Operetten-Passagen (11): Jacques Offenbachs „Pariser Leben“ – goldener Flitter in der grauen Nässe von Hagen

"Pariser Leben" von heute: Richard van Gemert (Gardefeu), Veronika Haller (Christine von Gindremarck), Boris Leisenheimer (Clochard). Foto: Klaus Lefebvre.

„Pariser Leben“ von heute: Richard van Gemert (Gardefeu), Veronika Haller (Christine von Gindremarck), Boris Leisenheimer (Clochard). (Foto: Klaus Lefebvre)

Zu ihrer Zeit waren Jacques Offenbachs Operetten topaktuell – und deswegen klappt es mit der Modernisierung meistens nicht. Zwischen laschem Historismus und bemühter Zeitgenossenschaft führt eine tückische Straße geradewegs in Belanglosigkeit, glitschig glatt gepflastert mit schalen Humor-Versuchen.

Offenbach zu inszenieren gehört in die Königsklasse, und an Figuren wie die Großherzogin von Gerolstein mit ihrer Entourage oder König Bobèche in den Gedärmen seiner Macht scheitern Regisseure unter Umständen erbärmlicher als an Parsifal oder Elektra. In Hagen ist nun unter der Hand von Holger Potocki einer der geglückteren Offenbach-Abende zu erleben.

Das Glück mag darin liegen, dass Potocki jede Form von Historismus meidet und das damals aktuelle, heute historisch-nostalgisch verklärte Paris nur als sanft ironisches Zitat zulässt. Sein Zugriff auf „Pariser Leben“ meint die französische Metropole heute, mit ihren Banlieus, ihren betongesättigten Schnellstraßengürteln, ihren Elendsquartieren und dem Innenarchitekten-Chic ihrer Luxusappartements, mit ihren Menschen aus aller Herren Länder, ihrem Mix von Religionen und dem Kampf ums tägliche Bestehen in der „bevölkerten Wüste“, wie Verdis Violetta die Stadt beschreibt. Und mit ihren Touristen, 34 Millionen pro Jahr sollen es sein, die ihre Erwartungen auf die „Stadt der Liebe“ oder die Kulturschätze zwischen Louvre und Quartier Latin projizieren.

Entlassen ins Leben von heute

Die Gondremarcks sind zwei davon – und sie werden im flotten Tempo der Eröffnungsszene gleich ins volle Pariser Leben von heute entlassen: Aus einem Taxi, das schnell das Weite sucht, retten sie nur sich selbst. Das Handy wird von einem Straßenjungen geklaut, die Handtasche mit Geld und Papieren verschwindet schon im Wagen. Da wird erst einmal auf Schwedisch gestritten, aber die Gäste aus dem Norden haben kaum eine andere Chance, als das Angebot eines vom fast food übergewichtig gewordenen Jungen anzunehmen: eine Nacht im „zufällig“ noch freien Airbnb-Zimmer. Und es zeigt sich: Vom Taxi bis zum Handyklau war alles von diesem Raoul de Gardefeu geplant …

Nur noch ein Traum: Das schwedische Touristenpaar am Bahnhof. Foto: Klaus Lefebvre

Nur noch ein nostalgischer Traum: Das schwedische Touristenpaar am Bahnhof. (Foto: Klaus Lefebvre)

Potocki aktualisiert, ohne die Rollen schrill zu überzeichnen oder ihnen Gewalt anzutun. Er schärft nur die Züge, die Offenbach und seine Librettisten Henry Meilhac und Ludovic Halévy vorgezeichnet haben und übersetzt sie – wie viele Teile des Dialogs – ins Heute. Dazu lässt er ein Panoptikum von Frankreich-Klischeefiguren kreisen, von Rokokokokotten über Karl Lagerfeld bis hin zu Obelix mit Hinkelstein, ausgestattet mit überbordender, manchmal grotesker Kostümpracht. Das mondäne 19. Jahrhundert, präsent in der vor dem vierten Akt eingeschobenen Bahnhofs-Szene des Beginns, ist im stimmungsvollen Bühnen-Setting von Lena Brexendorff nur noch ein Paris-Traum der schlafenden Baronin.

Auch ein Clochard hat sein Auftritts-Couplet unter einem Van-Gogh-Sternenhimmel – und er wird am Ende eine rührend-belehrende Rede halten, während sich zu „Oui, voilá, das ist das Pariser Leben“ noch einmal alles in den Dreh des Cancans stürzt – der Jude, der Muslim und der Christ inklusive. Jetzt erlebt das schwedische Paar im Tanz auf der Straße das „echte“ Paris mit den „echten“ Menschen. Es bräuchte diese Botschaft nicht, aber Potocki integriert sie so unaufdringlich in seine unterhaltsam und humorvoll erzählende Regie, dass sie die Illusion der Operette nicht im Lehrstückhaften verfestigt.

Kein „lustiges“ Aufdrehen

Offenbach ist also in diesem verheißungsvollen Präludium zu seinem Jubiläums-Jahr 2019 glücklich im Paris von heute angekommen – und das Hagener Publikum hätte allen Grund, die leeren Plätze im Zuschauerraum zu besetzen und sich zu unterhalten. Das gewandt spielende Ensemble trägt seinen Teil zum Amüsement bei, weil Potocki vermeidet, die Figuren „lustig“ aufdrehen zu lassen. Das Lachen will nicht mit Gags erzeugt werden, sondern ergibt sich aus dem wissenden Erleben alltäglicher Absurdität. Und wo der Unsinn seinen Triumph auskostet, auf der inszenierten „Pariser“ Party im Etablissement der Madame Quimper-Karadec, lässt Potocki seine Darsteller auch richtig aufdrehen.

Veronika Haller glänzt vor allem in den ariosen musikalischen Momenten; der Konversationston á la Hortense Schneider – der Star der Uraufführung – ist ihre Sache weniger. Aber die innere Entwicklung der Baronin Gondremarck von der kulturbeflissenen Touristin hinein in die frivolen Untiefen der „vie parisienne“ zeichnet Haller charmant nach. Ihren Gatten, den Baron, verkörpert Kenneth Mattice sehr glaubwürdig – ob er als lüsterner Nordmann arglos auf die raffinierten Fallen des amourösen Geschäfts hereinfällt oder als schwerblütiger Schwede mit dem Tempo des Pariser Liebeslebens nicht mithalten kann. Dafür sorgen mit viel Sex-Appeal Elizabeth Pilon – dünn an Figur wie an Stimme – als anziehende Pauline und Kristine Larissa Funkhauser als selbstbewusste, saftig auftretende Metella, die ihrem Ruf als „leichtes Mädchen“ eine ganz andere Realität entgegensetzt.

Korsage aus gelbem Absperrband

Marilyn Bennett als Madame Quimper-Karadec glänzt nicht nur mit dem eingeschobenen „Midnight in Paris“ – dafür muss man auf das irre komische Offenbach-Ensemble von der aufgeplatzten Naht verzichten –, sondern spielt als schriller Vamp aus der Szene in einer Korsage aus gelbem Absperrband Dominanz und Körperreiz aus, begleitet von „Gonzo“ (Thorsten Pröhln), einem devoten Leder-Subjekt an der Kette. Richard van Gemert adaptiert die jugendliche Rolle des Gardefeu mit Bravour: ein kleiner Gauner mit menschlichen Zügen, Humor und erst finanziellem, dann schwärmerisch-unbeholfen amourösem Interesse an der blonden Frau aus Schweden.

Stephan Boving ist sein ungeschickter Partner Bobinet, der bei der Organisation der Party auf die Idee kommt, den Event auf Facebook zu posten. Boris Leisenheimer hat als Clochard die Rolle des millionenschweren Brasilianers in einen weise-abgeklärten Clochard zu verwandeln, was ihm mit leicht komisch schillernder Würde auch gelingt. Das Orchester unter Andreas Vogelsberger erinnert zunächst daran, dass wir uns in Westfalen, nicht an der Place Pigalle befinden: die Töne sind nicht spitz artikuliert, der Rhythmus federt schwerfällig. Aber die Balance stimmt, und im Lauf des Abends gewinnen die Tanzformate und die kurznotigen melodischen Burlesken Elan und Energie. Da überzieht der Schimmer goldenen Flitters selbst die graue Nässe von Hagen.

Weitere Aufführungen: 27., 31. Dezember 2018 – 19., 26. Januar; 24. Februar, 23. März, 26. April, 5. und 12. Mai 2019.

Info: http://www.theaterhagen.de/veranstaltung/pariser-leben-1122/5944/show/Play/




Liebe und Staatsbankrott: „Lustige Witwe“ ist nicht so lustig

Valencienne (Dorothea Brandt) geht mit ihrem Mann Mirko (Miljan Milović) nicht immer so pfleglich um ... Foto: Andreas Fischer

Valencienne (Dorothea Brandt) geht mit ihrem Mann Mirko (Miljan Milović) nicht immer so pfleglich um … Foto: Andreas Fischer

Franz Lehárs „Lustige Witwe“ begeistert mit musikalischer Qualität und dramaturgischem Pfiff. Irgendwie scheint sie aber auch in unsere Zeit zu passen. Denn momentan wird zwischen Lübeck und Innsbruck auf mehr als ein Dutzend Bühnen versucht, der Dame ihre Millionen abzuluchsen. Allein in NRW intrigiert die pontevedrinische Diplomatie an vier Orten: ab Dezember in Düsseldorf, in Detmold ab 4. November in der Neuinszenierung von Holger Potocki und ab Silvester geht man in Dortmund an der Hand von Regisseur Matthias Davids ins Maxim. Im Barmer Opernhaus hatte Lehárs sensationelle Erfolgsoperette von 1905 am Samstag, 15. Oktober, ihre zweite Premiere – die erste fand schon im Juni in Solingen statt.

Gar so lustig, wie der Titel glauben machen will, ist diese „Witwe“ aber nicht: Es geht zwar ums erotische Vergnügen, um Grisetten und Seitensprung, aber vor allem ums Geld. Zwanzig Millionen ist Hanna Glawari wert. Eine begehrte Beute für die Pariser Lebewelt. „Die Millionen sind angekommen“, kündigt einer der Pariser Filous ihre Ankunft an: Damit ist alles gesagt. Charme, Intelligenz, Selbstbewusstsein, selbst Schönheit und Ausstrahlung? Egal. Hauptsache, die Frau ist millionenfach vergoldet.

Derweil plagen den pontevedrinischen Gesandten (im Rollstuhl, aber bei den „Weibern“ gut zu Fuß: Miljan Milović) lastende Sorgen: Wird das Geld der Frau Glawari aus seinem Vaterlande abgezogen, droht der Staatsbankrott. Abhilfe muss Graf Danilo schaffen. Der zeigt sich jedoch wenig patriotisch und lehnt den erotischen Staatseinsatz rundweg ab. Die Tanzmädels sind ihm lieber …

Pascale-Sabine Chevroton weiß um die gesellschaftlichen Untiefen in diesem Stück. Und inszeniert die „Lustige Witwe“ in dieser Koproduktion mit den „Folies lyriques“ in Montpellier weit weg von der üblichen Operettenästhetik. Weder Bühnenbild noch Kostüme (Tanja Liebermann) schwelgen in Frack und Tutu. In der Botschaft des Beinah-Bankrott-Staates sind Wände rissig und Stuckleisten geborsten. Für Madame Glawaris Heim ersinnt Bühnenbildner Jürgen Kirner eine gewaltige Handtasche. Es könnte auch ein Geldbeutel sein, der sich öffnet und wie aus einem roten Rachen die leichtlebige Festgesellschaft ausspuckt. Die Damen vom Maxim sehen aus wie Buchhalterinnen. Auch das passt: eher Dienerinnen des Geldes als des Eros. Dass Esprit und Humor gestutzt werden, scheint kalkuliert. Hans Richter als Komiker Njegus darf zwar wienern, aber die üblichen Stegreifsprüche sind ihm nicht erlaubt. So bleibt diese kommentierende Figur profillos. Chevrotons Lesart nimmt die Operette und ihr Sentiment ernst, aber die Szene moussiert nicht. Stellenweise glaubt man, Lehár habe ein Kammerspiel von Ibsen vertont.

Im Orchester sieht das zum Glück anders aus. Florian Frannek entschlackt die Partitur, gibt ihr kammermusikalische Finesse, welche die Orchester-Solisten der Wuppertaler Sinfoniker bereitwillig erfüllen. Der Dirigent „champagnerisiert“ den Rhythmus. Er gibt den schmeichelnden Melodien ohne schmierige Agogik Raum. Die Geigen flüstern wirklich „hab‘ mich lieb“ in feinstem, wenn auch nicht in süffigem Pianissimo der geforderten großen Besetzung. Und das Studium der Noten ist im Graben mindestens so eifrig betrieben worden wie auf den Brettern das Studium der Weiber.

"Lippen schweigen, s'flüstern Geigen ... Hanna Glawari (Susanne Geb) und Danilo (Kay Stiefermann)Foto Aandreas Fischer

„Lippen schweigen, s’flüstern Geigen …“: Hanna Glawari (Susanne Geb) und Danilo (Kay Stiefermann).Foto Andreas Fischer

Dorothea Brandt ist eine nahezu perfekte Tanzsoubrette; ihre Valencienne hat Format. Susanne Geb zeigt die selbstbewussten Seiten der Hanna Glawari. Doch ihrem soliden, zu strahlendem Ton fähigen Sopran fehlt schmeichelnde Weichheit; die lyrische Bezauberung kleidet sie eher in Silber als in Samt. Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer“ – erweist sich als wandlungsfähiger Darsteller und routinierter Sänger: Trotz Krankheit singt er den Danilo respektabel und rhetorisch reflektiert. Boris Leisenheimer als Camille de Rosillon scheitert ob der verfehlten Position seines Tenors an den Anforderungen der Partie. Seine Tongebung wirkt gequält, die Höhen sind trocken forciert. Tomas Kwiatkowski und Nathan Northrup sind als Cascada und Saint-Brioche richtige Klischee-Pariser mit Baskenmütze und Halstuch. Der Chor ist von Jens Bingert zuverlässig einstudiert.

Im Programmheft liest man mit Erstaunen, wie oft die Bankrott-Kandidaten unter den europäischen Staaten schon zahlungsunfähig waren – an Pontevedro ist dieses Schicksal noch einmal vorübergegangen. Die Botschaft ist angekommen: reicher Beifall.