Wer auf dem Pavianfelsen oben sitzt – Elmar Goerden besorgt in Bochum die Uraufführung von Schimmelpfennigs „Besuch bei dem Vater“

Von Bernd Berke

Bochum. Heimkehr des verlorenen Sohnes, anders als in der Bibel: Als 21-Jähriger taucht ein gewisser Peter bislang ungekannten Vater auf. Der Patriarch Heinrich lebt mit diversen Frauen in der 20-Zimmer-Villa seiner Gattin draußen am Walde. Nun legt sein Sohn die allzu bereiten Weibchen reihenweise flach. So weit die Nachricht.

„Besuch bei dem Vater“ – bewusst steif und unterkühlt gibt sich der Titel. Roland Schimmelpfennig hat für seinen neuen Theatertext die Gattungsbezeichnung „Szenen und Skizzen“ gewählt. Tatsächlich ist es kein Stück im herkömmlichen Sinne, sondern ein mäanderndes Gebilde mit recht schroffen Tempowechseln. Mal gleicht der Redefluss einem munteren Bach, mal einem gestauten Gewässer. Hie und da plätschert’s leise. Der Text (den der emsige Schimmelpfennig zur Trilogie ausbauen will) wirkt streckenweise fahrig und zerstreut.

Schreckliches Logo auf dem Handy

Allerdings birgt der Stoff enorm viel „Futter“ für Schauspieler. Beinahe sensationell: Bochums Intendant Elmar Goerden, sonst lieber den Klassikern hold, liefert hier die erste Uraufführung seiner Laufbahn. Wie zwei gute alte Kumpel nahmen er und Schimmelpfennig nebst Ensemble den herzlichen Beifall entgegen. Schön und gut. Wenn Freundschaft denn den Blick nicht trübt. Goerden ist kein Zertrümmerer, er lässt Stücke stets zum Tragen kommen. So zeigen sich ihre Stärken, aber auch Schwächen.

Schimmelpfennig jongliert leichthändig mit Versatzstücken und grast zwischen Tag und Traum so manches ab: Buchstäblich bei Adam, Eva und Noah beginnen seine Streifzüge. Die biblischen Urahnen kommen als längst verlorene Bezugsgrößen zur Sprache. Zwischendurch blitzen Signale der Gegenwart auf, die freilich auch mit Vergangenheit durchwoben sind. Heinrichs Teenie-Tochter Isabel (Louisa Stroux) hantiert unentwegt mit einem Handy, auf dessen Display ein Leuchtturm-Logo wie ein KZ-Wachturm aussieht.

Menschenleere Republik dämmert herauf

Auch sonst umspielt der Text das Jetzt aus Halbdistanz. Da geht’s etwa um kinderlose Frauen in den Dreißigern, die beruflich bereits abgehängt und auf Umschulung angewiesen sind. Eine menschenleere Republik dämmert schon am Horizont. Es gibt überdies Zeichen, dass Lesekultur (Zerreißen russischer Bücher von Tolstoi & Co.) und Esskultur (keiner weiß, wie man eine Ente herrichtet) vergehen.

Angesichts der unheilschwangeren Zukunft verliert auch Heinrichs Frau Edith (Susanne Barth) die Balance. Anfangs hat die distinguierte Dame das Geschehen im Griff – wie ein Conférencier, der die Zuschauer durch einen gediegenen Abend geleitet. Doch uralte Riten und Triebe zwischen den Geschlechtern ragen hinein – und sind stärker.

In den trostlosen Stillstand der lieblos möblierten winterlichen Villa schneit also dieser angebliche Sohn Peter (übermüdet, trotzdem jugendlich vital: Marc Oliver Schulze) hinein. Woher er kommt, weiß niemand. Auf solch ein unbeschriebenes Blatt können die Frauen ihre (sexuellen) Wünsche projizieren. Alsbald beherrscht er mit maskulinem Gehabe ohne sonderlichen Aufwand die Agenda im Haus.

Qual mit dem verlorenen Paradies

Der Vater (Wolfgang Hinze) muss es geahnt haben: Gleich bei der ersten Begegnung hat er sich Peter (wenn auch noch freundlich) vom Leibe gehalten. Er spielt diesen Zwiespalt mit exquisiter Choreographie. Wie denn überhaupt die wechselnde Haltung der Figuren zueinander mitunter einem Ballett gleicht. Doch zuweilen sind es auch bloße Stellproben mit rastlosen Auf- und Abtritten.

Der Nimbus des alten Heinrich wird jedenfalls demontiert. Er ist ja auch brüchig. Seit zehn Jahren quält sich der Anglist mit einer Übersetzung von Miltons „Paradise Lost“(„Verlorenes Paradies“ – aha, aha!). Und wenn Sonja (Katja Uffelmann) in seinem Beisein eine Wildente (Achtung, Ibsen-Anspielung!) schießt, hält er dies für einen Höhepunkt seines Lebens.

Schließlich landet man quasi wieder in der Urhorde, Die beiden Männer zücken Messer und Feuerwaffen, die Frauen quieken vor Angst. Wer darf ganz oben auf dem Pavianfelsen sitzen? Ach ja, die Tünche der Kultur und Zivilisation ist eben dünn.

18., 21 .,27. April, 9, 11., 30. Mai. Tel.: 0234/3333-5555.

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ZUR PERSON

Vom Journalismus zum Theater

  • Roland Schimmelpfennig wurde 1967 geboren.
  • Er arbeitete zunächst als freier Journalist und Autor in Istanbul – ein spezieller Umweg zum Theater.
  • 1990 begann er ein Regiestudium in München und gehörte später zur künstlerischen Leitung der dortigen Kammerspiele.
  • Zwischenzeitlich war er Hausautor an der Berliner Schaubühne und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.
  • Neuere Stücke: „Fisch um Fisch“, „Die arabische Nacht“, „Push Up 1-3″, „Die Frau von früher“, „Angebot und Nachfrage“.



Auch Bochum will ein Konzerthaus bauen – Finanzielle Vorbehalte / „Konkurrenz“ reagiert gelassen

Von Bernd Berke

Bochum. Auch Bochum möchte ein Konzerthaus bauen – für 21,4 Mio. Euro. Dies hat gestern der städtische Kulturausschuss im Grundsatz bekräftigt.

Allerdings wurde auf die im November 2006 anstehenden Haushaltsberatungen verwiesen. Falls das Projekt dann bejaht wird: Würde eine neue Konkurrenz für die Philharmonien in Dortmund und Essen drohen?

Die WR fragte nach und vernahm betont gelassene Stimmen. Dortmunds Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa findet den Vorgang undramatisch und sagt sogar: „Das wäre eine Supersache. Die Bochumer Symphoniker hätten es verdient.“

Bisher muss das Orchester (Leitung: Steven Sloane) zwischen diversen Bochumer Spielstätten „tingeln“. Mit dem Neubau neben der Jahrhunderthalle bekäme es endlich eine feste Bleibe. Das Bochumer Haus mit rund 1100 Plätzen (Dortmund: fast 1600, Essen: 1800) würde zudem in einer anderen Liga spielen, meint Stampa: „Da dürfte es keine großen Publikums-Bewegungen geben.“

Ähnlich unaufgeregt sind die Erwartungen bei der Essener Philharmonie. Und Prof. Franz Xaver Ohnesorg, Chef des Klavierfestivals Ruhr, findet: „Die Entscheidung wäre längst überfällig. Wenn man es intelligent anfängt und eigene Profile findet, so ergänzen sich die Häuser.“

Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers stellt klar: „Wir wollen kein Konzerthaus im eigentlichen Sinne, sondern in erster Linie eine feste Spielstätte für unsere Symphoniker.“ Gewiss könne es auch Fremdveranstaltungen geben, doch eher im Jazz- oder Kammermusik-Bereich.

Hat es im Vorfeld Absprachen zwischen den Revier-Kommunen gegeben, die sich gemeinsam anschicken, Europäische Kulturhauptstadt 2010 zu werden? Offenbar ja. Mit seinen Dezernenten-Kollegen Jörg Stüdemann (Dortmund) und Oliver Scheytt (Essen) ziehe er auch in der Angelegenheit „an einem Strang – und zwar in dieselbe Richtung“, versichert Bochums Küppers. Auch mit den Chefs der Philharmonien in Essen und Dortmund herrsche Einvernehmen.

Das Problem ist Bochums prekäre Haushaltslage. Das Konzerthaus soll von der Stadt-Tochter „Entwicklungsgesellschaft Ruhr“ gebaut werden. Ab 2009 würden jährlich 1,3 Mio. Euro Mietkosten zu Lasten der Stadt anfallen. Spätestens bis dahin, so Küppers, müsse man den Etat so weit konsolidieren, dass sich Bochum diese Ausgabe erlauben kann. Unter solchen Vorbehalten wurde denn auch gestern im Kulturausschuss beraten. Denn die Bezirksregierung in Arnsberg überwacht die Bochumer Haushaltsführung genau.

 




Philosophische Suche nach dem Sinn

Bochum. Der Bochumer Gregor Nottebom hat eine ganz besondere „Ich-AG“ gegründet. Der studierte Philosoph versucht Menschen bei der Sinnsuche zu helfen – im direkten Gespräch, telefonisch oder auch via e-Mail und Internet. Gegen Gebühr, versteht sich. Ein Gespräch mit ihm über sein wahrhaft weitläufiges Arbeitsfeld.

Frage: Suchen die Leute das ganze Jahr über bei Ihnen Rat?

Gregor Nottebom: Hochsaison ist jetzt, um Weihnachten herum. Es ist tatsächlich so, wie man es sich vorstellt. Wenn zu Weihnachten viele mal etwas mehr Zeit haben, kommen auch manche Konflikte ans Licht. Und die Sinnfrage stellt sich stets in Konflikt-Situationen.

Wie grenzen Sie sich mit Ihren Ratschlägen vom Psychologen ab?

Nottebom: Meine Klienten sind in der Regel nicht krank oder ernsthaft gestört. Falls doch, dann empfehle ich ihnen eine Psychotherapie. Bei mir geht es eher um Kommunikations-Probleme, die mit dem Verstand bewältigt werden können. Da muss man nicht gleich unmittelbar über sein Problem sprechen, sondern kann „durch die Hintertür“ kommen. Wenn es sich nicht um Hobby-Philosophen handelt, die einfach mal fachsimpeln wollen, kommt man dann aber doch sehr schnell auf eine persönliche Ebene.

Wie vermitteln Sie mit der Philosophie Lebenssinn?

Nottebom: Es ist nicht so, dass jemand mich auffordert: Verraten Sie mir mal den Sinn des Lebens – und ich sage es ihm dann in ein paar Sätzen. Letztlich muss sich jeder seine Antworten selbst erarbeiten. Dabei können philosophische Anstöße helfen. Deswegen gebe ich auch Literatur-Hinweise – und wir sprechen dann über die Texte. An manchen philosophischen Zitaten kann man sich ja richtig schön abarbeiten. Einmal war eine krebskranke Frau bei mir, die noch dazu im Beruf gemobbt wurde. Mit ihr habe ich Schriften zum Thema „Stigmatisierung“ besprochen. Das alles hat gar nichts mit Esoterik oder Gesundbeten zu tun, sondern damit, dass man trainiert, die richtigen Fragen zu stellen.

Um welche Probleme geht es denn meistens?

Nottebom: Na, die ganze Bandbreite. Konflikte im Job. Stress mit Schule und Erziehung. Glaubensfragen. Im Vordergrund stehen aber Partnerschaftsprobleme. Fremdgehen ist ein häufiges Thema.

Etwa nach dem Motto: Welcher berühmte Philosoph kann mich beim Fremdgehen gedanklich unterstützen?

Nottebom: Ja, auch das kommt vor. Kennzeichen der wahren Philosophen ist es, nicht schon im Voraus moralische Gebote oder Verbote auszusprechen. Aber natürlich wird man in einem solchen Fall nicht nur nüchtern erwägen: Was nützt mir das Fremdgehen? Man wird wohl auch moralische Fragen anschneiden müssen. Es sitzen oft Paare oder auch Eltern mit halbwüchsigen Kindern bei mir, streiten sich oder schweigen sich an. Dann moderiere ich. Die Philosophie hilft, solche Konflikte auf eine sachliche, rationale Ebene zu bringen. Hinzu kommen Grundregeln der Kommunikation: keine Vorhaltungen, keine Verallgemeinerungen wie „Du hast ja immer schon…“ Erst wenn das geklärt ist, kann man sich der Sinnfrage nähern.

Sie könnten zum Beispiel mit Karl Marx vorgehen, aber auch mit Kant oder Nietzsche. Wie entscheidet sich, in welche Richtung die Gespräche laufen?

Nottebom: Ich gebe keine Richtung vor. Es liegt immer an der speziellen, persönlichen Fragestellung. Allerdings habe mich am meisten mit Hegel befasst. Mit seinem dialektischen Denken in Widersprüchen kann man sehr weit kommen: Der Sinn, den man für sich gefunden hat, gilt ja nicht für immer und ewig. Er kann sich ins Gegenteil verkehren. Man kann bei Hegel lernen, mit solchen Widersprüchen umzugehen. Auch bei Wertkonflikten sind philosophische Ansätze hilfreich, etwa um zu klären: Was ist mir wichtiger, die Familie oder der Beruf? Daraus lassen sich Entscheidungen über den Lebensweg ableiten.

Sehen Sie einen Sinn des Lebens, der für alle Menschen gilt?

Nottebom: Der besteht darin, dass wir ihn alle suchen. Die Suche nach dem Sinn ist eigentlich schon der Sinn. Die ständige Bereitschaft zur Sinnsuche ist schon der größte Schritt. Dabei ist es letztlich zweitrangig, ob man einen philosophischen, religiösen oder auch astrologischen Weg beschreitet. Feststehende Antworten gibt es ohnehin nicht. Wenn man versucht, den Sinn festzuhalten, ist das ein Zeichen dafür, dass man schon wieder dabei ist, ihn zu verlieren…

Also gibt es niemals eine “Ankunft“?

Nottebom: Ich glaube: Nein! Was heute für mich richtig ist, kann morgen falsch sein. Aber man muss sich nicht treiben lassen, sondern sollte bewusste Entscheidungen anstreben. Auch Nicht-Entscheiden oder Nicht-Handeln ist eine Möglichkeit. Wichtig ist dabei die Selbsterkenntnis. Die drei uralten philosophischen Kernfragen lauten ja ganz lebenspraktisch: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich tun? Darauf lässt sich jede Entscheidung im Leben gründen: Will ich mich trennen? Wechsle ich den Beruf? Ziehe ich in eine andere Gegend?

Apropos: Ist das westfälische Ruhrgebiet ein guter Standort für eine „philosophische Praxis“?

Nottebom: Es geht so. Generell scheint es im Süden besser zu laufen. Allein in Heidelberg gibt es mehrere Praxen dieser Art. Je weiter man nach Norden kommt, umso schlechter. Vielleicht hat es etwas mit Katholiken und Protestanten zu tun.

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INFO

Die philosphische (Lebens)-Beratung hat sich um 1982 zuerst in Deutschland etabliert. Inzwischen floriert sie auch in Ländern wie den USA, Kanada, Holland, Norwegen und Israel.
Berater wie Gregor Nottebom haben sich zusammengeschlossen in der Internationalen Gesellschaft Philosophischer Praxis e. V. (IGPP). Es gibt regelmäßige Tagungen. Im April 2006 wird man sich im spanischen Sevilla treffem, im Oktober 2006 in Berlin.
Weitere Informationen über Gregor Notteboms „Philosophische Praxis“ in Bochum: http://www.sinnsuchen.de
Konkurrenz belebt auch die philosophische Szene: Auf der Internet-Seite http://www.pro-phil.de stehen viele weitere philosophische Praxen in ganz Deutschland. Die Stadt mit den meisten Adressen ist übrigens München.

(Der Beitrag hat in leicht verkürzter Form am 24. Dezember 2005 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund, gestanden).




Die Pein, ein Mensch und noch dazu man selbst zu sein – Genazinos „Lieber Gott mach mich blind“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Körperlicher Verfall, wohin man auch blickt. Runzeln, Falten und Warzen breiten sich aus, die Haut wird teigig, übler Schweiß rinnt ohne Unterlass. Die Haare der einen stinken „nach Maggi“, das Gesicht des anderen sieht grässlich kastenförmig aus.

Am liebsten möchte man die ganze Hässlichkeit gar nicht mehr wahrnehmen: „Lieber Gott mach mich blind“ heißt denn auch Wilhelm Genazinos neues Stück, das jetzt in Bochum Premiere hatte. Stimmiger Ort ist das „Theater unter Tage“, sozusagen der Keller des Schauspielhauses. Bloß kein Licht hereinlassen!

Büchner-Preisträger Genazino, zumal als Prosa-Autor famos, unterhöhlt hier den landläufigen Jugend- und Schönheitswahn. Fünf nahezu abgestorbene, gleichwohl geschwätzige Figuren betreten die Bühne: Robert und Martha (Klaus Weiss und die geradezu gläsern zerbrechlich wirkende Margit Carstensen) sind ein älteres Paar. Sie haben sich längst nichts mehr zu sagen, werden aber gewiss für alle verbleibende Lebenszeit nebeneinander her leben. Sodann ihr Sohn Andreas und dessen trennungswillige Frau Tessa (Mark Oliver Bögel, Veronika Nickl).

Vom südlichen Liebestraum bleibt nur die Schürze mit Capri-Motiven

Schließlich die verblühte Iris (Veronika Bayer), die früher mal was mit Robert hatte und immer noch lachhaft frivol an die „Vögelei“ von damals anknüpfen möchte. Doch zu Roberts Leidwesen bringt sie nicht mal mehr eine anständige Perversion zuwege. Vom südlichen Liebestraum bleibt der kessen Iris nur die kitschige Schürze mit Capri-Motiven.

Diese absonderlichen Menschen beklagen unentwegt ihre leiblichen Schwundstufen – und halten sie sich auch gegenseitig vor. Die allgemeine Hypochondrie wirkt zuweilen äußerst komisch. Doch Vorsicht! Es ist eine schmerzliche Farce der Vergänglichkeit nach Samuel Becketts Art. Das Stück reicht tief ins Existenzielle, es handelt überhaupt von der Pein, ein Mensch und noch dazu man selbst zu sein. Linderung besteht nur darin, der Qualwenigstens Namen zu geben. Einzig und allein dieser Wille treibt die Sprache an.

Etwaige Eingriffe der Regle (Christian Tschirner) sind kaum zu spüren, und das ist gut so. Denn dies ist ein Stück für Schauspieler. Die starke Bochumer Besetzung holt auf karger Szenerie (nur eine Matratze und ein Wasserbecken) viele Nuancen heraus. Kein eintöniger Jammer, sondern reiche Ernte im Absurden.

Termine: 21. Dez. 2005 – 3., 26., 27. und 31. Jan. 2006. Karten: 0234/3333-5555.




„Den Ruhrpott muss man lieben“ – Gespräch mit der Schauspielerin Tana Schanzara

Von Bernd Berke und Rolf Pfeiffer

Bochum. Man kann es bei aller Diskretion nicht ganz verschweigen: Tana Schanzara, die große Dame des Theaters im Ruhrgebiet, feiert nächsten Montag ihren 80. Geburtstag. Die WR hat sie – mitten in der Probenarbeit – in ihrer Bochumer Theater-Garderobe besucht. Der kleine Raum ist gefüllt mit Maskottchen und Erinnerungsstücken an ihre lange Laufbahn. Zur Begrüßung bietet Tana uns erst mal ein Piccolo-Fläschchen Sekt an.

WR: Ihre Garderobe sieht ja aus wie eine kleine Bühne. Viele Dinge – und so schön bunt.

Tana Schanzara: Ja, ich schmeiß nie was weg. Da schenken einem die Leute nette Sachen und sagen Toi-Toi-Toi! Das muss man doch aufheben. Bei manchen Kollegen sieht’s dagegen steril aus. Wie in der Klinik.

Wie viele Rollen haben Sie wohl schon gespielt?

Tana Schanzara: Och. weiß ich gar nicht! Reichlich.

In Bochum haben Sie praktisch alle Nachkriegs-lntendanten kennen gelernt.

Tana Schanzara: Ja, außer Saladin Schmitt. Eigentlich mocht‘ ich sie alle gern, auch Matthias Hartmann. 1954 kam ich aus Gelsenkirchen als Gastschauspielerin nach Bochum – mit Jürgen von Manger. Wir fuhren mit dem Bus. Auf diesen Strecken Manger seine Tegtmeier-Geschichten erfunden. Was haben wir gelacht!

Wie hat alles begonnen?

Tana Schanzara: Meine Eltern waren am Theater, beide als Sänger. Als ich in Kiel geboren wurde, gab meine Mutter ihren Beruf auf. Eine schwere Hypothek für mich. Übrigens war ich eine ziemlich schwere Geburt. Meine Mutter hat drei Tage lang geschrien wie am Spieß. Ich hab‘ selbst nie ein Kind haben wollen.

Sie gelten als die Ruhrgebiets-Figur schlechthin.

Tana Schanzara: Ja, weil ich so lange hier bin. Claus Peymanns Chefdramaturg Uwe Jens Jensen hat oft mit mir geblödelt. Irgendwann hat er gesagt: Du musst ein Solostück haben. Die Songtexte, so richtige Ruhrsongs, hab‘ ich mir selbst geschrieben und bin damit auch getingelt. Das brachte schön Geld. Jensen hat dann kleine Stücke drumherum verfasst. Die Sachen liefen dann wie Bolle. Und die Kritiken: Überragend wär‘ ich gewesen! So ‚was liest man doch gern. Dann kamen noch Film und Fernsehen.

Sie stehen fürs Revier, obwohl Sie in Kiel geboren sind.

Tana Schanzara: Als ich drei Jahre alt war, zogen meine Eltern von Kiel nach Dortmund, in die Leipziger Straße. Da bin ich aufgewachsen und habe auch früh Ballett-Unterricht genommen. Also bin ich eigentlich „von hier“.

Haben Sie eigentlich immer noch Lampenfieber?

Tana Schanzara: Aaach! Natürlich. Wer sagt, er hat keins, der lügt.

Was ist denn das Spezielle am Ruhrgebiet?

Tana Schanzara: Naja, ich habe mal so ein Lied gemacht (singt): „Wenn der ganze Ruhrpott eine Stadt war, wär’n wir wie New York so groß…Mit unsren schönenEcken müssen wir uns nicht verstecken.“ So isset doch!

Dann finden Sie es sicher auch gut, dass sich Essen und das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas beworben haben.

Tana Schanzara: Ja, das würde mich sehr freuen. Und wenn schon, dann muss der ganze Ruhrpott Kulturhauptstadt werden. Essen alleine bringt es nich‘. Die sollen es werden und den Titel annehmen – aber bitte für uns alle.

Was halten Sie von jüngeren Comedy-Leuten im Revier?

Tana Schanzara: Wennse von hier sind, könnses machen. Aber manche sprechen die Sprache gar nicht richtig. Das ist dann schlecht. Auch ein Herbert Knebel hat letztlich von Manger gelernt. Der Manger war ja aus Hagen, der hat alles erfunden, und er hat die Sprache der Gegend einfach geliebt. Übrigens will mir Hape Kerkeling – er is‘ ja aus Recklinghausen – bald einen neuen Liederabend schreiben, er hat’s versprochen. Leider hat er so wenig Zeit. Aber ich könnte ja auch mal Helge Schneider fragen…

Hatten Sie eigentlich jemals einen Misserfolg?

Tana Schanzara: Ich tu immer mein Bestes, und bisher hat’s immer geklappt.

Fällt es Ihnen leicht, die Texte zu lernen?

Tana Schanzara: Da hat man ja Routine. Doch wenn man trotzdem mal einen „Hänger“ hat, ist es heute schwierig. Früher saß die Souffleuse in einem Kasten. Das Publikum hörte fast nichts, wenn sie einem zuflüsterte. Der Kasten war den Bühnenbildnern aber im Weg. Jetzt sitzt die Souffleuse irgendwo, wo sie keine Sau auf der Bühne hört. Wenn jetzt was schiefgeht, schreit sie von ganz hinten her oder aus der ersten Zuschauerreihe. Alle hören es, nur die Schauspieler nicht.

Was machen Sie an Ihrem Geburtstag?

Tana Schanzara: Ich wollte ja schon abhauen. Aber das geht wohl nicht. Ich mag die Zahl gar nicht, die ich da erreiche. Nun ja. Jetzt muss ich wohl gleich zur Probe. So geht’s eben: Hart aber grausam.

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ZUR PERSON

„Perle vom Pott“ kam in Kiel zur Welt

  • Am 19.12.1925 wird Konstanze Schwanzara (Taufname) in Kiel geboren.
  • Nach dem Abitur nimmt sie Schauspielunterricht in Köln. Bevor sie 1956 als festes Ensemblemitglied nach Bochum kommt, hat sie Engagements in Bonn, Köln, Mannheim, Oldenburg und Gelsenkirchen.
  • Film und Fernsehen (kleine Auswahl): „Jede Menge Kohle“ (1981, von Adolf Winkelmann, „Willi und die Windsors“ (1996) und „Die Oma ist tot“ (1997), beide von Hape Kerkeling, „Jazzclub“ (2004, von Helge Schneider).
  • Heute hat in Bochum der neue Liederabend mit Tana Schanzara Premiere:„A Kiss is just a Kiss“.
  • „Vatta, aufstehn!“ war in den 70er Jahren Tanas größter Hit.
  • Kosenamen: „Perle vom Pott“, „Ruhrpott-Duse“.



Menschen in einem Zufluchtsraum – Dieter Giesing inszeniert „Die Zeit und das Zimmer“ von Botho Strauß in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Damit hatte der Kulturbetrieb nicht gerechnet: Letzten Freitag machte sich der angeblich so weltenthobene Schriftsteller Botho Strauß in der FAZ Gedanken über eine mögliche schwarz-grüne Zukunft der Republik: Auch dabei zog er allerdings ganz große Grundlinien und begab sich nicht etwa in die „Niederungen“ der Tagespolitik.

Sein 1989 uraufgeführtes Stück „Die Zeit und das Zimmer“, jetzt von Dieter Giesing in Bochum imzeniert, scheint zwar weit jenseits des Alltags ins Ungefähre zu schweben. Doch das Traumspiel in der Spät-Nachfolge eines Strindberg geht aus schmerzlich genauen Beobachtungen des Mittelschicht-Lebens hervor.

Das leere weiße Zimmer im wundersam wechselnden Dämmerlicht, das Karl-Emst Hermann gebaut hat, bedeutet als Zufluchtsraum zugleich die jetzige Welt in all ihrer Mobilität und Haltlosigkeit. Es ist Schauplatz flüchtiger Menschen-Passagen. Wie Geistererscheinungen gleiten die Figuren zueinander und aneinander vorbei. Wen sie gestern oder vorhin geliebt haben und warum, das haben sie schon nieder vergessen. Jede Begegnung trägt hier schon das Vergehen in sich.

Dasein als Durchgangsstation

Es ist die ebenso sorgsame wie gelassene Arbeit eines in Leben und Theater gewiss erfahrenen Regisseurs. Sehr präzise und doch mit luftigen Freiräumen führt Giesing die durchweg inspirierten Darsteller durch die Aggregatzustände dieses Daseins als Durchgangs-Station. Alter Befund im neuen Gewand: Die Frauen, vor allem jene so selbstverständlich und umstandslos auftretende Marie Steuber (so überaus klar, dass sie schon wieder geheimnisvoll wird: Catrin Striebeck), die Frauen also wirken vorwiegend naturhaft, wie unterwegs zu einem wieder gefundenen Mythos.

Diese Marie weckt Männerphantasien: Ist sie etwa eine „heilige Hure“, furienhafte Medea oder doch nur eine erotisch Berechnende, die auf einen Job aus ist? Wohl nichts von alledem. Fest gefügte Identitäten gibt’s hier ohnehin nicht.

Untiefen allzu großer Ehrlichkeit

Die Männer hingegen scheinen gesellschaftlich verbogen zu starren, eher bizarren Charakteren. Doch auch bei ihnen keimt die Weigerung, noch etwas anzustreben oder Meinungen zu hegen. Mal wieder geradezu kultverdächtig lakonisch gibt Ernst Stötzner den Skeptiker „Julius“, der sich ein buddhistisches Nichts-mehr-Wollen zu eigen machen möchte. Zusammen mit Olaf (wunderbareer Widerpart: Burghart Klaußner) steigert er sich gar in eine Art Sketch über die Untiefen allzu großer Ehrlichkeit hinein – irgendwo zwischen Beckett, Loriot und eben Strauß.

Das Stück sammelt gängige Floskeln und Neurosen ein, zielt aber kühn ins Jenseitige: Es spielt nach und hinter allen gescheiterten Verliebtheiten oder auch feministischen Aufregungen. Die wechselnden Begegnungen im Zimmer evozieren Schrecken und Zauber der Wiederkehr. Die Kraft der Sprache ist zuweilen so beschwörend wirksam, dass sogleich geschehen kann, wovon eben gesprochen wurde.

Die 100 pausenlosen Minuten vergehen wie in Traum und Flug. Atemlos folgt man den rasch verwehenden Spuren der Menschenwesen. Großer Beifall fürs Regieteam und das gesamte Ensemble.

Termine: 4., 12., 15., 19., 20., 27. November. Karten: 0234/3333-5555.

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Zur Person

• Botho Strauß wurde am 2.12.1944 in Naumburg (Saale) geboren.

• Von 1967 bis 1970 war er Redakteur bei der Fachzeitschrift „Theater heute“, dann bis 1975 Dramaturg an der Berliner Schaubühne bei Peter Stein.

• 1989 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.

• Eine Auswahl wichtiger Werke: 1976 „Trilogie des Wiedersehens“ / 1978 „Groß und klein“/ 1981 „Paare Passanten“ / 1984 „Der junge Mann“ / 1988 „Besucher“ / 1994 „Wohnen Dämmern Lügen“ / 2001 „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“ / 2004 „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“.

 




Fußball im edlen Frack – Experiment der RuhrTriennale: Oratorium „Die Tiefe des Raumes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wer wollte bestreiten, dass der Fußball rituelle und mythische, ja quasi religiöse und liturgische Anteile hat? Da liegt es vielleicht doch nahe, diesem phänomenalen Sport ein ehrwürdiges Oratorium zu widmen. Die RuhrTriennale probiert’s mit der in Bochum uraufgeführten Kreation „Die Tiefe des Raumes“.

Wenn hier die Mannschaftsaufstellung verkündet wird, klingt es fast, als riefen Posaunen zum Jüngsten Gericht. Der mit blauweißen bzw. schwarzgelben Schals angetretene, zuweilen ausgelassen tobende TriennaleChor (48 Damen und Herren verkörpern 60 000 Fans) antwortet auf die Vorgabe „Oliver“ mit Donnerhall: „Kaaaaahn“! Dazu lässt Dirigent Steven Sloane die sturmstarken Bochumer Symphoniker zu apokalyptischer Klangmacht anwachsen.

Das Spiel mit der komischen Fallhöhe

Es darf gefeixt werden. Derlei komische Fallhöhe zwischen Thema und Instrumentierung wird sich an diesem Abend häufig ergeben. Es ist ja ein Heidenspaß. Doch irgendwann fragt man sich, ob dem Fußball dieser edle Frack überhaupt passt. Soll das Kicken nachhaltig nobilitiert werden? Oder lässt man sich gnädig-gönnerhaft dazu herab? Ist diese Schöpfung gar blasphemisch, weil sie eine religiös geprägte Form profan ausbeutet? Nun, so päpstlich sollte man nicht denken.

Erzählt wird die Geschichte eines 17-jährigen Spielertalents (Corby Welch, Tenor): Er schwankt zwischen „Tugend“ (Claudia Barainsky, Sopran) und „Laster“ (Ursula Hesse von den Steinen, Mezzosopran). Wird er nach ersten Erfolgen nur noch hinterhältig nach Geld und Weibern gieren, oder wird er dem wunderbar zweckfreien Spiel huldigen, wie es dem Menschen seit Anbeginn der Zeiten gemäß ist? Ein paar Lebensjahre hinzu gerechnet, denkt man dabei jetzt vor allem an Kölns Nationalstürmer Lukas Podolski. Er soll bei der Genese dieses Oratoriums gleichsam Pate gestanden haben: Tonsetzer und Textautor haben angeblich diskutiert, ob es sich bei ihm um eine „Erlöserfigur“ im biblischen Sinne handele…

Doch ein erzählerischer Kern schält sich nicht so klar heraus in dieser Aufführung, die fußballgerecht zweimal 45 Minuten plus 8 Minuten (!) Nachspielzeit dauert und mit dem legendären Resultat 3:2 endet. Es fehlt ein kräftiger roter Faden. Ohne Programmheft (mit komplettem Libretto-Text) haben Zuschauer bei dieser gestisch nur sparsam akzentuierten Nummernfolge kaum eine Chance. Die überfrachtete Story (Autor: Schalke-Fan Michael Klaus) verirrt sich auf ebenso viele Nebenwege wie die Musik (Komponist: Bayern-Anhänger Moritz Eggert).

Wenn die Abseitsregel gesungen wird

Der Text sammelt allerlei Vorfälle aus dem Umkreis eines Fußballspiels ein – bis hin zur gesungenen Erläuterung der Abseitsregel. Zudem wollen drei prominente Rezitatoren als Trainer, Radioreporter und Alt-Internationaler mitmischen: Doch Joachim Król, Christoph Bantzer und Peter Lohmever (Film „Das Wunder von Bern“) dringen mit ihren Sprechstimmen manchmal kaum durch.

Die Musik ist vollends eklektisch. Sie nimmt – mit imponierendem Kunstverstand – ihre Impulse von überall her und begreift alles als Spielmaterial, beileibe nicht nur Schlachtgesänge aus der Stadionkurve. Der hehre Duktus eines barocken Oratoriums (Gipfel ist eine „Hymne an den Ball“) wird in dieser Collage vielfach (post)modernistisch und ironisch gebrochen. Es gellen die Schiri-Pfeifen und Siegesfanfaren à la Verdi dazwischen, oder man wiegt sich auch schon mal in schlagerseligen Rhythmen undskandiert feinsinnige Weisheiten: „Nichts ist scheißer als Platz zwei.“

Meist steigert sich das Orchester aus lyrisch leisen Kapitel-Anfängen in ein anschwellendes Breitwand-Pathos, das freilich immer wieder in den tonalen Zusammensturz getrieben wird. Man ist schließlich avanciert.

Innenminister Otto Schily hat’s kürzlich bei der Vorstellung der WM-Kulturprojekte geahnt: „Die Tiefe des Raumes“ werde sich dem durchschnittlichen Fußballfan nicht leicht erschließen. Tatsächlich behält dieses interessante Experiment eine Zwittergestalt. Auf dem grünen Rasen geht’s drauf und dran. Auf kulturellem Spielfeld aber zählen Zwischentöne. Insofern ist es ein exemplarisches Projekt, das solche Distanzen spürbar werden lässt. Doch damit wird bestimmt keine neue Gattung begründet.

• Weitere Aufführung in der Bochumer Jahrhunderthalle: 18. Sept. (20 Uhr). Karten  0700/2002 3456. www.ruhrtriennale.de

 




Kulturfachmann mit Hausmacht – Norbert Lammert in Merkels CDU-„Kompetenzteam“

Von Bernd Berke

Berlin/Bochum. Zunächst einmal ist es ein Signal: Dass die CDU-Chefin Angela Merkel gestern Norbert Lammert (56) als Kulturfachmann für ihr „Kompetenzteam“ benannt hat, bedeutet eben, dass die Christdemokraten das Themenfeld nicht vergessen haben.

Im Wahlprogramm hatte sich die CDU in Sachen Kultur deutlich kürzer gefasst als die anderen Parteien. Umso freudiger reagierte gestern der Deutsche Kulturrat auf die Nominierung Lammerts. Der dämpfte freilich gleich die Erwartungen: „Mehr Geld für Kunst und Kultur ist zwar wünschenswert, angesichts der dringend notwendigen Konsolidierung aber nicht seriös zu versprechen“, sagte Lammert gestern. Man müsse die Ausgaben anders gewichten als die bisherige Regierung – und zum Beispiel die Goethe-Institute stärken.

Was nach der Wahl geschieht, ist allerdings völlig offen: Ob Lammert einem etwaigen CDU-geführten Kabinett angehören wird und in welcher Funktion, das muss sich erst zeigen. Der Mann ist immerhin Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Vielleicht hat er ja Ambitionen auf die Präsidentschaft.

Als „Luftbuchung“ wird man Norbert Lammert bestimmt nicht bezeichnen können. Der in Bochum geborene, promovierte Sozialwissenschaftler hat sich immer wieder in kulturellen Debatten kundig zu Wort gemeldet, beispielsweise in Sachen Föderalismus (Kultur als Aufgäbe der Länder und/oder des Bundes?) oder Förderung der Hauptstadtkultur.

Lammert gilt mit seinem Einstieg ins Merkel-Team immerhin als Anwärter auf das eventuelle Amt eines Kulturstaatsministers. Er selbst ist auch der Gründung eines Kulturministeriums mit Kabinettsrang nicht abgeneigt. Ob es dazu kommen wird, steht aber noch dahin.

Falls Lammert einen solchen Posten bekommen sollte, könnte er – anders als seine Vorgänger – einen Trumpf ausspielen: Er verfügt über eine veritable „Hausmacht“ in seiner Partei, ist er doch seit 1996 Vorsitzender der einflussreichen CDU-Landesgruppe NRW im Bundestag. Als früherer Parlamentarischer Staatssekretär in diversen Ministerien (Bildung, Wirtschaft, Verkehr) kennt er zudem das politische Tagesgeschäft. Eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit darf man ihm sicherlich zutrauen.

Lammert wurde am 16. November 1948 in Bochum geboren und studierte ab 1969 an der Bochumer Ruhr-Universität sowie in Oxford. Schon seit 1966 ist er Mitglied der CDU. Der Vater von vier Kindern nennt auf seiner persönlichen Internet-Seite „Musik, Fußball, Literatur“ als liebste Interessengebiete. Ohne den Schlenker zum runden Leder geht’s halt im Ruhrgebiet nicht.

Das Pendlerdasein zwischen der Hauptstadt Berlin und seinem Bochumer Wahlkreis scheint Lammert zu gefallen. Zitat von seiner Homepage: „Inzwischen fühle ich mich auch in Berlin zu Hause und genieße den Wechsel zwischen den beiden schönsten deutschen Städten.“ Offenbar ein Mann mit Humor.

 




Elmar Goerden: „Man muss die Texte ernst nehmen“ – Gespräch mit dem neuen Bochumer Theaterchef

Bochum. Mit der nächsten Spielzeit tritt er als neuer Intendant Matthias Hartmanns Nachfolge in Bochum an: Was darf das Theaterpublikum von Elmar Goerden (42) und seinem neu formierten Ensemble erwarten? Ein Gespräch mit Goerden im Bochumer Rathaus, wo sein „Vorbereitungs-Büro“ die neue Saison plant.

Elmar Goerden beim Interview (Bild: Bernd Berke/WR)

Elmar Goerden beim Interview (Bild: Bernd Berke/WR)

Sie kommen gerade aus den Proben. An welchem Stück arbeiten Sie denn?

Elmar Goerden: An Goethes „Iphigenie“. Das wird Mitte Oktober eine wesentliche Säule des Eröffnungsprogramms sein. Wir werden dann in 14 Tagen fünf oder sechs Premieren auf die Bühne bringen, drei davon gleich am ersten Wochenende. Selbstverständlich werden wir auch Gegenwartsautoren spielen – unter anderem von Botho Strauß, Peter Handke und Sarah Kane.

Welche Konturen hat das neue Ensemble? Und welche Darsteller aus Hartmanns Team gehören weiter dazu?

Goerden: Zunächst einmal: Ich halte das Ensemble für eine der größten Errungenschaften des deutschen Theaters. Ich bin ein Liebhaber des festen Ensembles, das zusammenwächst. Es kommen Schauspieler aus Wien, Berlin, München und Hamburg. Einige bleiben Bochum aber auch erhalten: Margit Carstensen, Veronika Bayer, Lena Schwarz, Jele Brückner, Maja Beckmann, Ernst Stötzner, Manfred Böll, Martin Rentzsch – und natürlich die Seele des Hauses, Tana Schanzara. Sie ist ja ein unglaubliches Geschöpf, für das man nur danken kann. Ganz selten, dass man so etwas noch findet…

Wer kommt neu hinzu?

Goerden: Stellvertretend für ein starkes Ensemble: Zum Beispiel Imogen Kogge von der Berliner Schaubühne, aus Wien die Nestroy-Preisträgerin Ulli Maier, vom Burgtheater Agnes Riegl, Henning Hartmann haben wir Peymann „abgeluchst“. Cornelia Froboess wird hier spielen, Catrin Striebeck, Michael von Au – und einige andere.

Haben Sie Angst vor den Erwartungen in Bochum? Die jetzigen Zuschauerzahlen sind ja kaum noch zu steigern.

Goerden: Das verstehe ich eher als Ansporn.

Spüren Sie eine Konkurrenz mit Bühnen in den Nachbarstädten?

Goerden: Nein. Warum auch? Es ist nicht meine Art, ängstlich nach nebenan zu schielen. Jeder macht das Theater, das er machen muss. Wir brauchen sicherlich ein eigenes Profil. Und das Bochumer Schauspiel wird ein Gesicht haben, das man erkennt. Ich gönne Nachbarn wie Dortmund und Essen jeden Erfolg. Es ist doch schön, dass es in dieser Region eine so hohe Reibungsdichte künstlerischer Impulse gibt. In München habe ich fast in einer Diaspora gearbeitet. Da gibt es Theater-Reichtum in der Stadt, aber ringsum praktisch nichts. Als gebürtiger Niederrheiner fühle ich mich überhaupt im Ruhrgebiet zuhause. Hier versteh’ ich die Leute auch besser.

Kein Problem, wenn in drei Städten dasselbe Shakespeare-Stück herauskommt?

Goerden: Stören würd’s mich nur, wenn alle drei Inszenierungen gleich wären. Übrigens braucht man ja eine bestimmte Situation im Ensemble, wenn man gewisse Stücke spielen will. Wenn Sie keinen Hamlet haben, können Sie keinen „Hamlet“ machen. Entscheidend ist: Welche Stoffe binden wir an welche Leute? Wer passt wozu? Da ist es wichtig, dass man Menschen hat, die hier bleiben wollen. Deshalb werden wir auch einige Regisseure fest ans Haus binden, zum Beispiel Tina Lanik und Jan Bosse.

Wie schätzen Sie das Publikum in Bochum ein?

Goerden: Hier gibt es eine allgemeine Gründüberzeugung, dass Theater ein Mittelpunkt der Stadt ist. Das Publikum ist ausgesprochen offen, manchmal kann es sich geradezu leidenschaftlich an eine Aufführung „verschenken“ – und es ist sehr strapazierfähig.

Sind denn Strapazen zu erwarten?

Goerden: Nun, wenn wir mit Goethes „Iphigenie“ beginnen, dann kommt das nicht von ungefähr, sondern es ist bereits eine Art „Notenschlüssel“. Ein solches Stück ist kein Steinbruch, aus dem man sich nach Gutdünken bedienen kann. Man muss die Texte ernst nehmen, man muss sich fragen: Was geht in ihnen um? Und n i c h t gleich bei auf ersten Probe sagen: Was soll das m i r? Was kommt m i r davon nahe? Dann würden die Inszenierungen sehr schmal werden, die Sprache würde verarmen. Wir wollen keine allseits bekömmlichen 60-Minuten-Versionen anbieten, keine Fernsehformate.

Also geht es im Prinzip werktreu zu?

Goerden: Die Texte müssen sich entfalten, sie brauchen ihren besonderen Hallraum. Nicht, weil wir Antiquitäten-Fans sind, sondern weil wir glauben, dass darin etwas aufgehoben ist, was uns heute fehlt: Schicksale und Gefühlskräfte von einer Größe, wie es sie so nicht mehr gibt. Man kann ein Wort wie „Ach“ von Goethe kurzerhand streichen. Man kann sich aber auch fragen, ob es nicht ein besonderer Herzenslaut ist. Es handelt sich dabei keineswegs um „Werktreue“, wie sie Bundespräsident Horst Köhler kürzlich angemahnt hat. Die Werke einfach so zu lassen, wie sie sind, das wäre nur die Abwicklung von Reclam-Heften. Ich will die Stücke vor das Licht der Zeit halten, in der wir leben. „Zeitlose“ Klassiker gibt es gar nicht.

Da darf man sich wohl auf ziemlich lange Theaterabende einrichten?

Goerden: Nicht unbedingt. Ich betrachte Theater nicht als strenges Exerzitium. Es geht mir nicht darum, den Leuten zu vermitteln: Haha, ihr lebt so in den Tag hinein, jetzt zeigen wir euch mal, wo der Hammer hängt. Demonstrative Belehrung von der Bühne herab ist langweilig.

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ZUR PERSON:

Elmar Goerden wurde am 29. März 1963 in Viersen/Niederrhein geboren.
Schon als Jugendlicher trampte er öfter zum Bochumer Schauspielhaus. Nach Claus Peymanns Aufführung der „Hermannsschlacht“ von Kleist stand der Berufswunsch des damals 15-Jährigen fest: Theaterregisseur! Zwischenzeitlich wäre Goerden allerdings fast Fußballprofi geworden. Das Zeug dazu hätte er wohl ebenfalls gehabt.
Goerden studierte Kunstgeschichte, Anglistik und Theaterwissenschaft in Köln, Edinburgh, Birmingham und New York. Von 1991-1994 arbeitete er als Regieassistent für die Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Seine Lehrmeister dort waren u. a. Andrea Breth, Luc Bondy, Robert Wilson und Peter Stein.
Ab 1996 war Goerden Hausregisseur am Stuttgarter Schauspielhaus. 2001 ging er als Regisseur und Oberspielleiter zum Residenztheater in München.

(Der Beitrag stand in ähnlicher Form am 28. Mai 2005 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund. Das Gespräch führten die Kulturredakteure Bernd Berke und Arnold Hohmann).




Im Dschungel der Begierden – Lukas Bärfuss‘ Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Vorhang öffnet sich und man sitzt vor einem Dschungel. Über und über ist die Bühne bewachsen, so dass kaum ein Durchkommen ist. Ist dies der Dschungel der Begierden? Die Assoziation liegt nicht allzu fern, denn auf dem Spielplan stehen „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“.

Das zu Herzen gehende Stück des jungen Schweizers Lukas Bärfuss handelt von der geistig leicht behinderten Dora. Auf Wunsch der Mutter werden eines Tages ihre dämpfenden Medikamente abgesetzt. Und was kommt zum Vorschein? Ein sexuelles Monstrum, das fortan nur noch „ficken“ will.

Einiger Unsinn ist über das Stück verbreitet worden, etwa nach der Devise, dass Doras machtvoll erwachende Sexualität von den Erwachsenen im Namen einer höheren Ordnung unterdrückt werde. Ganz so, als wär’s noch wie einst in Frank Wedekinds„Frühlings Erwachen“, wo die Lüste der Jugend im wilhelminischen Ungeist erstickten.

Diese Dora liefert sich vollkommen aus

In Wahrheit geht es hier ziemlich permissiv zu, sprich: Die Erwachsenen erlauben dieser Dora so manches, sie haben (oder heucheln) ja sooo viel Verständnis. Die Eltern, der Arzt (bravourös: Fritz Schediwy), der Gemüsehändler (Bernd Rademacher als Doras Arbeitgeber) und ein „feiner Herr“ (Martin Horn als Parfümvertreter), der Dora brutal entjungfert, sind in verschiedenen Graden und Verdruckstheiten selbst bis zum Anschlag sexualisiert. Mutter und Vater (Veronika Bayer, Manfred Böll) etwa treiben’s mit einem „gut bestückten“ Mann zu dritt.

Die Leute sind daher ebenso irritiert wie insgeheim aufgestachelt, als dieses Mädchen mit seinem etwas debilen Lolita-Appeal zu allem bereit ist und sich alles gefallen lässt, um sich endlich einmal selbst zu spüren. Eine unversehens auf die Welt gefallene Versuchung. Blutergüsse, heftige Hautabschürfungen? Egal. Dora liefert sich aus, wie ein vollkommen passives Fluidum. Es ist ihr offenbar ganz gleich, ob man sie gröbstens beschläft, sie verprügelt oder eine Abtreibung an ihr vornimmt. Ihre häufigsten Sätze bei all dem lauten „Weiß nicht“ und „Ist doch nichts dabei“. Ungeheuerlich.

Martin Höfermanns Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus lässt solche bestürzenden Befunde im besagten Dschungel (mit Extra-Beifall bedachtes Bühnenbild: Volker Hintermeier) wie ein düsteres Märchen oder eine Legende erscheinen. Der Rcgisseur erspart uns rüde Sex-Szenen. Statt dessen wird es jeweils finster, und man hört ein bcdrohlich-atavistisches Dröhnen.

Herkömmliche Erklärungsmuster helfen hier nicht

Die Regie erschließt geradezu mythische Dimensionen und beschwört abgründige Ängste vor einer freigelassenen, geist- und grenzenlosen Sexualität. Herkömmliche gesellschaftliche Erklärungsmuster (von Geld, Arbeit und drohender Pleite ist nur en passant die Rede) helfen hier kaum weiter. Es waltet ein unlösbares Geheimnis. Doch im ältesten, aristotelischen Sinne des Theaters werden Furcht und Mitleid geweckt.

Sehr leicht könnte das Stück in Brachial-Komik oder Weltekel abstürzen. Es steht und fällt fast alles mit der Darstellerin der Dora: Bewundernswert, wie Angelika Richter in Bochum das Schwanken auf dem Grat vollbringt. Am Ende erstrahlt sie geradezu in ihrem Elend der Selbstaufopferung, als wäre sie eine „Heilige“ ganz eigener Art.

Doch über allem thront wie eine Zauberin oder Zeremonienmeisterin die betagte, doch frisch-freche Mutter des Gemüsehändlers: Mit dieser Urgestalt (Tana Schanzara), so ahnt man, könnte vielleicht ein neues Matriarchat beginnen. Doch das wäre ein anderes Märchen.

Termine: 31. März, 7., 13., 19. April. Karten: 0234/33 33-111.




Sog der wortkargen Geschwätzigkeit – Deutsche Erstaufführung von Jon Fosses „Todesvariationen“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Gibt es wortkarge Geschwätzigkeit? Normalerweise nicht. Doch beim norwegischen Dramatiker Jon Fosse erlebt man sie konkret.

Seine Personen bilden sehr einfache, knappe Sätze („Es ist nicht so“ / „Du darfst nicht“ /„Kannst du bitte gehen“). Sie quellen melancholisch aus Mündern und tropfen in ein Meer des Schweigens. Doch wie in einer Endlosschleife werden sie in wechselnden Phrasierungen wiederholt, so dass denn doch auf lakonische Art recht viel geredet wird.

Es ist vielleicht die Angst vor dem endgültigen Verstummen, vor dem Tod, welche diese Menschen umtreibt und zum bloßen Sagen am Rande der Sprachlosigkeit drängt. Dies gilt auch fürs Stück „Todesvariationen“, das jetzt in den Bochumer Kammerspielen als deutsche Erstaufführung zu sehen ist. Nach „Winter“ und „Schönes“ ist es bereits die dritte Bochumer Fosse-Premiere. Man erkennt den Autor sogleich am „Sound“ wieder. Dem rhythmischen Sog überlässt sich auch der Regisseur Matthias Hartmann.

Der ruhmreiche Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann hat (passend zum schlackenlosen Text) einen gleißend hellen, leeren Kastenraum bauen lassen. Nichts lenkt in diesem minimalistischen Umfeld von den Worten und Gesten ab, die hier äußerst plastisch hervortreten, obgleich ziemlich verhalten gespielt wird. Jede Handbewegung, jede Schrittfolge gerinnt zum Zeichen.

Familiäres Mysterienspiel

Vor der Bühne schwankt ein Schiffsmast als Signal eines wellengleich wechselhaften Schicksals. Das aber ist gnadenlos hart: Ein älterer Mann und seine Frau (ganz große Besetzung: Hans-Michael Rehberg, Barbara Nüsse) haben ihre einzige Tochter verloren. Sie hat Selbstmord begangen. Schon als Kind wollte sie nur „ihre Ruhe haben“. Doch ihre Tat wird ein Rätsel bleiben, der Text umschleicht den Freitod wie eine schrecklich leere Mitte. Neben den Eltern, die den Schmerz nicht fassen können und den Tod nicht wahrhaben wollen, geistern zwei weitere Paare über die Erinnerungsbühne: die beiden selbst, in früheren Jahren des Beginnens, der Schwangerschaft, der Ehekrisen und der Trennung (Patrick Heyn, Sabine Haupt); sodann die heranwachsende Tochter mit einem Freund (Cathérine Seifert, Johannes Zirner), der sie verlockt, aber auch stets vor sich warnt und vielleicht „der Tod“ selbst ist.

Familiäres Mysterienspiel im Schattenreich eines gleitenden Phasenwandels: Düstere Vorahnungen und verzweifelte Rückblicke kreuzen sich. Die subtil eingesetzten Schattenrisse der Figuren werden zum dramaturgischen Element. Gespenstischer Befund: Jede(r) ist für sich allein, Mitteilungsversuche schlagen fehl.

Ohne nähere Bestimmung müssen diese Gestalten auskommen. Sie sind letztlich alterslos. haben keine erkennbaren Berufe, auch Ort und Epoche des Geschehens sind nicht gewiss. Soziologische und psychologische Erklärungsversuche laufen ins Leere. Hier geht’s existenziell zu, für Interpretationen bleiben weite Spielräume.

Und so kreist der Text zuweilen etwas redundant in sich selbst. Gespielt von mittelmäßigen Darstellern, wäre dies wohl schwer erträglich. Doch in Bochum tragen sie das Stück 80 Minuten über manche Untiefen hinweg, so dass man der linguistischen Kammermusik doch atemlos lauscht. Am Ende schwindet ein leuchtendes Quadrat auf der Wand ins Nichts. Dunkel. Stille. Auslöschung.

Termine: 15. Feb., 2. und 8. März. Karten: 0234/3333-111.




Herrlich blühender Irrsinn – Junge Regie-Hoffnung: David Bösch inszeniert „Romeo und Julia“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Was sind das nur für wilde Burschen? Sie toben herum wie nicht gescheit, sie röhren Rocksongs, spielen dazu heftig Luftgitarre und brüllen („Bumm, zack, bumm“) manchmal wie aggressive Comic-Figuren.

Nun, die kampflustigen Sturm- und Drang-Kerle heißen Mercutio und Benvolio. Sie wollen ihren Freund Romeo über dessen fruchtlose Liebe zu Rosalinde hinwegtrösten und ihn zu schnellen Sex-Abenteuern mit willigeren Mädchen anstacheln. Zu dumm nur, dass dieser Romeo sich bei der nächsten Fete in eine gewisse Julia aus der feindlichen Sippe Capulet verknallt. Die tragischen Folgen sind bekannt.

Der heiße Kern der Liebesgeschichte

Sehr dynamisch und phasenweise eminent komisch legt der junge Regisseur David Bösch (Jahrgang 1978) das berühmte ShakespeareLiebesdrama „Romeo und Julia“ in Bochum an. Man nehme die eh schon etwas schnoddrige Übersetzung von Thomas Brasch, spitze sie nochmals listig zu und streiche das vielköpfige Gefolge aus den Häusern Montague und Capulet. Dann hat man den heißen Kern, und der wirkt frappierend modern. Das reimt sich nicht nur wörtlich, sondern auch als Inszenierungs-Leitlinie.

Bösch erschöpft sich nicht in Übermut und Überschwang, sondern findet dann auch zartere, bewegende Bilder für die allererste Begegnung des legendären Paares. Es ist ein urplötzliches, verrücktes Aufblühen. Geradezu physisch spürt man den Hauch ersehnter Küsse, der die beiden umweht. Auch das Kindliche, noch Ungelenke dieser blitzartigen Liebe kommt zum Ausdruck. Übrigens: Der hierbei sehr stimmig und dezent eingesetzte Pop-Song „Consequence“ ließ viele Besucher rätseln. Lösung: Die ungemein eingängige Melodie stammt vom Album „Neon Golden“ der bayerischen Gruppe „Notwist“.

Es war der Handy-Ton und nicht die Lerche

Später, in der Balkonszene, könnte es glatt heißen: Es war der Handy-Ton und nicht die Lerche. Denn ganz ohne Nachtigall führen die beiden ihre mobilen Gespräche – bis hin zum angedeuteten Telefonsex. Überhaupt lassen sich Julia (Julie Bräuning) und Romeo Johannes Zirner) zu herrlicher (und dämlicher) Unvernunft hinreißen. Ein gar schöner Irrsinn.

Derweil deutet das Szenen-Geviert mit Wasserbecken, Neonlicht-Stäben und Beton-Quadern (Bühne: Volker Hintermeier) auf scheußlichen Neureichtum hin. Kein Ort für erotische Utopien.

Gewiss: All das ergreift einen nicht zutiefst. Doch der jugendfrische, leicht ironisch getönte Zugang eröffnet Spielräume, um die altbekannte Geschichte leichten Sinnes (aber eben nicht leichtsinnig) zu entfalten. Das ist schon einiges, auch wenn’s gelegentlich noch an einer Ökonomie der Mittel mangelt. Die zwar rasanten Fechtszenen sind denn doch ein wenig zu lang geraten. Vielleicht sollen sie ja auf ungebrochene Dominanz der Männerwelt verweisen.

Am Ende bleibt ein Geisterreigen

Beachtliche Besetzung bis in die Nebenrollen hinein: Ebenso handfest-sinnlich wie empfindsam spielt Martina Eitner-Acheampong die rührend besorgte Amme der Julia. Bernd Rademacher als Julias Vater ist ein schmieriger Conferencier der Machterhaltung, in übler Kumpanei mit seinem linkischen Wunsch-Schwiegersohn Paris (Thomas Büchel). Fabian Krüger vollführt irrwitzige Bauchredner-Dialoge mit einem geknoteten Taschentuch-Püppchen; ein Kabinettstück, das freilich die Grenze zur Albernheit streift.

Das erste und letzte Wort hat der über allen stehende und doch so ratlose Prinz (Manfred Böll). Vergebens predigt er Frieden, hilflos preist er Poesie, Licht und Liebe. Am Ende kann er uns nur einen Geisterreigen zeigen: Erst im Jenseits sind alle Figuren kampflos beisammen – beim Totentanz.

Tosender Beifall für eine veritable Regie-Hoffnung und das Ensemble!

Termine: 2., 8., 15., 19., 22. und 27. November. Karten: 0234/3333-111.




Eine Sause am Abgrund – Jürgen Gosch inszeniert Ibsens „Peer Gynt“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Saisonstart im Bochumer Schauspielhaus und dann gleich mit Henrik Ibsens ausuferndem Weltendrama „Peer Gynt“ (Uraufführung 1876), das in jenen Zeiten als „nordischer Faust“ galt. Regisseur ist Jürgen Gosch, seit seiner Düsseldorfer „Sommergäste“-lnszenierung (Gorki) wieder in höchster Gunst stehend. Ganz großes Theater also?

Zunächst einmal „armes“ Theater, minimale Ausstattung: Man begnügt sich mit einem schwarzen Spielraum, einer „Black Box“ (Bühne: Johannes Schütz). Der Boden ist sandig bestreut; eine lichte Substanz, die optisch als Schnee durchgeht und in der sich Spuren des chaotischen Geschehens abzeichnen.

Als Requisiten reichen Birken-Äste

Als Requisiten reichen einige Birken-Äste, die zu allerlei Verrichtungen taugen und auch schon mal einen ganzen Wald hergeben. Häuser und Seefahrt werden imaginiert, indem sich Schauspieler-Gruppen ballen – mal in Pyramidenform, mal als von Gischt umtoster Schiffskörper. In derlei Szenen ist spontanes Impro-Theater gefragt, und die Bochumer bringen es zu gewisser Vollendung – allen voran Ernst Stötzner. Keiner chargiert so hintersinnig, brüchig und doch alltagsprall wie er.

Aus dem ohnehin etwas gestaltlosen Stück bedient man sich wie aus einer Wunderkiste. Der vierte Akt, der den ruhelos sein wahres Selbst suchenden Peer Gynt nach Afrika und ins „Tollhaus zu Kairo“ trieb, entfällt komplett. Der Rest wird, auf Basis“ einer zuweilen derb-drastischen Neuübersetzung (Jürgen Gosch und Klaus Missbach lassen nur vereinzelt Reimpaare als sprachliehe Mahnmale stehen), in Grundlinien nachskizziert.

Spürbarer Gruppengeist

Manche Sequenzen, wie etwa das bübische Herumtollen Peer Gynts mit seiner Mutter (Veronika Bayer), das dörfliche Hochzeitsfest seines Rivalen Mads Moen oder das quiekende Treiben der schweinsgesichtigen Trolle, werden mit viel kunterbunter Randale pastos ausgepinselt, so dass mancher Satz beim Spektakel der im Grunde todtraurigen Orgien untergeht. Die seelische Verwahrlosung auf dem Dorfe trägt geradezu präfaschistisehe Züge. Grellfarbige Kostüme deuten auf eine kindsköpfige Sause hin. Doch es ist Lustbarkeit am Abgrund.

Bei Gosch sind stets alle (auch die gerade nicht direkt beschäftigten) Schauspieler auf oder an der Bühne präsent, gespielt wird fast drei Stunden ohne Pause. Leitidee: Wer seine Mitstreiter ohne Unterlass agieren sieht, statt hinter der Szene seinen Einsatz abzuwarten, nimmt Energiefluss auf. Tatsächlich wird bei den nur 12 Darstellern ein Gruppengeist spürbar, der über allem waltet und rasante. Rollenwechsel gleitend leicht wirken lässt.

Knallbunt lärmend geht’s also im schwarzen Kasten meist zu. Als graue, gleichsam erst noch einzufärbende Gestalt tobt, kobolzt, wankt und taumelt Peer Gynt (Oliver Stokowski) durch die Welt, doch stets mogelt er sich ums Wesentliche herum. Der verarmte Sohn eines Säufers verausgabt sich schier atemlos als Draufgänger, schamloser Lügner, Größenwahnsinniger, Außenseiter, Verbannter, Vogelfreier. Die ganze Skala hinab.

Da hilft kein Psycho-Jargon

Stokowski stürzt sich koppheister ins Gewoge. Eben noch quatschselig berlinernd, stimmt er im Nu eine verbale Bravour-Arie an, vollführt Eisläufer-Sprünge oder sonstwas Wildes. Da gerät einer bei der Ich-Suche ins Rotieren; einer, der rabiat mit „Weibern“ umspringt, letztlich aber nicht faustisch auf Weltbeherrschung aus ist, sondern tiefes Ungenügen am Irdischen durchleidet – vielleicht ein Verwandter von Büchners „Lenz“.

Herzlich wenig nützt bei all dem ein pseudo-psychologischer Jargon der Verständigung, der hier mehrfach parodiert wird. Mit einem windelweichen „Gut, dass wir drüber geredet haben“ ist es nicht getan. Auch fromme Choräle reichen nicht hin. Hier hilft nur dies: reinste Liebe, Glaube, Hoffnung. Solche biblischen Grundwerte verkörpert scheu und leise die Zuwanderer-Tochter Solveig (Catherine Seifert), die ein Leben lang treulich auf Peer Gynt wartet. Am Ende darf er im Schoße dieser immer noch mädchenhaften Allmutter ruhen.

Also doch noch ein Traumspiel, eine irrsinnige Fügung, wider alle Vernunft! Und gerade deshalb so ergreifend.

Nächste Termine: 3., 10., 29. Okt. Karten: 0234/3333-111.




Der Mann aus dem Nichts – Tankred Dorst inszeniert sein Stück „Ich, Feuerbach“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Woanders warten sie ewig und drei Tage auf „Godot“. In Tankred Dorsts Drama „Ich, Feuerbach“ ist es ein Theaterregisseur namens Lettau, der sich partout nicht blicken lässt. Verdacht in beiden Fällen: Wenn jemand dermaßen abwesend ist, so könnte es sich um ein nahezu göttliches Wesen handeln.

Lettau also kommt nur als Leerstelle vor, der abgetakelte Schauspieler Feuerbach hingegen ist schmerzlich vorhanden. Nach sieben Jahren Bühnen-„Pause“ will er heute im Theater aus Goethes „Tasso“ vorsprechen. Doch er trifft nur einen jungen Schnösel an, der sich als Regie-Assistent ausgibt, vom Beruf aber rein gar nichts zu verstehen scheint.

Aus dieser fruchtlosen Begegnung erwächst inniges „Theater im Theater“, durchsetzt mit Anekdoten von den Abgründen des Metiers. Gelächter und Verzweiflung halten sich die Waage. Eine trampelige Frau (Martina Eitner-Acheampong) mit Hund taucht auf, und immer wieder betreten Bühnenarbeiter die Szenerie, sie werkeln gespenstisch schweigsam vor sich hin. Der Betrieb geht weiter, doch das Theater ist wohl längst tot.

Tankred Dorst (78) selbst inszeniert in den Bochumer Kammerspielen sein 1986 uraufgeführtes Stück, das sich erneut als Schauspieler-„Futter“ par excellence erweist. Dorst hat den Text modifiziert: In der Erstfassung lief es darauf hinaus, dass Feuerbach jene besagten sieben Jahre in einer Psychiatrie zugebracht hat und nun seine letzte Chance sucht.

Dieser existenzielle Ansatz bleibt erhalten, wird aber neu eingefärbt durch einen Seitenblick auf theatralische Zeitläufte: Das auf Video-Orgien versessene Regiehandwerk der Gegenwart (Grüß Gott, Herr Castorf!) braucht den Schauspieler eigentlich gar nicht mehr. Der Regie-Assistent (Alexander Maria Schmidt) gibt unbedarft die Parole aus: Es reiche doch, wenn ein Darsteller auf der Bühne Nudeln isst und dabei er selbst bleibt. Sinn und Bedeutung? Nebensache!

Landstreicher mit Loriot-Touch, der mühsam seine Würde im Wahn zu wahren sucht: Wolf-Dietrich Sprenger vollbringt als derart „überflüssig“ gewordener Feuerbach eine Atem beraubende, manchmal stockende, jedenfalls sonderbare Equilibristik. Er zeigt sich und deklamiert unentwegt, doch wir wissen nicht, wer er ist. Er kommt aus dem Nichts und wankt am Ende ins Nichts. Ein Mann im Paradox: abgeschabt seine Würde, würdevoll seine Scham; unverschämt kommt seine Demut daher, demütig seine Anmaßung, und in geradezu leutseliger Weise lässt er bestürzende Einsamkeit ahnen. Vielleicht ist er als Darsteller wirklich ein Genie (gewesen), dieser verrückte Heilige, der in einer quasi-religiösen Szene nackt mit den Vögeln spricht. Ein Mann mit Visionen, der „in Zungen redet“, wie pathologisch auch immer.

Alexander Maria Schmidt ist als Regie-Assistent ein trotz aller geckenhaften Tumbheit gelegentlich gewitzter Widerpart: Er durchläuft die Skala zwischen Ratlosigkeit, Naivität, Entsetzen und Hilfsbereitschaft, die aber jedes Fettnäpfchen findet: „Bekommen Sie denn keine Sozialhilfe?“ will er, halbwegs mitfühlend, von Feuerbach wissen. Grundfalsche Frage an einen, der aufs Unbedingte und Grenzenlose aus ist.

Tosender Beifall nach Bochumer Art.

Termine: 22., 29. Mai, 9.. 27. Juni. Karten:,0234/3333-111




Kulturhauptstadt 2010: Essen tritt offiziell an – Ruhrgebiet soll jetzt an einem Strang ziehen

Von Bernd Berke

Essen/Bochum. Eigentlich ging es „nur“ darum, welche Stadt mit ihrem Briefkopf für die Revier-Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 einsteht. Dennoch lagen die Nerven der beiden Kulturdezernenten Oliver Scheytt (Essen) und Hans-Georg Küppers (Bochum) gestern ziemlich blank, als die KVR-Verbandsversammlung zur Abstimmung schritt.

Noch bevor das Resultat verkündet wurde, sah man dem Mienen- und Gebärdenspiel der „Kontrahenten“ an, wie die Sache ausgegangen war. Küppers blickte ein wenig betrübt drein und nahm tiefe Trost-Züge aus seiner Zigarette, Scheytt hingegen schwoll an vor Stolz. „Natürlich bin ich ein bisschen enttäuscht“, bekannte Küppers später: „Aber jetzt ziehen wir den Karren gemeinsam.“ Oh, friedliche Kultur! Wenn etwa Schalke die Dortmunder Borussen schlägt, gibt es danach weitaus weniger verbalen Schmusekurs.

Bochum unterlag nur knapp

Essen (z. B. mit Weltkulturerbe Zollverein, Aalto-Oper und Folkwang Museum) hat also Bochum (Schauspielhaus, Jahrhunderthalle usw.) in der Vollversammlung des Kommunalverbandes Ruhrgebiet (KVR) mit 23 zu 20 Stimmen bei einer Enthaltung knapp distanziert. Bei einem Patt wäre gelost worden.

Ganz gleich, wie das Ergebnis zustande gekommen ist (Gerüchte wollten sogar von telefonischer Einflussnahme im Vorfeld wissen): Nun möchten beide Städte, möglichst im Verbund mit dem gesamten Ruhrgebiet, an einem Strang ziehen. Zunächst gilt es, die weiteren NRW-Bewerber Köln, Münster sowie den Kreis Lippe (um Detmold) auf die Plätze zu verweisen.

Insgesamt noch 16 deutsche Kandidaten im Rennen

So geht’s jetzt weiter: Bis zum 30. Juni wird die NRW-Landesregierung, beraten von einem hochkarätigen Fachgremium, ihre Entscheidung über den Bewerber aus dem Lande fällen. Dann führt der Weg politisch weiter bergauf: Das Bundesaußenministerium ist am Zuge, es bereitet die Entscheidung des Bundesrates vor. Ist klar, welche Stadt (oder Region) deutschlandweit den Vorzug genießt, so wird der Europäische Rat der EU wohl Ende 2005 darüber befinden. Fest steht jedenfalls: 2010 ist Deutschland mit einer Kulturhauptstadt an der Reihe. Insgesamt sind derzeit noch 16 Kandidaten auf dem Parcours – von Bremen und Lübeck bis Augsburg und Potsdam. Harte Konkurrenz.

Kosten-Horizont von 48 Millionen Euro

Beim Kommunalverband Ruhrgebiet (ab 1. Oktober 2004: RVR = Regionalverband Ruhr) wertet man die gestrige Abstimmung als „historisch“. Verbandspräsident Gerd Willamowski versprach, im Erfolgsfalle werde nicht nur Essen profitieren: „Die gesamte Region wird Spielfeld der Kulturhauptstadt sein.“

Willamowski betonte, dass eine Ernennung zur Kulturhauptstadt „ein riesiges Stadtentwicklungsprojekt“ bedeute – fast so wie (dem Revier entgangene) Olympische Spiele. Essen müsste, wenn es die Palme fürs Revier erringt, für die Jahre 2007 bis 2010 eigens insgesamt 6 Millionen Büro bereitstellen. Dezernent Oliver Scheytt hält dies für machbar. Hinzu kämen rund 12 Mio. Euro vom Regionalverband, (vielleicht) ebenfalls 12 Mio. Euro vom Land, 8 Mio. Euro vom Bund und 1 Mio. Euro aus EU-Töpfen. Macht 39 Mio. Euro. Da das gesamte Projekt auf 48 Millionen taxiert wird, sollen Sponsoren etwa 9 Mio. Euro aufbringen.

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Kommentar

Ein neues Ziel

Eitel Zuversicht herrschte gestern in Essen, weil die Kommune als „Bannerträger“ (so die Sprachregelung) für die Revier-Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2010 gewählt wurde. Von den wahrlich zahlreichen und gewichtigen Kandidaten aus anderen Landstrichen war da nur noch am Rande die Rede. Das Revier, so schien es, fasst überaus selbstbewusst ein neues, ein europäisches Ziel ins Auge. Salopp gesagt: Olympia war vorgestern, jetzt lautet die Parole eben: „Kulturhauptstadt“! Man darf sich auf spannende Debatten und eine hoffentlich faire Konkurrenz freuen.

Indem die Versammlung des Kommunalverbands Rühr (KVR) die Wahlentscheidung traf, bekam das Geschehen tatsächlich einen überörtlichen, regionalen Anstrich. Doch wir wollen nicht gleich wieder von der ominösen „Ruhrstadt“ sprechen.

Heikle Frage der Finanzierung

Es ist noch nicht heraus, wie sehr sich die anderen Gemeinden des Ruhrgebiets für die Bewerbung ins Zeug legen werden. Mit immerhin 12 Millionen Euro will der Kommunalverband (und künftige Regionalverband Ruhr) die Stadt Essen unterstützen, sollte sie sich denn bundesweit durchsetzen. Heikel wird es, wenn’s um das bei den Kommunen so knapp vorhandene Geld geht. Per Verbands-Umlage müssten auch jene Mitglieds-Städte besagte Summe mitfinanzieren, die vielleicht gar nicht viel vom Ertrag spüren würden.

Gibt es etwa „Spielverderber“?

Wenn KVR-Verbandsdirektor Gerd Willamowski schon jetzt verspricht, das gesamte Revier werde „Spielfläche“ der Kulturhauptstadt sein, so richtet sich der darin verborgene Appell weniger an die kleineren Revierstädte, sondern vorwiegend an Dortmund und Duisburg, die sich von Essen (und Bochum) ein wenig an den Rand gedrängt fühlen könnten. Hier wie dort glaubt man beim KVR noch vornehme Zurückhaltung zu spüren, was die Bewerbung angeht. Sollte es sich da etwa um „Spielverderber“ handeln?

Wohl kaum. Doch man wird aus Dortmunder, Hagener oder Duisburger Sicht gewiss fragen und sorgsam prüfen dürfen, ob die Veranstaltung die in Aussicht gestellte regionale Breitenwirkung entfaltet. In diesem Sinne: Glückwünsche nach Essen, Daumendrücken fürs Revier. Fürs ganze Revier.

                                                                                                                       Bernd Berke

 

 




Bruchloser Wechsel an Bochums Bühne – Matthias Hartmann übergibt an Elmar Goerden

Von Bernd Berke

Bochum. Es herrscht Harmonie in der Bochumer Theaterweit: Elmar Goerden (40), designierter Intendant des Schauspielhauses ab 2005, stellte sich gestern glücklich strahlend im Rathaus der Revierstadt vor: „Es ist eine Freude, hier zu sein.“ Am liebsten, so Goerden, würde er nun jeden Mauerstein des Theaters mit eigenen Händen berühren.

Offenbar ist er ein Mann des sinnlichen Zugangs. Und seine guten Erinnerungen an Bochum reichen weit zurück. Als Jugendlicher, so der gebürtige Viersener, sei er vom Niederrhein an die Ruhr gepilgert, um Peymanns Inszenierung der Kleistschen „Hermannsschlacht“ zu sehen. Seither habe er gewusst: „Ich will zum Theater“.

Gesegnete Verhältnisse

Sodann pries er die „gesegneten“ Verhältnisse, die er in Bochum vorfinde. Unter Matthias Hartmann, so Goerden, stehe das traditionsreiche Haus „wie eine Eins da“. Es sei verwurzelt in der Region, das Publikum ströme zahlreich herbei und sei bestens gemischt. Elmar Goerden will daher für einen behutsam akzentuierten, bruchlosen Übergang sorgen und „das Rad nicht neu erfinden“.

Exakte Dramaturgie: Kaum hatte Goerden die lobenden Sätze gesprochen eilte der jetzige Amtsinhaber Hartmann in den Saal. Die beiden sind befreundet. Also kam’s zur herzlichen Umarmung, in die dann auch Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers einbezogen wurde.

Küppers rechnet fest mit der Zustimmung des Stadtrats im Januar. Er habe vor der Entscheidung „manche schlaflose Nacht verbracht“, denn die Messlatte für den Hartmann-Nachfolger habe hoch gelegen. Mit Goerden komme ein Intendant, der selbst Regie führe und daher interne Feinstrukturen viel genauer kennen werde als ein bloßer Verwalter.

Bisher am Münchner Residenztheater

Welche Schauspieler und weiteren Regisseure er ans Bochumer Schauspiel holen wird, mochte Goerden noch nicht verraten. Er habe bereits genaue Vorstellungen, müsse aber noch Gespräche führen. Vager Richtungsweiser: Am Münchner Residenztheater, wo Goerden derzeit als Oberspielleiter (Intendant: Dieter Dorn) wirkt, hat er zuletzt mit Darstellern wie Lambert Hamel, Oliver Nägele und Rudolf Wessely gearbeitet; beispielsweise in Stücken von Shakespeare, Lessing, Handke und Schimmelpfennig.

Jedenfalls gilt Elmar Goerden als Regisseur, der eine gewisse Texttreue wahrt und Stücke nicht nach Gutdünken „zertrümmert“. Mit seinen Worten: „Der Text ist für mich ein ernst zu nehmendes Gegenüber.“ Es sei ihm daran gelegen, in jeder Saison mindestens einen großen Klassiker^zeitgemäß zu befragen.

Das Bochumer Theater, so der bodenständig wirkende Goerden, könne man nur „mit einer besonderen Passion“ leiten. Dabei wolle er das hohe Gut des Ensemble-Gedankens besonders pflegen. Erkennt den Teamgeist übrigens aus anderer Warte: Goerden war bei Borussia Mönchengladbach mal auf gutem Wege zum Profifußball. Erst eine Verletzung stoppte seine Kicker-Ambitionen.




Angst vor dem Verstummen – Deutsche Erstaufführung von Jon Fosses Stück „Schönes“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Verglichen mit den Bühnen-Gestalten des Norwegers Jon Fosse, wirken selbst die gelangweilten Figuren eines Anton Tschechow wie Action-Helden. Hier geschieht nahezu nichts, die Dialoge sind extrem karg. So auch in Fosses neuem Stück „Schönes“. Abermals klingt jede Zwiesprache derart lakonisch, als sei’s bereits eingeübte Tiefsinns-„Masche“.

Doch es ist eine geradezu schwatzsüchtige Lakonie, die redundant in sich kreist und unversehens schräge Komik (irgendwo zwischen Loriot und Kaurismäki) freisetzt. Die Figuren haben Angst vor dem Verstummen, vor der großen Leere.

Fosse (Jahrgang 1959), in den letzten Jahren wohl meistgespielter Dramatiker des Kontinents, lässt weite Deutungs-Spielräume klaffen. Bei der deutschen Erstaufführung in Bochum nutzt Regisseur Dieter Giesing diese schmerzliche Freiheit beharrlich und behutsam.

Das Bühnenbild (Karl-Ernst Herrmann) atmet raumgreifend Ewigkeit: Einander kreuzende (Boots)-Stege verlieren sich nach hinten in die melancholische Unendlichkeit eines einsamen Fjords, vorn ragt eine Planke bis zum Publikum. Die schwarze Silhouette eines Bootshauses wandert geisterhaft langsam über die schimmernde Szenerie. Die Zeit schleicht dahin und verrinnt. Worte kommen aus dem Nichts und versickern im Nichts.

Vor dem Horizont des Stillstands

Vor diesem Horizont des Stillstands verbringt ein Ehepaar mit fast erwachsener Tochter die Sommerferien. Die Frau (Catrin Striebeck) fühlt sich angeödet. Mal geht sie links den Strand entlang, mal rechts. Ein Buch lesen? Ach was! Antriebe und Interessen sind erloschen. Es schwillt in ihr lediglich eine zickige, ziellose Gier an, die sich eher zufällig auf Leif (Ernst Stötzner) richtet, den grandios maulfaulen Freund ihres Mannes aus Kindertagen. Dieser allzeit im Dorf gebliebene Sonderling („Hat sich so ergeben“) lässt sich wohl nur aus höflichem Mitleid auf eine Begegnung im alten Bootshaus ein.

Was dort wirklich geschieht, bleibt freilich ebenso ungewiss wie alles andere: Ahnt der Ehetrottel Geir (Burghart Klaußner) etwas? Warum erschöpft sich dann sein Aufbegehren darin, dass er seine Gitarre immerzu mit hackenden Griffen (verdruckster Frust-Gipfel: „Bang, Bang – I’ll shoot you down“) traktiert?

Anders als bei Ibsen wird hier nichts enthüllt

Warum hat Leif in der Pubertät alle Neugier auf die Welt verloren, warum haben er und Geir damals ihre Rockband aufgelöst? Wird die einstweilen halbwegs vitale, mitunter patzige Tochter (Julie Bräuning), die im Dorf einen farblos strotzenden jungen Mann (Manuel Bürgin) kennen gelernt hat, so heil- und haltlos enden wie ihre Mutter? Und warum preisen sie alle so kleinlaut die Natur? Ist sie ein unnennbar „Schönes“, vor dem der Mensch nur versagen kann? Ganz anders als bei Ibsen, mit dem man Fosse häufig vergleicht, wird hier nichts enthüllt. Die Eltern reisen. vorzeitig ab – zurück von der ländlichen in die städtische Seelen-Ödnis. Das ist alles.

Das wattierte Unglück in Hier und Jetzt

Irgend etwas ist vorgefallen und schief gelaufen, doch nun ist es, wie es ist. Existenziell und gnadenlos scharf umrissen stehen die Gestalten in reinster Gegenwart da, im allerdings gedämpften, wattierten Unglück des Hier und Jetzt. Und nun? Was soll noch werden? Dieses folgenlose Weh ergreift einen mehr, als wenn (wie in Gegenwartsdramen oft üblich) aller Schmutz und Ekel im Blut- und Spermastrom verrührt werden.

Dieter Giesings Inszenierung lässt beklemmende Atmosphäre ganz unaufdringlich quellen. Die Darsteller gewinnen diesem stockenden Text staunenswert viele Akzente, Rhythmen und Nuancen ab. Äußerst gespannt folgt man ihrer Expedition in die Leere.

Termine: 5, 6, 21. Dezember. Karten: 0234/3333-111.




Feilschen und flackern – Doppelpremiere in Bochum: „Minna von Barnhelm“ und „Electronic City“

Von Bernd Berke

Bochum. Doppelter Premieren-Hieb zum Saisonstart am Samstag in Bochum: Karin Beier setzte Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“ in Szene. Intendant Matthias Hartmann servierte die Uraufführung von Falk Richters Globalisierungs-Stück „Electronic City“. Ein Kontrastprogramm, fürwahr.

Wollte man denn einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden, so wär’s wohl dieser: Ökonomischer Druck lastet auf den Menschen mitsamt ihren Liebesregungen (oder dem, was davon bleibt).

Lessing zuerst: Jener Major von Tellheim, schnöde aus dem Militärdienst entlassen, daher zutiefst gekränkt und obendrein verschuldet, weist seine große Liebe Minna von Barnhelm nun von sich. Sein schroffes Ehrgefühl lässt die Verbindung nicht zu. Manche List muss Minna anwenden, um wieder anzubandeln. Geld erweist sich als treibende Kraft.

Den Touch der Kostümierung könnte man mit „mühsam verborgene Verwahrlosung“ umschreiben. Das Dekor (Bühnenbild: Thomas Dreißigacker) wird beherrscht von einer Wand mit grässlicher Nussbaum-Anmutung und einem schäbig ausgeflockten Bodenbelag. Auch eine tückische Klappcouch und piefige Lampen deuten auf frühe 1960er Jahre hin, deren Mobiliar derzeit wieder als todschick gilt. Sonderlichen Sinn für die Inszenierung gibt dieses Ambiente nicht her, es schmeichelt eher unserem schrägen Zeitgeist.

Altjüngferlicher „letzter Versuch“

Fisch oder Fleisch vermisst man gelegentlich auch in der Darstellung, die sich nur phasenweise zum Lust-Spiel bekennt, aber auch nicht ohne Scherzen ins Land gehen mag. Dem Text bleibt man recht treu, doch wird mit der hie und da gehudelt. Die Bemühungen Minnas (Johanna Gastdorf), den verstockten Tellheim (Michael Wittenborn) zurückzuerobern, wirken wie ein altjüngferlicher „letzter Versuch“.

Von Erotik spüret man kaum einen Hauch: Hier laufen eher zähe Verhandlungen zwecks Interessen-Abgleich. Am Ende wollen die beiden einander in entgegengesetzte Richtungen ziehen – landläufiges Gezerre zwischen den Geschlechtern.

Immerhin werden Tellheims Abgründe erahnbar: Der Kerl will lieber noch tiefer sinken, als sich in der Schuld anderer zu fühlen. Ein hölzerner deutscher Charakter, den es in dunkle Tiefen zieht. Gut, dass es die Nebenstränge gibt: Felix Vörtler als Wachtmeister und Angelika Richter als Minnas Zofe Franziska geben ein köstliches Komödien-Duo ab, Franz Xaver Zach als schmieriger – Hotelwirt trägt zum Vergnügen bei.

Zahlen-Codes und Onanie zum Pornokanal

Harscher Szenenwechsel in die Kammerspiele, wo Matthias Hartmann sattsam elektronisches Gerät aufgebaut hat, das freilich (wie er erläuterte) zuweilen nicht funktioniert. Die „hilfreiche“ Hotline habe man am Samstag auch nicht erreichen können. Dennoch: Man sieht ausgeklügelte Video-Sequenzen und Bilder von Live-Kameras, die leibliche Präsenz der Schauspieler (vorwiegend junge, gut gemixte Truppe) wird fast zur Nebensache. Technisch und logistisch ist’s meisterlich, darstellerisch geht die Sache auch in Ordnung.

Stromzufuhr tut not. Schließlich heißt das Stück „Electronic City“. Geschrieben hat’s Falk Richter, Jahrgang 1969. Im Premierenpublikum saß auch „Superminister“ und High-Tech-Fan Wolfgang Clement, der selbst beruflich mit Globalisierung ringt. Hier bekommt man atemlos aufgesagt, was es damit auf sich hat: In allen Metropolen der Erde sieht’s gleich aus, Manager und Hilfskräfte jetten heimatlos um den Globus, sie denken nur noch in Zahlen-Codes. Ansonsten onanieren sie zum Flimmern des Pornokanals im Hotel, um sich dann sofort wieder Laptop und Handy zuzuwenden. Merke: Simulation und medialer Overkill töten die Seele.

Glimmspuren der Zuneigung

Am Ende aber wollen es die Protagonisten Tom und Joy trotz aller Endzeit noch mal mit den Glimmspuren ihrer Zuneigung versuchen. Doch so, wie diese erloschenen Individuen verwechselbar werden, so auch diese Art des simultan tönenden und flackernden Theaters mit seinen überwiegend chorisch gesprochenen Zustands-Behauptungen, etwas Agitprop-Stakkato und Debatten-Geklingel plus Traumspiel-Fasern. Es bleibt kaum ein Rest von Geheimnis.

Hartmann lässt de sterilen Spuk die vielleicht bestmögliche Aufbereitung angedeihen. Mit diesem Text hält die Inszenierung allemal Schritt, mehr steckt kaum drin.




In Bochumer Theater regt sich stets ein guter Geist – seit dem Neubeginn vor 50 Jahren

Von Bernd Berke

Wenn denn ein guter Geist herrschen soll, so muss er auch begünstigt werden, und da bedarf es wohl einer Vorgeschichte: So haben die ersten beiden Intendanten die Grundsteine der großen Bochumer Tradition gelegt – schon lange vor dem Neubeginn von 1953: Saladin Schmitt (Intendanz 1919 bis 1949) und Hans Schalla (1949-1972) amtierten jeweils mehrere Jahrzehnte lang. Die Ensembles hatten Zeit, in aller Ruhe zu wachsen. Das Bochumer Intendanten-Leben schien, vom branchenüblichen täglichen Chaos abgesehen, ein langer ruhiger Fluss zu sein – angesichts heutiger Wechselgelüste auch im Theaterbetrieb fast unvorstellbar.

So reifte denn auch der oftmals gerühmte „Bochumer Stil“ heran – bei Schmitt vor allem in Gestalt prachtvoll dekorierter Klassiker-Aufführungen, die in eher gemächlicher Würde um den Text kreisten. Schalla hingegen brachte ungleich mehr Bewegung auf die Bühne; ganz gleich, ob in klassischen Dramen oder bei all jenen Texten, die in der NS-Zeit nicht hatten aufgeführt werden dürfen und die er nun „nachholte“.

Damit waren zwei Grundtöne angeschlagen, die auch später immer wieder nachklingen sollten. Statisches, eher düster grundiertes Theater sah man auch in der Ära Frank Patrick Steckel (1986-1995), höchst bewegte Zeiten mit Revue und manchmal herrlichem KIamauk gab’s zuvor bei Peter Zadek (1972-1979), eine gewisse Synthese beider Strömungen gelang in den allerbesten Phasen Claus Peymann (1979-1986), vorwiegend Theater für die Spaßgesellschaft erlebte man bei Leander Haußmann (1995-2000).

Seligste Zeiten: Bei Zadek spielten u. a. Hannelore Hoger, Ulrich Wildgruber, Eva Mattes und Rosel Zech, bei Peymann schwelgte man in Aufführungen etwa mit Kirsten Dene, Gert Voss, Therese Affolter und Branko Samarovski. Wer bietet mehr?

Allen Bochumer Spielleitern gemeinsam war eine Vorliebe fürs ungeheure Werk des William Shakespeare, der so etwas wie ein Hausheiliger an der Königsallee geworden und geblieben ist. Wer weiß, vielleicht ist am Ende er der gute, der waltende Geist von Bochum. Noch so eine langlebige Tradition jedenfalls, auf die auch die ansonsten so verschiedenen Bühnenchefs gern zurückkamen.

Der jetzige, beim Publikum so erfolgreiche Intendant Matthias Hartmann (seit 2000), der auch Entertainer wie Harald Schmidt und Helge Schneider ans Haus holte und 2005 nach Zürich wechseln wird, sollte also möglichst höchstselbst noch ein oder zwei große Dramen des Engländers auf dieBühne bringen, will er sich in die Überlieferung einreihen.

Damit nicht genug des ehern Bleibenden: Auch eine Darstellerin steht für schier unglaubliche, höchst erdverbundene Kontinuität. Damit kann natürlich nur Tana Schanzara gemeint sein. Bereits 1953, als am 23. September alles wieder neu begann, stieß die von manchen als heimlichen Regentin der (Revier)-Herzen angesehene Schauspielerin als Gast zum Bochumer Ensemble, seit 1954 gehört sie fest dazu. Intendanten und Mimen-Kollegen kamen und gingen, sie blieb – und kann gewiss so manche Theater-Anekdoten aus all diesen Jahren erzählen. Das wäre ein Buch wert.

Wäre aber nichts als Beharren in Bochum, so hieße das irgendwann Erstarrung. Immer wieder erwies sich diese Bühne auch als rechter Ort für weithin beachtete Uraufführungen. Nur scheinbar paradox: Auch das jeweils Brandneue ist somit schon gute Bochumer Tradition.

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• Die neue Bochumer Saison beginnt heute, 4. Oktober, mit zwei Premieren: Auf Lessings „Minna von Barnhelm“ (19 Uhr, Schauspielhaus) folgt die Uraufführung von Falk Richters Stück „EIectronic City“ (22 Uhr, Kammerspiele). Karten: 0234/3333 111.

• Das Jubiläum wird an diesem Sonntag, 5. Okt. (11-16 Uhr), mit einem Fest auf dem Theatervorptatz und in den Foyers gefeiert. Am Samstag/Sonntag (18. und 19. Oktober) gibt’s das Sonderprogramm „50 Jahre – 50 Stunden“.

 




Lizenz zur Goethe-Zerlegung: Samuel Schwarz inszeniert die „Clavigo“-Tragödie in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Publizist Clavigo gleicht einem Schilfrohr im Winde. Frommt es seiner Karriere beim spanischen Hofe, so ist er flugs bereit, sein Heiratsversprechen zu brechen und Marie zu verlassen. Wird er aber von deren Bruder drangsaliert, so kehrt er eilends zu ihr zurück. Nicht wahre Reue ist’s, sondern letztlich Berechnung. Daher hat auch diese Haltung keinen Bestand.

War nicht auch der „Clavigo“-Autor Goethe ein solcher Wendehals und Fürstenknecht? „Aber ja!“ ruft uns die Bochumer Inszenierung des Schweizers Samuel Schwarz triumphierend zu. Und so schickt man sich an, den Klassiker, der dieses Stück in seiner „Sturm und Drang“-Phase (24jährig, binnen acht Tagen – wow!) hinwarf, zu dekonstruieren. Ist das nun raffiniert und schneidig oder nur frech?

Nur noch tauglich für ein B-Movie oder ein TV-Melodrama

Das Drama darf nicht für sich bestehen. Schon in einem angepappten Vorspiel wird der wankelmütige Clavigo (Maik Solbach) mit dem Verfasser Goethe überblendet. Später gibt es immer wieder epische Einschübe, die den Text perforieren. Maries rachsüchtiger Bruder Beaumarchais (Thomas Büchel) springt oft mitten im Dialog aus seiner Rolle und erzählt in prosaischer Rückschau, was er „damals“ getan und gesagt habe. Um Goethes Tonfall aufzugreifen: Oh, über diesen vermaledeiten Verfremdungseffekt!

Genüsslich wird ein Mer(c)k-Satz zitiert: Dieses ganze Stück sei „Quark“. So verwarf Goethe-Mentor Johann Heinrich Merck seinerzeit den „Clavigo“. Der Regisseur nimmt’s als Lizenz, den Text zu zerlegen. zerlegen. Er behandelt die Tragödie als gesunkenes Kulturgut, nur noch tauglich für ein B-Movie oder ein TV-Melodrama. Da geraten selbst die klassizistischen Figürchen, die anfangs auf ihren Podesten standen, ins trollhafte Tänzeln.

Mit kindlicher Beschwörungslust reagiert die Regie auf bloße Stichworte. Ist vom Blitz die Rede, schlägt er gleich ein. Geht’s um spanische Momente im Leben, so ertönen Flamenco-Akkorde. Wer wollte sich bei all dem noch um die feineren Regungen der Figuren kümmern? Sie sind ja eh in erster Linie Marionetten ihrer schalen Interessen.

Dramaturgische Schlaumeierei erobert die Bühne

Der totenbleiche, vampiristische Zyniker Carlos (Fabian Krüger), der dem Freund Clavigo die Karriere-Geilheit einflüstert und sich zum Spielleiter aufschwingt, scheint homoerotisch getönte Neigungen nur notdürftig zu bemänteln. Auf der anderen Seite sieht es so aus, als begehre Beaumarchais seine Schwester Marie inzestuös.

Hier wird die Dramaturgen-Schlaumeierei eines Programmhefts mitinszeniert: Ausführlich kann der französische Revolutions-Anreger und „Figaro“-Textautor Beaumarchais darlegen, wie schändlich er sich von Goethe im Stück verwurstet fühle. Ein zwielichtiger Gewährsmann. Auch wird Goethe vorgehalten, was in historischer Wirklichkeit aus den Figuren geworden ist ganz so, als dürfe Dichtung nicht Wahrheit verwandeln.

Wallende Vorhänge, ein Boden mit apartem Gittermuster (Bühnenbild: Chantal Wuhrmann, Andy Hohl); dazu allerlei schöne Figuren-Tableaus: Die Aufführung hat vielfach den Reiz eines Gemäldes. Doch sobald sie sich bewegt und sich in teilweise geckenhaften Kostümen (Rudolf Jost) erhitzt, neigt sie zur Überzeichnung und gerät aus den Fugen, Wenn etwa Marie (Lena Schwarz) sich erregt, dann mit wahnwitzigen Zuckungen (was schelmische Anwandlungen im nahezu selben Moment nicht ausschließt).

Im Suff Worte wie „Pissnelke“ und „Titten“ lallen

Überhaupt ist das antikisierende Gehäuse, das die Beaumarchais-Schwestern Marie und Sophie einzwängt, ein Tollhaus für Farce und Randale. Hausfreund Buenco (Johann von Bülow) säuft und nölt, darf Worte wie „Pissnelke“ und „Titten“ lallen und so dem Überdruss prollig-punkigen Ausdruck verleihen. Lustig, lustig – aber viel zu hoch dosiert.

Den Tod Maries und Clavigos Krokodilstrauer erlebt man nur als überdimensional irrlichterndes Schattenspiel. Goethes „Erbe“ erschleichen und dann so achtlos verschleudern; Geister beschwören, Geist verscheuchen. Da fahre doch ein Donnerwetter hinein!

Termine: 28. Mai; 1., 21., 24. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Patrice Chéreaus Huldigung an die Worte – festliche „Phädra“-Inszenierung zur Eröffnung der RuhrTriennale

Von Bernd Berke

Bochum. Das Wort klingt ja nicht so schön, doch die Eröffnung der RuhrTriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle war fürs Revier ein, nun: ein wahres „Event“. Oder halt ein Ereignis. NRW-Ministerpräsidenf Steinbrück und Kulturstaatsministerin Weiss nahmen ebenso in recht knapp bemessenen Sitzschalen Platz wie etwa WDR-lntendant Pleitgen oder auch TV-Plauderer Biolek.

Frankreichs gepriesener Theater- und Filmregisseur Patrice Chéreau, seit seinem Bayreuther „Ring“ (1976) eine Leitfigur der europäischen Szene, gastiert mit seiner Inszenierung von Jean Racines Tragödie „Phèdre“ (Phädra). Der Produktion des Pariser Odéon-Theaters eilt ein Ruf wie Donnerhall voraus.

Ein antikes Portal (ansonsten radikal schmucklose Bühne: Richard Peduzzi) genügt, um in der riesigen Halle eine altgriechische Szenerie zu beschwören. Die Darsteller agieren zwischen zwei Zuschauerblöcken. Man fühlt sich unversehens in eine Polis versetzt, auf einen Platz, wo Schicksale von öffentlichem Interesse verhandelt werden. Chéreau hat das 1677 (zur Barockzeit Ludwigs XIV.) entstandene, strikt moralische Stück auf seine antiken Quellen zurückbezogen, hat ältere Schichten freigelegt wie ein Archäologe. Und siehe da: Am Anfang war das Wort!

Seit Lessings berühmtem Verdikt gelten die französischen Klassiker Corneille und Racine hierzulande als steif und blutleer. Lange sind sie für uns hinter Shakespeares leidenschaftlichem Welttheater nahezu verschwunden. Doch die kunstreich gereimten Alexandriner der „Phädra“ klingen in Chéreaus textdienlicher Zurichtung lebendig und seelenvoll, wobei die strenge Form letztlich gewahrt bleibt. Zudem lässt die französische Sprache (per Kopfhörer gibt es eine taugliche Synchron-Übersetzung) weiten Raum für Pathos.

Aus weiter Ferne so nah rücken uns somit die ebenso prägnant wie dezent gewandeten Gestalten (Kostüme: Moidele Bickel): die Königsgattin Phädra (gesättigt mit Leiden: Dominique Blanc), welche ihren Stiefsohn Hippolyte (Eric Ruf) liebt, der wiederum der gefangenen Fürstin Aricie (Marina Hands) zugetan ist. Die rasende Rache des Königs Theseus (Pascal Greggory) wird fürchterlich sein.

Lichtkegel folgen den Figuren wie göttliche Rest-Illuminationen. Immer wieder blicken die Protagonisten entgeistert, Haare raufend zum Götterhimmel, dabei wohnt doch die Zerrissenheit längst in ihrer eigenen Brust. Liebe scheint eingezäunt in rigide Regeln, weshalb man über sie in Kategorien des Kampfes und der Überwindung denkt.

Dies ist eine Huldigung an die Worte. So stark und wirksam sind sie, dass sie allein es immer wieder vermögen, die Leiber zu magnetisieren, zu beugen, herumzureißen. Sprache kommt dermaßen klar, rein und wuchtig zur Geltung wie nur selten. In gewisser Weise hat man hier einen mächtigen Gegenentwurf zum in Deutschland oft üblichen Körper-Theater mit allerlei Deutungs-Mätzchen. Ob man es immer so haben möchte, ist eine andere Frage.

Chéreau und sein großartiges Ensemble zeigen uns mit hochlöblicher Sprechkultur ein Stück des Verschweigens und der abgerungenen Geständnisse, beides mit auswegloser Tragik beladen: Reden heißt bereits irren, Schweigen bereits ein Übel zulassen. Und die Worte scheinen schmerzvoll einem Urgrund der Sprachlosigkeit zu entsteigen.

Zurück ins Jetzt: Die Jahrhunderthalle, deren gläserne Front an ein Flughafenterminal gemahnt, erweist sich als rechter Ort fürs Abheben mit Bühnenkunst. In diesem Falle ist es großes, denkbar würdiges Festtagstheater, keines für alle Stunden.

Weitere Termine: 3., 4.. 7., 8., 9., 10. und 11. Mai. Karten-Hotline: 0700 / 2002 3456.

 




Am Ende haben sich alle recht lieb: Klaus Pohls „Seele des Dichters – Unheimliches Lokal“ in Bochum uraufgeführt

Von Bernd Berke

Bochum. Das Bühnenbild besteht aus Stapelware: Überall türmen sich Kästen einer in Bochum gebrauten Biermarke, die denn im Verlauf des Abends auch schon mal geordert wird. Wie ein bleicher Mond hängt über dieser Szenerie eine Echtzeit-Uhr, die anzeigt, wie die dreistündige Aufführung verrinnt.

Derweil geht es in Klaus Pohls Stück „Seele des Dichters – Unheimliches Lokal“, das jetzt in den Bochumer Kammerspielen uraufgeführt wurde, um Gott und die Welt, um Dichtung und Wahrheit, Theater und Revolte, um Macht, Ohnmacht und Beziehungskram. Sprich: Es geht vorderhand um alles und letztlich um nichts.

Der Bilderbogen rauscht ziemlich folgenlos vorüber

Ein schier unüberschaubares Vielerlei wird da vor uns ausgebreitet – ganz so, als ergötze sich das Theater selbstgenügsam am eigenen Vorhandensein, am puren Plappern und quirligen Treiben. Da lässt man eben den wortreichen, farcehaften, oft etwas naiven Bilderbogen halbwegs amüsiert an sich vorüberrauschen. Wenn’s vorbei ist, ist’s aber auch gut.

Der Stücktitel, den der erfahrene Dramatiker und Schauspieler Pohl („Das Alte Land“, „Karate-Billi kehrt zurück“) gewählt hat, soll angeblich bei Arthur Schnitzler entlehnt sein, doch das macht nichts. Bedeutsamer ist der Umstand, dass es sich um einen Auftragstext für die alljährliche Produktion mit Bochumer Schauspielschülern handelt. Die durften munter Ideen liefern, und Pohl hat offenbar den jungen Leuten nichts verwehren wollen. Also hat er wohl nur wenig aussortiert, hat dies und jenes verwertet, um etliches „Spielfutter“ zu liefern. Eigentlich ein sympathischer Zug. Doch dann hat er auch noch selbst Regle geführt, so dass es gar keine rechte Kontrollinstanz mehr gab.

Kapitalistischer Einpeitscher der Kistenstapler-Brigaden

In der ortlosen „Kistenstadt“ konkurrieren zwei seltsame Kulturschaffende um Konzepte und Weiber – der Baumeister Caspar Neuhauser (aha, aha – man soll an Kaspar Hauser denken!) und der dichtende Kistenstapler Alexander Polti. Zum Panoptikum zählen außerdem der versoffene Ex-Priester Volker (typischer Flachatmungs-Gag: „Wir sind das Volk“ – „Und ich bin Volker“), eine Spanischlehrerin, ein schüchterner Spielzeugverkäufer, ein Mann ohne Schottenrock, eine sangesfreudige Serviererin im „Seelen“-Lokal, eine Schauspielerin und vor allem zwei feindliche Brüder: Zunächst beherrscht der schmierige Claus Rotter als Megaphon-Einpeitscher die Kistenstapler-Brigaden. Merke: Unter seiner Kapitalisten-Knute welken alle Träume dahin. Mit einem absurd-listig herbeigeführten Börsencrash wird er entmachtet, es bricht gar eine groteske Revolution aus. Auch wird das orgienfeindliche Alkoholverbot aufgehoben. Hernach, unter dem aus der Verbannung zurückgekehrten Bruder Peter Rotter, der sich vom Melancholiker zum Theatergründer und Impresario mausert, läuft’s anders.

Die langwierige Szenenfolge soll wohl (oh, Frevel!) ein wenig an die Theaterproben der Handwerker aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ erinnern, doch hier heißt es: Spektakel an die Macht, circensisches Vergnügen, bis die Schwarte kracht. Ein wüstes Rap-Musical auf Mozart-Basis wird da ellenlang geprobt, bei dem ein weiblicher Don Giovanni die Männer reihenweise vergewaltigen soll. Peter Rotter stammelt immer wieder begeistert das Motto: „Raubvögeln! Schweinegut!“ Ziemlich frei flottieren da die Sinnbezüge, und am Ende haben sich alle irgendwie lieb.

Beachtliche Jung-Schauspieler retten Larifari-Text

Und die Darsteller? Nun, wenn sich die Profile mancher Figuren nie so recht schärfen wollen, liegt dies eher am Larifari-Text. Die Schauspieler agieren achtbar bis beachtlich. Besonders auffallend: Nora Jokosha als Claus Rotters schnippische, den lesbischen Lüsten zuneigende Gattin Lou und der schelmische Peter Luppa als Peter Rotter.

Auch die Anderen haben Beifall verdient, wenn auch nicht so frenetisch, wie ihn zur Premiere die Freundes-Fanclubs spendeten. Klaus Pohl bekam indes ein paar Buhs zu hören. Auch da in man kaum widersprechen. Schwer vorstellbar, dass weitere Bühnen sich zum Nachspielen drängen.

Termine: 15., 20. April, 7, 31.. Mai. Karten: 0234/3333-111.




Das Erbe von „Tegtmeier“ wirkt weiter – Jürgen von Manger wurde vor 80 Jahren geboren

Von Bernd Berke

Nun ja, es stimmt: Nirgendwo sonst als in Koblenz wurde Jürgen von Manger am 6. März. 1923 (also morgen vor 80 Jahren) geboren. Die Stadt am Mittelrhein in allen Ehren, doch wir wollen sie nun ganz rasch ausblenden. Denn das, was Manger alias „Tegtmeier“ ausgemacht hat, begann, als er mit 9 Jahren nach Hagen kam. Hier, am Saum des Ruhrgebiets und von außen her kommend, hat er wohl ein besonders genaues Gespür für die Sprache dieser Region entwickeln können.

Der 1961 von ihm ersonnene und seither bodcnständig verkörperte Rcvier-Kumpcltyp „Adolf Tegtmeier“ hat die an Ruhr und Emscher gesprochene Mundart in die letzten Winkel Deutschlands getragen; auf zahllosen Tourneen, via Hörfunk, Fernsehen oder Schallplatte – und übrigens auch auf einer Scheibe, die er seinerzeit eigens für die Leser der Westfälischen Rundschau produzierte.

Die immensen Mühen der Bildungssprache

Es war kein redseliges Idiom, das Tegtmeier im Munde wälzte. Letztlich war’s eine Kunstsprache, freilich gespeist aus dem wirklichen Wortgebrauch der Gegend. Stets merkte man Tegtmeier die immensen Mühen des Satzbaus an, die Reibung der Alltagsausdrücke mit Hoch- und Bildungssprache. Aus solchen Nöten erwuchs Komik, jedoch keine hämische. Denn hier zeigten sich auch Wahrhaftigkeit und Würde der „kleinen Leute“. Nur deshalb konnte die Figur Identität stiften – bis heute, wo etwa ein Herbert Knebel die Tradition fortführt.

Anhand einer neuen CD-Edition (mit vier Scheiben) kann man ihn nun nachschmecken – diesen ureigenen Humor, der nie schnellfertig oder brachial daherkommt, sondern sich stets langsam entfaltet: Noch einmal sind hier die makabren Einlassungen des „Schwiegermuttermörders“ vor Gericht („Da hab‘ ich ’se gesächt“) zu hören; abermals erleben wir mit dem freudig-beflissenen Halb-Banausen Tegtmeier „Wilhelm Teil“ im Theater. Trefflicher ist die (überwindbare) Schwellenwirkung der hehren Kultur .selten geschildert worden. Der Gang zum „Heiratsvermittler“, Gedanken über „Feines Benehmen“ und „Die Mieterversammlung“ – all‘ dies und noch viel mehr ist drauf auf den Silberlingcn.

Jugendzeit und erste Auftritte in Hagen

Zurück nach Hagen: Hier hatte Jürgen von Manger das Fichte- und das Dürer-Gymnasium besucht, hier war er bereits von 1939 bis 1941 Statist (u. a. im „Tell“) beim Theater.

Von 1941 bis 1945 war Jürgen von Manger Soldat. Die bitteren Erfahrungen in Russland blitzten zuweilen auch in späteren Sketchen auf. Schon 1945 kehrte er ans Hagener Theater zurück, diesmal als regulärer Darsteller (Stücke von „Othello“ bis „Maria Stuart“). 1947 zog es ihn ans von Saladin Schmitt geleitete Bochumer Schauspielhaus, zeitweise spielte er auch in Gelsenkirchen. Parallel dazu absolvierte Jürgen von Manger zudem ein komplettes Jura-Studium in Köln. Es kam beizeiten auch Tegtmeier zupass: Sein Ringen mit Juristen- und Amtsdeutsch beruhte auf Kenntnis.

1985 erlitt Jürgen von Manger einen Schlaganfall und konnte fortan nicht mehr auftreten. Mit 71 Jahren starb er am 15. März 1994 in Herne, beigesetzt wurde er in Hagen-Delstern. Seine Witwe, Ruth von Manger, die heute bei Kassei lebt, hat dem Bochumer CD-Label Roof Music den gesamten Nachlass ihres Mannes anvertraut.

Jürgen von Manger: „Wunderbar“. 4 CDs (25,90 Euro) bei Roof Music, Bochum (Tel. 0234/29878-16). Indigo-Bestell-Nr.: 21612 / Internet: www.roofmusic.de




Wüste Leidenschaft bis in den Tod – Ernst Stötzner inszeniert Ibsens „Hedda Gabler“ mit einer hinreißenden Dörte Lyssewski

Von Bernd Berke

Bochum. Von wegen Luxus, Eleganz und Ambiente: Das Haus, das der Kulturhistoriker Jörgen Tesman und seine Frau Hedda bezogen haben, wirkt in Petra Korinks Bühnenbild wie ein Verschlag. Auf trapezförmigem Grundriss umschließen Holzwände mit Billigbaumarkt-Anmutung die Szenerie, fensterlos und mit Schiebetüren versehen. Hier ist kein Bleiben, kein Ankern.

Ernst Stötzner, der Henrik Ibsen „Hedda Gabler“ In Bochum inszeniert, stellt Figuren in einen verwahrlosten Alltag. Bevor sich Hedda in Glitzerkleidchen oder Venus-Pelz hüllen darf, tritt sie als unbefriedigte Schlampe mit Netzstrümpfen und Morgenrock auf. Auch der ungeschlacht wirkende Jörgen muss, wenn Besuch kommt, erst mal rasch die Hose anziehen. Überdies läuft im Hintergrund pausenlos ein Fernsehgerät (mit Skisport). Sind wir etwa im sozialen Brennpunkt angelangt?

Irgendwie schon, wenn auch noch nicht in der trostlosen Trabantenstadt. Doch immerhin droht hier akut der soziale Absturz. Man hat sich finanziell übernommen, man lebt auf Bürgschaft, Kredit und vage Erfolgsaussichten hin.

Wilde Ausbrüche sind gestattet

Wo Ibsens Figuren sonst in aller Verhaltenheit ihre Lebenslügen zu verbergen suchen, sind ihnen diesmal wilde Ausbrüche gestattet. Wenn etwa der kläglich angepasste Jörgen (Felix Vörtler) gewahr wird, dass Ejlert Lövborg (Alexej Schipenko) mit ihm um ein Professoren-Pöstchen konkurriert, so tobt er wie Rumpelstilzehen. Der genialische Lövborg, der sich unterm Einfluss der eheabtrünnigen Frau Elvstedt (Diana Greenwood) „gefangen“ hat, doch alkoholgefährdet bleibt, erleidet eine überaus wüste Fallsuchts-Attacke schon beim ersten Glas Punsch.

Mit arg übertriebenem Tonfall und haltloser Gestik hat uns zuvor schon Jörgens Tante Juliane (Irm Hermann) verstört. Die Inszenierung bezahlt derlei forcierten Verdeutlichungs-Furor und ihren Mangel an Dosierung mit gewissen inneren Spannungsverlusten.

Dennoch ist es über weite Strecken ein Abend mit Sogwirkung. Denn das Ensemble ist stärker als jedes Konzept. Hinreißend: Dörte Lyssewski als just in die Ehe hinein geschlitterte, zu Tode gelangweilte, achtlos konsumierende, doch von (makabrem) Schönheitsdrang getriebene Hedda zeichnet eine Gestalt mit schlingerndem Tiefgang bis zur Bodenlosigkeit.

Das Weh und Ach der Beziehungen

Heddas todessehnsüchtige, im Übermaß fordernde Leidenschaft für Lövborg ist ein gleichsam strahlend finsterer Kontrast zur Neigung der Frau Elvstedt, welche Lövborg eher karitativ retten will.

Dörte Lyssewski spielt mit höchster Präsenz und wahrhaftig mit jeder Faser; man achte nur auf ihre vielfältigen Beinstellungen, in denen sich ein ganzes Seelenleben zeigt. Überhaupt hat Stötzner für die wehen (Dreiecks)-Beziehungen eine subtile Choreographie der Schrittfolgen bis hin zur tänzerischen Einlage ersonnen. Ausgeklügelt ist’s, wie sie sich hier aufeinander zu und vor allem voneinander weg bewegen.

Heddas rastlose Unzufriedenheit könnte konventionell im organisierten Fremdgehen mit dem Hausfreund (Martin Hörn als Richter Brock) verplätschern. Doch statt sich seiner kaltblütigen Gier auszuliefern, will die Generalstochter selbst einmal Macht ausüben. So treibt sie Lövborg ins Verderben – und erschießt sich am Ende selbst. Ihr ungeliebter Gatte, der flaue Fachidiot, hat von all dem Trachten nichts bemerkt. Felix Vörtler schafft es freilich, dass man diesen Trottel irgendwann nicht mehr nur belächelt, sondern auch bemitleidet. Des Richters berühmtes Schlusswort nach ihrem Freitod („So was tut man doch nicht!“) wird Hedda hier nicht zuteil. Die Überlebenden machen einfach stumm weiter und weiter – verdammt in alle Ewigkeit.

Termine: 11, 14., 24. März. Karten: 0234/3333-111.




Im Chaos-Zimmer der Pubertät – Jürgen Kruse inszeniert in Bochum Handkes „Die Unvernünftigen sterben aus“

Von Bernd Berke

Bochum. „Jeden Tag ein Produkt weniger. Vorbei die schöne Vielfalt des Marktes. Umsonst die höheren Weihen. Das Ende der stolzen Zahlen. Ich bin ratlos.“ Knappe Worte zur Wirtschaftskrise, aus einem Stück der Stunde? Nein! Sie stammen aus Peter Handkes im Ölschock-Jahr 1973 verfasstem Text „Die Unvernünftigen sterben aus“.

Jürgen Kruse, der dieses Stück nun in Bochum inszeniert hat, stellt den zeithistorischen Abstand plakativ heraus: Die Jahreszahlen „ 1973″ und „2002″ prangen über der Szenerie. Auch gehört zu den Requisiten (Bühnenbild: Altmeister Wilfried Minks) – zwischen virtueller Hochhaus-Silhouette und kubischem Mobiliar – die Attrappe einer Marx-Engels-Ausgabe mit den berühmten blauen Buchrücken („MEW“). Jaja, die Revolten-Chose ist längst passe. Geschichtliche Verwüstung hat sich noch breiter gemacht.

Ein weiteres Direktoren-Drama

Der Unternehmer Quitt und vier Konkurrenten schmieden ein Kartell mit Preisabsprachen. Einziger Widerpart ist ein wahnwitziger Kleinaktionär (Alexander Maria Schmidt), der hier immer mit den Fingern schnippst wie ein Erstklässler. Quitt jedenfalls hält sich nicht an die Vereinbarungen und drückt die anderen – keineswegs nur geschäftlich – an die Wand. Punkt. Aus. Ein weiteres „Direktoren“-Drama in Bochum also.

Diesmal aber dauert die Sache über vier Stunden. Denn Kruse lässt Handkes Sätze vielfach manieristisch dehnen und die Worte äußerst langsam, Silbe für Silbe, aus Quitts Mund kollern. Darsteller Michael Altmann muss sogar unentwegt „Eeeees“ statt „Es“ sagen. Der Mann, der sich so ausgiebig in anderen gespiegelt sehen will, gibt mal den verzweifelt empfindsamen Wanderprediger, mal den cholerischen Markt- und Menschen-Beherrscher. Das schrankenlos ausgelebte Ich, der Rollenwechsel als Machtinstrument.

Mal wieder den Plattenschrank geplündert

Zudem hat Kruse mal wieder seine Plattensammlung geplündert, was sich diesmal als zeitraubender Fehlgriff erweist und die GEMA-Gebühren nicht wert ist. Denn schon Handkes Text über die letzten Zuckungen und Aufwallungen des bürgerlichen „Ich“ ist diffus genug. Die Klangspur, nach Kruses Lust und Laune zwischen Bryan Ferry und Hildegard Knef sich erstreckend, setzt die Assoziationen jeweils auf noch ganz andere, oft nicht recht passende Fährten. Die Bühne als Chaos-Zimmer der Pubertät: laute Musik, unaufgeräumt…

Zu Beginn wähnt man sich gar in einer Küstenkneipe, da ertönen Auszüge aus einem Hamburger Hafenkonzert, und Quitt drischt auf einen Sandsack mit aufgedruckter Weltkarte ein, der am Ende leer rinnen wird. Welch eine umstandslose Symbolik des Vergehens, des Welt- und Wirklichkeitsverlustes!

Stärke durch Distanz zum eigenen Tun

Doch vieles, was man ohne Textkenntnis Kruse zuschreiben würde, steht wirklich bei Handke – auch die gewittrigen Stürme, die aus Lautsprechern tönenden Monumental-Rülpser oder die lebenden Schlangen, die am Schluss züngeln. Willkommen im apokalyptischen Zirkus. Oder auch in der „Voodoo Lounge“ – dieser Stones-Titel steht auf der Tür, die zur Bühne führt.

Kruse folgt der Vorlage ziemlich genau und hält sie an allen Flanken überaus vieldeutig offen. Quitts Überlegenheit mag sich aus seiner besonderen Ich-Stärke speisen, vielleicht aber auch daraus, dass er – anders als die anderen Unternehmer – jederzeit von sich absehen und Distanz zu seinem Tun halten kann. Mitunter scheint sich der Text aus Sprechakt-Theorien nahezu rechnerisch zu ergeben. Er enthält viele Slapstick-Treibsätze und somit herrliche Spiel-Anlässe, die weidlich genutzt werden. Es kündigt sich freilich auch schon jener Peter Handke an, der durch schieres Erzählen und Erinnern die Welt bewahren will. Doch derlei Ansätze zerfaserten damals noch in atemloser Anekdotik.

Wie bei einer.ordentlichen Rock-Session, so bekommt in Bochum jeder Darsteller sein furioses Solo. Immer wieder erzielt das großartige Ensemble (u.a. Ernst Stötzner, Manfred Böll, Bernd Rademacher) auch konzentrierte, intime, beinahe privat wirkende Momente, in denen die Gestalten ihre Rollen probehalber verlassen. Anschließend drehen sie wieder auf wie nur je. Eine höchst interessante Figur zeichnet Johann von Bülow als Quitts Vertrauter Hans – ein wenig Hofnarr, Hausfreund der im Nichtstun verstörten Gattin (Julie Bräuning), ein wenig Lakai, doch auch Parasit.

Ortsüblicher Jubelbeifall, vermischt mit ein paar zaghaften Buhs für die Regle.

Termine: 25., 30. Dez. /9., 16. und 26. Jan. 2003. Karten: Tel. 0234/ 3333-111.

 




Ein Traum beim Rauschen des Meeres – Jürgen Kruse inszeniert „True Dylan“ von Sam Shepard

Von Bernd Berke

Bochum. Wer in seinem Seelenhaushalt die musikalische Populärkultur der 60er Jahre hegt, sollte gespannt sein auf dieses Stück: „True Dylan“ von Sam Shepard handelt von den unvergänglichen Mythen jener Jahre.

Der US-Dramatiker Shepard, auch als Schauspieler („Homo Faber“) und Drehbuchautor („Paris, Texas“) geadelt, hat 1975 Bob Dylans „Rolling Thunder“-Tournee eingehend begleitet – für ein Filmprojekt, das nie realisiert wurde. Doch Dylans Aura ließ Shepard nicht ruhen: 1987 erschien sein Text „True Dylan“ (Der wahre Dylan) als vermeintliches Interview in der Zeitschrift „Esquire“. Doch der Dialog war eine fürs Theater zugerichtete Zwiesprachen-Phantasie mitsamt Regieanweisungen.

Klar, dass Jürgen Kruse bei der deutschsprachigen Erstaufführung im Bochumer „Theater unter Tage“ Regie führen musste. So viele Stücke hat er schon mit seinem erlesenen Rockmusik-Geschmack durchsetzt, dass er als bester Plattenaufleger der Bühnenwelt gelten kann. Von den Zeiten, als Rundfunk-DJs die Scheiben noch nach Gusto statt nach öder Hitparaden-Vorgabe spielten, schwärmen im Stück Sam und Bob, unschwer als theatralische Wiedergänger von Shepard und Dylan zu erkennen.

Am Strand von Kalifornien rückt Sam (Patrick Heyn), grotesk gerüstet mit allerlei Schreibstiften, Recorder und Mikro, zum Interview an. Bob (auch als Gitarrist okay: Lucas Gregorowicz) antwortet meist wortkarg und mit sanftmütiger Coolness. Natürlich geht’s vorderhand um Musik, doch auch um Engel, Frauen, Träume, das allzu kurze Leben des tödlich verunglückten James Dean. Mithin geht’s – in schöner Beiläufigkeit und Lässigkeit – um alles.

Mythen der Popmusik werden umkreist, bejaht, bezweifelt, angehäuft

Doch warum viele Worte machen, das Nennenswerte ist in gewissen Liedern gültig aufbewahrt: Am liebsten greift sich Bochums Bob also eine der zahlreichen Gitarren auf der Bühne und sucht die hinter den Mythen-Masken verborgenen wahren Empfindungen mit Songs auszudrücken. Bereitwillig macht sich die Inszenierung ein Shepard-Zitat zu eigen, das besagte, eine einzige Tonfolge wecke schneller die Emotionen als etliche Theaterszenen. Dementiert und demontiert sich hier die Bühnenkunst selbst?

Und was geschieht hier eigentlich: Werden die Mythen umkreist, bejaht, gerettet, bezweifelt oder in splitterhaften Reminiszenzen angehäuft? Von allem etwas. Und das Ganze wirkt wie ein Traum beim Rauschen des Meeres. Tief verstricken sich Kruse und die Darsteller ins etwas selbstgenügsame „name dropping“ aus der Folk- und Rockszene – ganz so, als gebe es keinen Ausgang mehr aus diesem mythensatten Pop-Universum.

Auch das Strand-Bühnenbild (Volker Hintermeier) ist pures Zitat, es folgt exakt dem LP-Cover von Neil Youngs „On the Beach“. Dem Text hat Kruse Assoziationsketten beigegeben, die unbekümmert mit dem reichlichen Inventar der Popkultur jonglieren. Weitere Zutat: Stumm lächelnd umkreisen Mädchen-Gestalten die Szenerie. Es könnten Groupies sein, doch auch engelhafte Jungfrauen, vielleicht gar sanfte Todes-Botinnen.

Wie fühlt man sich nach all dem? Gleichermaßen ratlos und inspiriert. Man möchte die ganze Nacht Musik hören. Doch was bleibt, wenn man daraus erwacht?

(Termine: 3., 7„ 8. Dez. Karten: 0234/3333-111)




Moral und Geschnatter im Garten Eden – Karin Beier inszeniert Neil LaButes „Das Maß der Dinge“ in Bochum

Von Bernd Berke

Neil LaBute („Bash“) gilt als einer der stärksten US-Dramatiker seit Edward Albee. Klar und einfach sind seine Stücke gebaut, zugänglich wie sonst nur wenige. Doch Vorsicht! Der Mann verdingt sich gern als szenischer Minenleger.

Man merkt erst allmählich, dass sich in seinen Texten Sprengsätze verbergen – so zuweilen auch in „Das Maß der Dinge“ (Original: „The Shape of Things“). Karin Beier hat den boulevardesken Vierpersonen-Reigen als deutsche Erstaufführung für die Bochumer Kammerspiele inszeniert.

Der gar schüchtern-unscheinbare Museumsaufseher Adam ertappt die Kunststudentin Evelyn beim Übersteigen einer Absperrung. Unumwunden gibt sie zu, sie wolle das Gemächt einer Feigenblatt-Statue mit Farbspray zur grellen Kenntlichkeit markieren – Vandalismus oder ein Akt der Aufklärung? Jedenfalls eine Verwandlungsabsicht nach Gutdünken.

Adam schaut schließlich geflissentlich weg, nachdem Evelyn (also: Eva) ihm ihre Telefonnummer in die schäbige alte Jacke gesprüht hat. „Paradise revisited“: Wir sind mal wieder zu Besuch im Garten Eden, und der Sündenfall erneuert sich zwischen Bonbonfarben und pelzigen Kakteen (Bühne: Julia Kaschlinksi).

Frisch gestylt zum Seitensprung

Mit biblischer Fracht ist’s nicht genug, denn fortan kommt der alte Pygmalion-Mythos (populär durchs Musical „My Fair Lady“) zum Zuge, nur dass diesmal die Frau aktiv wird und alles (mitsamt Belohnungs-Sex) auf Video festhält: Evelyn formt sich diesen Adam nach einem Wunschbild, das sich letztlich in sämtlichen Paarungen des Westens regen dürfte. Neue Frisur, neue Schickimicki-Jacke, Kontaktlinsen statt Brille, Fitness-Übungen, Diät, operative Nasenkorrektur; das ganze Programm – bis Adam ein smarter Heini der ziemlich durchschnittlichen Sorte ist.

Später, im Hörsaal. wird uns Evelyn den Hintergrund ihrer Maßnahmen erläutern. Am Ende geht alles reichlich restlos auf wie eine Gleichung. Etwas mehr Reibung wäre nicht übel.

Komödiantische Typisierung

Man ahnt dennoch, dass Adams Mutation im Sinne eines Identitäts-Raubes ein „kannibalischer“ Vorgang ist. Leider tischt uns LaBute eine überdeutliche Botschaft geradezu puritanischen Zuschnitts auf: Wer so gefällig zugerichtet wird, der nehme zwangsläufig Abschied von Aufrichtigkeit und Moral. Merke zudem: Kunst kennt gleichfalls keine Moral, sie ist exhibitionistisch, will sich nur zeigen. Und so traut sich der frisch gestylte Adam nun auch, die bislang unerreichbar scheinende Jenny zu küssen (und mehr), obwohl er doch offenbar mit Evelyn liiert ist, und obwohl Jenny sich anschickt, seinen Kumpel Phillip zu heiraten. Die konfliktträchtige Vierer-Konstellation wird in etlichen Dialog-Schüben durchgespielt, als sei’s eine chemische Versuchsanordnung.

Karin Beier scheut kaum eine komödiantische Typisierung. Evelyn (Nele Rosetz) sitzt so angespitzt und steil wie eine Rakete im Sessel, ihre stets „schussbereite“ Schnute kündet von Willkür und Anmaßung. Jenny (Angelika Richter) hingegen muss unentwegt x-beinig über die Szenerie staksen. Selbst nach einern rührenden Bekenntnis zur Stinknormalität geht sie trippelnd ab, so dass es doch wieder zum Kichern ist. Phillip  (Patrick Heyn) geriert sich als ungebrochener Macho mit großspurigen Gesten. Doch Martin Lindow als Adam darf zu einem ganz eigenen Tonfall zwischen Naivität des reinen Toren und über allem schwebender Einsicht finden. Das lasst, in all dem gewöhnlichen Geschnatter, immer wieder aufhorchen.

Termine: 26. Okt, 1., 12., 16., 21. und 29. Nov. Karten: 0234/3333-111.




Wie die Händler des Todes mobben – Matthias Hartmann inszeniert in der Sparkasse „Die Direktoren“ mit Harald Schmidt

Von Bernd Berke

Direktor Denfert trägt eine besorgte Unschuldsmiene zur Schau, doch dieser Konzern-Jurist ist ein arger Mobbing-Teufel. Dem Direktionskollegen Odéon vom Finanzressort wispert er den dringlichen Rat zu, er solle ruhig den „Kosten-Koeffizienten“ auf 45 Prozent steigern. Der arme Wicht geht darauf ein.

Nun erzählt Denfert allen anderen, Odéon sei offenkundig verrückt geworden. Der wolle doch tatsächlich den Koeffizienten steigern. Wenn die Firma so teuer anbiete, bekomme sie nie Aufträge . .. Der Mann will nach oben, will hinauf zur Vorstandsebene – dorthin, wo sich Montparnasse (Harald Schmidt in seiner zweiten Bochumer Rolle) bereits befindet.

Denfert (aus der Deckung attackierend: Martin Hörn) hat noch viele Giftpfeile im Köcher. Seine Strategien treiben das Stück „Die Direktoren“ an, für das der Franzose Daniel Besse zwei Molière-Preise kassiert hat. Es geht nicht nur um Postenjagd, sondern auch um brisante Rüstungsgeschäfte von „Delta Espace“. Den Briten will man Raketen verkaufen und dabei die US-Konkurrenz ausstechen.

Handlung direkt und via Bildschirm

Bochums Bühnenchef Matthias Hartmann bringt die deutschsprachige Erstaufführung des tragikomischen Inüigen-Reigens nicht etwa im Schauspielhaus, sondern in der Sparkasse heraus: Mit dem Aufzug geht’s in den vierten Stock. Es ist just die trostlos gediegene Chefetage. Dort verteilen sich die Zuschauer auf drei Räume. Vom Geschehen sehen sie je etwa ein Drittel leibhaftig, den Rest nur per Direktübertragung – schwarzweiß auf großen Bildschirmen. Liegt es nur daran, dass man sich in einem recht konventionellen Konversationsstück fürs ambitionierte Fernsehspiel wähnt?

Von avantgardistischen Mühen ist der Text sternenweit entfernt. Doch er bietet eine solide Basis für Schauspielkunst der angenehm traditionellen Art. Kameras folgen den Schauspielern bis auf die Toilette. Die Bildschirmdarstellung, in nahtloser Abfolge mit Realszenen eine logistische Leistung, bewirkt auch diesen Eindruck: Die Figuren (alle nach Pariser Metro-Stationen benannt) scheinen einem Schattenreich zu entstammen.

Gestalten huschen vorbei, um plötzlich via „Fernsehen“ aufzutauchen. Ganz so, als überwache sie ein allgegenwärtiges Auge. Vielleicht ist’s ja das göttliche Auge der Historie, das schon alles gesehen hat und dessen Blickwechsel Hartmann so beschwört: Mittendrin tragen auf einmal alle Bosse barockisierende Kostüme und Perücken. Derart im Kerzenlicht verfremdet, gleitet die Handlung in kunstreich verschnörkelte Ränkespiele à la Marivaux hinein. Mobbing als Phänomen der Hochkultur.

Kultivierte Form der Gemeinheit

Im Gegensatz zu Becketts „Godot“, wo er als Prominenter in den Hintergrund trat, ist Harald Schmidt diesmal kenntlich. Sein Wein- und Golf-Kenner Montparnasse verkörpert eine ähnlich luzid-luziferische Mischung aus Kultiviertheit und Gemeinheit, wie sie Schmidt in seiner TV-Show pflegt. Die Rolle passt ihm wie angegossen.

Und erneut fügt er sich zum Ensemble, als habe er stets dazugehört. Herausragend neben ihm und Martin Hörn: Felix Vörtler als serviler Generaldirektor Bercy, zu jeder Demutsgeste bereit; Patrick Heyn als großmäulig-sexbesessener Châtelet, im Grunde ein ganz einsames Würstchen. Und Martin Rentzsch, der als Mobbing-Opfer Odéon flackert zwischen um Schonung bettelnder Zutraulichkeit, bodenloser Wut und Verzweiflung. Er endet bitterlich. Geschäfte und Karrieren gehen weiter. Es sind letztlich ganz normale Charakter-Fieslinge, die da mit dem Tod handeln. Unvorstellbar? Nein, jetzt höchst vorstellbar.

Nächste Termine in der Sparkasse Bochum (Massenbergstr. 4-6, Nähe Hauptbahnhof): 3., 9., 10. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Wenn Killer sich die Wartezeit vertreiben müssen – Jürgen Kruse inszeniert in Bochum Pinters „Der stumme Diener“

Von Bernd Berke

Jürgen Kruses rabiate Zeiten sind wohl vorüber. Der Regisseur zerlegt die Stücke nicht mehr zu Kleinholz, sondern dekonstruiert sie sorgsam und sozusagen breit grinsend. So auch Harald Pinters Zweimänner-Drama „Der stumme Diener“ im Bochumer Theater unter Tage.

Der Text stammt von 1957, besitzt aber schon eine coole Anmutung wie Kinofilme à la „Pulp Fiction“. Nebenher: Robert Altman hat Pinters Stück 1987 mit dem nachmaligen „Pulp“-Star John Travolta verfilmt. Kruse jongliert, wie’s pop-kultureller Brauch ist, kundig mit derlei Querbezügen. Fans seiner erlesenen Soundtracks müssen nicht darben: Ein Kofferradio steht auf der Bühne und gibt Songs von Frankie Miller, den Kinks etc. von sich. Yeah!

Bei Pinter geht’s, wie just in „Pulp Fiction“, um zwei Beufskiller. In einer dunklen Absteige, die mit allerlei Gerümpel vollgestopft ist, warten Ben und Gus auf ihren nächsten Auftrag „von oben“. Doch sie warten ins Leere hinein wie Samuel Becketts Wladimir und Estragon auf „Godot“. Selbiges Stück lief, parallel zur Pinter-Premiere, droben im Schauspielhaus. Ein Knüpfpunkt: Kruse pflanzt einen Fetzen aus Becketts „Man weiß nicht wann“-Monolog des Knechts Lucky in seine Pinter-Deutung. Selbst Schillers „Geben Sie Gedankenfreiheit,“ Sire!“ („Don Carlos“, auch auf dem Bochumer Spielplan) taugt als Versatzstück.

Worte sind keine Sinnträger mehr

Doch es bleibt nicht bei Insider-Scherzchen. Die beiden Herren sind hier keine Stadtstreicher-Gestalten, sie tragen Jacketts und Hüte, sie halten sich bereit. Doch wofür? Und wie sollen sie sich die Zeit vertreiben? Gus (Johann von Bülow) knipst Lampen an und aus. Ben (Patrick Heyn) liest immerzu dieselbe Zeitung, die er später in Streifen reißt. Worte sind halt keine Sinnträger mehr, sondern nur noch Material: Minutenlang streitet Ben mit Gus, ob man beim Teekochen den Kessel oder das Gas anzünde. Die Logik bekommt einen Drehwurm, ähnlich wie bei Karl Valentin.

Und noch einen (etwas manirierten) Kunstgriff wendet Kruse an, um Bedeutungen bröseln zu lassen: Die hellwachen Schauspieler betonen beim Pingpong der Sätze immer mal wieder andere Silben, so dass die Worte „falsch“ und fremdartig verstaucht klingen. Sprach-Zerfaserung in einer ausgerenkten Welt. Doch nicht als düsteren Zerfall erlebt man dies, sondern als Comedy. Etwaige Verzweiflung versteckt sich dahinter sehr gut. Man spürt nur eine ganz langsam anwachsende Aggression in den Fugen der absurden Dialoge.

Am Ende räumt Gottvater auf

Das Dominanz-Verhältnis der beider Männer (im Stück ist Ben der Boss, Gus der Zauderer und Zweifler) ist freilich entschärft. Hier sind sie beide Brüder der Beckett-Figuren. Groteske für sich: Per Speiseaufzug (englisch: „dumb waiter“ = stummer Diener) treffen anonym abstruse Anforderungen ein. Die Herren erhalten keine Lebensmittel, sie sollen welche abgeben.

Anders als im Original erschießen Ben und Gus einander. Ein weißbärtiger Gottvater-Typ samt Engels-Assistentin, auch durch finale Schüsse der untoten Killer nicht zu verletzen, kommt schließlich zum Aufräumen. Ausfegen, Leichen mit Schildchen versehen. Damit es eine Ordnung hat. Oh, himmlische Ironie.

Termine: 18. April, 6., 7., 22. Mai. Karten 0234/3333-111.




Vor 5000 Jahren brüllte der goldene Löwe – Hochkarätige Georgien-Schau im Bochumer Bergbau-Museum

Von Bernd Berke

Bochum. Der kleine goldene Löwe ist rund 5000 Jahre alt. Man mag es kaum glauben, so gut ist das Schmuckstück erhalten. Und so fein ist es ziseliert, dass es nur aus einer Hochkultur stammen kann. Indien, China, Ägypten? Weit gefehlt: Das kostbare Tier entstand dort, wo jetzt Georgien sich erstreckt.

Heute ist die vormalige Sowjetrepublik ein armes Land. Strom oder Wasser fließen oft nur stundenweise. Für die Aufbereitung archäologischer Funde gibt es gar kein Geld. Da traf es sich, dass Forscher vom Deutschen Bergbaumuseum (Bochum) beim Kongress in der Türkei eine Kollegin aus Georgien kennen lernten. Sie erzählte von phantastischen Vorzeit-Schätzen, die man daheim nicht zeigen könne.

Die Bochumer ließen etliche Stücke eigens restaurieren und präsentieren nun die hochkarätige Schau „Georgien – Schätze aus dem Land des Goldenen Vlies“. Schirmherren sind Bundespräsident Rau und Georgiens Präsident Schewardnadse. Eine gute Steilvorlage: Vielleicht kann man die Kleinode nun doch eines Tages in Tiflis zeigen, wo das meiste Kulturgut bislang im Depot verwitterte.

Was verbarg sich hinter dem Goldenen Vlies?

Goldenes Vlies? Da war doch mal was? Genau. Der klassischen Sage nach begab sich Jason mit den Argonauten (Seeleuten) auf die abenteuerliche Suche nach diesem Objekt der Begierde. Es zog sie nach Kolchis – und eben dies war die West-Region des heutigen Georgien. Damals gründeten die antiken Griechen dort Kolonien. Die Gegend war wohlhabend. So vermutet man, dass mit dem Goldenen Vlies letztlich jene Widderfelle gemeint waren, durch die man seinerzeit Goldstaub spülte, so dass er klumpig in den Haaren hängen blieb. Ein Goldrausch.

Zu sehen gibt’s in Bochum rund 1000 Exponate, vor allem reichlich Schmuck für fast alle Körperpartien und Waffen (Streit- und Zieräxte, Schwerter, Dolche) des Zeitraums von5000 vor bis 400 nach Chr. Der Rundgang wird mit aktueller Landeskunde eingeleitet und führt dann in die Tiefe der Zeiten. Es begegnet einem die althergebrachte georgische Schrift, die nichts mit dem Kyrillischen zu tun hat. Auch ist die georgische Sprache allein mit dem Baskischen näher verwandt. Ein großes Rätsel.

Die Priesterin trug eine Sonnenscheibe

Aus Grabbeigaben konnte man praktisch vollständig den Schmuck einer Priesterin aus dem 15./14. Jhdt. vor Chr. retten. Frauen hatten damals . offenbar beachtlichen Gesellschafts-Rang. Die Priesterin trug auch eine jener Sonnenscheiben, deren Grundform häufig wiederkehrt und auf einen Kult um das Zentralgestirn hindeutet. Charakteristisch zudem die Hirsch-Darstellungen, wie sie in dieser Art sonst nirgendwo vorkommen.

Anhand wertvoller Belegstücke erfährt man einiges über frühzeitlichen Erzbergbau, Schmiede- und Guss-Techniken sowie die Materialien Kupfer, Zinn, Antimon,Gold, Bronze und Eisen. In der Behandlung der Erdschätze hat den Vorfahren der Georgier zeitweise niemand etwas vorgemacht. Sogar „Recycling“ haben sie schon betrieben. Für die Wiederverwendung eingeschmolzene Metall-Klumpen zeugen davon.

Chemische Untersuchungen im Vorfeld der Bochumer Schau förderten Frappantes zutage. Die kleinsten Perlen der damaligen Welt bestehen nicht, wie man bis dato dachte, aus Silber, sondern aus Zinn. Das bedeutet keine Wertminderung. Denn dieser Stoff war in der Antike seltener als Silber. Durch Vergleichsproben konnte man die mutmaßlichen Handelswege ermitteln. Der teure Grundstoff wurde wohl aus dem Gebiet des heutigen Afghanistan importiert. Ach, könnte es dort doch wieder eine vergleichbare Handelsblüte geben…

Bis 19. Mai 2002 im deutschen Bergbau-Museum, Bochum. Eintritt 8 DM. Katalog 48 DM.




Eine Frau sucht Abstand von der Männerwelt – Ferdinand Bruckners „Marquise von O.“ nach Kleist

Von Bernd Berke

Bochum. Ein Puppenheim: In cremiges Harmonie-Licht getaucht und zwischendurch von einer Art Kaufhausmusik umspült, erhebt sich die luftige Stube in zwei Stockwerken. Oben, auf einer schrägen Scheibe, gibt’s eine Kuschelecke mit allerlei Stofftieren.

Es ist das Kleinmädchenzimmer, in das sich die früh verwitwete „Marquise von O.“ zurückgezogen hat, als wäre sie wieder Kind. Doch üble Welt dringt ins fragile Idyll ein.

Im Krieg durchziehende Soldaten haben sie vergewaltigen wollen, davor rettet sie ein Hauptmann. Doch dieser, von ihr ganz bezaubert, vergeht sich seinerseits an der Ohnmächtigen. Wenn er zum nächsten Schlachtfeld auf und davon ist, wird sie nicht wissen, wer sie geschwängert hat.

Ferdinand Bruckner (1891-1958) hat Heinrich von Kleists berühmten Erzählstoff 1932 dramatisiert und in die Zeit des napoleonischen Russland-Feldzuges von 1812 verlegt. Gar nicht expressionistisch aufgesteilt klingt der Text, sondern wie aus dem Geiste der Neuen Sachlichkeit geflossen.

Heimat findet hier niemand

In seiner Bochumer Inszenierung lauscht Ernst Stötzner den Dialogen staunenswert viele Nuancen ab. Nicht mit einem fertigen „Konzept“ nähert er sich der Vorlage, sondern Szene für Szene mit nicht ermattender Wachheit. Er gönnt sich enorm viel Zeit und erkundet das Stück drei Stunden lang. Auf schnelle Deutungs-„Klarheit“ kommt es ihm eben nicht an, gar manches erscheint so unübersichtlich wie das Dasein selbst.

„Home“ steht auf dem Vorhang. Heim also – oder auch „Heimat“, jenes deutsche Wort, für das es in keiner anderen Sprache eine genaue Entsprechung gibt. Doch Heimat findet hier keiner. Die Menschen wirken wie Versprengte. Man sieht also besagte Puppenstube (Bühnenbild: Petra Korink), die doch keine Schutzzone ist. Es ist, als wolle die Marquise (Dörte Lyssewski) in einer eigenen Zeit leben, getrennt von einer männlich dominierten Welt. Facettenreich ausgespielt wird vor allem die Beziehung zu ihrem Vater (Hans Diehl), der das „traute“ Heim als Keimzelle für Volk und Nation preist.

Die private Sphäre gerinnt zum Phantom. Der Vater hat das große Ganze im Sinn und wird dafür am Ende in den Krieg taumeln. Ein Gesellschafts-Huber, der das Glück seiner Tochter im Konfliktfalle opfern würde. Schon sein behütender Gestus am Anfang verbirgt kaum die inzestuösen Zugriffs-Wünsche. Wenn er seine Tochter tätschelt, ist es fast ein Tatschen. Die im bürgerlichen Alltag verhärmte, zuweilen in Rest-Lüsternheit erglühende Mutter (Margit Carstensen) flüchtet sich in die edlen Schlupfwinkel der Kultur, sie geigt Beethoven.

Einsamer Traum von einem anderen Leben

In diesem Umfeld das Recht auf ihr Kind gegen alle Welt für sich zu reklamieren, ist ein seelischer Kraftakt, den Dörte Lyssewski in schmerzlichen Windungen beglaubigt (wobei Lukas Gregorowicz als Hauptmann oft nur Stichwortgeber bleibt). Die Marquise vollbringt, ihrer selbst endlich bewusst, noch eine Anstrengung: Obgleich sie eine vage innere Liebes-Vision vom Hauptmann hegt, weist sie ihn doch (anders als bei Kleist) am Ende unversöhnlich ab. Er gehöre aufs Pferd und ins Feld.

Sie aber ist unterwegs zum Freiheitstraum, der eine andere (Männer)-Welt jenseits des Heldentums (Hauptmann) und grotesker Biederkeit (ihr Sandkastenfreund, karikierend gespielt von Martin Horn) einschließt und vorerst nicht eingelöst werden kann.

Clowns geistern über die Bühne, es rieselt Theaterschnee. Der Zeichen sind viele, der Hoffnungen wenige. Am Schluss ist die Marquise als schwarze Welten-Witwe vollends zur Einsamkeit befreit; allen entkommen, allen entglitten. Man fragt sich ratlos, was sie nun beginnen soll…

Nächste Termine: 15., 24. Nov. Karten: 0234/3333-111.




Ein Dreckskerl von heute – Karin Beier verquickt Shakespeares „Richard III.“ mit den New Yorker Anschlägen

Von Bernd Berke

Bochum. Das „Friedens-Trallala“ im „Wackelstaat“ ist Richard III. ein Graus. Auch für die Freuden der Liebe fühlt sich der bucklig-schiefe Mann nicht geschaffen. Da beschließt er eben, „ein Dreckskerl“ zu werden.

Regisseurin Karin Beier stellt Shakespeares monströse Figur in ein Plastik-Pop-Ambiente wie aus den 60er Jahren (Bühne: Florian Etti). Große bunte Zielscheiben markieren in Bochum die prekäre Schwebelage zwischen Show und Gewalt. Natürlich neigt sich die Wippe zum Verderben. Doch Richard (Armin Rohde) schlendert zunächst so lässig wie ein Tramp durch seine Schule des Bösen, in die er uns mit diabolischem Charme einführt.

Die Friedensschlüsse zwischen den Häusern Lancaster und York werden hier als faule Kompromisse dargestellt, die Machtkämpfe gehen weiter – und der Skrupelloseste ist just dieser Richard. Er lässt die halbe Verwandtschaft ausrotten – und alle, die ihm sonst im Wege stehen. Ein paar Herren (aalglatt: Matthias Leja als Buckingham) helfen ihm beim Mordhandwerk, die seelischen Kosten tragen vor allem die Frauen (schmerzensreich: Johanna Gastdorf als Königin Elizabeth).

Nur ein Katalysator der üblen Verhältnisse

Zwischendurch tobt sich eine besinnungslose Spaßgesellschaft in Tänzen und Slapstick aus. Dass hier ein Blitz dreinfahren möge, kann man Richard fast nachfühlen. Er bringt ja, so legt uns Karin Beier nahe, letztlich nur ein verderbtes Gesindel auf seinen nackten Begriff und ist lediglich ein Katalysator der eh schon herrschenden Verhältnisse. Richard muss sich nicht einmal selbst mit Blut beflecken, sondern kann auf willfährige Handlanger zählen.

Im Arena-ähnlichen Bühnenviereck flimmern acht Bildschirme, meist sieht man die grünlich flackernden CNN-Bilder vom US-Angriff auf Afghanistan. Damit beginnt ein Elend dieser Inszenierung. Karin Beier aktualisiert auf Teufel komm ‚raus. Ein Mordanschlag auf das Haus York wird mit einem Verlautbarungs-Mix aus Redefetzen à la Bush, Blair und Schröder beantwortet. Schwacher Trost: Osama bin Laden hat keinen Auftritt, und Milzbrand-Briefe kommen auch nicht vor…

Offenbar sollen alle Beileids-Bekundungen als Heuchelei entlarvt werden. Sogar beim Gedenk-Vaterunser schnarchen sie alle. Schöne Christenmenschen, ha! Keine Spur von Spiritualität. Offenbar Grund genug, dass man das Kreuz-Symbol bei Richards königlicher Machtergreifung mit „Heil“-Rufen der Masse verknüpft, die den Diktator als Erlöser feiert.

Das Handy zirpt wie bei Joschka Fischer

Überdies schwafelt man von Teppichmessern, und auch das Schlagwort von der „uneingeschränkten Solidarität“ bleibt nicht aus. Zudem zirpt einmal ein Handy in der Hosentasche – wie neulich bei Joschka Fischer, als er neben dem Kanzler stand. Karin Beier hat eben viel ferngesehen in den letzten Wochen. Statt Dringlichkeit aus dem Text zu schöpfen, pfropft sie Tages-Details auf. Oh, wie billig.

Was aus der Sache hätte werden können, ahnt man nach der Pause. Richards Machtrausch läuft sich leer, die Königskrone ist nur noch Tand. Er brütet in gottserbärmlicher Einsamkeit. Hier hat Armin Rohde große Momente. Und endlich verspürt man das Gefühl, eine Shakespeare-Tragödie zu sehen.

Als Richard alle Untaten gesteht, gibt es kein Echo mehr. Niemand hört zu. Ihm bleibt nur das Fernsehen, das von anrückenden Feindestruppen berichtet. Das medial vermittelte Übel ist dauerhaft in der Welt. Gespenstisch.

Im Premierenpublikum gab’s ein heftiges Gewoge von Bravos und Buhs.

Termine: 27., 28. Okt, 1., 3., 23, 24. Nov. Karten: 0234/ 3333-111.




Leise kommt der Jammer – Jürgen Kruse inszeniert Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Da hat man vorher gewettet, welche Schätze der Regisseur Jürgen Kruse diesmal aus Rock- und Pop-Archiven heben würde, um sie mit ordentlichen Dezibel-Werten von der Bühne schallen zu lassen. Doch an dem fast vierstündigen Abend kommt es ganz anders.

Zwar setzt Kruse auch diesmal allerlei Musik (von Brenda Lee bis zu den Byrds) ein, doch nur als weiche Einbettung für den Text, den er mit großem Respekt vor dem Wortlaut inszeniert hat.

Auf dem Plan steht Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ (Uraufführung 1949), jenes tragische, manchmal auch ein klein wenig sentimentale Spiel vom Scheitern des „kleinen Mannes“ und seines amerikanischen Traums vom ungehinderten Fortkommen.

Ärmliche Wohnung in Brooklyn; lauter noch nicht abbezahlte Ratenkäufe. Trotzdem wirken die Möbel schon aufgebraucht. Wie in eine Puppenstube schauen wir in die zwei Etagen dieser Behausung (Bühnenbild: Steffi Bruhn). „Draußen“ dräut eine Hochhaus-Silhouette, man hört hektisches Hupen. Keine gute Gegend. Links von der Bühne, grinst „Uncle Sam“, der das Dach von einem Hause hebt und so in die Privatsphäre dringt.

Den Träumen folgen keine Taten mehr

Hierher kehrt der Handlungsreisende Willy Loman (stille Größe im Leid: Jürgen Rohe) von einer kläglich erfolglosen Verkaufstour zurück. Er trägt einen verschlissenen braunen Anzug. Der Mann spricht leise, mit brüchiger Stimme, die Schultern hängen herab. Sein ganzes Wesen ist nur noch ein mühsam wankendes Aufrecht-Erhalten, steifbeiniger Rest einer längst verbrauchten Würde. Ein Satzfetzen wird immer wieder gemurmelt: „Waagerecht oder senkrecht“. Ja, das ist hier die Frage: Wie sich einer im Kreuzworträtsel des Lebens noch behaupten kann, wenn alle Felder falsch ausgefüllt sind.

40 Jahre lang hat Willy der Firma gedient, nun kann er nicht mehr. Die beschädigten Träume ergießen sich nicht mehr in Taten, sondern bloß noch in (Selbst-)Gespräche. Phantasien von Großartigkeit („Ich bin überall beliebt“) wechseln mit Jammer („Man findet mich lächerlich“). Was einst Selbstentwurf war, ist nur noch Selbstbetrug und mündet schließlich in Selbstaufgabe. Ein „Versager“ in den Zeiten des Börsenwahns. Rings um ihn verdichtet sich ein simultanes Geisterspiel, eine Art „Gespenstersonate“. Die Traumlicht-Erscheinung des „im Dschungel“ reich gewordenen Bruders Ben (Ralf Dittrich) lockt Willy ins gefährlich Ungefähre.

Kruse lässt Millers Text in aller Ruhe dahin rinnen, er zerfleddert nichts, sondern lotet leise, umsichtig und mitleidend aus. So sehr hat er sich als Regisseur zurückgenommen, dass man gelegentlich gar ein paar rhythmische Akzente vermisst, die den Energiefluss stauen und wieder freisetzen könnten.

Am Ende tobt sich doch noch die Spaßgesellschaft aus

Präzise sezieren Kruse und seine Darsteller auch das freilich nicht rein „private“ Familien-Syndrom der Lomans: Da ist Linda (Veronika Bayer), die ihren Mann, trotz all‘ seiner Schwächen liebt, eine Heroine des Alltags im Morgenrock; da sind die Söhne Biff und Happy (Patrick Heyn, Johann von Bülow), noch jugendlich hitzig und albern, doch auch schon gebrachen. In ihrem Widerspiel mit dem Vater spürt man schaudernd die allzu kurze Spanne des Lebens: kaum gehofft, schon halb gescheitert. Generation für Generation.

Und die Musik? So behutsam verwendet wie hier, nimmt sie Stimmungen auf und trägt sie sanft weiter. Nur ganz am Schluss dröhnt, nach Willys Autounfall-Tod, eine Party mit dem „Starfucker“ der Rolling Stones. Fühllos stampft die Generation der Lebensversicherungs-Erben übers triste Schicksal des Handlungsreisenden hinweg. Da tobt sich die Spaßgesellschaft im Jugendwahn aus.

Frenetischer Beifall für alle.

Termine: 28. Mai, 17., 25. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Die Luftgeister des Leidens – Bochumer Uraufführung von „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“

Von Bernd Berke

Bochum. Es war wohl das vornehmste deutsche Theaterereignis dieses Monats: Nicht der ursprünglich vorgesehene Peter Stein in Berlin, sondern Matthias Hartmann in Bochum inszenierte die Uraufführung des neuen Stückes von Botho Strauß. Und so herrschte am Samstag knisternde Spannung, als das Spiel begann.

Der Titel der 20-teiligen, in Bochum vierstündigen Szenenfolge passt komplett in kein Schauspielführer-Register: „Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia“. Vermutlich wird man ihn aufs klangvolle Rätselwort „Pancomedia“ verkürzen – und darunter ist vielleicht die allumfassende (Tragi)-Komödie heutigen Menschseins zu verstehen, das sich (einem Stückzitat zufolge) „zwischen Ariel und Hiob“ spannt; ein Drahtseilakt also zwischen dem Luftgeist, der zum Höheren oder ins Flüchtige strebt, und der biblischen Figur erdenschweren Leidens.

Zentraler Ort ist die Empfangshalle des Hotels „Confidence“ (Vertrauen). In einem Saal des Etablissements, das in Erich Wonders magischem, durch und durch roten Bühnenbild an einen riesigen Uterus gemahnen mag, gibt es eine Dichterlesung. Die Schriftstellerin Sylvia Kessel (Dörte Lyssewski) nimmt etwas schüchtern am Tischchen Platz und trägt mit zunehmend brüchiger Stimme aus ihrem Roman „Rapunzelzopf oder Vom Ende der Greisenrepublik“ vor.

Bis zum Schluss in der Schwebe 

Diese gläsern empfindlichen, doch hin und wieder aufbrausenden Visionen aus einer überalterten Gesellschaft werden von einem notorischen Zwischenrufer unterbrochen. Es ist der Kleinverleger Zacharias Werner (Tobias Moretti), der das gesamte Programm seiner „edition 24″ in einem Rucksack bei sich trägt. Ständig mit dem Aufkauf durch einen großen  Buchkonzern des jovialen Großsprechers Brigg (Alexander May) bedroht, laviert sich dieser Mann durch eine geldverderbte, immerzu mit Handys und Börsenkursen befasste Welt.

Soll man diesem Werner glauben, dass er für die wirklich wichtigen Bücher kämpfen und sich auch für Sylvia Kessel bedingungslos einsetzen will? Oder ist er nur ein finanzieller und sexueller Filou? Wäre er am Ende gar nur ein unverdrossen durch die Zeit schweifender Narr? Es bleibt bis zum Schluss in spannender Schwebe, und das ist eine reife Leistung von Tobias Moretti, der mit der TV-Serie „Kommissar Rex“ halt sein gutes Geld verdient hat.

Eine grandiose Gesellschafts-Belauschung

Rings um die beiden Hauptfiguren, deren Liebes-Zukunft letztlich gleichfalls ungewiss, doch nicht gänzlich hoffnungslos bleibt (wie gut tut dies einmal, angesichts aller sonst so gängigen, pessimistisch-schwarzen Bühnen-Phantasien), entfaltet sich ein ungeheuer facettenreiches Panorama der Paare und Passanten. Die 31 Darsteller verkörpern in diesem rauschenden, manchmal zu Tableaus einfrierenden Reigen rund 100 Figuren in immer neuen Gruppierungen. Er ist eine grandiose Gesellschafts-Belauschung: Einmal geht eine Engels-Figur mit einem überdimensionalen Ohr in den Händen durch die Menschen-Pulks, allerlei markante Beziehungs-Satzfetzen einfangend.

Dies alles ist so sehr aus dem Heute geronnen und so unumstößlich zur Sprache gebracht, dass es zum Lachen reizt und gleichermaßen schmerzt. Botho Strauß zeigt hier ganz und gar, was das Theater vermag. Es ist, als spiele er dessen Möglichkeiten zwischen Alltags-Niederung und mythischem Fluge („Weltliebesbrand“, „Zerschlagt die Ideen“) bis zur Neige durch.

Wie in einem hellsichtigen Traum

Hartmann tut es ihm nach: Der allzeit gleitenden Bewegung des Textes folgend, wandelt er wie in einem hellsichtigen Traume durch all die Ticks und schrägen Manieren, die grotesken, innigen, sehnsüchtigen, absurden, witzigen, traurigen, desolaten, zu Tode bestürzten Momente.

Requisiten kommen wie von Zauberhand auf Rollen herein und hinaus. Mit Drehbühne und sphärischer Flüster-Musik (Parviz Mir Ali) ergeben sich daraus geradezu geisterhaft schön fließende Übergänge. Eins erwächst aus dem anderen und treibt das nächste aus sich hervor. Und wie die Narren bei Shakespeare, so spiegeln hier die beiden Varieté-Typen Alfredo und Vittoro (Fritz Schediwy, Ernst Stötzner) das Tun und Treiben. Man denkt an abstruse Dialoge eines Karl Valentin, doch auch an die urkomischen Verzweiflungen eines Samuel Beckett.

Wen dürfte man nur hervorheben aus dem starken Ensemble? Moretti und Lyssewski tragen das Gerüst. Sie haben sichtlich Bodenhaftung und vermögen dennoch – als leidvoll Freigesetzte – ins Jenseitige auszugreifen, ganz wie es Strauß entspricht. Doch ohne all die anderen gingen sie durch luftleere Räume.

Ein an Gedanken und Empfindungen, reicher, ein erhebender Abend. Frenetischer Beifall.

Termine: 15., 16., 22. April. 5., 6., 19., 20. Mai. Karten: 0234/33 33-111.




Wundersame Wandlung der Gefäße: Wie sich Keramik der freien Skulptur nähert – Werke von Bruno und Ingeborg Asshoff in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Drei Gefäß-Röhren stehen ganz eng beisammen und recken sich aufwärts, als wollten sie Hölderlins Hymne „An den Äther“ entsprechen, derzufolge alles Lebendige in luftige Höhen strebt.

Dies hat mit üblicher Töpferware oder Kursen zwischen Drehscheibe und Brennofen gar nichts mehr zu tun. Hier wandelt sich Keramik zur freien Skulptur, sie ist dem täglichen Gebrauch enthoben.

Das Museum Bochum widmet zwei Hauptvertretern der Nachkriegs-Keramik eine Überblicks-Ausstellung, die über 50 Jahre Werkentwicklung anhand von erlesenen Beispielen nachzeichnet: Bruno und Ingeborg Asshoff haben ihr langes (Ehe)-Leben der Gestaltung irdener Materialien verschrieben.

Schon 1947 bezogen sie ihre erste Werkstatt in der ehemaligen Waschkaue am Schacht 5 der stillgelegten Zeche Mansfeld, ab 1967 nutzten sie den Frielinghof in Bochum-Querenburg. Der Fachwerkbau wurde bald zur Pilgerstätte für Sammler aus nah und fern. So stammen denn auch die meisten Bochumer Exponate aus Privat-Kollektionen.

Nicht mehr benutzen, nur noch betrachten

Kurz nach dem Krieg könnte die Schöpfung von Keramik wohl etwas Mythisches gehabt haben. Das archaische, seit Urzeiten geübte Handwerk stand gleichsam für einen Neuaufbau von Grund auf. Freilich blieben die Asshoff-Arbeiten, wenngleich handwerklich perfekt, bis in die 50er Jahre hinein noch der Konvention verhaftet: karge Krüge, schmucklose Vasen, weitgehend im Stil der Zeit, formal noch nicht allzu aufregend.

Allmählich allerdings werden die Gefäße von den Zwecken befreit und mutieren zu „Objekten“. Flaschen etwa buchten beutelförmig aus oder werden so schmal, dass sie umzustürzen drohen. Sie sollen nicht mehr benutzt, sondern nur noch betrachtet werden. Vasen wuchern wie Kürbisse oder quallenförmige Wesen. Ein weiteres Merkmal sind die länglich-schmalen Gießöffnungen etlicher Behälter. Als „Asshoffsche Enghälse“ wurden sie gar zum Fachbegriff der Zunft.

In den 80er und 90er Jahren weichen die meist biologisch inspirierten Formen einer strengeren Geometrie. Häufig haben Bruno (heute 87 Jahre alt) und Ingeborg (die 1998 verstarb) Asshoff ihre Werkstücke paar- oder gruppenweise zu „Vasen-Familien“ gefügt, geschmiegt oder auf gewisse Distanz gestellt und mit erstaunlich vielfältigen Glasur-„Häuten“ überzogen – mal schrundig und rau, mal glatt und glitzernd.

Renger-Patzsch rückte die Objekte ins wahre Licht

Man könnte argwöhnen, dass in derlei Ensembles auch Spuren der Ferne und Nähe in den Lebens-„Beziehungen“ zu finden sein müssten.“ Doch was soll’s. Jedenfalls hat das Paar künstlerisch so inniglich miteinander gewirkt, dass der jeweilige Einzelbeitrag kaum noch von Bedeutung ist. Vielleicht hat Ingeborg den manchmal spröden Gestaltungen gelegentlich einen Hauch von figürlicher Heiterkeit hinzugefügt, den es wohl sonst nicht gäbe.

Gemeinsam also haben sie dem keramischen Kosmos nach allen Seiten hin ausgeschritten. Allein die Varianzbreite der Ei-Formen ist verblüffend. Solche kreative Kraft sprach sich bis Japan herum, wo Asshoff-Arbeiten zum Bestand großer Museen zählen.

Eine wunderbare Beigabe in der Bochumer Schau verleiht dem keramischen Schaffen der Asshoffs nochmals Weihen: Der mit beiden befreundete berühmte Fotograf Albert Renger-Patzsch hat Teile ihres Werks ins wahre Licht gesetzt. Da wirken die Schöpfungen vollends so, als wären sie naturnotwendig gewachsen. Man könnte wahrhaftig an einen „höheren Bauplan“ glauben, der die Künste leitet.

Museum Bochum, Kortumstraße 147. Vom 11. Februar (Eröffnung 11 Uhr) bis zum 16. April. Di, Do, Fr, Sa 11-17, Mi 11-20, So 11-18 Uhr. Internet: www.bochum.de/museum




Im Fegefeuer der Intrigen – Matthias Hartmanns Bochumer Triumph mit der Schiller-Rarität „Der Parasit“

Von Bernd Berke

Bochum. Hand aufs Herz: Wer kennt Friedrich Schillers „Der Parasit“? Nein, nein. Keine Ballade ist’s, sondern ein richtiges Theaterstück. Und doch taucht es noch nicht mal im zweibändigen Hensel-Schauspielführer („Spielplan“) auf, der sonst fast immer Rat weiß. Es ist eine Rarität, die Bochums Intendant Matthias Hartmann zum Bühnenleben erweckt. Und zwar fulminant!

Die „Quote“ durfte man schon damals nicht ganz außer Acht lassen: Auf der Suche nach einer Komödie mit Kassen-Chancen stieß Schiller anno 1803 auf den Stoff des Franzosen Louis Benoît Picard. Er übertrug dessen Text, verwandelte die Verse in flüssige Prosa, verschob inhaltliche Akzente – und fertig war ein funkelndes, effektvoll gebautes Konversationsstück, bei dem man nie und nimmer an den sonst so ernsten Schiller denkt. Eine Gelegenheitsarbeit, kein Hauptwerk. In Bochum erweist sich freilich, dass darin eine Menge steckt.

Ein Mitläufer aller Systeme

Hartmann verlegt die Karriere-Intrigen im Dunstkreis eines Ministeriums in die Angestellten-Welt. Vor ehedem vielleicht gediegener, nun aber etwas verschlissen wirkender Kulisse (unmodische Wandfarben, verstaubter Gummibaum, schäbige Plastik-Planen / Bühnenbild: Petra Korink) betreibt jener „Parasit“ namens Selicour (einfach wunderbar präsent: Michael Maertens) seine Ränkespiele, um endlich Gesandter zu werden. Als erotische Zusatz-Trophäe lockt Charlotte (Lena Schwarz), 17jährigesTöchterlein des neuen Ministers Narbonne (Felix Vörtler).

Eminent komisch ist’s, wie dieser Selicour mit tausend Wort-, Bein- und Körper-Verdrehungen es eilfertig jedem recht machen will; wie er, wachsam in jeder Sekunde, dem Minister schmeichelt und dessen Mutter (Veronika Bayer) becirct, die darob ganz lüstern wird. Wie er jede Schwäche anderer für sich münzt, nach oben buckelt und nach unten keilt. Schon dem verwerflichen Vorgänger hat Selicour, Mitläufer (und Motor) jedes Systems, gedient. Nun schmäht er ihn. Er war ja schon immer dagegen.

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt, dass selbst seine Gegner wankend werden. La Roche (Thomas Büchel), den Selicour kurzerhand entlassen hat und der aus Rachedurst eine Gegen-Intrige ins Werk setzen will, wird nach allen Regeln der Kunst umgarnt, als er sich beim Minister beschwert. Selicour bedient sich zudem virtuos der Fähigkeiten anderer: Dem redlichen Beamten Firmin (Ralf Dittrich) luchst er ein kluges Dossier ab, von dessen in Charlotte verliebtem Sohn Karl (Manuel Bürgin) erhält er glühende Gedichte.

Herrlich, wie Hartmann und die Darsteller den typenkomödiantisch zugespitzten Charakteren flackernde Doppeldeutigkeit ablauschen. Minister Narbonne (gestisch zwischen dem Komiker Heinz Erhardt und dem CSU-Altvorderen Franz Josef Strauß angesiedelt), hat zwar etwas Salomonisches, bei Konflikten will er stets beide Seiten hören. Doch lässt der Schelm nicht die Gegner wie Gladiatoren gegeneinander antreten?

Sogar mit Selicour, so wie Maertens ihn anlegt, kann man Mitleid haben. Aus kleinen Verhältnissen stammend, will er halt hinauf. Verzweifelt strampelt er sich ab bis zur Erschöpfung, schmort selbst gehörig im Fegefeuer seiner Intrigen. Als sich Erfolge (trügerisch) abzeichnen, kann er es nicht recht fassen, geschweige denn genießen. Wäre Selicours Seelendrang nur etwas anders gelagert, so taugte er zum guten Menschen, denn er kann sich doch so gut in alle hineinversetzen…

Drei Lösungen für das Lustspiel

Bis dahin war’s schon köstlich, man hat sich im Voraus auf jede Szene diebisch gefreut. Doch der Geniestreich folgt erst noch: Im Schnellgang spielt Hartmann drei Lösungen des Lustspiels durch – und alle scheinen irgendwie höllisch plausibel. Einmal obsiegt (der Vorlage gemäß) der seriös-zurückhaltende Firmin, dann zieht mit La Roche der nächste Opportunist seine Schleimspur, schließlich triumphiert Selicour.

Nicht etwa mutwillig aufgepfropft sind diese Varianten. sondern unmittelbar aus vorherigen Kernsätzen des Stückes geronnen. So wird’s unversehens ein ganz heutiges Drama: der Text als Spielmaterial wechselnder, einander überlagernder Bedeutungen.

Stehende Ovationen für alle Mitwirkenden. Bochum ist wieder eine zentrale Pilgerstätte des deutschen Theaters!




Gewalt frisst die Sprache auf – Matthias Hartmann inszeniert Kleists „Familie Schroffenstein“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Ringsum zugemauert, sieht die Bühne aus wie das Innere eines Mausoleums. Hier wird wohl kein freies Leben erblühen, das ahnt man gleich. Und richtig: Rechts und links, einander feindlich gegenüber, nehmen die beiden finsteren Clans Platz, die sich in „Die Familie Schroffenstein“ aufs Blut befehden.

Bochums neuer Intendant Matthias Hartmann hat etwas riskiert, indem er Heinrich von Kleists Stück erkor. Das Frühwerk aus dem Jahre 1800 gilt vielfach als unfreiwillig komische „Scharteke“. Doch weit gefehlt! In dieser Vorlage steckt wilder, entfesselter Furor – wie in Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“.

Sehr richtig schon Hartmanns Entscheidung, die in Spanien angesiedelte Urfassung („Die Familie Ghonorez“) zu wählen, deren bloße Rollen-und Ortsnamen schon ungleich mehr Hitze ausstrahlen als die spätere Eindeutschung mit all ihren Ottokars und Gertrudes.

Ein Erbvertrag als Quell des Übels

Zurück zum Eingangsbild. Wie undurchdringliche Menschen-Mauern sitzen die feindlichen Familien da. Vollends ungerührt bleiben sie, wenn einer aus der Phalanx hervortritt und etwa seine Irritation über diesem versteinerten Zustand bekundet.

Quell allen Übels: Ein fataler Erbvertrag besagt, dass beim Aussterben der einen Sippe deren gesamte Habe der anderen zufällt. Alsbald wünschen sie einander Pest und Verderben an den Hals – und als ein Kind zu Tode kommt, werden „die da drüben“ gleich des Mordes bezichtigt, was ungeheuerliche Steigerungen nach sich zieht. jedes Gerücht, jedes Missverständnis birgt jetzt Sprengkraft. Keiner will des anderen Worte wirklich hören. Wir erleben in Bochum vor allem das Drama einer nachhaltigen Sprach- und Sinn-Zerstäubung. Gewalt frisst die Sprache auf.

Bei Hartmann klappern die Clans zu Beginn mit Löffeln, als wollten sie den (Lebens)-Rhythmus der Gegenseite zerstören. Bedrohlich kakophon klingt es, passend untermalt von vier Musikern aus einem kleinen Orchestergraben. Raimond, Graf aus dem Hause Ciella (Fritz Schediwy), tritt wie ein krähenhafter Diktator ans Mikrophon und schwört bitterste Rache für besagten Kindstod. Er spuckt, krächzt, würgt und zerhackt die Konsonanten seiner Hass-Worte. So militant und gewaltbereit rasselt hier die deutsche Sprache, dass es zum Fürchten ist. Man lese nur nach: Es ist bei Kleist schon angelegt.

Die ganze Hysterie steht schon im Text

Auch wenn man bisweilen fürchtet, die Inszenierung könne zapplig aus den Fugen geraten: Ständiges Stammeln, hysterische Ausbrüche und marionettenhafte Ohnmachten sind aus dem Text herzuleiten. Überhaupt lauscht Matthias Hartmann jeder Sequenz ihre ganz eigenen, zumeist schrecklich dumpfen oder angstvoll kreischenden Tonfälle ab – und er verfügt über ein Ensemble, das diese dunklen verbalen Triebkräfte, die schier unaufhaltsame Dynamik der Feind-Bilder, auch fassbar macht. Statt eines dürr-theoretischen Regie-„Konzeptes“ waltet hier die sorgsame Arbeit am Gehalt der Szenen.

Raimond geriert sich zunehmend als blutgieriger Rache-Teufel. Fritz Schediwy legt die Rolle als wahres Pandämonium an. Man sieht ihm fassungslos zu, auch atemlos. Während seine Gemahlin Elmire (Ulli Maier) ihn vergeblich zu beschwichtigen sucht, treibt auf der Gegenseite Franziska (Veronika Bayer) ihren Alonzo (Ernst Stötzner) an. Bis dieser kühlere Kopf seinerseits Rache übt, dauert es lange. Doch dann ist das Schwungrad nicht mehr anzuhalten.

Gegenwelt der Liebenden

Sehr anrührend die machtlose Gegenwelt der Liebenden. Wie Romeo einst Julia, so liebt Raimonds Sohn Rodrigo (Johann von Bülow) die Tochter aus dem verfeindeten Hause, Ignez (Sonja Baum). Zuerst diese Angst voreinander, dann allmähliche Näherung, Überschwang frischen Glücks, doch auch schon das erste Necken und Keifen, daraufhin wieder verzückte Umarmungen. Ein ergreifendes Wechselspiel der Liebe. Später dieses bannende Bild: ihrer beider paradiesische Nacktheit als höchst bedrohte Utopie eines anderen Lebens.

Am Ende, über den Leichen ihrer Kinder, haben die Herrscher noch nicht genug vom Feldgeschrei. In babylonischer Sprachverwirrung irren alle gespenstisch umher, jeder nur mit seinen Worten, seinem Wahn beschäftigt. Wo sich bei Kleist am Ende eine gar zu späte Reue ergibt, lautet hier der allerletzte Satz: „Wir müssen vorwärts!“ Geht’s denn noch weiter hinab in die Hölle?

Frenetischer Beifall mit Bravos für alle. Fast wie zu Peymanns Bochumer Zeiten.

Termine: 1., 5., 11., 19., 20., 28. Nov. Karten: 0234/3333 111.

 




Der wahre Traum vom Theater – Auftakt zur Ära Hartmann mit Turrinis „Die Eröffnung“ und Marivaux‘ „Triumph der Liebe“

Von Bernd Berke

Bochum. Am Samstag pochte in Bochum das Herz unserer Theaterwelt. Die Spitzenkräfte der „Großkritik“ waren angereist – endlich einmal wieder, nach jahrelanger Ignoranz, mit der sie den vormaligen Intendanten Leander Haußmann abgestraft hatten. Nun aber galt es, den Beginn der neuen Ära Matthias Hartmann zu begutachten.

Gleich zwei Premieren wurden aufgeboten: Als Uraufführung gab’s Peter Turrinis dem Anlass angegossenes Stück „Die Eröffnung“ (Regie: Hartmann), hernach vollzog sich der „Triumph der Liebe“ (Regie: Patrick Schlösser) von Pierre Carlet de Marivaux, ein rokokohaft abgezirkeltes erotisches Intrigenspiel des 18. Jahrhunderts, als Vorbotschaft heutiger „Coolness“ und taktisehen Kalküls im Umgang der Geschlechter zu deuten. Keine schwere Kost also, doch beileibe keine Leichtgewichte.

„Ich eröffne Ihnen mein Leben. Ich bin für die Bühne geboren…“ So beginnt Turrinis Text, den „Der Mann“ (Michael Maertens) praktisch im Alleingang bewältigt. So vieles wird er uns noch „eröffnen“: sein Glück und Unglück, sein Jauchzen und sein Krächzen zum Tode. Vor allem aber seinen Traum vom Theater. Hierzu führt er einen weißen Kasten mit sich, in dem sich eine verkleinerte Maschinerie verbirgt – samt goldener Souffleusen-Muschel und einem Pappkrönchen für den „König der Schauspieler“. Für diesen hält sich jener Mann, der zunächst Handys feilgeboten hat. Denn irgendwann hat er alle großen Rollen gespielt – vom „Faust“ bis zum „Hamlet“ und retour. Auch den „Jeeeedermann“-Drohruf des Todes hat er parat, wirklich zum Steinerweichen.

Gefangen ist er im engen Bühnen-Geviert. Später windet er sich gar in einer Zwangsjacke, doch immer wieder träumt er sich weit über derlei Bedrängnis hinaus. Aber, ach, das Leben löst die Träume nicht ein: Der „Arsch“ seiner Freundin erscheint ihm plötzlich viel zu breit. Die Trennung von ihr macht ihn „Herz-los“, später findet er (oh, Anspielung auf Haußmanns liebstes Bühnen-Emblem) ein „dreckiges Herz“ im Staube. Kaum hat sich ein einzelner Zuschauer darob ein „Buh“ abgerungen, so erweist sich die unzerstörbare Theater-Lebendigkeit des Organs. Es pulsiert und blutet noch.

Auch dieser Text pulsiert. Zwischen Schmerz und Groteske wirbelt er gar vieles vom Urgrund des Theaterdaseins auf. Das Theater scherzt mit sich selbst (mal wie eine Bierzeitung, mal subtil), es ist auch bestürzt über sich, scheint jedoch rettende Kräfte zu bergen. Und es ist viel mehr als ein Kabinettstück, was Michael Maertens dem abgewinnt. Von Comedy bis Tragödie, von gepresstem Frust bis zum haltlosen Jubel durchmisst er die Gefühls-Skala. Rasender Beifall. Das Publikum war im Handstreich gewonnen.

Sodann: „Triumph der Liebe“. Bei Kerzengeflacker war die Bühne anfangs so düster wie nur je in in der Steckel-Epoche des Hauses. Ratternd raste der Text dahin, als sei er abgespeichert und werde nur nur angeklickt. Doch das betraf die erotischen Finten. Sobald sich daraus Gefühle (oder deren Surrogate) ergeben, fließt die Rede schmeichelnd; bis zum illuminierten Schlussbild, das in ein fernes Märchenreich zu weisen scheint. Dieser Triumph der Liebe dürfte eine bloße Illusion sein, nur Widerhall der Wünsche.

Hier entsteht Tiefgang ganz von selbst

Leonida, Prinzessin von Sparta (herb sich gebende Entschlusskraft: Johanna Gastdorf), will das Herz des jungen Agis (Patrick Heyn) gewinnen. Einst raubte ihr Geschlecht dem Seinen den Thron. Sie muss nun seinen Sippen-Hass überwinden. Zudem muss sie in jene Einsiedelei vordringen, in der Agis vom Philosophen Hermokrates und dessen Schwester Leonine vor der Welt beschirmt wird.

Ergo: Sie hat, um ihr Ziel zu erreichen, diese beiden in sich verliebt zu machen. Umstellt von Lauschern, setzt sie die zittrige Mechanik der Täuschungen in Gang. Köstlich, wie jene Versteinerten, die noch nie geliebt haben, allmählich errötend zu hoffen wagen: der eitle Philosoph (Armin Rohde), die altjüngferliche Schwester (Margit Carstensen). Zwei wunderbare Darsteller!

Einmal wird Bernd Spiers Gassenhauer „Das kannst du mir nicht verbieten“ gesungen, dazu leuchtet ein Gemälde von Michelangelo auf. Doch derlei Überwürzung ist schon ein rarer Ausrutscher ins Spaßtheater. Insgesamt geht die Sache einen anderen Gang, wobei Tiefgang wie von selbst entsteht. Auch zeugt der Zugriff erlesene Gestalt: Patrick Schlösser arbeitet souverän mit Symmetrien und deren Auflösung im zuckenden Taumel, mit Licht- und Schattenwerten sowie fast filmischen Einblendungen.

Nochmals Jubel. Nehmt alles nur in allem: ein verdammt starker Auftakt in Bochum.

Termine: 27, 28. Okt, 2., 10., 11., 15. und 16. Nov. (Die Eröffnung); 26. Okt, 4., 8. und 9. Nov. (Triumph der Liebe). Karten: 02 34/3333-111.




Bochumer Frage: War Shakespeare ein Antisemit?

Von Bernd Berke

Bochum. „Regt uns Shakespeare noch auf?“ So heißt heute ein Vertrag in Bochum. Um diese Frage rasch zu beantworten: Gewiss tut er das!

Denn die Festrede der Bochumer Shakespeare-Tage hält diesmal die prominente Autorin Mirjam Pressier („Bitterschokolade“). Sie behauptet in ihrem Buch „Shylocks Töchter“ unumwunden, der weltweit verehrte Dramatiker William Shakespeare sei Antisemit gewesen. Sie will dies anhand seiner Figur Shylock, des jüdischen „Kaufmanns von Venedig“, darlegen; wobei sie zugesteht, dass „Antisemitismus“ hier nicht im Sinne des 20. Jahrhunderts zu verstehen sei, allerdings als höchst problematische Vorform der später manifesten Judenfeindschaft.

Da wird es am morgigen Sonntag (ab 11 Uhr im Schauspielhaus Bochum, 800 Plätze) wohl manchen Unmut geben. Denn in der für alle Interessierten offenen Festversammlung werden viele der rund 300 Tagungsteilnehmer sitzen – und die sind nun einmal mehrheitlich Mitglieder der Deutschen Shakespeare Gesellschaft e. V., welche dem Meister aus Stratford-upon-Avon forschend, aber doch in erster Linie bewundernd nachspürt.

Prof. Dieter Mehl, Präsident der in Weimar ansässigen Shakespeare Gesellschaft, erläutert das Thema der Fachtagung, die sich bis Sonntag hauptsächlich im Museum Bochum abspielt: Es gehe ums „Weiterspinnen shakespeare’scher Ideen und Figuren auf literarischem Felde. Beispiele: Jane Smileys Roman „ 1000 Acres“, der die „König Lear“-Legende aufgreift, und Gertrud Fusseneggers neue Novellen „Shakespeares Töchter“, in denen eine Schwester der berühmten Liebenden Julia zu Wort kommt.

Die Shakespeare Gesellschaft will in Kürze eine Stiftung gründen, um reibungslos Spendengeld einsammeln zu können. Die Vereinigung, der naturgemäß zahlreiche Professoren und Englischlehrer angehören, hat 2260 Mitglieder aus vielen Ländern.

Sogar Engländer blicken mitunter neidvoll aufs Treiben der deutschen Shakespeare-Freunde. Die haben ein Problem weniger als die Briten: Dort ist Shakespeare vielen . Menschen durch übermäßige Schullektüre verleidet worden.

Infos: Tagungsbüro 0234/51 600-30 (Heute 8.30-18 Uhr).




Wie das Theater das Leben abgrast – Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wundersamer Raum: Eine Treppe führt bis in die tiefste Bühnentiefe. Und nicht nur der eine übliche rote Vorhang öffnet sich zum Zuschauerraum hin, sondern es wallen drei weitere: vorn, in der Mitte und ganz hinten. In Dimiter Gotscheffs Bochumer Inszenierung ist dies der sinnfällige Illusions-Ort für Luigi Pirandellos Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“; ein Ort, der den irritierend vielen Ebenen des Textes ideal entspricht.

Das 1921 entstandene Stück, von heute aus betrachtet gleichsam ein Leitfossil avantgardistischer Dramatik, stellt die Mittel des Theaters infrage, allerdings nicht trocken theoretisch, sondern eben durchaus „theatralisch“ und handlungssatt.

Besagte sechs Personen (Vater. Mutter, Stieftochter und drei weitere Kinder) platzen aus dem vermeintlich „realen“ Leben, das ja vom schmerzlich vermissten Autor erfunden wurde, mitten in eine Theaterprobe hinein. Der Vater (Heiner Stadelmann) verlangt, dass sich ihrer aller Schicksal (der böse Bann eines inzestuösen Familien-Skandals) auf der Bühne verwirklichen und klärend vollziehen soll.

Der Regisseur und die Schauspieler schwanken zwischen Hohn und Verwirrung. Dann aber versuchen sie, das Leben nachzuahmen – ein unmögliches Unterfangen, wie sich zeigt. Am Ende weiß man, wie zeichen- und skizzenhaft Theater die Realität notgedrungen abbildet. Doch auch dem sogenannten wirklichen Leben und seinen Maskierungen traut man nicht mehr so recht. Ist denn alles nur Trug?

Bemerkenswertes Gefühl für den Raum

Diese Schauspieler-Schar ist aber auch gar verkünstelt, verzärtelt, überaus geziert und lebensfern ins eigene Metier eingesponnen. Wie wollen sie das Leben begreifen? Lächerlich eifrig sind sie ihrem Regisseur (vom „Betrieb“ genervt: Matthias Leja) allzeit zu Diensten. Wie groteske Figurinen stolzieren und staksen sie einher. Obgleich grundsätzlich von Ernst getragen, hat die Aufführung nicht nur hier ihre komischen Momente.

Im eingangs erwähnten Bühnenbild von Achim Römer entwickelt die Inszenierung zudem ein bemerkenswert differenziertes Raum-Gefühl. Bestimmt kann Dimiter Gotscheff für jede Sequenz, ja für jede jede Sekunde schlüssig begründen, warum die Figuren-Gruppen so und nicht anders stehen, warum sie sich hier miteinander mischen, dort aber auf Distanz zueinander gehen. Schon dies, für sich genommen, ist ein ästhetischer Genuss. Und man erlebt eine durchweg lobenswerte Ensemble-Leistung, aus der – mit ihrer unerhörten Präsenz – allenfalls Henriette Thieme als Mutter noch ein Stückchen heraus ragt.

Ein Kitzel in der Magengrube

Ein Abend, der zum Nachdenken übers Theater zwingt: Er handelt davon, wie die Bühne das Leben aussaugt oder sozusagen restlos abgrast; wie sie das Chaos der oft schmutzigen Realität in ach so reine Kunstanstrengung überführt, ja, wie sie sich am Leiden weidet. „Großartig“, ruft der sonst so übersättigte Regisseur immer dann ganz verzückt, wenn besonders bühnenträchtig gelitten wird. Was zählt da noch die Wahrheit, wenn man den grellen Effekt haben kann?

In einer grandiosen Szene holt Gotscheff das Chaos des ungestalteten Lebens auf die Bühne. Tatsächlich: Plötzlich gerät die ganze Szenerie gleichsam ins Rutschen und stürzt in eine kakophon untermalte, allgemeine Verwirrung hinein. Der Zusammenprall von Kunst und Leben erzeugt einen irren, ratlosen Taumel. Diese Idee überzeugt ebenso wie die fragilen, geradezu gläsernen Momente der Inszenierung, in denen man all die Untiefen zwischen Sein und Schein als Kitzel in der Magengrube zu spüren meint.

Termine: 15. April, 8., 9., 17. bis 21. Mai tägl. Karten: 0234/ 3333-111.