Mit Lust und Leid gegen die starre Moral der Samurai – „Bilder der fließenden Welt“: Holzschnitte aus Japan in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Wogende Leiber, stürzende Linien, wilde Begattung, gewaltsame Akte. Was die Hersteller japanischer Farbholzschnitte Im 19. Jahrhundert druckten, ist nichts für zarte und prüde Gemüter. Doch die Oberhausener Ausstellung dieser Blätter bietet mehr als Sex und Crime mit historisch-exotischer Note.

Der Sog solcher Darstellungen gleicht fast der betäubenden, sinnesraubenden Wirkung neuester Comics oder Videos. Zuweilen ist alles in gegenläufiger, expressiver Bewegung begriffen, man weiß nicht, wohin man zuerst schauen soll, der Blick wird hin- und hergerissen. Grelle Farbigkeit verstärkt die Effekte.

Drastisches Beispiel: Ein Herr scheint – sehr züchtig ausgedrückt – von verschiedenen Seiten zugleich die Dame zu bestürmen, und die biegt ihren Körper, als bestehe sie aus flüssigem Stoff. Pornographie? Nicht nur. Diese verwirrende Mehrfach-Ansicht geschlechtlicher Begegnung ist ein mit genuin künstlerischen Mitteln gesteigerter Ausdruck höchster Lust. Ein bloßes Abkupfern sexueller Wirklichkeit wäre nicht halb so aussagekräftig.

Und natürlich wollen uns die Ausstellungsmacher mit ihrer Schau (einem Seitenstück zu den Oberhausener Kurzfilmtagen mit deren Japan-Schwerpunkt) nicht nur in sündige Erregung versetzen, sondern möglichst auch zum Nachdenken bringen. Besagte Szene stammt nämlich aus einem Lehrbuch der Liebeskunst und müßte im Zusammenhang betrachtet werden. Da geht es nämlich nicht nur um „das Eine“, sondern ums ganze Drum und Dran zwischen Mann und Frau.

Die Gier des fremden Blicks

Doch was taten die Europäer, als sie solche Bilder in die Finger bekamen? Sie rissen sie gierig aus dem Zusammenhang und begafften sie einzeln. Erst so wurden wirklich Ferkeleien daraus.

Ganz abgesehen davon, daß zahlreiche meditative Landschaften oder poetische Schilderungen (z. B. „Die 32 Schönheiten der Frau“) zur Ausstellung gehören, haben auch gröber gestrickte Darstellungen ihren politisch-kulturellen Hintergrund. Es waren nämlich bildliche Selbstaussagen eines aufstrebenden Bürgertums, das gegen die starren Kunst- und Lebens-Regeln des herrschenden Samurai-Adels seine „Bilder der fließenden Welt“ (Ausstellungstitel) setzte. Pralle Darstellungen von Eros, Leben und Tod sollten die verkarsteten Verhältnisse zum Tanzen bringen.

Ähnliche Zwecke verfolgte das Kabuki-Theater, dem eine ganze Bilderabteilung gewidmet ist. Hier spielten ausschließlich Männer, und am liebsten spielten sie Phantasien über ihre Wunschfrauen, nämlich dienstbare Kurtisane – wie denn überhaupt die ganze Welt dieser Bilder eine Beschwörung der (un)frommen Wünsche ist; vom männlichen Gemächt in Übergröße bis zur allzu schönen Landschaft.

Die Fremdheit der Erscheinung und die bildnerischen Mittel mildern indes für unsere Augen den Eindruck des Trivialen. Der expressive, vom bloßen Abbild gelöste Einsatz von Farbe und Linie faszinierte ja schon Europas Heroen der Moderne: Van Gogh, Munch, Schiele und Toulouse-Lautrec, um nur einige zu nennen, bezogen hier Anregungen. Und in der Tat läßt sich die Entwicklungslinie verlängern bis hin zur Ästhetik von Comic-Strips und Video-Clips.

Folglich zeigt man in Oberhausen auch Beispiele heutiger japanischer Vidcokunst, die mit der Holzschnitt.Tradition konfrontiert werden. Mal aggressiv, mal ironisch, mal übersteigcrnd, mal die Bilderflut bremsend – so vielfältig setzen sich die Künstler mit den trivialen Vorläufern auseinander. Eine durchaus produktive Reibung zweier Massenkünste aus verschiedenen Zeiten.

Kleine Kunst am Gürtel

Am Schluß kann man eine Kollektion von Netsuke sehen, aus Elfenbein und Holz geschnitzte Gürtelschmuck-Plastik. Hier findet sich das Universum der gewalttätigen Helden und schönen Frauen, der Mythen, Hexen, Drachen und Dämonen im Kleinstformat wieder. Niedlicher Alltagskitsch ist dies, sozusagen Gartenzwerge für den Gürtel.

„Bilder der fließenden Welt“. Japanische Farbholzschnitte und Videokunst. Städtische Galerie Schloß Oberhausen (Konrad. Adenauer-Allee 46 / Tel.: 0208/825.2723). Bis 5. Juni (di-so 10-18 Uhr, do 10-20 Uhr). Eintrittt frei, Katalogheft 8 DM.




Westfalens Gesellschaft zur Goethezeit – auf Bildern von Johann Christoph Rincklake

Von Bernd Berke

Münster. Westfalens Adel ging um das Jahr 1800 mit der Zeit. Man hatte schließlich „seinen“ Rousseau gelesen und kehrte auch dann „zurück zur Natur“, wenn man sich porträtieren ließ: Nun getrauten sich auch Damen von Stand, inmitten ihrer Kinderschar oder gar im „Zustand der Hoffnung“ vor den Maler zu treten.

Es war aber zugleich die Ära, in der das Selbstbewußtsein des westfälischen Bürgertums wuchs. Nur: Statt der Wappen, die die adeligen Herrschaften vorweisen konnten, staffierten sich Bürgersleute fürs Konterfei mit Signalen für erbrachte „Leistung“ aus. Ein wissenschaftliches Buch für den Herrn, ein Strickstrumpf für die Dame – und schon war die Heraldik wirksam ersetzt.

Westfalens wohl bester Porträtmaler zur „Goethezeit“ hieß Johann Christoph Rincklake (1764-1813). Sein Werk wird jetzt in einer Ausstellung des Westfälischen Landesmuseums fur Kunst und Kulturgeschichte dokumentiert (23.9. bis 4.11.). 150 Bilder sind zu sehen, darunter 100 bisher unbekannte Werke, die sich zu 90 Prozent noch in Privatbesitz (meist Nachfahren der Porträtierten) befinden. Die Bilder ergeben ein Panorama der westfälischen Gesellschaft – von Ansichten derer zu Romberg, Westerholt oder Heeremann bis hin zur Wirtstochter und zur Dortmunder Kaufmannsfrau.

Obwohl Rincklake eine Akademieausbildung (Lehr- und Wanderjahre in Dresden, Düsseldorf, Wien) vorweisen konnte, sind die Exponate weniger unter künstlerischen als unter regionalgeschichtlichen Aspekten aufschlußreich. Gesellschaftliche Umbrüche nach der Französisehen Revolution, neue Rituale der Trauer um Verstorbene oder auch das Geschlechterverhältnis jener Zeit können oft anhand unscheinbarer Details nachvollzogen werden. Beispiel: Selbst Schriftstellerinnen wurden damals nicht etwa mit Symbolen intellektueller Betätigung wie Feder und Tintenfaß abgebildet, sondern bestenfalls mit einer Leier.

Pünktlich zur Ausstellung ist ein Buch über Rincklake erschienen (Verfasserin: Hildegard Westhoff-Krummacher; Preis des Bands 98 DM, ab 1985 etwa 120 DM). Der Ausstellungskatalog in Münster kostet 15 DM.