Erkundungen im real existierenden Kapitalismus: Der Schriftsteller Ingo Schulze streift durchs Ruhrgebiet

An diesem imposanten Ort beginnen die Ruhrgebiets-Erkundungen von Ingo Schulze: die kruppsche Villa Hügel in Essen. (Foto von Januar 2006: Bernd Berke)

Ein halbes Jahr lang war Ingo Schulze so etwas wie der Stadtschreiber des Ruhrgebiets, Oktober 2022 bis März 2023, Wohnsitz in Mülheim, eingeladen von der Brost-Stiftung. Zwei Dinge hatte er sich für diese Zeit vorgenommen, nämlich erstens an streng durchstrukturierten Arbeitstagen halbtags an seinem neuen Roman zu arbeiten und zweitens jede Einladung anzunehmen, die er in seiner Ruhrgebietszeit erhielt. „Ich weiß nicht, warum ich immer wieder auf mich selbst reinfalle“, schreibt er in der Rückschau, „keine Zeile habe ich an meinem Roman geschrieben.“

Das Ruhrgebiet, so könnte man folgern, erregte des Dichters ganze Aufmerksamkeit. Aber interessante Menschen hat er getroffen, Lehrerinnen, Polizisten, Gewerkschafter, Techniker, Buchhändler und so fort, eine bunte Mischung. „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ heißt das Buch, das Schulzes Begegnungen und Recherchen nun in recht entspannter Form versammelt – keine Skandalliteratur, ganz sicher nicht, auch keine geographische Liebesprosa.

Das Thema wirkt zunächst einmal wie falsch gestellt. Denn gängig sind ja nach wie vor eher die Berichte über den Osten, besonders über die Unzufriedenheit der dortigen Abgehängten und Rechtsradikalen. Hier aber nun: sachliche Berichte aus dem Westen, von Ingo Schulze mit Ernst und Akribie aus kaum wahrnehmbarer „Ost-Optik“ heraus verfaßt.

Die Jahre nach der Wende

Mit seinem opulenten Nach-Wende-Roman „Neue Leben“, schrieb Schulze sich in bleibende, respektvolle Erinnerung. Das knapp 800 Seiten starke Buch, 2005 erschienen, gab einem eingefleischten Westler (wie dem Verfasser dieser Zeilen) etwas mehr als eine Ahnung davon, was der Untergang der DDR mit Menschen in verschiedenen Milieus machte. Es war eine Zeit, wie sie unterschiedlicher in Ost und West ja kaum sein konnte; was „drüben“ Existenzen von Grund auf umkrempelte, reduzierte sich im Westen auf Tagesschaunachrichten. Später hat Schulze auch in, wenn man so will, ostdeutschen „Langzeit-Befindlichkeiten“ gegründelt, hat etwa in „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) den langsamen, unerbittlichen und offenbar ungeheuer kränkenden Bedeutungsverlust eines einstmals schillernden, luziden Buchhändlers und seiner Bücher beschrieben. Ganz leicht war das Verletzende in dieser Geschichte für den Westler nicht zu greifen, doch blieb der Eindruck großer Redlichkeit, der Ingo Schulzes Texten Mal um Mal eigen zu sein scheint.

Bei Krupp in Essen

So. Und nun tut sich der Dichter, 1962 in Dresden geboren und wohnhaft in Berlin, im Ruhrgebiet um, und er fängt dort an, wo es vielleicht immer noch seinen Markenkern hat, bei Krupp in Essen, Villa Hügel. Schulze, dessen Weltbild einst vermutlich vom Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital geprägt wurde, entwickelt großes Interesse am real existierenden Kapitalismus im Westen der Republik; er arbeitet anerkennend heraus, wie die Montan-Mitbestimmung über Jahrzehnte hin funktioniert hat, stellt aber auch fest, daß sie Betriebsschließungen – wie die von Rheinhausen – nicht verhindern konnte. Schulze recherchiert recht journalistisch, doch mitunter kommt am Ende eher Literatur dabei heraus. So, wenn er ähnlich Bert Brechts lesendem Arbeiter fragt, was aus dem flammenden Streikredner nach seiner letzten Rede wurde. (Er machte sich im Recycling selbständig, ging später bankrott.)

Irritierender Namensgeber

Schulze irritiert, daß Alfried Krupp von Bohlen und Halbach immer noch Namensgeber von Essener Einrichtungen wie der Philharmonie ist, obwohl er nach dem Krieg als Kriegsverbrecher eingestuft und interniert wurde. Ebenso aber registriert er auch, daß Berthold Beitz, der legendäre Krupp-Generalbevollmächtigte, in der Nazi-Zeit viele jüdische Mitarbeiter vor der Deportation bewahrte, indem er sie als betrieblich unabkömmlich meldete. Beitz’ Liste war jener Schindlers ähnlich.

Schulzes Krupp-Geschichte hat, wie einige andere Beiträge im Buch auch, in etwa den Umfang und Rechercheaufwand einer profunden schulischen Hausarbeit. Schlußendliche Wertungen bleiben aus, eher fällt dem Autor auf, daß die Menschen einander doch recht ähnlich sind, im Osten und im Westen.

Emscher-Renaturierung in allen Details

Den Duisburger Hafen besichtigt er, er schreibt über schulische Konzepte in schwierigen, durch Migration geprägten Stadtteilen, läßt sich von einem pensionierten Polizeichef spezifische Probleme mit arabischer Clan-Kriminalität erklären, ist schwer beeindruckt von der Emscher-Renaturierung. Bei letzterer hat er aus Schriften der Emschergenossenschaft abgeschrieben (bzw. ausführlich zitiert), und das teilt er auch ausdrücklich mit. Da geht es um die komplexe Technik, die die Reinigung der Emscher möglich macht, und wer so viel Technisches nicht wissen will, mag diesen Abschnitt getrost überblättern. Der Dichter selbst rät dazu.

Leider tut er gleiches nicht, wenn es um unorthodoxe Grundschulpädagogik geht, die weitgehend ohne deutsche Sprache auskommen muß. Da wird der Text ausladend und detailverliebt. Seitenlang beschreibt er fast wie ein Manual das Procedere, ohne nach dem theoretischen Konzept zu fragen, das dem Ganzen doch sicherlich zugrundeliegt. Hier wäre Raffung ein Gewinn – oder à la Kläranlage der technische Hinweis an pädagogisch Desinteressierte, wieviele Seiten man überblättern kann.

Ein Fan von Borussia Dortmund

Der Schriftsteller sitzt im Orchestergraben und besichtigt einen Soldatenfriedhof; die naturgemäß abenteuerliche Geschichte eines DDR-Flüchtlings, der damals über Ungarn ins Revier kam, gelangt zum Vortrag, und dann ist da natürlich der Fußball. Schulze offenbart sich als Fan von Borussia Dortmund, und deshalb gibt es auch die entsprechenden Spielberichte. Die aber sind so anders nicht als jene, die man schon kennt, gelbe Wand und so weiter. Wiederum bleibt festzustellen, daß das tägliche Leben im tiefen Westen so anders nicht zu sein scheint als im Osten der Republik.

Die Liebe zu den Büchern

Ein nostalgischer Schlußakkord schließlich ist dann der Besuch in Helmut Loevens Duisburger „Weltbühne“, einer der letzten dezidiert linken Buchhandlungen. Kommunistische Literatur aus aller Welt, gut behütet und geordnet, unendlich wertvoll und kaum noch nachgefragt. Loeven und Schulze – mehrfach begegnen sich hier zwei Buch-Afficionados, und wenn sie sich ihre Vorlieben eingestehen, ist das fast schon ein intimer Moment, bei dem der Leser stört.

Der junge Dortmunder Bundestagsabgeordnete

Merkwürdig geriet, für Dortmunder zumal, der allerletzte Teil des Buches. Da besucht Ingo Schulze den langjährigen Dortmunder Ex-Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und läßt sich von dem – widerstandslos, könnte man fast sagen – in den Block diktieren, wie das alles begann und sich eher unglücklich fortsetzte. Ohne in Details gehen zu wollen sei angemerkt, daß die Geschichte des SPD-Abgeordneten Bülow, der die letzten drei Jahre als Parteiloser (bzw. als Neumitglied von DIE PARTEI) in vielen Punkten auch anders erzählt werden könnte. So war seine Nominierung zumindest nicht nur Folge persönlicher Beliebtheit, sondern auch Resultat einer neuen Rekrutierungsstrategie der Partei, die unbedingt jünger und weiblicher werden wollte und alte Schlachtrösser wie Bülow-Vorgänger Hans Urbaniak dafür gerne in die Wüste schickte. Möglicherweise hat dieser recht senkrechte Start dem jungen Bülow nicht gutgetan, hat ihn überfordert, und möglicherweise wäre Schulze dieser alles in allem doch recht bizarren Politikerkarriere durch kluge Nachfragen näher gekommen als durch unkritisches Protokollieren. Nur so viel zu diesem Teil des Buches.

Wertvolle Fleißarbeit

Nun gut. Um „Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ ging es, und da ist der Dichter in seinen Entscheidungen frei, was er aufzeichnen möchte und was nicht. Natürlich hätte man sich auch Beiträge vorstellen können, etwa zum Straßenverkehr (Schulze ist notorischer ÖPNV-Nutzer oder Mitfahrer) oder zur Kleinkunst, beispielsweise. Trotzdem geriet Schulzes Buch alles in allem zu einer Fleißarbeit, wohltuend in seiner durchgängigen Sachlichkeit – eine wertvolle Ergänzung der Regalabteilung mit den regionalen Schriften.

  • Ingo Schulze: „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“, Wallstein Verlag, 344 Seiten, keine Bilder, 24 €.



Alles bergen, was nicht vergessen werden soll: „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“

Als Marcus Antonius in Ägypten ankam, war Rom zwar das Zentrum des größten Reiches im Mittelmeerraum. Aber eigentlich war es nur ein Labyrinth aus schlammigen Gassen. In Alexandria gab es hingegen Paläste, Tempel, Denkmäler – und eine Bibliothek, in der das Wissen der Welt gespeichert und dem Vergessen entrissen wurde.

Marcus Antonius, vom Wunsch beseelt, seiner Geliebten Kleopatra, die Sinnlichkeit und Kultur auf einzigartige Weise verkörperte, ein besonderes Geschenk zu machen, entschied sich für etwas, was die ägyptische Herrscherin nicht mit gelangweilter Mine zur Kenntnis nehmen konnte: Er ließ ihr 200.000 Bände für die Bibliothek zu Füßen legen, denn: „In Alexandria waren Bücher Treibstoff für Leidenschaften.“

Auch das Internet ist eine Bibliothek

Die spanische Autorin Irene Vallejo kennt viele solcher Legenden und Anekdoten, Mythen und Märchen, die sich um Politik und Sex, Geschichte und Literatur drehen, die eine Hymne auf das Buch singen und eine „Geschichte der Welt in Büchern“ erzählen. Das Buch, das viele Formen annehmen und aus Stein und Ton, Schilf und Seide, Leder und Holz gefertigt sein kann, ist zu einem Artefakt der Verständigung und einem Hort des Wissens geworden, hat sich im Laufe der Jahrtausende bewährt, ist unser „Verbündeter in einem Krieg, der in keinem Geschichtsbuch steht“: dem „Kampf um die Bewahrung unserer wertvollsten Schöpfung: der Worte, die kaum mehr als nur ein Lufthauch sind; der Fiktionen, die wir erfinden, um dem Chaos einen Sinn zu geben und in ihm zu überleben.“

Das Gerede vom Aussterben der Bücher, die durch elektronische Geräte ersetzt werden, entlockt Irene Vallejo nur ein müdes Gähnen. In „Papyrus“, ihrer abenteuerliche Reise durch das Universum der Bücher und Bibliotheken, in der Homer und Seneca, Sappho und Aristophanes genauso ihren Platz finden wie Paul Auster und Stefan Zweig, Mary Shelley und Annie Ernaux, sagt sie mit mildem Lächeln, dass das Internet auch nichts anderes ist als eine große Bibliothek, in der sich nur zurechtfindet, wer die Pfade kennt und die Zeichen deuten kann.

Eine Erfindung, die sich nicht mehr verbessern lässt

Eine Bibliothek ist für Vallejo der „Zufluchtsort, an dem wir all das bergen, was wir zu vergessen fürchten. Die Erinnerung der Welt. Ein Damm gegen den Tsunami der Zeit.“ Sie hält es mit Umberto Eco, der meinte, das Buch sei „ein technisch vollendetes Meisterwerk (wie der Hammer, das Fahrrad oder die Schere), das sich, soviel man auch erfinden mag, nicht mehr verbessern lässt.“ Seit die alten Ägypter entdeckten, dass sich aus den am Nilufer wachsenden Schilfhalmen Material zur Beschriftung fertigen ließ und sich die Papyrus-Rolle wunderbar eignete, um mit Feder und Tinte Gedanken zu fixieren (und nicht mehr umständlich in Stein oder Ton zu ritzen), war der Siegeszug des Buches nicht mehr aufzuhalten.

Alexander, der von Makedonien auszog, die Welt zu erobern, schlief stets mit einer Ausgabe von Homers „Ilias“ und einem Dolch unterm Kissen. Sein Verlangen nach dem Abwesenden und Unerreichbaren trieb ihn von einer Schlacht und einer eroberten Region zur nächsten. An Ägyptens Küste, wo sich Sand und Meer trafen und nichts außer Ödnis war, entschied er, eine neue Stadt zu bauen und eine Bibliothek, in der das Wissen der Welt vereint werden sollte. Dass heute niemand mit Gewissheit sagen kann, wie sie gebaut war und was sie beherbergt hat, ist eine andere Geschichte. Auch davon handelt Vallejos Buch. Eine Hommage, so spannend wie ein Abenteuerroman.

Irene Vallejo: „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“. Aus dem Spanischen von Maria Meinen und Luis Ruby. Diogenes Verlag, Zürich, 746 Seiten, 28 Euro.




Ein paar Gedanken (und Gefühle) bei Durchsicht meiner Büchersammlung

Vor einem Umzug kommt man schon mal auf die Idee, seine Bücher einer Revision zu unterziehen. Um vielleicht „Ballast“ abzuwerfen. Oder auch nicht.

Ein Kernsatz beim Sortieren bemisst sich vorwiegend am Bauchgefühl: Werde ich wohl jemals wieder in dieses Buch hineinsehen? An den Rändern der Sammlung sind mit der Zeit unscharfe Zonen entstanden, in denen sich Bücher gleichsam nur noch versteckt halten und schlotternd auf Nicht-Entdeckung hoffen. Ha! Die sollen mich kennen lernen.

Doch Vorsicht, nichts überstürzen: Denn viele dieser Bücher gehören mehr oder minder zu meiner Biographie. Auch wenn es nicht samt und sonders literarische Gipfelwanderungen sind.

Was muss man in Reichweite haben?

Die großen „Klassiker“ aus allen Zeiten bis in die Gegenwart bleiben selbstverständlich im Fundus. Auch die halbwegs großen. Alles natürlich ziemlich subjektiv betrachtet.

Da türmt sich einiges auf. (Foto: Bernd Berke)

Da türmt sich einiges auf. (Foto: Bernd Berke)

Doch hat sich – nicht zuletzt im Gefolge dieser Leitfiguren – der (literarische) Geschmack entwickelt, so dass man die Schöpfungen eines gängigen „Kult“-Autors wie etwa Nick Hornby nicht mehr unbedingt in den Regalreihen wissen möchte, so sympathisch er als Mensch, Rock- und Fußballkenner und überhaupt als Zeitgenosse auch sein mag. Ich bin halt zu dem Schluss gekommen, dass ich seine gesammelten Werke nicht in Reichweite haben muss.

Von salbadernden Gestalten wie Paulo Coelho mal ganz zu schweigen. Doch dessen Bücher muss man ja gar nicht beiseite stellen. Weil sie hier gar nicht erst vorhanden sind. So viel leserliche Überheblichkeit muss jetzt einmal sein.

Als die Lesezeit unendlich war

Als Student und in vielen folgenden Jahren hat man die Büchersammlung unentwegt anwachsen lassen. Man hatte ja noch so unendlich viel Zeit zum Lesen. Hat man jedenfalls gedacht. Später hat man geglaubt und den Gedanken geradezu gehätschelt, dass man eine gewisse Reserve an noch nicht gelesenen Büchern haben müsse; was ja auch stimmt.

Doch nun, da Begrenzungen sichtbar und spürbar werden, will man seine knappere Zeit erst recht nicht mehr mit minderen Hervorbringungen verschwenden. Und also trennt man sich ziemlich leichten Herzens von einigen. Vor allem von so manchen Sachbüchern, die mitunter sehr schnell gealtert sind. Auch ertappt man sich bei selektiven Gedanken der fragwürdigen Art. Gehört die oder jener nicht zum bloßen „Mittelfeld der Literatur“?

Rasch zum Perspektivenwechsel. Allmählich muss man auch daran denken, Erben zu entlasten. Ich gestehe freimütig: Die beileibe nicht geringe Bibliothek meiner Mutter, die freilich ganz andere Autoren und Schattierungen bevorzugte, habe ich – bis auf wenige antiquarische Bände – nicht übernommen. Es hätte, mit meinen Beständen zusammengerechnet, ohnehin das vernünftige Maß überstiegen.

Das mitleidige Lächeln der Jüngeren

Sichtet man seine Bücher einmal gründlicher, so tauchen einige auf, die man verloren glaubte oder vergessen hatte. Ich sortiere Belletristik nach Autorenalphabet und Sachbücher grob oder fein nach Themen. Da gerät beim Hin und Her der Zugriffe schon mal etwa ins Rutschen. Und siehe da…

Man wird von etlichen jüngeren Leuten bestenfalls mitleidig belächelt, weil man sich überhaupt mit solchen Gedanken martert und sich solche Mühe gibt. Warum denn noch Texte auf Papier? Warum solche tonnenschweren Lasten bei einem Umzug? Ach, es ist die schiere Lebensgewohnheit. Früher einmal galten ordentlich bestückte Bücherwände nicht nur in Kulturmagazinen und Feuilletons als Zeichen. Wofür nochmal?

Kohleofen und Zigaretten

Viele Bände – vor allem Taschenbücher – haben die Jahre nicht schadlos überstanden. Einige überwinterten vor Zeiten noch in einem Zimmer mit Kohleofen, man sieht’s ihnen an. Andere haben über Jahrzehnte Zigarettenrauch in sich gesogen und sind auch sonst vergilbt. Wer weiß, ob nicht auch die früher so rußig-giftige Ruhrgebietsluft manchen Exemplaren schwer zugesetzt hat. Jaja, der regionale Aspekt waltet auch hier.

Fraglich ist, was man mit den aussortierten Büchern machen soll. Sicherlich wird man versuchen, die besser erhaltenen zu spenden – beispielsweise an chronisch unterfinanzierte Stadtteilbibliotheken, Gefangenen-Büchereien, Läden von Hilfsorganisationen wie Oxfam usw.

Ehrfurcht vor dem Buch an sich

Heute gibt es zudem kommerzielle Dienste, die Bücher kostenlos abholen, aber nur Cent-Beträge pro Exemplar bezahlen. Jedenfalls scheut man sich immer noch, sogar übel zugerichtete Bücher so mir nichts, dir nichts in den Papiercontainer zu werfen.

Einst ist einem Ehrfurcht vor Büchern eingeflößt worden. Davon ist noch etwas übrig. Die Heiligkeit gewisser Texte. Die Vorstellung, dass Anhänger mancher Schriftsteller so etwas wie eine geheime „Kirche“ bilden können. Ihr kennt das ja.

Habe ich schon den Spruch gebracht, dass man Bücher eh nicht mit ins Jenseits nehmen kann? Nein? Dann sei es jetzt nachgeholt. Wisset also, dass man Bücher nicht mit ins Jenseits nehmen kann.




Dienstbereit bei Tag und Nacht – Buch über die ersten 390 Folgen der „Tatort“-Reihe

Von Bernd Berke

„Tatort“-Experten, bitte mal herhören! Wer kennt die Kommissare Bergmann und Sander? Wer weiß, für welche ARD-Sender sich die Ermittler Schnoor, Bock, Enders und Kasulke ins Zeug gelegt haben? Harte Nüsse, nicht wahr? Nun ja, am nächsten Sonntag kommt bereits der 400. „Tatort“-Fall ins Erste Programm. Da verliert man den Überblick.

Zumal, wenn es sich um Kommissare handelt, die (wie die Genannten) nur einen einzigen oder gerade mal zwei Auftritte hatten und die man daher längst vergessen hat.

Beileibe nicht jeder war eben ein Götz George alias „Schimanski“ (29 Einsätze bis 1991, darin exakt 51 Flüche mit dem Kraftwort „Sch . . .“) oder ein Manfred Krug, der als „Stöver“ (NDR) mit 34 Fällen den Reihen-Rekord hält.

Der Erinnerung hilft jetzt das Buch „Tatort – Krimis, Köpfe, Kommissare“ (Henschel Verlag, 272 Seiten, 39,90 DM) auf die Sprünge. Lexikalischer Fleiß war hier am Werk, denn der Fan mag’s gern komplett: Autor Holger Wacker hat die Archive durchkämmt und liefert knappe Inhaltsangaben sowie Besetzungslisten zu den ersten 390 „Tatort“-Sendungen, und zwar stets, ohne Täter zu verraten. Schließlich gibt’s ja in jeder Woche mehrere Wiederholungen.

Einleitende Beiträge (viel zu hochtrabend „Essays“ genannt) skizzieren einige „Tatort“-Grundlinien. Beispiel: Die bisher 62 Kommissare, darunter lediglich sechs Frauen, waren stets Tag und Nacht dienstbereit. Kein Wunder, daß kaum eine(r) in traditioneller Ehe lebte. Scheidungen und mehr oder weniger wechselhaftes Single-Dasein waren und sind die Regel.

Erik Ode als „Der Kommissar“ im ZDF war seinerzeit so quotenträchtig, daß die ARD händeringend nach einer Antwort suchte. Und so gab s am 29. November 1970 mit Kommissar Trimmel und seinem „Taxi nach Leipzig“ das Debüt des Dauererfolgs, der nicht zuletzt seine Kraft aus regionaler Vielfalt bezieht. Ein „Bulle“ in Bayern ist eben anders als einer in Kiel, Duisburg oder Essen. Übrigens: Dezentere Leute wie Klaus Schwarzkopf als „Finke“ und Hansjörg Felmy als „Haferkamp“ zählten zu den allerbesten. Ist jemand anderer Meinung?

In Sachen Zeitgeist höchst ergiebig wäre eine vergleichende Untersuchung etwa zum Wandel der Kleidung und Möblierung, der Rauch-, Trink- und Tischsitten oder zum Umgang mit den Chefs im „Tatort“. Wann gibt’s dazu ein Buch?