Wagemutige Weiträumigkeit: Das London Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle in der Philharmonie Essen

Sir Simon Rattle dirigiert Anton Bruckners 6. Sinfonie (Foto: Hamza Saad)

Sir Simon Rattle dirigiert Anton Bruckners 6. Sinfonie. (Foto: Hamza Saad)

„This is Rattle“ hieß es im September 2017, als das London Symphony Orchestra (LSO) seinen neuen Musikdirektor mit einer zehntätigen Konzertreihe willkommen hieß. So begeistert der Einstand von Sir Simon Rattle einerseits gefeiert wurde, so kompliziert sind andererseits die Verhältnisse, denen sich der Ex-Chef der Berliner Philharmoniker bei seiner Rückkehr an die Themse stellen muss. Das Barbican Center, seit 1982 fester Spielort des Orchesters, hat eine so kleine Bühne, dass der Dirigent dort auf ein Fünftel seines Wunschrepertoires verzichten muss.

Ein Neubau ist nicht in Sicht. Stattdessen wirft der Brexit schwere Schatten voraus: Nach Rattles eigener Aussage bewerben sich deutlich weniger Musiker aus Europa beim LSO. Ein Jammer, auch mit Blick auf die glanzvolle Tradition des ersten unabhängigen und selbstverwalteten Orchesters von England. Edward Elgar gehörte einst zu seinen Chefdirigenten; ihm folgten viele große Künstlerpersönlichkeiten, zum Beispiel Arthur Nikisch, Pierre Monteux, Claudio Abbado, Sir Colin Davis und zuletzt Valery Gergiev.

Der Philharmonie Essen bescherte das Gastspiel der Londoner Symphoniker unter Sir Simon Rattle jetzt ein ausverkauftes Haus. Zu Beginn erklingt eines der bedeutendsten Werke von Béla Bartók: die „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“, in Auftrag gegeben vom Schweizer Mäzen Paul Sacher, berühmt für ihre formale Strenge und ihre enigmatische Tonsprache. Mit größter Disziplin formt das LSO den gesamten ersten Satz zu einem an- und abschwellenden Bogen. Aber diese Fuge ist hier mehr als die Studie einer staunenswerten klanglichen Verdichtung. Sie gibt einen Tonfall vor, der die Ohren öffnet und für hohe Konzentration im Publikum sorgt.

Die Gipfel erregen Staunen, aber keine Furcht

Mit Harfe, Celesta und einem Konzertflügel als Mittelachse, steigern sich die geteilten Streicher im zweiten Satz zu brennenden Klängen innerer Erregtheit. Das Schlagwerk, von Sir Simon links hinter dem Orchester postiert, schafft im dritten Satz eine entrückte Atmosphäre. Die Tonwiederholungen des Xylophons, die dumpfen Paukenglissandi, die verwischten Klänge der Celesta und des Klaviers machen dieses Adagio zu einem zauberischen Nachtstück. Durch das tänzerische Finale mit seinem so genannten „bulgarischen Rhythmus“ wirbeln die Musiker des LSO mit Temperament und virtuoser Sicherheit.

Sir Simon Rattle bedankt sich beim Konzertmeister des London Symphony Orchestra. (Foto. Hamza Saad)

Eine Phalanx von acht Kontrabässen schiebt das musikalische Geschehen nach der Pause von hinten an. Für die 6. Sinfonie von Anton Bruckner hat Simon Rattle sie an die Rückwand der Bühne postiert. Seine Deutung des Werks lässt erahnen, warum die Sechste in Anlehnung an Beethoven zuweilen „Bruckners Pastorale“ genannt wurde: So wenig monumental, so wenig martialisch oder auftrumpfend klingen Bruckners Sinfonien selten. Heitere Abgeklärtheit liegt über dem musikalischen Geschehen.

Die Höhepunkte, die Rattle mit dem LSO anstrebt, weisen den Menschen nicht ab. Die Gipfel erregen Staunen, aber keine Furcht. Alles ist Klang, der sich erst bildet, der zu wagemutiger Weiträumigkeit wächst. Unter der Leitung von Simon Rattle füllen sich diese Weiten mit sanglicher Wärme, ja mit einem Glücksleuchten, gegen das sich kein Dunkel hält.




Mozarts Leichtigkeit, Bruckners Wucht – die New Yorker Philharmoniker im Ruhrgebiet

Pianist Emanuel Ax, Dirigent Alan Gilbert und das New York Philharmonic. Foto: Chris Lee

Pianist Emanuel Ax, Dirigent Alan Gilbert und das New York Philharmonic. Foto: Chris Lee

Respektvoll werden sie „The Big Five“ genannt, jene fünf amerikanischen Spitzenorchester, denen ein ganz spezieller Sound nachgesagt wird, im Gegensatz zu den europäischen Klangkörpern von Weltruhm. Wenn eines dieser „Fünf“ in unseren Breiten die musikalische Visitenkarte abgibt, ist der Ansturm auf die Plätze groß. Wie jetzt in der Philharmonie Essen und dem Konzerthaus Dortmund: volle Säle an zwei Abenden mit dem New York Philharmonic.

Mit dem Klang ist das so eine Sache. Die amerikanischen Orchester seien heller timbriert als etwa die Wiener Philharmoniker, zudem werde jenseits des Atlantiks das großsymphonische Repertoire oft blankpoliert, musikalische Ecken und Kanten würden unziemlich geglättet, heißt es. Nun, wer die New Yorker in Essen mit Bruckners 3. Symphonie hört, kann zwar einerseits wundersame Präzision bestaunen, erlebt zum anderen aber eine spannende, kernige, bisweilen schroffe Wiedergabe. Alan Gilbert am Pult sorgt dafür, dass die erratischen Blöcke der Komposition nicht im luftleeren Raum hängenbleiben, vielmehr wird die Musik ständig im Fluss gehalten.

Ein weiteres kommt hinzu: Dieses Spitzenorchester kann sich höchst professionell auf die akustischen Verhältnisse des Saales einstellen. Deshalb klingen Holzbläserlinien silbrig klar und nie überzeichnet. Die Artikulationskunst der Hörner ist von ganz eigener Faszination. Trompeten und Posaunen wiederum scheuen die heftigen Ausbrüche nicht, vermeiden indes bloße dynamische Kraft, formen vielmehr einen ergreifenden klanglichen Überbau. Andererseits pflegt der fast 70 Köpfe starke Streicherkorpus schimmernde, unheimliche Tremoli wie auch eine samtig-satte Lyrik. Einzig die augenzwinkernd derben Ländler-Anlehnungen lassen bei den New Yorkern Esprit vermissen. Da sind die „Wiener“ wohl die authentischeren Interpreten.

Bruckners Wucht und Religiosität, seine Wagner-Anklänge oder die Reduktion der Instrumentalstimmen zum Ätherischen formen sich zu einem großen, hymnischen, spannenden Ganzen. Ohne Verzögerungen, bar jeder Hetzerei. Dirigent Alan Gilbert lässt die Musik atmen, die Farbenpracht der Holzbläser sucht dabei ihresgleichen. Monumental wirkt diese Symphonie und doch fehlt alles Protzen.

Stets stellt sich die Frage, was ein Abendprogramm noch verträgt an der Seite dieser erzromantischen Symphonik. Zumeist wird die Genialität der Tonsprache Mozarts aufgeboten, wegen ihrer Macht über die Seele des Publikums. In der Philharmonie ist es das C-Dur-Klavierkonzert des Meisters (Nr. 25), der Solist heißt Emanuel Ax. Fast ein bisschen hemdsärmelig tritt der Amerikaner polnisch-jüdischer Abstammung an, findet aber schnell zu einem ausdrucksstarken Tonfall. Die Leichtigkeit und Innigkeit seiner Deutung spricht dafür, dass er mit dieser Musik gewissermaßen auf Du und Du steht. Statt virtuoser Akrobatik liefert Ax ein ruhiges, brillantes Figurenspiel. Selbst die Kadenzen (in der Fassung von Alfred Brendel) haben nichts von Tastenlöwentum oder Säuselei.

Manchmal indes gerät die dynamische Balance aus dem Gleichgewicht. Historisch informierte Aufführungspraxis – in dünner Besetzung, mit Originalinstrumenten – pflegt das New York Philharmonic nicht. Etwa 40 Köpfe zählt das Mozartensemble, sein Klang schimmert und glänzt, ein wenig auf Kosten markiger Akzente. Dennoch berührt uns die Musik, besonders die sublimen Dialoge zwischen Klavier und Bläsern im 2. Satz. Da ist Ax ganz in seinem poetischen Element.– Allüberall Applaus.

 

Der Pianist Emanuel Ax ist bereits am 16. Mai (20 Uhr) erneut in NRW zu Gast. Beim Klavier-Festival Ruhr spielt er in der Wuppertaler Stadthalle mit dem Geiger Frank Peter Zimmermann Werke von Johannes Brahms.

www.klavierfestival.de

 

 




Monument, Witz, Spiel und Schönheit: Neue Musik für Orchester beim Festival „NOW!“

Jörg Widmann, Komponist des "Lied" für Orchester (2003/2009). Foto: Marco Borggreve

Jörg Widmann schreibt ein „Lied“ für Orchester und begibt sich dabei auf die Spuren österreichisch-schubertscher Melodienseligkeit sowie der musikalischen Brüche eines Gustav Mahler. Der Finne Magnus Lindberg, einst Propagandist des markigen „Sibelius ist tot!“, arbeitet mit kleinen tonalen Zentren, mit Inseln des Minimalismus und poppiger Rhythmik. Der Franzose Gérard Pesson wiederum liebt es gleich zitatengewaltig: Mahler, Bruckner, Messiaen. Schließlich der Italiener Salvatore Sciarrino: Sein Flötenkonzert liebäugelt mit einer traditionellen Gattung unter Verwendung von Lauten, die der Natur entlehnt zu sein scheinen.

So viele Blicke zurück – und doch reden wir von neuer Musik. In Form von großorchestralen, teils verdichteten, teils fragil aufgehellten Klangfeldern. Zu hören beim „NOW!“-Festival (in) der Essener Philharmonie. Gleichwohl verweigert sich das Avantgardistische nicht althergebrachten (bis heute gültigen?), uns passend erscheinenden Titeln. Lindbergs „Corrente II“:  Vom Monumentalen. Sciarrinos „Frammento e Adagio“: Vom Witz. Pessons „Aggravations et final“: Vom Spielerischen. Und Jörg Widmanns „Lied“: Von der Schönheit. Allesamt Tönendes, das eben mehr ist denn der konstruktive Umgang mit dem musikalischen Material.

Lindberg lässt es fließen. Aus düsterem Urgrund heraus, mit dumpfen Schlägen und Rasereien in tiefen Lagen, mit wilden Figurationen in wabernden Klangflächen. Ein archaisches Stück Musik, fast immer sich nervös artikulierend, nur bisweilen lichter, ruhiger dahingleitend. Insgesamt aber gibt sich Lindberg dem Rausch hin, bis zum Schlussklang, der wie eine volltönende Orgel anmutet.

Der Dirigent Brad Lubman. Foto: Erich Camping

Sciarrinos Flötenkonzert könnte gegensätzlicher kaum sein. Von fragiler Faktur, wie ein Dialog von Vögeln im sphärischen Raum. Denn der etwas affektiert virtuose Solist Michael Faust entlockt seinem Instrument weit mehr Pfeifgeräusche als Tonfolgen, oft im Austausch mit den Orchesterflötisten. Das wirkt erheiternd, gelegentlich auch monoton. Doch wie der Komponist sich mehr und mehr Stillstand und Stille erarbeitet, das Material entmaterialisiert, ist zugleich von großer Kraft.

Der Franzose Pesson wiederum setzt in seinem Stück vor allem aufs Geräusch. Es wird geschabt, gekratzt, geklopft, teils im Maschinenrhythmus, teils quirlig, wirbelig – als würde jemand am Radio knopfdrehend durch die Sender huschen. Dann tönt Mahlers Adagietto auf oder ein Bruckner-Scherzo. So wird der Orchestermusiker, hier sind es die Mitglieder des WDR Sinfonieorchesters Köln unter Brad Lubmans pointierter Leitung, zum Homo ludens. Technisches Können trifft auf muntere Spielfreude.

Jörg Widmann aber ist es überwiegend ernst. Er pflegt in Anlehnung an Schubert und Mahler die melodische Schönheit, die Kraft des Hymnus, allerdings auch die schmerzvolle Zerrissenheit zweier Künstlerseelen, der Hang zum Morbiden inklusive. Immer aber funkt der Vertreter der Moderne mit wilden Ausbrüchen oder enervierenden Klangschichtungen dazwischen. Herbe Schläge hier, sphärisches Erstarren dort. Und erneut macht sich die aus dem Hören gewonnene Erkenntnis breit, dass ein Neuerer ohne das Alte auf verlorenem Posten stünde.

Das mehrteilige Festival “NOW!” wird fortgesetzt mit einem Konzert am 9. November in der Folkwang Universität der Künste, Neue Aula (20 Uhr). 

Karten unter Tel.: 0201/8122-200

www.philharmonie-essen.de

 

 




Duisburger Musik statt Dortmunder Fußball

Hab ich schon geschrieben, weshalb ich gestern das Dortmund-Spiel nicht gesehen habe? Nein? – Ganz einfach. Meine Frau und ich haben gestern das 2. Konzert der Duisburger Philharmoniker – schon unseres Abos wegen, vor allem aber wegen des verheißungsvollen Programms (Mozart + Bruckner) – dem live im Fernsehen übertragenen Fußballspiel natürlich vorgezogen. Und außerdem: War es nicht besser, musikalisch Gutes zu hören, als Dortmunds klägliches Debakel mitanzusehen?

Und dennoch: Akustisch mag es zwar vielleicht an unserem Sitzplatz – unserem immerhin doch gewohnten und längst bewährten Sitzplatz! – gelegen haben, leider aber: das 23. Klavierkonzert Mozarts, das ich doch seit langem so gerne mag, hat mir, von der Art der Darbietung her, nicht vollends gefallen; zumindest nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. Die Ecksätze waren mir insgesamt eine Nuance zu schnell gespielt, die Orchester- und die Klavierpassagen traten mir nicht markant und durchhörbar genug hervor. Fast monophon erschien mir der Klang. Nur der 2. Satz hielt weitestgehend und durchaus beseligend das, was ich mir von dem gesamten Werk versprochen hatte. Da atmete alles. Und so ähnlich war es dann wieder auch bei der sich an den dritten Satz anschließenden Liszt-Zugabe des Pianisten und gleichzeitigen Dirigenten des Abends, Stefan Vladar.

So beschloss ich, endgültig erst nach der 7. Bruckner-Symphonie über das Gesamtkonzert zu urteilen, die mir nämlich seit langem ebenfalls sehr viel bedeutet: War es doch einmal genau die Siebte, die mich per Radio der großen Musik Bruckners erstmals begegnen ließ und durch die mir früh schon und bleibend mein Sinn für sie geschärft wurde. Wie verwandelt erschienen mir die Interpreten der 1. Hälfte nach der Pause: Diese Musik und die Art ihrer Darbietung zündete sofort und ließ über das ganze gewaltige Werk hin keinerlei kritische Anmerkungen bei mir auch nur ansatzweise in den Sinn kommen. Sehr gut (auf dem gewohnten hohen Niveau der Duisburger Philharmoniker) wurde das gespielt. Dem Orchester und dem Dirigenten sei ausdrücklich dafür gedankt.