Der arme IT-Experte und seine gute Fee – „Jenny Jannowitz“ bei den Ruhrfestspielen

Wenn täglich das Murmeltier grüßt oder man gar eines Morgens als Käfer aufwacht, ist das bedenklich; wenn man nicht mehr weiß, ob die Wirklichkeit oder man selber mehr oder weniger „ver-rückt“ ist. Ganz so schlimm ist es Karlo Kollmar nicht ergangen, er hat lediglich verschlafen. Doch all die Menschen um ihn herum sind jetzt so anders. Und was er von der geheimnisvollen Zauberin Jenny Jannowitz halten soll, weiß Kollmar gleich gar nicht.

Jenny-Jannowitz_140605_045-630x419

Karlo Kollmar (Raphael Traub) herzt auf der linken Bildseite seine gute Fee Jenny Jannowitz (Bea Brocks). Foto: Ruhrfestspiele

„Jenny Jannowitz“ war die letzte Premiere der diesjährigen Ruhrfestspiele. Das Stück des Autors Michel Decar (Jahrgang 1987) gewann den Förderpreis des Kleistforums in Frankfurt an der Oder und erlebte deshalb, einer noch nicht all zu alten Recklinghäuser Festspieltradition folgend, als Produktion des Staatstheaters Braunschweig seine Bühnenweihen in der Halle König Ludwig 1/2 (Regie: Catja Baumann).

Es ist ein burleskes Spiel mit sechs munteren Akteuren, die sämtlich große Beweglichkeit zeigen, wenn sie nicht gerade Pause haben und in ihren weißen Regalkästen (Bühne und Kostüme: Linda Johnke) hocken. Man identifiziert Chef, Mutter, Freundin und Kollegen, und mit allen hat Kollmar Stress. Er versteht nicht, was sie von ihm wollen, er kennt die wechselnden Namen seiner Chefs nicht, seine Mutter kritisiert ihn, seine Freundin macht mit ihm Schluss. Mehrfach wird Kollmar von seiner Firma versetzt, was er als Degradierung empfindet, alle reisen sie (Globalisierung!) irgendwo in der Weltgeschichte herum, können sich aber trotzdem auf der Bühne unterhalten. Nur Jenny Jannowitz ist nicht Teil dieser atemlosen Szenerie, sondern so etwas wie die erotische Kollmar-Versteherin im Hintergrund, vielleicht gar nur ein wiederkehrender Traum, der den armen Jungen stabilisiert.

Etwas unterschwellig suggeriert das Programmblatt, dass es in diesem Stück um „Beschleunigung“, in Sonderheit der Kommunikation, gehen soll. Doch ein solcher Anspruch wird dramatisch nicht eingelöst. Was wir wirklich zu sehen bekommen, bleibt dünn. Entwicklung innerhalb der Personen, kathartische gar, lässt sich nicht ausmachen, sieht man einmal vom schlussendlich durch Jenny Jannowitz getrösteten Kollmar ab.

Es fällt auf, wie gänzlich frei von psychischen Ressourcen Autor Decar seine Hauptfigur zeichnet. Karlo Kollmar ist die personifizierte Durchschnittlichkeit, ein Mann ohne Eigenschaften, ohne Persönlichkeit und Stehvermögen, der einer Unterordnung unter gesellschaftliche Wertvorstellungen nichts entgegenzustellen weiß, seien diese auch noch so verrückt. Die Inszenierung bezieht da recht eindeutig Stellung, zeichnet ihn als den Vernünftigen in einer wirren Welt. Doch gäbe der Stoff es auch her, differenzierter zu verfahren und die Eindimensionalität der Menschen, gerade auch der Computer- und IT- Experten, zu geißeln. Eine Entwicklungsgeschichte wäre das dann zwar immer noch nicht, aber doch mehr als die lärmende Zustandsbeschreibung, in der kaum Handlung auszumachen ist und die Analytisches ängstlich außen vor lässt.

Als dauererregter Welt-Nichtversteher ist Raphael Traub – weißes Hemd, hängende Schultern – fraglos die richtige Besetzung. Bea Brocks gelingt es als verständnisvoller Zauberin Jenny Jannowitz, die Aura des Geheimnisvollen bis zum Ende zu erhalten, die anderen vier Schauspieler – Tobias Beyer, Andreas Bißmeier, Martina Struppek und Rika Weniger – chargieren ungeniert und gekonnt und sogar mit einer gewissen Glaubwürdigkeit. Denn im Kern sind die verarbeiteten Episoden – von undurchschaubaren Firmenentscheidungen bis zur zweiten Jugend der Mutter, die plötzlich als Sandra angesprochen werden will – ja dem Alltag entlehnt.

Übrigens gibt es in Berlin eine Jannowitzbrücke, nebst gleichnamiger S-Bahnstation. Aber die kommt im Stück nicht vor, wirkte vielleicht jedoch als lautmalerische Inspiration für den Titel.

Das Publikum applaudierte herzlich.




Zehn Städte wollen ins große Finale – Vorentscheid um die Europäische Kulturhauptstadt

Von Bernd Berke

Die Spannung wächst: Welche zwei bis vier Bewerber um die Europäische Kulturhauptstadt 2010 wird die Jury ins Finale lassen? Seit gestern tagt die Kultusministerkonferenz in Berlin, hier soll heute das Votum verkündet werden. Die WR hat nachgeschaut, wie die zehn Kandidaten ihre Vorzüge im Internet darstellen. Verschiedene Gewichtungen fallen auf.

Fast alle Kommunen führen nicht nur ihre kulturellen Schätze, sondern auch ihr wissenschaftliches oder wirtschaftliches Potenzial ins Feld. Sie hegen vielfach die Hoffnung auf Geldsegen und neue Arbeitsplätze, falls sie das Rennen gewinnen. Zuerst aber muss investiert werden. Wir bleiben neutral und gehen streng alphabetisch vor:

Braunschweig bezieht bewusst die Region mit ein, darunter Wolfsburg mit dem Kunstmuseum und VW als Sponsor. Die Stadt rühmt sich ihrer Baudenkmäler, will zudem ihr (1960 abgerissenes) Residenzschloss neu errichten. Die Kunstakademie, das Festival „Theaterformen“ und Forschungsstätten gelten als Pluspunkte.

Bremen kann gewachsene Kultureinrichtungen vorweisen. Man empfiehlt sich außerdem mit dem bereits errungenen Titel „Stadt der Wissenschaft“, nennt Rathaus und Roland als Weltkulturerbe und plant eine weitläufige „Neuerfindung der Stadt“, sozusagen im kulturell geleiteten Laborversuch.

Historisches Erbe ist nicht alles

Essen hat im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern keine historische Silhouette. Es ist folgerichtig, dass man sagt: Wir haben unsere Kultur nicht geerbt, sondern sie uns erarbeitet. Aalto-Oper, Philharmonie, Folkwang-Museum und Zeche Zollverein sind Flaggschiffe, Industriekultur und Einbeziehung der Migranten setzen spezielle Akzente. Die anderen Revierstädte (Ausnahme Bochum) gehen den Weg offenbar noch nicht so recht mit. Das mag sich ändern, falls Essen in die Endrunde kommt.

Görlitz ist mit 60 000 Einwohncni die kleinste Bewerberstadt, preist sich aber selbstbewusst als schönste Gemeinde Deutschlands an. Schwerpunkt ist der Brückenschlag in die polnische Nachbarkommune Zgorzelec. Dies soll der EU in Brüssel, wo 2006 die endgültige Entscheidung fallen wird, als „europäische Vision“ einleuchten.

Halle will die Neugestaltung einer Stadt, die sich in einem Schrumpfungsprozess befindet, beispielhaft vorführen. Garten-Landschaften sollen wachsen, Plattenbauten menschenwürdig umgebaut werden. Kunst soll vor allem den Flusslauf der Saale zieren.

Karlsruhe wirbt für sich als Standort der Medienkunst, vor allem aber als Sitz desBundesverfassungsgerichts und somit Stadt des Rechts. Ob diese Setzung eine kulturell orientierte Jury überzeugt, wird sich zeigen.

Kassel stellt die alle fünf Jahre hier zelebrierte Weltkunstschau documenta insZentrum (deren Konzept man „weiterdenken“ will) und möchte Dialoge der Religionen stiften. Von Migrations-Themen bis zu den Gebrüdern Grimm reicht das durchdachte Spektrum der Projekte.

Lübeck beruft sich aufs schmucke Stadtbild sowie auf „seine“ Nobelpreisträger Thomas Mann, Willy Brandt und Günter Grass. Zudem will man den Ostseeraum bis zum Baltikum ins Bewusstsein riicken. Auch hier eine weite (ost)europäische Perspektive.

Potsdam kommt gar nicht umhin, mit Schloss und Parkanlagen zu prunken. Auch die Nähe Berlins wird in die Waagschale gelegt.

Regensburg, das Spott mit Christoph Schlingensiefs Anti-Werbung und einer Brezel-Abwurfakttion auf sich zog, wirbt liebenswert bescheiden, u. d. mit Studententheater und Altstadt-Szene.

 

 

Keine leichte Aufgabe für die Jury! Bleibt zu hoffen, dass auch die ausgeschiedenen Städte ihre einmal gefassten Ideen vorantreiben werden.




Evangeliar Heinrichs des Löwen in Braunschweig – teuerstes Kunstwerk der Welt erstmals ausgestellt

Von Bernd Berke

Braunschweig. Heinrich der Löwe (1129 bis 1195) bekommt jetzt in Braunschweig „Personenschutz“. Zwei Polizeibeamte flankierten schon gestern die Vitrine mit dem teuersten Kunstwerk der Welt – dem am 6. Dezember 1983 in London für rund 32 Millionen DM ersteigerten „Evangeliar Heinrichs des Löwen“. Jetzt, genauer ab Samstag, wird das kostbare Stück, um dessen Finanzierung es seinerzeit so viele Querelen gab, erstmals der breiten Öffentlichkeit gezeigt.

Grandioser Rahmen ist die niedersächsische Landesausstellung „Stadt im Wandel“ im Braunschweigischen Landesmuseum (Vieweghaus) und in der Burg Dankwarderode (dort befindet sich das Evangeliar). Sie zeigt mit weit über 1100 Exponaten einen überwältigenden Querschnitt durch Alltag, Kunst und Kultur zwischen 1150 und 1650 im norddeutsehen Raum.

Das um 1175 herum entstandene „Löwen“-Evangeliar, dessen Präsentation nicht die einzige, wohl aber die hervorstechende Sensation dieser Schau ist, wird hier in breiter Darstellung des Zeithintergrunds, als Dokument einer – das Wort sei gestattet – „Wende“ der deutschen Geschichte vorgeführt.

Da das Evangeliar ein (seinerzeit dem braunschweigischen Dom gestiftetes) Buch ist, können nur zwei der 31 Farbbilder aufgeschlagen gezeigt werden. Das wohl wichtigste zeigt die Krönung Heinrichs des Löwen unmittelbar durch Gottes Hand – wobei die beauftragte Werkstatt des Benediktinermönchs Heriman kurzerhand überging, daß Heinrichs Vetter, Friedrich I. (Barbarossa), dazumal Kaiser war.

Die seit 1979 vorbereitete, 10 Millionen DM teure Ausstellung als Ganzes ist natürlich auch aller Rede wert. Noch nie wurden beispielsweise so viele religiöse Kunstwerke aus Norddeutschland zusammengetragen wie hier. Leihgaben aus aller Welt, darunter auch ein Bronzekruzifix (1120) aus dem Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte, machen es möglich.

Vom Spitzenkunstwerk bis zur scheinbaren Banalität (Dokumentation der Wasserversorgung einer mittelalterlichen Stadt) wird hier ein denkbar breites Panorama der Entwicklung von den frühen Stadtgründungen bis zur Zeit des Westfälischen Friedens ausgebreitet.

Hier ein grober Überblick: Sechs Abteilungen gliedern die riesige Fülle der Exponate. Am Beginn steht die Entwicklung der Städte, die wiederum in sieben Stadttypen untergliedert ist. Für diesen Teil wurden eigens einige Stadtmodelle neu gebaut. Alte Ansichten und Stiche veranschaulichen die zeitgenössische Sicht. Auch gemalte Szenen der christlichen Heilsgeschichte verraten manches über die Struktur mittelalterlicher Städte, da die Künstler das biblische Geschehen oftmals in ihre eigenen Umgebung verlegten.

Die zweite Abteilung gewährt einen Einblick in „Haus und Familie“. Ganze Ensembles, so die Wohnung eines Zinngießers aus Göttingen, vermitteln hier greifbares Ambiente. Hausrat, Kleidung und Schmuck sind weitere Stichworte dieser Abteilung. Aber auch Phänomene wie der Pesttod und Armut der Bevölkerung werden nicht ausgespart.

„Frömmigkeit und Bildung“: Vom Wallfahrts- und Pilgerwesen bis hin zum Tintenfaß wird das ganze Feld der zunächst kirchlich geprägten, dann zunehmend weltlichen Bildung abgeschritten. Für Revierbewohner interessant: Der Bergbau im Harz ist einer der Schwerpunkte der Abteilung „Handwerk und Handel“. Werkzeuge, Planzeichnungen und Produkte runden das Bild aus diesem Lebensbereich ab.

Die Abteilung „Rathaus und Politik“ widmet sich Bereichen wie Archivführung und Justiz, zeigt aber auch prachtvolles Ratssilber. Endpunkt und wohl auch Höhepunkt ist schließlich die „kirchliche Kunst des Mittelalters“. Reliquienbehälter, spätgotische Skulpturen, Ausstattungen von Altären und Buchmalereien des 12. und 13. Jahrhunderts sind hier zu finden.

Die Ausstellung dauert bis zum 29. November (täglich 10 bis 19 Uhr, freitags 10 bis 22 Uhr). Zwei Katalogbände 75 DM / zwei Aufsatzbände 61 DM / Kurzführer 10 DM.