Bühnenbild, auch international erfolgreiche Künstlerduos wie Chris und Iris mit ihrer beeindruckenden und witzig inszenierten „Hand-auf-Hand-Akrobatik“ oder Anke van Engelshoven und Tobias Wagner mit „Strapaten“.

Alle Generationen schauen zu

Aber das Ganze wäre nichts ohne die vielen bewährten Kräfte, die es möglich machen, ein abendfüllendes Programm zu gestalten. Etwa fünfzig Mitwirkende machen die Show zu einem Ereignis. Die Musik  – überwiegend elektronisch zeit- und jugendgemäß – hielt das Publikum nicht immer steif in den Sitzen. Und für manchen erstaunlicherweise: Hier sind die Generationen versammelt. Ein geschätzter Altersdurchschnitt von über 30 Jahren zeigt, dass hier die Jungen Wiedererkennung mögen, die Eltern  der Frische nachjagen und die Großeltern staunen wollen.

Urbanatix sind ein Exportschlager für das Revier. Das ist klar. Neue Shows zu kreieren wird indes nicht leichter, obwohl die Fähigkeit der Mitwirkenden, darstellerisch Fortschritte gemacht  zu haben, niemandem verborgen blieb. Am Ende gab es eine grandiose Applausordnung mit allen Mitwirkenden, die das Publikum zu Standing Ovations animierte. Chapeau! Move it!

Weitere Vorstellungen in der Jahrhunderthalle bis zum 24.11. Infos: http://www.urbanatix.de




Familienfreuden XI: Die Lauschabschaltautomatik

Ich freue mich schon wahnsinnig auf die Zeit, sobald Fiona sprechen kann. Wenn sie ein bisschen nach mir kommt, sollte es da mit der Quantität keine Probleme geben.

Ob sie wohl auch Wörter erfinden wird? Bei mir heißen bequeme Pantoffeln zum Beispiel Kuschelpuscheln und wenn ich nicht gut drauf bin, aber nicht weiß warum, bin ich unduchtig.

Vielleicht wird es in Fi’s Leben auch kuriose Szenen geben wie jene, die ich zwischen einem Jungen und einem Mädchen hörte, beide sahen aus wie 12: „Damit Du auf dem aktuellen Stand bist“, sagte er und sie nickte eifrig: „Ich und Luise waren so zwei, drei Jahre zusammen.“ Damit war auch ich auf dem aktuellen Stand und außerdem sehr erstaunt.

Kinder - die Meister der Worterfindungen! (Zeichnung: Albach)

Kinder – die Meister der Worterfindungen! (Zeichnung: Albach)

Einfach und wahr

Am schönsten aber finde ich es, wenn Kinder sehr einfache Sachen sagen, die aber so wahr sind, dass sie schon wieder eine philosophische Dimension haben.

Ich saß mit Fiona in der U-Bahn, uns gegenüber eine Oma mit ihrer Enkelin.

„Oma“, sagte das Mädchen, „ich kann nichts mehr hören. Weißt Du warum?‘

„Nein, warum denn?“

„Weil meine Ohren sagen: wir haben heute genug gehört.“

Ist das nicht eine großartige Vorstellung? Das Hören einfach abzuschalten, wenn man genug hat für den Tag?

Ein sanftes „Bssss“

Eine Freundin erzählte zum Beispiel, sie habe im Zug eine Dreiviertelstunde mit anhören müssen, wie sich drei Mitreisende über Katzenhaare unterhielten. Wo die so hinfielen, wie man sie wegkriegte… Da wäre eine Art Mini-Rollo doch schön, das man dezent per Kippschalter (hinter dem Ohr versteckt) über dem Gehörgang herunter ließe. Ein leises „bsss“ – und dann Ruhe!

Es gäbe so viele Situationen, in denen das höchst praktisch wäre: Gespräche über Gebrechen, die detaillierte Beschreibung des Krimis, den man noch sehen wollte, das Fußballergebnis des Spiels, das man extra aufgenommen hat, der 1000. Ratschlag zum Thema Kindererziehung, unangenehme Herbeizitiersituationen auf der Arbeit… Man könnte der Liebsten zuliebe sogar auf ein, sagen wir mal, DJ Bobo-Konzert mitgehen… Einfach „bss“… und alles ist gut!

Automatik-Schutz

Sicher ließe sich auch ein maximales Wortkontingent einführen, nach dessen Erreichen die Rollade automatisch runter geht. Für manche Beziehung könnte das aber schwierig werden. Es sei denn, man unterhielte sich nur noch mit ganz langen Worten – womit wir wieder bei den Wortschöpfungen wären.

Ach Fiona, was wirst Du mir erzählen? Ich weiß jedenfalls schon jetzt, dass deine Rollade bei einem Satz eine Runterlassautomatik haben wird: „Räum doch mal dein Zimmer auf!“




Hohe Belastung mit Umweltgift PCB: Uni Bochum reißt zwei Großgebäude ab

Luftbild der Bochumer Ruhr-Universität (© Pressestelle der Ruhr-Uni)

Luftbild der Bochumer Ruhr-Universität (© Pressestelle der Ruhr-Uni)

Was muss man da heute lesen? Die Ruhr-Uni Bochum (RUB) will bis März 2015 gleich zwei ihrer Großgebäude abreißen.

Und zwar nicht etwa aus ästhetischen Gründen, um vielleicht den architektonischen Brutalismus rückgängig zu machen. Im Gegenteil: Die beiden Bauten der Ingenieurwissenschaften (Kürzel IA und IB) sollen bis 2017 in gleicher Form und Höhe an selber Stelle wieder erstehen, um die „denkmalwürdige Silhouette“ der Ruhr-Uni zu erhalten.

Doch das ist zwar ein Aspekt, aber beileibe nicht der aktuelle Kern der Sache. Der Abrissgrund klingt nämlich durchaus beunruhigend. Es ist die offenbar viel zu hohe PCB-Belastung in den Gebäuden. Nicht nur als jemand, der einige Jahre in anderen Uni-Gebäuden (vornehmlich GA und GB) zugebracht hat, fragt man sich bang, was es damit auf sich hat. Mag sein, dass ich da etwas verpasst habe. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, dass das Thema bisher in einer breiteren Öffentlichkeit über Bochum hinaus debattiert worden wäre.

Offiziell heißt es, bei „Voruntersuchungen zur geplanten Kernsanierung“, die auf dem gesamten Campus nach und nach erfolgt, habe sich gezeigt, dass die PCB-Belastung in IA und IB „ungleich größer“ ist als im gerade sanierten IC-Gebäude vor der Modernisierung.

Weiter heißt es in der Pressemitteilung der RUB: „Es kann nicht sichergestellt werden, dass sich das gesundheitsgefährdende PCB vollständig entfernen lässt.“ Mehr als nur „interessant“ wäre es nun zu erfahren, wie sich die Belastung mit der Krebs auslösenden Substanz wohl auf die Menschen ausgewirkt hat, die bislang in diesen Gebäuden als Lehrende, Studierende oder sonstwie tätig gewesen sind.

Bei IA und IB handelt es sich um die ältesten Bauten der gesamten Uni. Baubeginn war am 2. Januar 1964, bereits Mitte 1965 wurde der Lehrbetrieb aufgenommen.

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Näheres zum Thema PCB findet sich zum Beispiel hier:
http://www.lfu.bayern.de/umweltwissen/doc/uw_53_polychlorierte_biphenyle_pcb.pdf




Triennale: Eiskalte Spannung – Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“

Winkler

Angela Winkler als „Mädchen“ in eisigem Blau. Foto: Julian Mommert/Triennale

Unten die plane, rechteckige, weitgehend leere, öd und unwirtlich wirkende Spielfläche. Alles umringt von steil ansteigenden Zuschauerblöcken. Dahinter schließlich haben sich Chor und Orchester platziert. Gewissermaßen als musikalische Umzingelung. Sodass die Klänge uns mal auf den Pelz rücken, mal wie aus dem Nichts entstehen, uns drangsalieren und enervieren, aber auch aufs Schönste erregen und erheben. Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – Musik mit Bildern“ wird in einem Raum zelebriert, der bereits Teil des Interpretationskonzepts ist.

Dafür steht der amerikanische Regisseur Robert Wilson, der dieses Theaterkonstrukt als einen Operationssaal sieht. Wie passend: Denn die Geschichte vom armen Mädchen, das in der bitterkalten Neujahrsnacht keine Zündhölzchen verkaufen kann, sie anzündet, um sich für Augenblicke nur zu wärmen, das halluziniert und erfriert, wird gewissermaßen seziert, auf seelische Befindlichkeiten und körperliche Aggregatzustände hin untersucht. Mit einer überwiegend geräuschhaften Musik, die pendelt zwischen wahrhaft monströsem Suggestivklang und allerkleinstem Fragment.

Lachenmann hat dieses Märchen, das nicht zuletzt sozialkritische Züge trägt, um zwei Texte erweitert. Einer stammt von der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, ein ideologisch aufgeladenes Pamphlet gegen das „System“, in dem das Zündeln (!) als Akt des Widerstands gesehen wird. Der zweite Textzusatz ist das Höhlengleichnis Leonardo da Vincis, das einen Menschen beschreibt, der zwischen Angst und Neugier pendelnd darüber sinniert, ob er die Höhle betreten solle. Genau wie das Mädchen, schwankend zwischen Todesfurcht und Hoffnung auf ein besseres Jenseits.

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Lachenmanns 1997 uraufgeführte „Oper“ steht im Zentrum der insgesamt sechs Wochen währenden Triennale, ragt wie ein fremder, wuchtiger, einsamer Monolith über alle bisherigen Festival-Produktionen hinaus. Weil Wilson zur Premiere in Bochums Jahrhunderthalle betörende Bilder findet: mit Hilfe von Licht, Farbe und den allseits bekannten knappen Gesten sowie mit zeitlupenhaften, in Erstarrung mündenden Bewegungen. Ganz im Dienste des Komponisten, der ja zuallererst das Zittern, Frieren und Verharren in Klänge gesetzt hat. Und dem es nicht darum zu tun war, ein Libretto linear musikalisch nachzuerzählen.

Das Mädchen, das ist Angela Winkler. Eine weißgewandete, angstvoll und stumm daherschleichende, fragile Ophelia, mit vom Eissturm gezausten Haaren. Deren stumpf blickende Augen zu leuchten beginnen, wenn sie staunend die Bilder einer besseren, warmen Welt imaginiert, die Wilson mit wenigen Requisiten und zauberhaften Licht-Spielen in Szene setzt. Winklers einziges Sprechen gilt dem erwähnten Höhlengleichnis. In expressiver, beinahe dadaistischer Manier wird der Text in seine Bestandteile, in Laute zerlegt, geht somit einher mit Lachenmanns Musik.

Anderes jedoch bleibt verrätselt: Steht doch Robert Wilson als Gestengeber oder Strippenzieher selbst auf der Bühne. So unterwirft er sich seiner eigenen Regie und leitet das Mädchen in doppeltem Sinne an. Als dessen Alter Ego, als Tod? Und was suggerieren die Menschen in dicken Mänteln, die kurz vor dem Erlösungsschluss im Halbdunkel über die Ebene stapfen?

Das freie Spiel mit Assoziationen, das Bedenken dessen, was zu sehen ist, wäre wohl ganz im Sinne Lachenmanns. Der uns mit unerhörten Klängen vom hörigen Hören, vom stets Gewohnten also, weglocken will. Dessen Musik nie brutal laut ist, sich andererseits in bisweilen ungeahnter Harmonie entfalten kann. Wort- und Gesangsfetzen, Atem-, Schleif- und Klopfgeräusche fügen sich zum fahrigen, wilden, großen Ganzen.

Üppiger Applaus, nicht zuletzt fürs Chorwerk Ruhr und das hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Emilio Pomárico.

Info über weitere Vorstellungen unter www.ruhrtriennale.de

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen.)

 




Gedanken zum Tod von Otto Sander

Otto Sander ist tot. Ein Schlag in die Magengrube, als ich das gelesen habe. Otto Sander, dieses Gesicht, diese Stimme.

Otto Sander hat mir bewiesen, dass man sich auch in eine Stimme verlieben kann. Als ich damals Oscar Wildes „Das Gespenst von Canterville“ hörte, da wusste ich zunächst nicht, dass ich Otto Sander lauschte. Ich war einfach verzaubert, von dem Kratzen, der Tiefe, diesem einzigartigen Klang, der die Geschichte zu Bildern formte. Otto Sander war schon mit seiner Stimme ein Schauspieler. „Das Gespenst von Canterville“ gehört seitdem für mich zu den Klängen, die Weihnachten einläuten.

Wirkung

Ich will hier nichts schreiben von Otto Sanders Biographie, seinen vielen Auftritten, mit wem und wann er gearbeitet hat – das können andere viel besser, das wäre anmaßend von mir. Ich kann nur schreiben über die Wirkung, die Otto Sander auf mich hatte.

Da gibt es zwei Worte, die für mich unbedingt zu ihm gehören: Tiefe und Authentizität. Otto Sander konnte selbst den kleinsten Dingen Bedeutung geben, nichts an ihm erschien banal oder oberflächlich. Das Gesicht, so voller Furchen, jede einzelne die Verheißung einer Geschichte, die Augen, so bodenlos. Das ist es, was ich nicht vergessen werde, die Stimme, das Gesicht.

An der Bar

Dann gab es noch diesen Abend, eine Lesung mit Benjamin von Stuckrad-Barre im Schauspielhaus Bochum. Er habe, erzählte der Autor, Otto Sander gerade an der Bar gesehen – vielleicht käme er ja später noch dazu. Immer wieder an diesem Abend erwähnte Stuckrad-Barre Otto Sander. Ich weiß gar nicht, ob er schlussendlich wirklich in den Saal, auf die Bühne kam, so lange ist das schon her. Aber im Grunde war das auch unnötig. Es war einfach dieses Bild, das blieb: Otto Sander, an der Bar, vielleicht rauchend, vielleicht ein Glas vor sich, vielleicht allein.

Danke für viele unvergessliche Momente.




Ruhrtriennale: Seltsame Rituale in Harry Partchs Instrumenten-Wunderland

"Zeit des gemeinsamens Vergnügens" heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto:

„Zeit des gemeinsamens Vergnügens“ heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Das erste Wort gönnen wir Karl Valentin: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Die Erkenntnis des Münchner Komikers und Sprachkünstlers kommt uns alsbald in den Sinn, wenn wir vor dem Bühnenbild stehen, das vor allem eine Anordnung überwiegend riesiger, seltsamer Instrumente zeigt, das „Orchester“ des amerikanischen Komponisten Harry Partch.

Darin wuseln Solisten herum, die gleichzeitig Musiker, Sänger, Schauspieler und Pantomimen sind. Die bisweilen winzig klein wirken, wie Arbeiterfiguren in einem Baukasten fürs experimentierfreudige Kind.

Zumal sie hauptsächlich in bunter Werktätigenkluft, teils hübsch-hässlich den Prekariatsstandard erfüllend, sich an ihren klingenden „Maschinen“ zu schaffen machen. Auf dass eine wahrhaft un-erhörte, sirrende, flirrende, motorische Musik erklinge. Mit Anlehnungen an asiatische und afrikanische Exotismen. Was alles einem großen Ritual gleichkommt, das Partch „Delusion oft the Fury“ betitelt hat. Integrales Theater heißt diese Mixtur aus Klang, Sprache, Szene und Licht im Fachjargon – Richard Wagner hatte 100 Jahre zuvor vom Gesamtkunstwerk gesprochen.

Und die Ruhrtriennale, Heiner Goebbels’ Experimentallabor des Theatralischen, hat dem Amerikaner nun in Bochums Jahrhunderthalle ein Podium gegeben. Wir staunen, horchen auf ob verquerer Rhythmen und neuer Tonwelten, ergeben uns einem exzessiven Ritual, das indes alsbald tönende Züge der amerikanischen Minimalisten trägt. Kurzum: Die anfängliche Faszination weicht dem Wunsch, nun doch zum Ende zu kommen.

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto:

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto: Schott-Archiv/Andersen

Wer war Harry Partch? Einer jener amerikanischen Komponisten, die, fernab der Traditionen des alten Europa, eine eigene musikalische Sprache suchten. Der dabei mindestens so radikal zu Werke ging wie sein Landsmann John Cage. Der das wohltemperierte System, das eine Oktave in fünf schwarze und sieben weiße Tasten unterteilt, scharf ablehnte und eigene Skalen entwickelte. Zugleich tüftelte und baute Partch an einem neuen Instrumentarium. Allem voran ein „Chromelodeon“, ein Harmonium, bei dem eine Oktave 43(!) Tonhöhen zählt. Andere Skurrilitäten heißen „Gourd Tree“, ein baumartiges Gebilde aus Kürbisflaschen, oder „Marimba Eroica“, ein riesiges Marimbaphon mit nur vier wuchtigen Klangplatten.

Schon dies lässt erahnen, dass es sich bei Partch um einen Freak der Musikszene handelte. Wie denn auch die meisten Figuren in seinem zweiteiligen Instrumentaltheaterstück „Delusion oft he Fury“ äußerst freaky daherkommen. Obwohl doch ernste Dinge verhandelt werden, einerseits der reuevolle Bußgang eines Mörders, zum anderen der aus einem Missverständnis herrührende Konflikt, der vor Gericht schiedlich-friedlich gelöst wird – wenn auch von einem nahezu taubblinden Richter.

Triennale-Intendant Heiner Goebbels erlaubt sich hier als Regisseur eine amerikakritische Spitze, indem er den Richter als übergroße „Kentucky Fried Chicken“-Pappfigur zeichnet. Die Anspielung, dass auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten das Fressen vor der Moral kommt, hätte Partch gewiss gefallen. Er selbst, 1901 geboren, erlebte in den USA die „Große Depression“ der 30er Jahre, schlug sich zeitweise als Hobo durch. Solcherart Landstreicher wird im zweiten Teil von „Delusion“ übrigens zur Hauptfigur. Dort mümmelt er, taub und arm, im Wasser sitzend, sein karges Mahl. Im Disput mit einer Ziegenhirtin kommt es zum oben erwähnten Konflikt. Am Ende aber wird der große Versöhnungsgesang angestimmt: „Pray for me“. Ob die rot ausgeleuchtete Bühne (Klaus Grünberg) nebst kleiner Flämmchen eine Art Vorhölle sein soll?

Das Instrumentarium als Werkbank. Foto:

Sonderbares Instrumentarium als Werkbank im hellen Licht. Foto: Wonge Bergmann, Triennale

Manches mag nach geschäftiger Aktion klingen, doch alles geschieht in höchster Strenge. Die Buße und Läuterung eines Mörders lässt Elemente des japanische No-Theaters erkennen – Klangfarben, die Gewandung der Hauptfigur und die rituelle Bedeutung fließenden Wassers deuten darauf hin. Der zweite Teil trägt hingegen afrikanische Züge. So gesehen, hat auch Partch nicht im luftleeren Raum gearbeitet.

Schwer zu tun hat zudem, in vielfältiger Funktion, das Ensemble musikFabrik. Anziehen, umziehen, schreiten, umherhuschen, singen, sprechen, musizieren – ein Mammutprogramm. Damit nicht genug: Partchs Original-Instrumentarium musste Stück für Stück nachgebaut werden – für Thomas Meixner und sein Team eine Herkulesarbeit.

So steht an diesem Abend Bewunderung neben Verstörung. Das letzte Wort geben wir dem Rockmusiker Frank Zappa: „Ich mag den Klang der Instrumente … aber gleichzeitig denke ich, das Zeug läuft und läuft und läuft und läuft und läuft zu lange.“




Der große, gültige Augenblick – Fotoporträts von Anton Corbijn in Bochum

Der Fotograf Anton Corbijn in der Bochumer Ausstellung - zwischen seinen Porträts von Ai Wei Wei (links) und Damien Hirst. (Foto: © Lutz Leitmann/Presseamt der Stadt Bochum)

Der Fotograf Anton Corbijn in der Bochumer Ausstellung – zwischen seinen Porträts von Ai Wei Wei (links) und Damien Hirst. (Foto: © Lutz Leitmann/Presseamt der Stadt Bochum)

Fotos der weltweiten Prominenz sehen oft genug wie Klischees oder gar wie leblose Charaktermasken aus, sie bestätigen vielfach das eh schon verfestigte Image. Nicht so bei Anton Corbijn.

Der mittlerweile 58jährige Niederländer, stets rastlos unterwegs, weil seine phänomenalen Fähigkeiten auf allen Kontinenten gefragt sind, bringt es zuwege, dass wir Gesichter von Popstars, berühmten Künstlern und sonstiger Prominenz (Spektrum von Mandela bis Kate Moss) auf einmal ganz anders und wie neu sehen. Ganz so, als kämen sie jetzt, in diesem Moment der Aufnahme und des Betrachtens, wahrhaft zu sich. Davon kann man sich bis zum 27. Juli in der Corbijn-Ausstellung des Kunstmuseums Bochum überzeugen, die mit über 40 großformatigen Bildern aufwartet.

Anton Corbijn: Porträt des Malers Lucian Freud (Fotografie, London 2008 - © Anton Corbijn)

Anton Corbijn: Porträt des Malers Lucian Freud (Fotografie, London 2008 – © Anton Corbijn)

All das (sozusagen selbstverständlich) in Schwarzweiß, festgehalten mit einer analogen Hasselblad-Kamera, nur mit vorhandenem Licht, ohne Stativ; also möglichst unverfälscht, so weit dies irgend möglich ist.

Dieser seriöse ältere Herr mit dem Schnauzbart, das ist also Paul McCartney, wie wir ihn wohl noch nie erblickt haben. Und der 1996 abgelichtete Mann in Frauenkleidern, der keineswegs lächerlich wirkt, heißt Mick Jagger. Melancholische Gesichtslandschaften erzählen vom wechselhaften Leben eines Johnny Cash, Tom Waits oder einer Patti Smith. Und schwingt nicht auch eine vitale Essenz ihrer Musik in diesen Bildern mit?

In einem Film über Corbijns Arbeit, der ebenfalls in dieser Ausstellung zu sehen ist, sagt Herbert Grönemeyer, so mancher Rockstar versuche hernach so zu werden, wie er auf Corbijns Bildern wirkt. Wenn es sich so verhält, dann kann man wohl von außerordentlicher Prägekraft reden. Vielleicht haben solche Fotos sogar indirekt Einfluss auf die Geschichte der populären Musik genommen.

Anton Corbijn: Porträt der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey ("PJ Harvey - New Forest" / © Anton Corbijn)

Anton Corbijn: Porträt der britischen Singer-Songwriterin PJ Harvey („PJ Harvey – New Forest“ / © Anton Corbijn)

Dabei trumpft Corbijn, dessen Laufbahn einst mit eindrücklichen Bildern der düster umwölkten Gruppe „Joy Division“ begonnen hat, keineswegs willkürlich auf. Selbst heftigere Gestik wirkt auf seinen Bildern nicht exaltiert, sondern als notwendiger Ausdruck. Die bloße Pose lässt er schon gar nicht durchgehen, allenfalls greift er etwaige Versteckwünsche just spielerisch auf, so etwas bei Jeff Koons, der sich hinter einer etwas albernen Maske verbergen darf und daher umso kenntlicher zu werden scheint. Ähnliches gilt für den mindestens ebenso millionenschwer gehandelten Künstler Damien Hirst, der seinen weiß gepuderten Kopf gleichsam als Totenschädel herzeigt – ungefähr nach dem vielsagenden Motto „Nicht ohne mein Markenzeichen“. Gerhard Richters markanter Kopf ist derweil nur von hinten zu sehen – dies gemahnt an allerletzte Bilder in filmischen Nachrufen, wenn jemand buchstäblich von hinnen geht. Da hebt gewiss schon der Nachruhm an, den auch der (2011 verstorbene) Maler Lucian Freud in seinen nahezu jenseitigen Blick gefasst zu haben schien, als Corbijn ihn im Profil porträtierte.

Sehr diesseitig, frontal und kolossal schaut einen hingegen der chinesische Künstler und unbeugsame Dissident Ai Wei Wei an. Er scheint vor Physis und Widerstandskraft zu strotzen.

Gänzlich anders gelagerter Fall: Den inzwischen des Dopings überführten und aller großen Titel ledigen US-Radprofi Lance Armstrong zeigt Corbijn bereits anno 2004 im bis zum Halse stehenden Wasser, als würde der Sportler gleich ertrinken. Darf man hier von Vision sprechen? Hat Corbijn etwa vage Anzeichen eines Niedergangs vorausgesehen? Wer weiß.

Ganz offenkundig gelingt es Anton Corbijn jedenfalls immer wieder, während der Porträt-Treffen Atmosphären und Situationen zu schaffen, in denen vordergründige Zufälligkeiten abgestreift werden und etwas Wesentliches, Charakteristisches hervortritt, das eben auch in den Fotografien aufscheint. Auf diese Weise wirken nicht wenige Rock- und Kunststars wie Wahrzeichen ihrer selbst, gesehen im bezeichnenden, gültigen Augenblick. Fühlbar wird so etwas wie der essentielle „Stoff des Lebens“, der sich auf je ganz eigene Weise in Gesichter und Gesten eingezeichnet hat.

Nicht nur die Abgebildeten sehen aus, als wären sie nun ganz bei sich, auch der Fotograf bleibt in seiner speziellen Sehweise immerzu präsent. Es ist, als wäre alles auf einmal da, alles zugleich. So sehen große und haltbare Momente aus.

Anton Corbijn – Inwards and Onwards. Fotoportäts. Museum Bochum, Kortumstraße 147 (Tel.: 0234/910-42 30). Noch bis 28. Juli. Di-So 10-17, Mi 10-20 Uhr. Katalogheft 12,50 Euro.

(Ebenfalls jetzt im Bochumer Museum: die Ausstellung des aus Israel stammenden Micha Laury).




Von der Zeugung bis zum Tod – umstrittene „Körperwelten“ bald in Bochum

„Das wird auch für das Ruhrgebiet ein Knaller.“ – So volltönend zitiert die WAZ in ihrem Online-Auftritt Michael Scholz, den Sprecher der Event-Agentur „All in one“.

Worum geht es da wohl? Rock und Pop der Weltklasse? Spitzensport? Anderweitige Rekordversuche? Was soll so spektakulär sein, dass der PR-Mann es so lautstark anpreist wie ein Marktschreier?

Nüchtern gesagt: Es geht um öffentlich gegen Eintrittsgeld präsentierte Leichen. Aber natürlich nicht um ganz gewöhnliche, sondern um solche, die nach der patentierten Methode des Gunther von Hagens „plastiniert“, also derart konserviert wurden, so dass sie zu Schaustücken für „Körperwelten“-Ausstellungen taugen.

Vom 30. August 2013 bis zum 19. Januar 2014 wird der offenkundig außerordentlich populäre Wanderzirkus (insgesamt an etlichen Orten schon über 36 Millionen Besuche seit 1996) in Bochum gastieren. Die Stücke kommen direkt aus Wien, der Stadt also, der man ohnehin einen speziellen Hang zum Morbiden nachsagt.

(Nicht)-Bebilderung zu diesem Beitrag

(Nicht)-Bebilderung zu diesem Beitrag

Was hat man Gunther von Hagens (68), der inzwischen an der Parkinson-Krankheit leidet und die Regie zeitig in andere Hände gelegt hat, nicht alles vorgeworfen – vor allem Störung der Totenruhe, Verletzung der Menschenwürde, Bedienung niederer Schaulust. Wollte man mich fragen, so würde ich nicht verhehlen, dass ich dieser Auffassung zuneige.

Gegen andere Vorwürfe hat sich von Hagens erfolgreich gerichtlich gewehrt, wir wollen sie daher nicht mehr aufgreifen. Wer will, lese es andernorts nach.

Man kann freilich schaudern, wenn man sich die Exponate vorstellt, die nun auch das Ruhrgebiet ereilen sollen. „Die Schau gibt Einblicke, die unter die Haut gehen“, gibt der idr-Nachrichtendienst des Regionalverbands Ruhr (RVR) formelhaft kund. Man kann das so und so verstehen.

Für manche mag es ein Kitzel sein, andere graust es vorm Gruselkabinett. „Die Zyklen des Lebens“ (Titel der Ausstellung) sollen den menschlichen Daseinskreislauf von der Zeugung bis zum hohen Alter und zum Tod darstellen. In unguter Erinnerung ist noch der Augsburger Streit um präparierte Leichen, die so arrangiert wurden, als hätten sie Geschlechtsverkehr. Dieses zuweilen fruchtbringende Tun an sich ist unter Lebendigen beileibe nicht obszön, im Gegenteil; aber es gibt Formen und Zusammenhänge, in denen es widerlich werden kann.

Umsonst ist der Tod? Nun, wie man’s nimmt. Der Eintritt in Bochum kostet für Erwachsene immerhin 18 Euro, für Kinder müssen auch schon 13 Euro berappt werden. Schauplatz ist übrigens eine angemietete Halle des Mercedes-Händlers Lueg an der Hermannshöhe. Nein, da möchte man lieber keine assoziativen Querverbindungen zwischen Ausstellung und Markenimage herstellen.

Infos: http://www.koerperwelten.com/de/bochum




Auftakt zum Klavier-Festival Ruhr in Bochum: 25 Jahre Individualität und Schönklang

Desgleichen ist weltweit nicht zu finden. Solche Superlative gehen in der Werbung und der Politik leicht über die Lippen. Bundestagspräsident Norbert Lammert war in diesem Fall aber einschränkungslos Recht zu geben: Das Klavier-Festival Ruhr ist in der Tat eine einmalige Plattform für die Pianistenkunst – und das seit 25 Jahren. Auch wenn der erst 25-jährige Igor Levit und das WDR Sinfonieorchester nicht zu den allerersten Namen in der Klassik-Szene gehören: Das Eröffnungskonzert in der Jahrhunderthalle Bochum umwehte eine Aura des Besonderen.

Auftakt zum Klavier-Marathon: In der Jahrhunderthalle Bochum begann das Klavier-Festival Ruhr. Foto: Werner Häußner

Auftakt zum Klavier-Marathon: In der Jahrhunderthalle Bochum begann das Klavier-Festival Ruhr. Foto: Werner Häußner

Gottseidank sah der warme Frühsommerabend kein weihevolles Fest, sondern eine fröhliche Begegnung von Menschen, die Musik lieben, die sie unterstützen, die sich gerne unter Künstler und Liebhaber mischen. Die gepflegte Bräune der Schönen und Reichen war zu sehen, die edlen Roben und eleganten Maßanzüge auch, der teure Schmuck und einige in ihrer Kunstfertigkeit mit der Kunst konkurrierende Frisuren. Aber dazwischen tummelten sich junge Menschen in lässiger Kleidung, auch der eine oder andere Enthusiast mit einem leichten Zug zum Verschrobenen. Das Schöne an diesem Klavier-Marathon: Es ist ein Fest der Musik, das alle Menschen verbindet, kein Festival selbst ernannter Eliten oder Kennerzirkel, die gerne unter sich bleiben.

Dass es, wie Schirmherrin Traudl Herrhausen ausdrückte, „glänzend dasteht“, ist nicht zuletzt Verdienst eines einmaligen Kenners und Netzwerkers: Franz Xaver Ohnesorg hat es mit Klugheit, Diplomatie und Durchsetzungsvermögen geschafft, den Ruf des Festivals stets so zu mehren, dass kaum mehr vorstellbar ist, dieses Ruhrmetropolen-Alleinstellungsmerkmal zu schmälern oder gar zu beschädigen. Klar: Es gibt immer Stimmen, die einen seelenlosen Ökonomismus oder Pragmatismus predigen, der beim geringsten kühlen Konjunkturwind am liebsten an Kunst und Kultur abzwacken würde. Aber dass solche Misstöne gar nicht erst zum Klingen kommen, ist nicht zuletzt dem geschickten Intendanten geschuldet.

Muss hemmungsloser Populismus sein?

Mit Misstönen war an diesem Abend eh kein Staat zu machen: Igor Levit ließ seine paar flüchtigen Vergreifer in Tschaikowskys b-Moll-Konzert schnell vergessen, und der 29-jährige dirigentische Senkrechtstarter Krzysztof Urbánski zeigte mit einem vorzüglich disponierten WDR Sinfonieorchester, dass er zu den Apologeten des kompromisslosen Schönklangs gehört – und damit an seiner Chefstelle beim amerikanischen Indianapolis Symphony Orchestra sicherlich einen empfindsamen Nerv des Publikums berührt.

Eröffnungskonzert mit Igor Levit und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski. Foto: Peter Wieler

Eröffnungskonzert mit Igor Levit und dem Dirigenten Krzysztof Urbánski. Foto: Peter Wieler

Tschaikowskys Klavierkonzert schlossen sich Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ an; eine Folge, die erwägen lässt, ob es wirklich Aufgabe eines Rundfunkorchesters ist, so hemmungslos populistische Programme anzubieten. Und auch ein Festival wird sich fragen lassen müssen, ob unter den selbst gewählten Akzenten (Wagner, Verdi, Britten Poulenc) nicht auch Eröffnungswürdiges und weniger Gängiges zu finden gewesen wäre. Oder ob man den polnischen Dirigenten nicht hätte überzeugen können, zum Beispiel den 100. Geburtstag von Witold Lutosławski unter die allseits gewürdigten Groß-Jubilare von 2013 zu mischen.

Igor Levit sorgte mit den allzu bekannten Eröffnungsakkorden des b-Moll-Konzerts sogleich für die erste Überraschung: Mit seinem Partner Urbánski am Pult leugnet er das „Maestoso“, schlägt einen poetischen, beinah schon innerlichen Ton an, lässt das Klavier über der Bewegung des Orchesters gleiten wie einen Ölfilm auf Wasser. Da war nichts Triumphales oder Trotziges zu hören. Levit rückt das Konzert näher an „Eugen Onegin“ als an „1812“.

Die lyrische Welt des „Onegin“ durchmessen

Dieser Linie bleiben die Beiden treu: Die breit strömenden Violinen des WDR-Orchesters leuchten im Tonfall süßen Schmerzes, das Blech nimmt sich bis ins Mezzoforte zurück. Levit zügelt sich in verhaltenen Passagen, als wolle er den virtuosen Aspekt des Konzerts bewusst verleugnen – was er nicht tut: In den dahinfliegenden gestochenen Akkordketten des Finalsatzes, in der emphatischen Konkurrenz mit dem Rollen der Pauken zeigt er, dass ihm Energie und zupackende Attacke nicht fremd sind. Technik muss er aber nicht demonstrieren – er hat sie einfach.

Von links: Krzysztof Urbánski, Franz Xaver Ohnesorg, Traudl Herrhausen, Igor Levit. Foto: Wieler

Von links: Krzysztof Urbánski, Franz Xaver Ohnesorg, Traudl Herrhausen, Igor Levit. Foto: Wieler

Was Levits Liszt-Spiel auszeichnet – es ist auf einer CD-Edition des Klavier-Festivals von 2011 nachzuhören –, überträgt er auch auf Tschaikowsky: differenzierte Dynamik, Sinn fürs Charakteristische, Lust an gleisnerischer, sogar grotesker Extroversion. Im ersten Satz liefert Levit dafür in einem rhythmisch angespitzten, koboldig purzelnden Intermezzo ein bezeichnendes Beispiel. Plötzlich scheint Mussorgsky Regie zu führen. Im zweiten Satz steht eher die Delikatesse im Vordergrund: weich und introvertiert der Anschlag, manchmal zu verliebt der Pedaleinsatz. Und im dritten Satz kontrastieren atemberauende Staccato-Ketten mit der fröhlich zelebrierten Simplizität russischer Tanzrhythmen und den dazwischen aufwehenden Schleiern von „Onegin“-Melancholie.

Hätte sich diese Kunst des Charakterisierens in zweiten Teil fortgesetzt, der Abend wäre bemerkenswert geblieben. Doch Urbánskis Interesse scheint vor allem auf einen perfekten Orchestersound gerichtet zu sein. Selten war das WDR-Sinfonieorchester so homogen, so samtig, so süffig zu hören wie an diesem Abend – auch wenn es, wohl durch die Akustik bedingt, zu einigen Klang-Ausreißern bei den Bläsern kam.

Ein Tänzer vor dem Orchester

Urbánski ist vor allem ein begnadeter Tänzer: Er wirbelt Phrasierungen durch die Luft, auf die man erst einmal kommen muss. Und er zeigt den Musikern mit gekrümmten Fingern, angezogenen Armen und hackenden Bewegungen, worauf es ihm etwa beim „Gnomus“ oder der „Hütte der Baba Yaga“ ankommt. Pech nur, dass es für das „Ballett der Küchlein in den Eierschalen“ offenbar noch keine dirigentischen Chiffren gibt – weshalb Urbánski die bizarre klangliche Umsetzung des Bildeindrucks durch Mussorgskys auf eine, sagen wir einmal, Kinderzeichnungs-Groteske verniedlichte.

Urbánski, so scheint mir, gehört in seinem Hang zum abgerundeten, glatten, füllig schimmernden Klang zu denjenigen jungen Künstlern, die in ihrem zweifellos durch großes Können abgesicherten Hang zur makellosen Politur vergessen, dass es allemal interessanter ist, das Originelle, das Charakteristische, das Sperrig-Individuelle zu entdecken. Und das zumal bei Mussorgsky, der alles andere im Sinn hatte als die glatt-verbindliche Musik zu schreiben, die ihm manche seiner gutmeinenden Bearbeiter später untergejubelt haben. So passte diese Mussorgsky-Wiedergabe eher zu den Roben und Maßanzügen als zu den leise versponnenen Freaks – was nicht heißen soll, dass unter der Haute Couture nicht auch ein Herz für Mussorgskys störrische, manchmal gespenstische musikalische Radikalität schlagen könne. Urbánski freilich hat das für sich noch zu entdecken.

Das Klavier-Festival Ruhr 2013 bringt bis 19. Juli 65 Konzerte in 21 Städten auf 26 Podien an Rhein und Ruhr. WDR, Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur werden zahlreiche Konzerte im Hörfunk übertragen; der WDR erstellt zudem eine TV-Dokumentation „25 Jahre Klavier-Festival Ruhr“. Der diesjährige Preis des Klavier-Festivals Ruhr geht an den frankokanadischen Pianisten Marc-André Hamelin, der am 29. Juni in der Philharmonie Essen konzertiert. Information: www.klavierfestival.de

Das nächste Konzert mit Igor Levit in der Region findet am 16. Juni in der Kölner Philharmonie statt: Gemeinsam mit dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg spielt er Johannes Brahms‘ Zweites Klavierkonzert. Levits Debüt auf einer CD seiner Plattenfirma Sony mit Werken Ludwig van Beethovens wird für Herbst 2013 erwartet.




Eine Betrachtung des Neuen: Heiner Goebbels‘ 2. Ruhrtriennale-Programm

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale. Foto:

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, setzt erneut aufs Experiment. Foto: Wonge Bergmann

Teufel: Da hat doch die Kinderjury der Triennale im vergangenen Jahr ihren Preis „Die größte Qual für die Ohren“ ausgerechnet der Lieblingsband des Intendanten Heiner Goebbels zugedacht. Und dann musste er sich von Teilen des Publikums anhören, ein Theaterabend ohne Pause sei arg gewöhnungsbedürftig. So kann es gehen, wenn der Rezipient aus den eigenen (Hör)-Ritualen heraus einem kunstsinnigen Macher begegnet, der das Experiment liebt, das Neue, eben Unerhörte. Das Triennale-Programm dieses Jahres spricht darüber, wieder einmal, Bände.

Goebbels verfasst im Editorial ein Plädoyer für die herrliche Unbefangenheit der Kinderjury, sieht die Vorstellungspause als Störung eines komplexen Wahrnehmungsprozesses. Umgekehrt heißt dies wohl, dass sich der Intendant ein ebenso offenes, dazu höchst neugieriges, intellektuelles Publikum wünscht – für all die Produktionen, die wir hier ganz unbefangen als Theater 2.0, Antitheater oder Metatheater bezeichnen wollen.

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene - wie aus dem Futuristenlabor. Foto:

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene. Foto: Klaus Grünberg

Den Beginn markiert in dieser Saison das Musiktheater des Amerikaners Harry Partch, ein Stück zwischen Traum und Wahn namens „Delusion oft he Fury“. Mit vom Komponisten eigens gebauten Instrumenten und von ihm aufgezeichneten Tonsystemen. Das Bühnenmodell, das im Programmbuch zu sehen ist, wirkt wie aus dem Baukasten eines Futuristen. Das Original gibt’s dann in Bochums Jahrhunderthalle zu bestaunen.

Das Theater 2.0 wiederum findet sich im Tanzgeschehen der Brasilianischen „Grupo de Rua“: Wie zu lesen ist, leitet sich „CRACKz“ aus choreographischem Material ab, das im Internet zu finden ist: „download, remix, share – speichern, neu zusammenfügen, teilen“ ist das Prinzip, zu erleben auf Zollverein in Essen.

Nichts weniger als den Theaterbetrieb ad absurdum führen will „Forced Entertainment“: Altvertraute Figuren und Textfragmente stehen einem Science-Fiction-Sujet gegenüber. Eine Mixtur, „Das letzte Abenteuer“ genannt (Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck). Ähnlich geheimnisvoll, märchenhaft und abenteuerlich geht es in Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zu. Abgesehen davon, dass der Komponist hier die annähernd völlige Dominanz des musikalischen Geräuschs zelebriert, wird Hans-Christian Andersens bekanntes Märchen durch weitere Texte verfremdet. Das Ergebnis kann, wie jüngst in Berlin gesehen, ein unglaubliches Erlebnis werden. Zur Triennale darf nun Robert Wilson seinen Zugang zum wuchtigen Stück, in der Jahrhunderthalle, offerieren.

Beinahe spukig soll es zudem ausschauen in „Stifters Dinge“, einer von Goebbels selbst verantworteten Performance im Duisburger Landschaftspark. Fünf Klaviere erklingen, ohne Hilfe eines Pianisten, es gibt keine Akteure, nur Töne und Bilder. Ein Theater über das Theater: Im Zentrum stehen Bühnenbestandteile (Vorhang), Mittel für szenische Tricks wie Eis oder Nebel.

Die einzige Konstante bei all diesem avantgardistischen Vorpreschen ist das Publikum. Es darf  rätseln, entschlüsseln, sich wundern oder ärgern, debattieren, vielleicht sogar still genießen. Es darf im übrigen auch mitmachen: In William Forsythes großflächigem Labyrinth, einem Raum mit 400 Pendeln, die sich in variablen Tempi bewegen, sollen geneigte Betrachter lustvoll umherschweifen. Oder eher schlangengleich: Denn eine Berührung des Instrumentariums im Essener Museum Folkwang sei zu vermeiden, heißt es im Programm. Ja, wo die Kunst ihre Ordnung hat, ist im Zweifel der Mensch für das Chaos verantwortlich.

„Habt Mut !“ wollen wir den Besucherscharen zurufen. Denn schon manche Theaterrevolution hat sich im Nachhinein als Spiel auf der Bühne vor Publikum entpuppt. Wie in hunderten von Jahren zuvor. Auch Heiner Goebbels und seine Mitstreiter werden das Rad nicht neu erfinden können. Vielleicht sieht’s nur ein bisschen peppiger aus.

Im Internet (www.ruhrtriennale.de) stehen alle weiteren Informationen, im übrigen auch über sämtliche Produktionen der vorherigen Festival-Jahrgänge. Der Vergleich lohnt sich.




Zeitgeist auf der Bühne: „Kinder der Revolution“ in Bochum

logoSie hätten ganz einfach Büchner wählen können. Dantons Tod – auch ein Revolutionsdrama. Aber die Studierenden der Folkwang Universität der Künste wollten für ihren Abend an den Bochumer Kammerspielen selbst ein Stück Revolution schreiben.

Gemeinsam mit dem vielfach ausgezeichneten Regisseur Nuran David Calis suchten sie einen eigenen Zugang dazu, was in der Welt passiert, fanden Kontakt zu jungen Menschen aus neun Ländern und versuchten, ihnen via E-Mail, Skype oder persönliche Treffen nahe genug zu kommen, um sie auf der Bühne zu verkörpern.

Die „Geschichten der Menschen ohne die Medien“ wollten sie, rufen sie im Chor, und kündigen an: „Was jetzt kommt, sind keine Nachrichten, keine Ideologien, keine Theorien.“ Sondern? Ja, was ist „Kinder der Revolution“ geworden? Ein aufwändiges, spannendes Theater-Experiment, das auch von der Schwierigkeit handelt, ein Theater-Experiment auf die Bühne zu bringen.

Denn es ist ein sehr schmaler Grat zwischen einem Theaterexperiment mit authentischem Material und sozialkritischem Betroffenheitstheater. Regisseur Calis hat genau damit Erfahrung, man denke an seine  „Homestories – Geschichten aus der Heimat“ mit Jugendlichen aus Essen-Katernberg am Schauspiel Essen.  Die Schauspielschüler in Bochum versuchen die Balance zu meistern, indem sie immer wieder Brüche einbauen. Niemandem wird gestattet, zu tief in das Schicksal seiner Figur einzutauchen – die Kollegen holen einander dann spielerisch, ironisch oder auch unter Einsatz einer Wasserdusche in die Theater-Gegenwart zurück. Wie sehr lässt man sich auf „seine“ Figur ein, wie nahe soll man ihr kommen – das sind für Schauspieler existenzielle Fragen, auf die die jungen Akteure in diesem Stück ebenfalls Antworten suchen.

Phillip Henry Brehl etwa erzählt von Mohamed genannt „Bibi“, dem Tunesier, der sich aus Perspektivlosigkeit selbst anzündete und damit die arabische Revolution entfachte. Maximilian Schmidt schrieb sich mit der New Yorker Occupy-Aktivistin Cecilie, deren persönliche Krise ähnliche Dimensionen hat wie die Banken-Krise. Sandra Schreiber bringt uns Julia aus Spanien nahe, die durch die al-Qaida-Anschläge in Madrid politisiert wurde, und Mirja Fajfer spielt einen jungen Palästinenser, der noch nie etwas anderes als den Gaza-Streifen sah. Auf der Bühne aus grauen Kuben verwandeln sich die Akteure nie vollständig in ihre „Kontakte“, sie deuten an, wechseln zwischen Erzählen und Spielen.

Es gibt aber auch Geschichten des Scheiterns am selbst gesetzten Anspruch: Raphael Dwinger fand keinen Draht nach Russland, und Leander Gerdes suchte in London-Tottenham erwartbar ergebnislos nach Beteiligten an den Riots. Doch auch diese Geschichten sind spannend erzählt und bildstark inszeniert.

Insgesamt hatte der Abend etwas zu viele Ausrufezeichen, zu viele in die Luft gereckte Arme und Fäuste, letztlich auch zu viele Worte. Der Erkenntnisgewinn bleibt mager, viele bunte Puzzle-Teilchen ergeben zwar Motive, aber noch kein Bild. So ist das vermutlich, wenn man echte Menschen und Krisen auf der Bühne behandelt. Trotzdem: Ein gelungener Ansatz und ein sehenswertes Experiment.

Nähere Informationen: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/11470298

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(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Opel Bochum mal aus einer anderen Sicht

Hier und heute mal etwas Anderes zum Thema Opel: Als kleiner Junge war ich oft bei meinen Großeltern in Bochum-Weitmar zu Besuch. Für ein Kind aus dem dörflichen Münsterland war das Ruhrgebiet eine aufregende Sache. Als dann die ersten Berichte über den geplanten Opel-Bau beim Opa bekakelt wurden, war ich überrascht. Konnte man eine große Autofabrik einfach so bauen? Auf eine Wiese?

Schauseite des Bochumer Opel-Werks (Foto: Bernd Berke)

Schauseite des Bochumer Opel-Werks (Foto: Bernd Berke)

Eine Fabrik, das war in meiner Vorstellung ein Sammelsurium unterschiedlicher Bauteile, die nach und nach aus einer Werkstatt entstanden waren, die mit der Firma wuchsen und dann eben eine Fabrik geworden waren.

Tatsächlich wurde Opel Bochum gebaut. Das war für uns eine Attraktion, die man von außen staunend besichtigte. Später war ich dann mit einem Freund in Eisenach, kurz nach der Maueröffnung und noch vor dem Ende der DDR. Damals im Februar 1990 lag ein stinkender Braunkohlerauch über der Stadt. Sie wirkte wie gelähmt, die Menschen gingen wortlos durch die Straßen, kein Lachen und Plaudern wie in westlichen Fußgängerzonen – von Aufbruch keine Spur. Wir tranken einen Kaffee in einer HO-Gaststätte. An einer langen Theke saßen morgens um 10 mindestens zwei Dutzend schweigende Männer und tranken Bier aus Flaschen.

opel-logo

In diesem Eisenach entstand dann auch eine Opel-Fabrik, noch moderner als die in Bochum und heute ebenfalls in Teilen schon wieder veraltet. Wann wird sie geschlossen? Der Braunkohlengestank in Eisenach ist weg, erzählen mir Bekannte. Die Stimmung näherte sich dem Westen an, vor allem Volksmusik sei dort beliebt. Die Menschen lachen und plaudern auch auf der Straße miteinander. Das bleibt so, bis Opel dicht macht. Vielleicht sollte ich mir ein neues Auto kaufen.




Nichts als Gespenster: „Out of body“ tanzt in Bochum

„Ohne Wahnsinn kein Verstand“: Die Gummizelle hat eine Panoramascheibe, durch die das Publikum die entfesselten Tänzer beobachten kann. In wildem Furor werfen sie sich gegen die Wände, übereinander, auf den Fußboden. Sie sind völlig außer sich, als versuchten sie, mit den Grenzen ihres Körpers auch die der Vernunft zu überschreiten und sich in eine neue Dimension zu katapultieren. „Out of body“ heißt der im Schauspielhaus Bochum uraufgeführte Abend der Herner Tanzgruppe Renegade, die damit ihre dritte Koproduktion mit dem Bochumer Schauspiel zeigt.

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus uns allen“ – auch das ein Satz, der während der mehrsprachigen Aufführung als Übertitel eingeblendet wird. Zugleich ein Motto, denn der blassgeschminkte Conférencier kündigt im Halbdunkel ein schauriges Zombietheater an.

Da gibt es den Wissenschaftler, der sich der „Gefühlologie“ verschrieben hat und deswegen mit einem Dutzend leerer Plastikflaschen jongliert. Diese Leere fühlt er auch in sich. Seine Tochter musste darunter leiden: Den Kopf in eine Plastiktüte gewickelt, erzählt sie kurz vor dem Ersticken über die Schrecknisse ihrer Kindheit. Wie die Schmetterlingssammlung ihres Vaters ihr Angst machte; wie die Insekten sie in ihren Bann zogen, auf ihr herumkrochen, sie schließlich angriffen.

Doch der Spuk hat Methode: Atmosphärisch lehnt sich Julio César Iglesias Ungos Choreografie an Horrorvideos an, in denen es von Zombies, Untoten oder Vampiren wimmelt. So stoßen die Tänzer in einen Bereich vor, der jenseits des Materiellen liegt. Was passiert, wenn die Seele den Körper verlässt? „Am Ende aller Straßen wartet der Tod“, lautet der beruhigende Begleittext auf dem Spruchband.

Mit den Mitteln des Tanzes die Überschreitung des Körperlichen zu erreichen und in das Reich der Gespenster vorzustoßen: Keine leichte Aufgabe, die der kubanische Choreograph, der u.a. für Wim Vandekeybus und Samir Akika getanzt hat, sich da vorgenommen hat. Die Tänzer erfüllen sie mit Humor, großer Gelenkigkeit und einem Schuss Akrobatik. Allen voran der Junge mit den Dreadlocks, der in einem unfassbaren Slapstick einen Besuch in der Spielhölle vortanzt. Dabei scheint er eher dem Comicheft als dem Ballettsaal entsprungen zu sein. So kommt dieses Tanztheater ziemlich unverbraucht und überraschend daher; es zelebriert den Geist der Subkultur und zieht daraus seine Energie. Die Kooperation mit der freien Szene funktioniert als eine Art Bluttransfusion fürs Stadttheater, mit der auch jugendliche Publikumsschichten angesprochen werden.

Nach einer Stunde und 15 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Zombies sinken zurück in ihre Gräber. Wann sie wieder tanzen, erfahren alle Untoten und andere Nachtschattengewächse unter:

www.schauspielhausbochum.de




Ansichten eines Hörbuch-Junkies (5): Frank Goosens Liebe zum Revier

Mir wird ja zunehmend klarer, dass es Texte gibt, die nur als Hörbuch wirklich das wiederzugeben in der Lage sind, was ihr Autor aussagen will.

Sie wirken abgestimmt und wohl legiert – vom Verfasser über den Sprecher oder dessen weibliche Entsprechung auf den Hörleser und seine weibliche Entsprechung ein. Sie malen buntfarbige Bilder oder dralldreisten Unfug mit Sprache und Stimme, stellen für mich als ausgewiesen Junkie dieses Genres inzwischen eine eigenständige Kunstgattung dar. Das war schon häufiger der Fall, beispielsweise bei den Eberhofer-Krimis von Rita Falk, deren Würze nicht zuletzt durch das bayerische Idiom des Christian Tramitz schmackhaft wird, oder beim abgedrehten „Er ist wieder da“ von Timur Vermes, in dem Christoph Maria Herbst den „Föhrer“ grandios durch sechs Stunden trompetet, ohne zu albern oder zu ernst dabei zu wirken, so dass die Gratwanderung dieses feinsinnigen Versuches weder plump noch plöd daher kommt.

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Und nun nahm mich Frank Goosens „Sommerfest“ gefangen, weil Frank Goosens Stimme es mir vorlas und ich zunehmend felsenfester überzeugt war, dass nur er, genau er dazu in der Lage war, seinen Text zu sprechen. Denn nur er kann „Tüss“ so sagen, dass es zwar seine hochdeutsch gemeinte Anmutung bewahrt, aber voll nach Revier klingt, oder Klümpchen, den Begriff, den man schon in Köln nicht mehr als revierne Schwester der Kamelle erkennt. Nur er kann unsere Sprache so sprechen, als sei sie eben d a s Kommunikationsinstrument einer Kulturregion, der einzigen, die rund 60 Kilometer Autobahn sperren kann, um den längsten Tisch der Welt mit fröhlich palavernden Menschen zu füllen.

Zugegeben, ganz fein anders klingt es, wenn ein Bochumer spricht, in den Ohren eines Nachbarn, der aus Köln vor Jahrzehnten nach Dortmund einwanderte, also in meinen Ohren. Aber es klingt dennoch wie zuhause, es fühlt sich fast so an, als erzähle er meine Geschichte, weil ich so vieles wiedererkenne. Wie den generationsübergreifenden Zusammenhalt in einer Kleingartensiedlung, die Unterhaltung Erwachsener, während die Brut pöhlt und um die Entdeckung für die zweite Liga kämpft. Oder das Erinnerungsgedusel alter Freunde, die sich in unterschiedlichen Schichten des Bochumer Soziotops wiedertreffen und nachts beschließen, wie früher zu sein, als sie noch jung waren. Oder die Geschichte von der goldenen Schraube, aus Adolf Winkelmanns Film „Jede Menge Kohle“, die mir Adolf so um 1967 einmal erzählte. Kea, das konnte der auf zwei lockere Stunden ausdehnen bis der Gag kam: „Und drehte, und drehte … und dann fiel ihm der Arsch ab!“

Schauspieler Stefan, der aus München angereist ist, um das Elternhaus einem Makler zu übergeben, auf dass der es verkaufe, weil kürzlich der letzte Bewohner dahin schied, ein Nennonkel, der es in Schuss gehalten hatte, nachdem die Eltern gestorben waren, Stefan ist der „Local Heroe“. Was soll er mit einem Haus in Bochum, wenn sein Theater den Vertrag nicht verlängert; wenn er am Montag doch an der Isar Vorsprechen hat, für eine Fernsehserie, die er nicht einmal kennt. „Toto“ Starek, der leicht eindimensionale Handlanger von „Diggo“ Decker, dem gar nicht so dusseligen Grobschlachter, Frank Tenholdt, der gebildete Bewahrer des Industriekultur-Erbes seines einst Kohle kratzenden Vaters, Franks schöne Frau Karin, die mal Stefan geküsst hat und natürlich „Charly“, also Charlotte, die Enkelin des Masurischen Hammers, der „Omma“ Luises (Stefans Omma) ewige Liebe war, aber auch deren unerfüllte. „Charly“, die erste Liebe von Stefan, der er den ersten Kuss seines Lebens gab, die ihn, wenn auch ein einziges Mal beischlafenderweise, aber stets als kleinen Bruder betrachtet hatte, oder? Sie und noch viele mehr begleiten ihn, den Schauspieler, aus München angereist („Muss man dich kennen?“), durch ein langes Wochenende, in dessen Verlauf Stefan nichts von dem geregelt kriegt, was er eigentlich tun wollte. Aber alles, das den Willen zur Lebensumkehr bei ihm auslöst.

Anka, die Freundin im fernen München, verliert sich, ebenso wie dieses immer fremder werdende München. Bisweilen tölpelt der ewige Ruhri aus Stefan heraus, bisweilen sehnt er sich selbst angesichts der pöbelnden Ruhris aus seiner wiedererkannten Jugend an die Isar zurück, das aber immer seltener. „Was soll ich denn hier?“ heißt es einmal hilflos aus Stefans Mund. „Was sollst du woanders?“ lautet die Entgegnung der „Charly“-Charlotte. Dafür merkt man ihm und dem Erzähler Frank Goosen an, wie der Held mit jeder Begegnung und jeder Erweckung von Erinnerung immer mehr am Heimweh l e i d e t und die Gegenwehr nachlässt, wenn er wieder einmal innerlich feststellt, dass „Totto“ blöd ist, Frank Tenholdt ein Spinner, „Diggo“ Decker das Urbild des Revier-Prolls und … ach „Charly“.

Da ich noch vielen anderen gönne, die wunderschönen Stücke zu genießen, lasse ich es mal dabei und empfehle jedermensch, sich anzuhören, was Frank Goosen seinen Leuten daheim und Fliehenden – in welche Himmelsrichtung auch immer – an die Hand gibt. Dass jeder und jede dahin gehört, wo er/sie sich am wohlsten fühlt, und das ist bei uns, ist doch klar. Stefans Koffer fährt allein nach München zurück, die Bahn nimmt ihn mit, aus der Stefan im letzten Moment noch springt, um doch noch bei „Charly“ nachzufragen, ob sie gemeinsam was machen, so etwa Theater in der alten Kneipe vom Masurischen Hammer, „Omma Luises“ ewige Liebe. Im Koffer ist auch der Schlüssel zum Elternhaus, das er immer noch nicht verkauft hat. Tja, und wie es ausgeht, das erzählt Frank Goosen noch, aber nicht, wie es weiter geht mit dem Hinterzimmertheater und allen anderen Plänen, mit den „Tottos“, Diggos“, mit Frank und seiner untreuen Karin. Aber das können wir uns ausdenken.

Frank Goosen (Autor und Vorleser): „Sommerfest“. Hörbuch (6 CDs / 425 Minuten) im Verlag Roof Music; Tacheles! Ca. 22 €




„Aus“ für Opel – eine Katastrophe im Revier

Opel-Werk I in Bochum (Foto: Bernd Berke)

Opel-Werk I in Bochum (Foto: Bernd Berke)

Man sollte diese Bereiche beileibe nicht gegeneinander ausspielen. Doch eine solche Nachricht stellt leider erst einmal alle kulturellen Anstrengungen im Ruhrgebiet in den Schatten: Heute wurde verkündet, dass im Bochumer Opel-Werk ab 2016 keine kompletten Fahrzeuge mehr hergestellt werden sollen, sondern bestenfalls nur noch bestimmte Komponenten. Das dürfte den Verlust von weiteren 3000 Arbeitsplätzen bedeuten.

Zum Vergleich: In den „goldenen“ Zeiten fanden in den drei Bochumer Opel-Produktionsstätten etwa 20.000 Menschen Arbeit, derzeit sind es noch rund 4000. Der vor allem durch Management-Fehler verursachte Niedergang hält also seit vielen Jahren an, doch jetzt geht es vollends auf den Abgrund zu. Im ohnehin krisenhaften, zutiefst verschuldeten Ruhrgebiet ist dies eine Katastrophe.

Produktion im Bochumer Opel-Werk I - Werksbesichtigung im August 2008. (Foto: Bernd Berke)

Produktion im Bochumer Opel-Werk I - Werksbesichtigung im August 2008. (Foto: Bernd Berke)

Das Luftbild der Bochumer Opel-Werke hatte stets symbolische Bedeutung. Es durfte früher in keiner Erfolgsgeschichte des Ruhrgebiets fehlen. Hier war sie, die Zukunft, die sich nach den Zechen- und Stahlwerksschließungen auftun sollte. Und so entstand denn auch das im Oktober 1962 eröffnete Automobilwerk auf dem Gelände einer ehemaligen Zeche. Ab 1963 lief hier das Erfolgsmodell Kadett A vom Band. Die Bedeutung der Fabrik reichte weit über Bochum hinaus. Die Belegschaft kam praktisch aus dem ganzen Revier. Somit steht jetzt auch ein Stück der regionalen Identität auf dem Spiel. Und damit haben wir noch gar nicht von der ortsnahen Zulieferindustrie geredet.

Es wäre eine Illusion zu glauben, dass sich der immense Verlust etwa durch Gründung von avancierten Softwareschmieden oder Unternehmen der Bio- und Umwelttechnologie auch nur annähernd wettmachen ließe. Das sind andere Felder.

In den besseren Tagen wurde bei Opel die Basis erwirtschaftet, die sich irgendwann nicht zuletzt im kulturellen Überbau niederschlagen konnte. Es wäre daher nur recht und billig, wenn jetzt auch wieder Kulturschaffende des Ruhrgebiets – mit ihren speziellen Mitteln – den Opel-Beschäftigten beim Kampf um ihre Arbeitsplätze zur Seite stehen würden.

Unterdessen darf man sehr gespannt sein, ob und wie sie sich bei Borussia Dortmund (Werbepartnerschaft mit Opel) zur neuesten Entwicklung äußern werden…




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Als Wolfgang Welt die Treibsätze seiner Texte zündete

So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.