Keine Erlösung: Webers „Freischütz“ als ausweglose Endlosschleife der Gewalt

Blutiges Kugelgießen: Maximilian Schmitt (Max) und Heiko Trinsinger (Kaspar) in Webers „Freischütz“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Martin Kaufhold

Jetzt würde er gern wieder durch die Wälder und Auen streifen, Max der Jägerbursche. Allein: Auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters ist der Wald zu einem einsamen dürren Ast verdorrt. Und die Auen liegen hinter einem düsteren Dorfanger, umstellt von schwarzen Haussilhouetten.

Ein „Exit“, wie mit Kreide an die Wand geschrieben, öffnet sich da nicht. GOTT steht in Spiegelschrift an der Wand, neben einem Kreuz. Den haben die Menschen also auch hinter sich gelassen, die sich „in Güte und Liebe“ lustvoll gezwungener Gewalt und kollektivem Sex hingeben. Allerlei magischer Krimskrams hilft nicht aus der Not: Das Pentagramma macht dem Teufel keine Pein, an die Wand genagelte Tierkörperteile setzen keine rettende Kräfte frei. Und das Böse spricht erst im Kollektiv und dann aus einem Wesen, das man im weißen Kleid als die reinste Unschuld betrachten würde. „Hier bin ich.“

Heiko Trinsinger als Kaspar. Foto; Martin Kaufhold

Tatjana Gürbaca hat in Essen aus Webers „Freischütz“ eine hoffnungslose Dystopie gemacht, aus der niemand entkommt. Das Kreuz an der Wand, an dem erst Max am Pranger steht, später Agathe gebannt wirkt, ist ein Passions-, aber kein Erlösungszeichen. Die Menschen wiederholen ihre Traumata, ihre uneingestandene Schuld, ihre verborgenen Qualen. Die Wolfsschlucht ist kein ferner Ort, sondern Zentrum der Gesellschaft, die ihre verdrängten Erinnerungen ritualisiert hat und von ihnen geschüttelt wird. Bis ins vierte Glied, so sagt die Bibel, würden die Sünden der Väter gerächt – und was damit gemeint ist, lässt Gürbaca auf der Bühne sehen: Die Untaten ereignen sich wie in einer traumatisierten Seele immer wieder. Gewalt und Erniedrigung in Endlosschleife.

Deutscher Wald oder Gefängnisdraht?

Am Ende kommt doch so etwas wie der „deutsche Wald“ zurück, oder ist es die Projektion von Stacheldraht? Klaus Grünbergs Bühne versinkt in einem schwarz-weißen Rauschen, aus dem sich wie Erinnerungs-Blitzlichter Bilder und Szenen manifestieren und wieder verschwinden. Gürbaca zertrümmert so die Erzählung des glücklichen Endes. Wer da auf wen oder was seine Hoffnung setzt, ist nicht mehr entscheidend. Der Weg hinaus ist ein Gleis, das in graue Ferne führt.

Oder endet es, wie eine Äußerung Gürbacas im Programmheft nahelegt, in Auschwitz? Die Romantik als Vorbereitung des deutschen Chauvinismus und letztendlich der Weltkriege und des Völkermords ist die These, mit der die Regisseurin ihre Inszenierung belädt und die sie mit der Projektion andeutet. Doch es gibt noch ein szenisches Signal: Die weißen Rosen sind erst zum Schluss zum Kranz gebunden: Es ist eine Totenkrone, ein Grabkranz oder was auch immer, das einsam vor der schwarzen Bühne leuchtet. Rettung ist in dieser Welt nicht möglich, vielleicht – das könnte man aus dem Rosenkranzmotiv als vage Hoffnung herauslesen – in der jenseitigen?

Kugeln aus blutiger Brust

Die unauffälligste Gestalt in dieser unheilvollen Welt ist Max: Sieht er den Probeschuss als Ausweg? Maximilian Schmitt beschwört die Erinnerung an eine unbeschwerte Existenz und seine Verzweiflung hingebungsvoll sorgfältig gestaltet und in der Tongebung frei. Ihm wühlt Kaspar in der Wolfsschlucht mit blutigen Händen die Freikugeln aus dem Körper, ein brutales Bild der inneren Not, die den dunklen Jägerburschen treibt. Heiko Trinsinger hat in seinem üppigen Bariton die abgründige Farbe der Drohung, den grinsenden Glanz der tückischen Trinksprüche und den verächtlichen Sarkasmus eines Menschen, der im Kampf ums Überleben alle Illusionen verloren hat – bis auf die, Samiel könne einen Ausweg öffnen und ihm doch noch die Frist verlängern.

Gürbaca betont die im Libretto nur angedeutete Dreiecksbeziehung zwischen den beiden Männern und Agathe: Kaspar tanzt am Ende des ersten Bildes mit ihr hinaus; in „Leise, leise“ lösen sich Max und Kaspar aus dem Schatten der Häuserzeile zu einem surrealen Trio mit Agathe. Hoffnung, Rettung verspricht sie sich wohl von Max, denn wenn all ihre „Pulse schlagen“, packt sie einen Koffer – eine jener Chiffren, die Gürbaca in überbordender Detailfülle einsetzt und die später in den „lebenden Bildern“ des Finales den Zuschauer nur noch überfluten. Rebecca Davis singt eine leichtgewichtige Agathe mit schlankem Ton, in den großen Bögen mit angefochtener Substanz und einem soubrettigen Anklang, in dem sich andeutet, was in forcierter Höhe bestätigt wird: Mit der Fundierung der Stimme im Körper ist es nicht weit her.

Befeuerte Musik

Kilian im Soldatenrock (zeitlich nicht festgelegte Kostüme: Silke Willrett), also alles andere als ein des Schießens ungeübter Bauer, ist von Rainer Maria Röhr mit schneidend greller Stimme passend gezeichnet; dem Fürsten, der sich vornehmlich um seinen Braten kümmert, gibt Tobias Greenhalgh nachdrückliche Sätze. Kuno (Karel Martin Ludvik) und die Schlüsselrolle des Finales, der von Christoph Seidl ansprechend gesungene Eremit, sind in diesem Konzept zu szenischer Blässe verurteilt. Die Brautjungfern sind ein Haufen graumausiger, streng gekleideter, aggressiver Frauen, aus denen Uta Schwarzkopf und Helga Wachter solistisch heraustreten. Auch Wendy Krikkens Ännchen kann szenisch kaum Profil gewinnen; gesanglich passt ihre frische, leichtgewichtige Stimme eher zu ihrem Auftritt im ersten Aufzug als zur ironisch-dramatischen Schilderung von „Nero, dem Kettenhund“.

Lustvolle Gewalt, aber „alles in Liebe und Güte“: Der Chor des Aalto-Theaters hat im „Freischütz“ eine Hauptrolle. Foto: Martin Kaufhold

Mit Chor und Statisterie hat der Leiter der Wiederaufnahme, Sascha Krohn, ganze Arbeit geleistet: Die exaltierte Bewegungsregie der Wolfsschluchtszene und die rasch wechselnden Positionen in den Bildern des Finales funktionieren. Auch musikalisch wirkt der Chor, einstudiert von Jens Bingert, auf der Höhe. Die Premiere im Dezember 2018 hatte Essens GMD Tomáš Netopil geleitet. Bei der Wiederaufnahme – passend zum 200. Jahrestag der Uraufführung des „Freischütz“ – steht sein Bremer Kollege Yoel Gamzou am Pult der glänzend aufgelegten Essener Philharmoniker.

Der Beginn der Ouvertüre wirkt zäh, trotz heftigen Körpereinsatzes bleibt die innere Spannung zunächst mäßig. Das ändert sich im Lauf des Abends, den Gamzou mit befeuernder Leidenschaft und energischer Kraft bestreitet, ohne Details zu übergehen oder sich an starren Tempi festzuhalten. Der Jägerchor wird bei ihm mit betonter, stampfender Regelmäßigkeit beinahe zur Parodie eines gemütvollen Männergesangsvereins. Mit diesem „Freischütz“ reiht sich Essen ein in die Bühnen, die in den letzten Jahren ambitionierte Regieansätze und komplexe Deutungen eingesetzt haben, um den Rang von Webers Oper als aktuelles Kunstwerk zu behaupten und zu bestätigen.

Weitere Vorstellungen am 24. Oktober und 14. November.
Info: www.theater-essen.de




Freudiger Schluss, verklärte Wonne: Duisburger Philharmoniker und Axel Kober erkunden die Romantik

Ob Anton Bruckners Siebte Symphonie tatsächlich einer „romantischen Vision“ entspringt, wie der Titel des Sechsten Philharmonischen Konzerts der Duisburger Philharmoniker andeutet, sei dahingestellt: Der Begriff der Romantik ist in der Musik unscharf – und Bruckners gewaltiges Gebilde ließe sich aus guten Gründen ebenso als komplexe Weiterentwicklung formaler Prinzipien der „klassischen“ Komponisten lesen.

Axel Kober, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein und Chefdirigent der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Axel Kober, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein und Chefdirigent der Duisburger Philharmoniker. Foto: Max Brunnert

Selbst der „sehr feierliche“ und „sehr langsame“ zweite Satz verbirgt hinter seinen Wagner-Anklängen einen Sonatensatz, ist also weit mehr als deskriptive Musik von Trauer und Trost.

Aber genau jener zweite Satz, den Bruckner unter dem Eindruck von Wagners Tod am 13. Februar 1883 vollendete, schlägt die Brücke zu Carl Maria von Webers Romantik: Die besteht ja auch nicht nur aus eingängigen Melodien, behutsam dosierter Chromatik, Laut- und Stimmungsmalerei – das beherrscht François Adrien Boieldieu in seiner „Dame blanche“ auch –, sondern aus satztechnisch anspruchsvoller thematisch-motivischer Arbeit. Und die beweist Weber selbst in einem Konzert wie demjenigen in f-Moll für Klarinette, geschrieben für einen der größten Virtuosen aller Zeiten, Heinrich Joseph Bärmann.

Technische Brillanz und Empfindungstiefe

Mit diesem Konzert stellte sich ein junger Solist vor, der seit 2016 Erster Soloklarinettist der Duisburger Philharmoniker ist: Christoph Schneider. Und er erfüllte Webers Komposition mit einer technischen Brillanz und Empfindungstiefe, die eine musikalische Beschreibung schnell an ihre Grenze führt: Das Höhere, Andere, das E.T:A. Hoffmann mit seinem Bonmot vom Ende der Sprache mit romantischem Pathos ausdrücken wollte: Hier ist es spürbar. Der Begriff des „Romantischen“ in der Musik: Hier ist er unmittelbar zu erfahren.

Christoph Schneider. Foto: Duisburger Philharmoniker

Christoph Schneider. Foto: Duisburger Philharmoniker

Bleiben wir also beim dürr beschreibenden Handwerk des Kritikers und bewundern wir den klaren, schwerelosen, aus dem Nichts keimenden Ton im Beginn des Konzerts, der an eine geheimnisvolle Opernszene erinnert. Oder die Läufe, die nicht nur makellos geformt, sondern dazu noch unterschiedlich charakterisiert werden. Oder den ariosen Atem, der manchem Opernsänger blanken Neid ins Herz pflanzen könnte. Den Adagio-Satz, im Tempo treffend, adelt ein ätherisch weicher Ton, ein delikates Piano, schattierungsreicher Klang und eine scheinbar endlos ausgespannte Phrasierung. Und der letzte Satz, ein „Rausschmeißer“ à la Rossini, ist mit Verve gestaltetes Virtuosen-Futter. In der Zugabe, einem Adagio von Bärmann, zeigt Christoph Schneider noch einmal, was mit „Geschmack“ vielleicht ein wenig altmodisch, aber treffend beschrieben werden kann.

Zu Beginn des Konzerts hätte man sich eine der weniger populären Ouvertüren Webers gewünscht, aber diejenige zum „Freischütz“ steht nicht nur emblematisch für die Romantik, sondern verbindet sich durch den Einsatz der Bläser (Hörner, Klarinette) mit dem Solo-Konzert und Bruckners Siebter, in der die „Wagner-Tuben“ eine prominente Rolle spielen. Die Philharmoniker zeigen keine Schwächen im füllig-seidigen Hörnerklang; Chefdirigent Axel Kober lässt allerdings die tiefen Streicher nicht markant genug hervortreten. Das Ganze schließt, wie von Weber vorgesehen, freudig.

Bruckners Satzkunst klar ausmodelliert

In Bruckners Siebter zeigt sich Kober als formsensibler Dirigent. Er nutzt den Klang nicht als Ausrede für mangelnde Artikulation oder nachlässige Ausformung der kontrapunktischen Teile, verfällt aber auch nicht der Gefahr, Bruckners Satzkünste unsinnlich vorzuführen. Im ersten Satz stellt Kober die Themen deutlich vor, macht ihre Gliederung erlebbar und markiert deutlich etwa den Übergang vom ersten zum zweiten Komplex oder den Abbruch vor dem dritten.

An den Höhepunkten, an denen Klang und thematische Dichte kulminieren, drängt sich der Eindruck auf, die Mercatorhalle neige dazu, die Konturen weich zu zeichnen, aber der zweite Satz, das berühmte Adagio, legt nahe, dass auch das Orchester zu wenig entschieden modelliert. Den Höhepunkt mit dem Beckenschlag bereitet Kober dynamisch sorgfältig vor und erklärt ihn damit für strukturell notwendig, nicht lediglich durch den Effekt motiviert. Im schnellen dritten Satz mit dem betonten Trompetenthema und dem frühlingshaft durchsichtig beginnenden, kontrastreichen vierten Satz wählt Kober stimmige Tempi und hält den Blick aufs Geschehen klar.

Die Philharmoniker zeigen schon im aufstrebenden Cellothema zu Beginn, dass sie Bruckner nicht dumpf-massiv, sondern kammermusikalisch leicht, ja bisweilen mit wienerischer Eleganz zu nehmen beabsichtigen. Den Streichern gelingt das ausnehmend schön im zweiten Thema des ersten Satzes und in lyrisch gelösten Momenten des vierten. Die Wagner-Tuben wirken bei ihrem Auftritt eine Spur zu zurückhaltend, aber ihr spröder Ernst wandelt sich im Cis-Dur des ausklingenden zweiten Satzes zu verklärter Wonne.

Beim nächsten Philharmonischen Konzert am 6. und 7. März in der Mercatorhalle Duisburg erklingt Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem mit Christoph Pregardien als Dirigent. Info: https://duisburger-philharmoniker.de/Konzerte/mozarts-requiem-7pk-2018-19




Die Abgründe der Durchschnittstypen: Tatjana Gürbaca inszeniert Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“

"Lebt denn kein Gott?" Max (Maximilian Schmitt) wird von der abergläubischen Dorfgemeinschaft mit Kreuzsymbolen behängt (Foto: Martin Kaufhold)

„Lebt denn kein Gott?“ Max (Maximilian Schmitt) wird von der abergläubischen Dorfgemeinschaft mit Kreuzsymbolen behängt. (Foto: Martin Kaufhold)

„Das Böse ist immer und überall“, sang einst eine Band österreichischer Blödelbarden mit dem schönen Namen Erste Allgemeine Verunsicherung. Das war zwar reichlich unernst gemeint, könnte unter Aussparung der Ironie aber das Motto gewesen sein, dem die Berliner Regisseurin Tatjana Gürbaca in ihrer Neufassung der Oper „Der Freischütz“ folgte. Das Schauerstück von Carl Maria von Weber, das jetzt im Essener Aalto-Theater Premiere hatte, spaltete das Publikum in Buh- und Bravo-Rufer.

Max (Maximilian Schmitt) wird von Ängsten geplagt. (Foto: Martin Kaufhold)

Gottesfern ist die von Ängsten und Aberglauben dominierte Welt nach dem Dreißigjährigen Krieg, in der Gürbaca und ihr Team die Handlung ansiedeln. Damit folgen sie den Vorstellungen des Komponisten und seines Librettisten Johann Friedrich Kind. Umstellt von schwarzen Häuschen mit spitzem Giebel (Bühne: Klaus Grünberg), kämpft der glücklose Jägersbursche Max um die Hand seiner geliebten Agathe, mit dem sinistren Freund Kaspar als zwielichtigem Helfer.

Aber die detailgenau gestalteten Kostüme von Silke Willrett lassen das Geschehen durch die Zeiten wandern. Zunächst klar die Mitte des 17. Jahrhunderts zitierend, rücken sie im Laufe des Abends immer näher an die Gegenwart heran. Am Ende stolpern Durchschnittstypen in Jogginghosen durch das, was vom deutschen Wald noch übrig ist: ein am Boden liegendes Gestrüpp, das allen Darstellern zur Fußangel wird.

Pardon wird nicht gegeben

Die inzwischen mehrfach ausgezeichnete 45-jährige Regisseurin, die ihr Handwerk unter anderem bei Ruth Berghaus und Peter Konwitschny lernte, spürt in der heimlichen deutschen Nationaloper Abgründen nach, die lange vor der berühmten Szene in der Wolfsschlucht wirkmächtig sind. Die Bewohner ihres archetypischen Dorfes sind der eigentliche Albtraum: Sie setzen Max unentwegt zu. Unerbittlicher Erfolgsdruck wird in dieser Gemeinschaft sekundiert von allzu rascher Bereitschaft zu Spott und Hohn. Da können kichernde Frauen in Kittelschürzen noch so hell von veilchenblauer Seide trällern: Der dörfliche Mikrokosmos ist ein finsteres Nest. Pardon wird in dieser Welt nicht gegeben.

Die komplett schwarze Bühne von Klaus Grünberg könnte auch als Kulisse für Otfried Preußlers „Krabat“ dienen. Mit Kreide sind magische Zeichen wie das Satorquadrat und ein Heptagramm an die Fassaden gekritzelt. Den okkulten Symbolen steht ein unvollendetes Kreuz mit der Aufschrift GOTT in Spiegelschrift gegenüber. Mitten auf dem Dorfplatz klafft ein Loch im Boden, aus dem in der Wolfsschluchtszene Düsteres an die Oberfläche steigt.

Blutiges Ritual: Kaspar (Heiko Trinsinger) beim „Gießen“ der Freikugeln. (Foto: Martin Kaufhold)

Dass dies psychologisch gemeint ist, Gürbaca mithin den Menschen selbst als Hort der Dämonen sieht, wird überdeutlich, wenn Kaspar die Freikugeln mit blutigen Händen aus Maxens Körper wühlt. Folgerichtig antwortet Samiel im Aalto-Theater nicht als unsichtbare Stimme aus dem Off. Es ist die Dorfgemeinschaft selbst, die mit dem Rücken zum Publikum die Zahl der Freikugeln mitzählt: seufzend zunächst, schauerlich flüsternd, dann zunehmend wüster und lauter.

Sinnlos gewordene Bräuche

Bis zum fatalen Probeschuss auf die weiße Taube erzählt die Regie stringent von alten Bräuchen und Machtstrukturen, die in einer vom Krieg komplett veränderten Welt schräg und sinnlos wirken. Den Rest der Oper gestaltet sie als Epilog, als eine Folge von Standbildern, die das Happy End durch den Eremiten verneint. Bewundernswert rasch und punktgenau wechseln die Choristen des Aalto-Theaters die Positionen, um diese symbolträchtigen Genrebilder entstehen zu lassen.

Gürbaca und ihr Team bieten so viel Futter für Auge und Hirn, dass es mancherorts gleich für drei Inszenierungen reichen würde. Ohne Schonung sezieren sie dabei Provinzialismus und Neid, kollektive Traumatisierungen, übersteigerte Traditionspflege und eine nachgerade gemütliche Spielart der Grausamkeit. Was „deutsch und echt“, interessiert sie weniger als gesellschaftliche Strukturen, die bis in unsere Zeit hineinwirken.

Kaspar (Heiko Trinsinger,l.) überredet Max (Maximilian Schmitt) zum nächtlichen Ausflug in die Wolfsschlucht. (Foto: Martin Kaufhold)

Das musikalische Niveau steht dem der Inszenierung kaum nach. Der aufstrebende Tenor Maximilian Schmitt ist ein Max, wie man ihn sich nur wünschen kann: mit lyrisch-leuchtendem Timbre, gleichwohl grundiert vom Unterton nagender Ängste. Ihm gelingt das vielseitige, spannende Porträt eines Gequälten, dem der Weg zur Liebe versperrt scheint. Ensemblemitglied Jessica Muirhead findet als Agathe aus dem Ton dunkler Vorahnungen zu den innig leuchtenden E-Dur-Klängen ihrer zentralen Arie („Und ob die Sonne“). Stark auch Heiko Trinsinger, der seinen Kaspar von rau-jovialen Tönen zu dämonischer Kraft steigert. Viel Applaus erntet Tamara Banjesevic für ihre Darstellung des Ännchens, dessen Fröhlichkeit bei ihr weniger naiv als beherzt wirkt.

Schauerromantik trotz Schönklang

Aus dem Orchestergraben steuern die Essener Philharmoniker unter ihrem Chef Tomas Netopil Glanzvolles und Gruseliges hinzu. Hörner und Holzbläser zaubern Waldesidylle herbei, die Streicher spielen mit wendigem Esprit. Gewiss wäre auch eine Lesart mit schärferen Kanten denkbar, aber die Schauerromantik kommt trotz Schönklang nicht zu kurz. Leise Tremoli ziehen auf wie gespenstischer Nebel. Dazu tönt dumpfer Paukenschlag, als stockte das Herz. Die Chöre, ebenfalls in erfreulicher Verfassung, zeigen viele Facetten. Als hohnlachende Dörfler, heitere Brautjungfern und gut gelaunte Jäger sind sie stimmlich präsent, aber auch als flüsternde und stöhnende Untote in der Wolfsschlucht.

Mit einer feierlich-stummen Kranzniederlegung beenden Gürbaca und ihr Team, was sie als „Requiem auf ein Dorf“ bezeichnen. Dazu zeigt eine Videoprojektion Bahngleise, die weiß Gott wohin führen mögen.

(Informationen und Termine: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/der-freischuetz/)




Alles andere als Mainstream: Die Dortmunder Philharmoniker und Andreas Boyde stellen Clara Schumanns Klavierkonzert vor

Am 13. September 2019 wird die musikalische Welt ein markantes Datum feiern können, den 200. Geburtstag von Clara Schumann, geborene Wieck. Als Klaviervirtuosin wie als Komponistin kann sie eine unübersehbare Größe in der Musik des 19. Jahrhunderts für sich beanspruchen.

Clara Wieck im Alter von 15 Jahren. Vor Clara aufgeschlagen ist der Solopart mit dem Beginn des 3. Satzes aus ihrem Klavierkonzert a-moll op. 7. Abbildung von Julius Giere.

Clara Wieck im Alter von 15 Jahren. Vor Clara aufgeschlagen ist der Solopart mit dem Beginn des 3. Satzes aus ihrem Klavierkonzert a-moll op. 7. (Abbildung von Julius Giere)

Clara Schumann ist eine Frau, die durch ihr Lebensschicksal, durch ihre Ehe mit Robert Schumann, durch die vielfältigen Konflikte zwischen herkömmlichem Rollenbild und moderner Emanzipation, in der Spannung zwischen liebender Gattin und arrivierter Künstlerin auch für die Gesellschaftsgeschichte bedeutsam ist.

Die Dortmunder Philharmoniker nahmen das Jubiläum schon vorweg und setzten das einzige Klavierkonzert Clara Schumanns, ihr Opus 7 in a-Moll, ins Zentrum ihres siebten Sinfoniekonzerts.

„weit_sicht“, so das typographisch etwas künstlich aufgepeppte Motto, ist nicht nur im Blick auf 2019 berechtigt, sondern auch in Bezug auf die Musik Schumanns. Das Konzert wirkt alles andere als bloß im damaligen Musik-Mainstream mitschwimmend: Die gerade mal 16jährige Clara Wieck zeigt sich auf Augenhöhe mit Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, dem Dirigenten der Leipziger Uraufführung, mit ihrem künftigen Gatten Robert Schumann oder mit komponierenden Klaviervirtuosen wie John Field. Weitsichtige Musik also, die erahnen lässt, wohin es Clara hätte bringen können, wenn sie nicht „eine Dame“ gewesen wäre und ihr Robert Schumann nicht das Komponieren ziemlich radikal ausgetrieben hätte.

Distanz von sehnsuchtsvoller Romantik

Der Pianist Andreas Boyde öffnet also im Konzerthaus eine musikalische Welt, die geschickt zwischen brillantem Virtuosentum, klassischer kompositorischer Dichte und bewegenden romantischen Anflügen pendelt. Boyde sieht das Stück offenbar weniger in die Farbe sehnsuchtsvoller Romantik getaucht. Die kraftvollen Triolen-Akkorde des Beginns werden nicht durch das glitzernde Leggiero der in die Virtuosenhand geschriebenen Zweiunddreißigstel kontrastiert. Auch die weit ausschwingenden Melodien stellt Boyde eher sachlich fest als sich ihrem schwärmerischen Sog zu überlassen. Aber das „risoluto“ im ersten Satz nimmt er beim Wort, auch den geforderten markanten Anschlag setzt er um.

Andreas Boyde. Foto: Thomas Malik

Pianist Andreas Boyde. Foto: Thomas Malik

Die Crescendo-Decrescendo-Angaben, die scheinbares bloßes Spielwerk beleben sollen, gehen oft unter. Das liegt wohl auch am Dirigenten Cristian Mandeal, den das „Maestoso“ des ersten Satzes zu satt-fülligem Orchesterklang verleitet, der auch ein zähes Tempo wählt, das keine Innenspannung aufkommen lässt. Dem Mittelsatz fehlt die Innerlichkeit, da ist der distanzierende Zugriff zu weit getrieben. Leider fehlt eine Angabe zu der sensiblen Solo-Cellistin – war es Franziska Batzdorf? Und die „Polacca“ im Schlusssatz hätte rhythmischen Biss durchaus vertragen. Man wird, so ist zu hoffen, das Klavierkonzert Clara Schumanns in ihrem Jubiläumsjahr öfter hören und dann vergleichen können.

Verhaltene Delikatesse – öliges Tempo

Passend eröffneten die Philharmoniker ihr Konzert mit Carl Maria von Webers nicht eben häufig gespieltem Konzertstück f-Moll op. 79, ein Werk, das sich eher dem erzählend-variativen Fortspinnen als einer materialorientiert-thematischen Ausarbeitung widmet und das damit für 1821 „modern“ war. Wieder fällt auf, dass die Philharmoniker ihren Klang kaum plastisch staffeln und das ölige Tempo die Wellen spannungsfördernder Agogik glättet.

Der Dirigent Cristian Mandeal war kurzfristig eingesprungen. Foto: Virgil Oprina

Der Dirigent Cristian Mandeal war kurzfristig eingesprungen. Foto: Virgil Oprina

Boyde realisiert am Flügel die verhaltene Delikatesse, die an den irischen Virtuosen John Field erinnert, auch die innere Dynamik seines Parts, vernachlässigt aber das Cantabile und scheut sich davor, auch mal leuchtende Brillanz um ihrer selbst willen zu zeigen. Ein schönes Fagott-Solo und die weich rhythmisierenden Streicher sprechen für die Philharmoniker und ihre Sensibilität für den klanglichen Hintergrund von Webers Musik.

Die Erste Symphonie Johannes Brahms‘ war ebenfalls eine sinnige Wahl, war der gebürtige Hamburger doch offenbar sehr verliebt in Clara Schumann, lebte zeitweise in einer Wohnung mit ihr und ihrer Familie und verkehrte mit ihr, wie viele Briefe bezeugen, als intimer Seelenfreund fördernd, stützend und wohl auch tröstend.

Cristian Mandeal, kurzfristig für den erkrankten Leo McFall eingesprungen, hatte wohl kaum Zeit, das komplexe Werk auszuarbeiten: So blieb es bei einem soliden Dirigat eines erfahrenen Routiniers, ohne persönlich Note, wenn man das ungestaltete Tempo nicht als solche nehmen möchte. Fülliger, pastoser Klang, saftig ausgebreitet, ohne innere Differenzierung, orientiert an den vordergründigen Melodiestimmen, wenig Tiefenstruktur und Trennschärfe: Ein Brahms, der auch in der Behandlung etwa von Bläserstellen im dritten Satz oder den breit ausgekosteten Hörner – die Philharmoniker sind voll bei der Sache – ein wenig „old fashioned“ wirkt. Immerhin gibt’s eine grandiose Steigerung im Finale – der Beifall war gesichert!

Das nächste Philharmonische Konzert in Dortmund am 8. und 9. Mai 2018 bringt unter dem Stab von Gastdirigent Marc Piollet eine weitere Rarität, das Tubakonzert von Ralph Vaughan Williams, dazu Leonard Bernsteins Divertimento für Orchester und die die große Tondichtung „Die Planeten“ von Gustav Holst. Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/8-philharmonisches-konzert-sphaeren-reigen/




Verdorrter Wald, zutiefst gespaltene Welt: Carl Maria von Webers „Freischütz“ am Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und - im Hintegrund - Gregor Dalal als Kaspar in Webers "Freischütz" am Theater in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und – im Hintergrund – Gregor Dalal als Kaspar in Webers „Freischütz“. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Rotgraue narb‘ge Wurzeln strecken nach uns die Riesenfaust: Ein gewaltiger Baum beherrscht die Bühne des Theaters Münster. Er ist entwurzelt, hat im Fallen eine Bresche in einer Mauer geschlagen und zerteilt die Einheit des Raumes. Neblige Dunkelheit, der Schatten eines stattlichen Sechzehnenders taucht auf. Lautlos röhrt der Hirsch zur Ouvertüre.

Die Bühne von Christophe Ouvrard für Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ nimmt von Anfang an für sich ein. Die unheimlich ragenden Wurzeln des Baumriesen, das harte Licht von oben und hinten, das die Konturen gespenstisch belebt, der unfassbar tiefe, in Nichts mündende Raum. Ouvrard arbeitet mit szenischen Mitteln, die zum Naturalismus taugen könnten, aber sofort assoziativ gebrochen, mit symbolischer und metaphorischer Brisanz geladen werden: Natürlich erinnert der Baum an den deutschen Wald, der in Webers „Freischütz“ eine so große Rolle spielen soll. Aber er ist – vielleicht von einem Sturm des „wilden Heeres“ – gefällt und tot. Nur einmal sprießen aus der Baumleiche ein paar frische Zweige, grüne Blätter: O lass‘ Hoffnung …

Dieser verdorrte Wald ist schon lange kein Hort naturschwärmerischer Romantik mehr. Er ist der Ort des Unheimlichen, das die frühere Einheit der Welt zerschlagen hat. Auf der Drehbühne wird das sichtbar: Der Stamm teilt sie in zwei Hälften. In der einen steht die Welt in der Wolfsschlucht-Szene im wahrsten Sinn des Wortes Kopf: Agathes Jagdschlösschen, selbst kein anheimelnder Ort, sondern eine zerstörte Stätte mit letzten Resten von Wohnlichkeit, hat sich gedreht, das Sofa hängt an der Decke, die Lampenschirme des Leuchters werden zu Töpfen. Aus ihnen nimmt Kaspar die Zutaten des zaubrischen Suds, aus dem die Freikugeln gegossen werden.

Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß

Ouvrard fängt in szenischer Symbolik wesentliche Begriffe der Romantik ein. Die Welt ist zutiefst gespalten. Die eine Seite, die des alltäglichen Lebens, ist beschädigt, gestört, von Kräften „höh’rer Macht“ beeinflusst, denen sich die armen Menschen mit Regeln und Ritualen oder – wie Ännchen mit seinem Kettenhund Nero – mit beschwichtigendem Humor zu entziehen suchen. Die sich der „anderen Seite“ bewusst sind, wie Kaspar, versuchen, diese unfassbaren Kräfte zu nutzen, für sich zu bändigen – aber wir wissen, das gelingt nicht: Die siebente Kugel gehört immer dem Bösen, der sie nach seinem Willen lenkt. Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß.

Streng, alt, gespenstergleich: Die Brautjungfern im "Freischütz" in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Streng, alt, gespenstergleich: die Brautjungfern. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Wer den Baumstamm besteigt, mag von oben eine verbindenden Sicht der romantisch zwiespältigen Welt gewinnen. Agathe versucht es, aber es gelingt ihr nicht. Nur der Eremit, der von oben seine weisen Worte strömen lässt, ist eine integrierende Figur: Er und Samiel sind eins, das „Höh’re“ spricht aus ihm, gleich ob Gut oder Böse. In seinem schmutzigweißen Mantel, den kahlen Kopf noch vernarbt vom Teufelsgeweih Samiels, verkörpert er, was den Menschen als Antagonismus, aus der Perspektive einer jenseitigen Welt aber nur als unterschiedliche Aspekte einer Existenz erscheinen mag. Gut und Böse, nicht nur als moralische, sondern auch als prinzipielle Kategorien, heben sich auf – in diesem postmodernen Ansatz ist die Münsteraner Inszenierung von Webers Oper auf der Höhe der Zeit.

Die Regie von Carlos Wagner allerdings erreicht die konzeptuelle Dichte des Buhnenbilds nicht. Sicher: Er will uns klar machen, wie Max am Unerklärlichen scheitert, wie ihn in einer Gesellschaft klarer Vorgaben und eindeutiger Zusammenhänge die Logik des Handelns und seiner Folgen abhandenkommt, wie ihn des Zufalls Hand in die Verzweiflung, sogar zur Frage nach der Existenz Gottes führt.

Wenn der Chor langsam in seinem derben Tanz erstarrt, die Bewegungen fragmentiert wiederholt, dann bei „Durch die Wälder, durch die Auen …“ Paare bildet und langsam hinaustanzt, ist das ein Aufmerksamkeit weckender szenischer Vorgang – aber er wird nicht eingelöst, es resultiert nichts daraus. Wenn zu Beginn ein ausgeweideter Hirsch an den Baumwurzeln aufgehängt wird, denken wir sicher an das „männlich‘ Vergnügen“ der Jagd – aber wenn ein Landmetzger später Schinken und Braten vom Hirsch in die johlende Menge wirft, bringt das die Zuschauer nur zum Lachen.

Lustiges Schießen auf Bierdosen

Agathe ist als Figur spannend angelegt: Sie erscheint im fahlen Mondlicht wie eine Geisterbraut, als sei sie von Heinrich Marschners „Vampyr“ gebissen, aber sie erschöpft sich dann doch in der eher larmoyanten Rolle des schreckhaften „Bräutchens“. Ännchen gibt sich in Jagdhosen und Krawatte sehr männlich, veranstaltet ein lustiges Schießen auf Bierdosen, bleibt aber am Ende als unterhaltsame Opernsoubrette ohne dezidiertes Profil.

Max geriert sich als heillos verunsicherter Jägersjüngling, der in der Wolfsschlucht den Sudel aus Luchs- und Wiedehopfaugen saufen muss und die Freikugeln zuckend in eine Schüssel erbricht – aber die Konturen seines Charakters, sein Zugriff auf das „Andere“ bleiben verschwommen. Kaspar dagegen ist ein saft- und kraftvolles Mannsbild, und Gregor Dalal macht mit seinen darstellerischen Mitteln und seinem unmittelbar wirksamen Sprechen aus ihm eine lebensvolle Persönlichkeit. Carlos Wagners Regie traut dem Stück, aber sich selbst offenbar zu wenig zu: Das Ganze schließt zu offen.

Offene Wünsche auch auf der musikalischen Seite: Stefan Veselka schlägt mit dem Sinfonieorchester Münster ein gemessenes Tempo an, was der Entwicklung der melodischen Thematik und der Ausformung des Klangs zugutekommt. Die Hörner sind lobenswert, die Klarinette hat – mit einem eher hell-fragilen Ton – schöne solistische Momente. Im Lauf des Abends arbeitet Veselka immer wieder harmonische Tiefenstrukturen aus, bringt manche Holzbläserstimme zum Leuchten. Aber der Klang des Orchesters bleibt oft pauschal, der Aufbau innerer Spannung allzu diskret. Entschiedene Akzente, packender Zugriff könnten der Musik auf die Beine helfen.

Innige Agathe, leuchtend singender Max

Münster hat mit Mirko Roschkowski einen seine Partie anstandslos bewältigenden Max: Ohne Forcieren, ohne Gewalt lässt er seinen Tenor leuchten, steigert den Verzweiflungston in der Arie, bringt für die Wolfsschlucht den panischen Unterton in der Deklamation mit. Sara Rossi Daldoss ist eine sehr innig singende Agathe, bei der man manchmal Sorge um die Stütze und den klanglichen Kern der Stimme hat. Ihre zweite Arie nimmt sie weniger vom Legato her, bildet die Töne separiert, um sie mit verschiedenen Farben zu gestalten. Auch wenn so der große Bogen sehr fragil gespannt wird: Der Ausdruck überzeugt. Eva Bauchmüller als Ännchen gewinnt nach manch leichtgewichtigem Ton an Format, singt nach der Pause mit tadelloser Diktion und einem feinen, aber substanzreichem Klang.

Plamen Hidjov ist als Kuno von Statur und Stimme ein würdiger älterer Herr; Sebastian Campione spricht als Samiel die – ansonsten bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichenen – Dialoge ohne „teuflische“ Plattitüde. Als Eremit ist er weniger ein balsamisch strömender als ein schneidend präsenter Bass. Der Opernchor und Extrachor des Theaters Münster – Inna Batyuk hat ihn einstudiert – glänzt in der Eröffnung, fällt aber ausgerechnet im Jägerchor auseinander, weil die Sänger über die ganze Breite verteilt auf der Drehbühne marschieren müssen. Auch das ein Bild, das keinen Bedeutungs-Zusammenhang konstituiert – ebenso wie der finale Moment, als Kaspars Leiche in Brand gesetzt wird und als flackerndes Feuer auf dunkler Bühne die Oper abschließt.

Vorstellungen: 7. und 28. April, 3. und 30. Mai, 20. und 25. Juni, 1. und 13. Juli. Karten: (0251) 59 09-100. www.theater-muenster.com




Mit Glanz und Gloria: Gabriel Feltz, Johannes Moser und die Dortmunder Philharmoniker

Die Dortmunder Philharmoniker. Foto: Magdalena Spinn

Die Dortmunder Philharmoniker. Foto: Magdalena Spinn

Carl Maria von Weber vermerkte einmal, das Anschauen einer Gegend sei ihm wie die Aufführung eines Musikstücks. „Ich erfühle das Ganze, ohne mich bei den es hervorbringenden Einzelheiten aufzuhalten …“ Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz hat diese ästhetische Äußerung Webers wohl etwas zu wörtlich genommen: Die Konzertouvertüre „Der Beherrscher der Geister“ rauscht zu Beginn des Achten Philharmonischen Konzerts in angemessenem Presto vorüber, entbehrt aber jeglicher Binnengestaltung.

Carl Maria von Weber auf einer Darstellung des 19. Jahrhunderts.

Carl Maria von Weber auf einer Darstellung des 19. Jahrhunderts.

In den Tutti denunziert Feltz Webers Orchester als bloßen Lärm, das spannungsvoll tremolierende Crescendo verpufft ohne Wirkung, die Oboe singt, aber schwingt nicht und der abschließende majestätische Choral der Blechbläser bleibt steif. Nicht toll, dieser Konzerteinstieg der Dortmunder Philharmoniker und ihres Chefs.

Die dynamische Unbeherrschtheit schwappt auch noch in den Beginn des Cellokonzerts Antonín Dvořáks hinein, legt sich dann aber, als das Horn sein sehnsuchtsvolles erstes Solo intoniert. Mit den tiefen Streichern gelingen herbe Klangmischungen. Feltz zeigt jetzt, dass er Orchesterfarben passend abmischen kann. Den Beginn des zweiten Satzes phrasieren die Bläser mit weitem Atem. Doch wenn sie von der Pauke flankiert losbrechen, dröhnt das, gemessen am Ton des verhalten gestaltenden Solisten, wieder zu vehement.

Große Kunst am Cello: Johannes Moser. Foto: Uwe Arens

Große Kunst am Cello: Johannes Moser. Foto: Uwe Arens

Der Solist Johannes Moser nähert sich diesem Juwel in der Krone des Repertoires auf ungewohnten, aber schlüssigen und reflektierten Wegen. Bei Moser stehen nicht opulenter Klang und satte Farbe im Vordergrund, auch nicht das Prunken mit einer unfehlbaren Spieltechnik. Sein Dvořák erweist sich als musikalisch durchdrungen, formbewusst angelegt und dann erst, sozusagen auf der zweiten Ebene, mit einem fabelhaften Reichtum an Nuancen und Klangfärbungen gestaltet.

Für den Beginn wählt er einen sämigen, vielleicht etwas zu druckreichen Ton, aber die raschen, kurznotigen Teile des Allegro-Satzes sind präzis ausmodelliert und sicher intoniert. Das schimmernde Mezzoforte der kantablen Episoden erreicht Moser mit einem schnellen, feinen Vibrato – so charakterisiert man Töne! Wenn das Thema im Pianissimo wiederkehrt, beleuchtet er den Klang wieder neu und überraschend.

Mosers melodische Linien sind rein und auf erfrischende Art „sachlich“ gefasst; er schmachtet nicht und meidet das Portamento als allzu feiles Ausdrucksmittel. Sehr verhalten und ohne Anflug von Selbstdarstellung spielt er die Kadenz; er bestätigt damit, wie er das Konzert sieht: als eine Art Requiem Dvořáks für seine Jugendliebe und Schwägerin Josefina Kaunitzová. Deutlich wird diese wehmütige, melancholische Haltung auch im Dialog mit der Solovioline von Shinkyung Kim; der Ton erstirbt in die Finalakkorde des Orchesters hinein. Mit dieser profilierten Deutung hat Moser das Cello-Konzert überzeugend erschlossen.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz. Foto Magdalena Spinn

Dortmunds GMD Gabriel Feltz. Foto Magdalena Spinn

Zum Abschluss eine erfreulich unkonventionelle Wahl: César Francks gewichtiger Beitrag zur Gattung der Symphonie. Selbstredend kosten Feltz und die Philharmoniker vor allem die leidenschaftlichen Steigerungen, die brachialen Aufbrüche, die machtvolle Vehemenz der zyklisch in immer wieder neuem Licht erscheinenden thematischen Einfälle aus. Das geht zu Lasten des impressionistischen Aspekts der Musik Francks, der finessenreichen Farbenspiele, der immer wieder chromatisch unsteten, nervösen Momente, die etwa zu Beginn des zweiten Satzes nicht recht gelingen wollen. Glanz und Gloria behalten die Oberhand und heizen das Publikum im Konzerthaus an, das Orchester und seinen Dirigenten überwältigt zu bejubeln.

________________________________________________

Moser hat das Dvořák-Konzert 2015 übrigens auch aufgenommen. Die CD ist beim Label Pentatone erschienen; die Prager Philharmoniker leitet der künftige Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, Jakob Hrůša.

Nächstes Philharmonisches Konzert in Dortmund am 24./25. Mai. Axel Kobert dirigiert Anton von Weberns „Im Sommerwind“. Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ und das Violinkonzert Ludwig van Beethovens mit Sophia Jaffé als Solistin. Karten: (0231) 50 27 222, www.theaterdo.de




Schöner Skandal: Dortmunds Schauspielchef Voges mischt mit „Freischütz“ Hannover auf

Ein "Freischütz" sorgt für Wirbel in Hannover. Inszeniert hat die umstrittene Produktion der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges. Foto: Werner Häußner

Ein „Freischütz“ sorgt für Wirbel in Hannover. Inszeniert hat die umstrittene Produktion der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges. Foto: Werner Häußner

Das ist doch schön! In stumpf gewordenen Zeiten, in denen all die vaginal-anal-erektionale Blut-Sperma-Fäkalmetaphorik des postzeitgenössischen Theaters nur noch Augenrollen oder Schulterzucken hervorruft, schafft die Oper einen Skandal. Richtig befreiend, dass sich sogar die Politik wieder einmal mahnend zu Wort meldet. Wunderbar, dass die CDU-Ratsfraktion in Hannover die Schätze, die uns Dichter und Komponisten hinterlassen haben, „ins Niveaulose und Beliebige“ gezerrt sieht. Inzwischen gibt es sogar eine Anfrage der Landtags-CDU ans niedersächsische Kultusministerium. Und in der Kulturszene Hannovers hält die Debatte an.

Besser hätte es nicht laufen können: Wenn, wie maliziös orakelt, mit einem kleinen Skandal kalkuliert wurde, ist die Rechnung aufgegangen: Mit Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ in der Form, wie sie der Regisseur übriggelassen hat, hat’s die Niedersächsische Staatsoper Hannover wieder einmal übers Feuilleton hinaus auf den Presse-Boulevard geschafft.

Der Mann hinter der Aktion heißt Kay Voges und sorgt als Intendant des Schauspiels in Dortmund seit 2010 für erhöhte Aufmerksamkeitswerte. Nach fünf Jahren hat er es geschafft, seine Bühne in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ auf Platz zwei hinter dem Burgtheater Wien zu platzieren und mit Bühnen wie der Berliner Schaubühne gleichzuziehen. Seine erste Opernregie, Wagners „Tannhäuser“ 2013 am Dortmunder Opernhaus, schwankte zwischen Bildkaskaden und Hintersinn.

Kay Voges. Foto: Birgit Hupfeld

Kay Voges. Foto: Birgit Hupfeld – Da die Staatsoper Hannover keine honorarfreien Fotos zum „Freischütz“ zur Verfügung stellt, verzichten wir aus finanziellen Gründen auf eine aktuelle Bebilderung der Rezension.

Die deutsche Romantik scheint den aufstrebenden Theatermann nicht loszulassen. Scharfsichtig hat er im „Freischütz“ das Potenzial erkannt, auf das sich virtuos die Stilmittel postdramatischen Theaters übertragen lassen: die offene Heterogenität des Librettos, der aus der französischen Opéra comique herkommende Wechsel zwischen gesprochenem Text und Gesang, der freie, kühne Einsatz der Formen. Und dazu die Reizwörter, die sich seit jeher mit Webers Oper verbinden: national, deutsch, Wald, Volk, Jagd. „Der Freischütz. Die deutsche Nationaloper“ prangt auch auf dem Vorhang, bevor jemand zaghaft um Hilfe ruft.

Das dünne Stimmchen gehört zu einem wunderlichen Gnom: „Okidoki“ sagt der Kleine, halb Gollum, halb Knetmännchen, mit Kartoffelnase, riesigen Segelohren und dicken Wurstfingern. Die Zentralgestalt des Werkganzen steht vor uns. Eine Comic-Figur, allein vor dem Vorhang. Während der Ouvertüre wird sie auf einem Video durch dunkle Gewölbe deutschen Wesens streifen, vorbei an schemenhaft beleuchteten Bildern: Bismarck, die Gebrüder Grimm, Wagner, Adenauer. Später entpuppt sie sich als das schöpferische Prinzip: „Samiel versucht sich an einer deutschen Nationaloper“ heißt es über der Inhaltsangabe im Programmheft.

Peinvolle Kreation einer „Nationalopaa“

Böse ist dieses Wesen nicht, wenn es aus unartikulierten Lauten stockend „national“ und „Nationalopaa“ formt, wenn es in einer der überbordend vielen Projektionen Leinwände bemalt und über Europakarten braune Brühe verschmiert, schwärmerisch Musik mitdirigiert, sich vor Pein am Boden windet, verzückt oder gequält die Augen verdreht oder die Zähnchen fletscht – alles in Großaufnahme und teils von der Live-Cam mitverfolgt. Lustig kann es sein, wenn es die Handlung anhält, mit den Darstellern schimpft und hadert – oder Kaspar aufklärt, er sei „der Selbstbezug des denkenden Subjekts als Möglichkeit einer Rückkehr vom Äußeren zum Eigenen“. Max schreit an dieser Stelle: „Mir reicht’s!“ In der Premiere, Berichten zufolge, tönte aus dem Publikum: „Uns auch.“

Der Schöpfer-Gnom, mit dem die Dortmunder Schauspielerin Eva Verena Müller eine Glanzleistung liefert, ist eine Figur, in der die Aspekte von Komponist, Librettist und Regisseur verschmelzen. Genau wie in der Form von Theater, die Voges im Kopf hat. In der Wolfsschlucht-Szene, deren Beginn mit dem Vollmond ein romantisches Symbol zitiert, trinkt das Wesen blutige Milch und mutiert mit kahlem Schädel und Pimmelchen unterm Hemd zum Samiel, der das Zaubergebräu mischt und am Ende eine braune Partitur gebiert: den „Freischütz“. Am Ende markiert es mit schwarz-rot-goldener Bommelmütze exakt die Bruchstellen, an denen das Finale ganz anders hätte weitergehen können, und führt den Eremiten in weißem Wallegewand mit silbernen Haaren und Bart auf die Bühne. Kein Problemlöser, sondern der Gott der Kitschbilder frommer Andacht. „Fest auf die Lenkung des Ewigen“ gebaut wird hier nicht. Die Vision sieht anders aus: Ein Dunkelhäutiger schwenkt die Deutschlandfahne.

Dazwischen überzieht Voges den „Freischütz“ mit einer Bilderflut, gegen die Christoph Schlingensiefs „Parsifal“ minimalistisches Zeichentheater war. Voxi Bärenklau, 2004 in Bayreuth dabei, liefert Wogen bewegter Bilder, darunter in irrwitzigem Staccato geschnittene Fetzen aus der aktuellen Berichterstattung von den Pariser Anschlägen bis zu Politikerreden, Nazi-Transen oder Capri-Sonne zullenden Zwergen. Was das Repertoire an „deutschen“ Zerrbildern hergibt, flimmert über einen Gazevorhang oder die Projektionsflächen des Bühnenbaus von Daniel Roskamp, der unverkennbar an Aleksandar Denićs Tankstelle aus dem Bayreuther Castorf-Ring erinnert. Live-Kameras (Jan Voges, Vlad Margulis) kehren das Innere des traurigen „Okidoki“-Vergnügungsetablissements nach außen: Die Gleichzeitigkeit der Szenen als Metapher medial überfluteter Wahrnehmung.

Kastrationsangst und Potenzprobleme

Damit’s auch richtig sitzt, verzichtet Voges nicht auf erläuternde Schriftprojektion. Deutsche Freiheit, ist zu lesen, wird am Hindukusch verteidigt. Der Sternschuss zu Beginn ist ein Brandanschlag: Im Hintergrund laufen die entsprechenden Daten über einen Bildschirm, während Max, ein dicklicher Stubenhocker, von Neonazigestalten mit Baseballschlägern bedrängt wird. Kilian, in Fußballtrikot, reißt ihm die Hose runter – am Schirm ist „Kastrationsängste und Potenzprobleme“ zu lesen.

Und dann folgt das Video, das die Staatsoper veranlasst hat, das Besucher-Mindestalter auf 16 festzulegen: Max liegt auf einem Seziertisch und nachdem drei Nazis zu „Wir lassen die Hörner erschallen“ lustvoll steife Glieder bearbeitet hatten, wird der Penis des unglücklichen Jägers Opfer einer Schere. Wie in einer schlecht gemachten Retusche eines Fünfziger-Jahre-Films strömt das Blut – am Ende der Szene wankt dem Sänger sein Double mit blutiger Boxershorts entgegen.

Ohne Zweifel: Kay Voges inszeniert in Hannover seinen „Freischütz“ auf der Höhe des aktuellen Theaters. Er ist freilich nicht der erste. Zu erinnern ist an die Berliner Arbeit Calixto Bieitos, vor allem aber an den „Freischütz“ Sebastian Baumgartens 2013 in Bremen. Der hat bei der Ausleuchtung düsterer Abgründe der deutschen Seele Faschismus und Kolonialismus aufzudecken versucht. Das führte zu fesselnden, beklemmende Bildern, zeigte aber auch, dass Webers Werk nur begrenzt und ziemlich zurechtgebogen dazu taugt, mit der deutschen Geschichte ins Gericht zu gehen.

Vordergründige Eindruckswerte

Ähnliches muss gegen Voges‘ Gegenwartsbefragung auf Hannovers Bühne eingewandt werden. Sicher, wenn die Jäger von ihrem Vergnügen singen, das die Glieder erstarket, wenn sie männlich‘ Verlangen und volle Pokale besingen, dann gibt dieser Hit der Opernmusik, unterlegt mit einem Video von einer Pegida-Demo mit lauter mürrischen Gesichtern – Linksautonome dürften allerdings auch nicht fröhlicher dreinblicken, wenn sie gegen „Faschisten“ marschieren –, ein wirkungsvolles Bild gefährlicher politischer Dumpfheit. Doch über die Ebene eines scheinbar unmittelbaren Einleuchtens kommen solche Regiemittel nicht hinaus.

Das ist das Problem: Voges‘ bilderreiches politisches Statement gegen das „Nationale“ kommt nicht über vordergründige Eindruckswerte hinaus und trägt außer hochemotionalisierter Clips nichts zur Analyse des Phänomens bei. Es kann auch Webers oder Kinds Begriff des „Nationalen“ nicht adäquat einholen oder in die Gegenwart übersetzen. Denn damals ging es – mit der französischen Kriegswalze im Hintergrund – um eine freie deutsche Nation, gegen die Willkürherrschaft der Fürsten in Kleinstaaten, gegen Zensur und Unfreiheit, für die Mitbestimmung des Volkes. Alles andere als eine „allzu simple Heilsbotschaft“, wie sie Voges in einem Interview im Programmheft dem Eremiten unterstellt. Das Werk wird auch derzeit von niemandem als „Zeugnis eines dumpf-aggressiven Nationalgefühls“ missbraucht, wie Voges argwöhnt. Der Schuss geht daneben – und der Eindruck bleibt, hier werde Webers Werk als Vehikel für ein arg durchsichtiges politisches Statement benutzt.

Das „Nationale“ ist einer der Diskurspunkte in einer Regiearbeit, die sich ansonsten der Hermeneutik verweigert. Bewusst – und darin wieder auf der Höhe der Zeit, wie etwa in der bildenden Kunst schon lange – bleibt der Weg offen, den sich der Zuschauer durch den Dschungel der Impressionen bahnt. Wo die Grenze zu Beliebigkeit liegt, ist schwer auszumachen, denn Voges ist, so anfechtbar sein Ansatz auch sein mag, in der Setzung seiner Bildwelten präzis. Ein anderes Thema, das sich unschwer festmachen lässt, ist der Sex: Dazu fällt Voges noch weniger Substanzielles ein. Dass „Leid oder Wonne“ in Maxens „Rohr“ ruhen, darüber feixten die Achtklässler schon lange, die jetzt aus dem Hannoveraner „Freischütz“ ausgeschlossen sind. Und die „Kastrationsangst“ mit den unsichtbar grollenden Mächten zu assoziieren, die Max im ersten Akt fürchtet, hat mit Sigmund Freud oder Jacques Lacan wohl wenig zu tun.

Musik gibt’s dann auch noch

Ach so – Musik gibt’s ja auch noch! Karen Kamensek müht sich mit dem Niedersächsischen Staatsorchester redlich, die Marginalisierung zu vermeiden; von einer gleichwertigen Rolle der Musik zu sprechen, wäre in Anbetracht der Bildfluten vermessen. Sie wird vom Träger des Ausdrucks zur effektsteigernden Untermalung gewandelt. Mehr als eine ordentliche Wiedergabe mit kühlen, spröden Farben war nicht drin. Die Sänger sind zu bewundern: Die Komplettbespielung der Bühne nimmt wenig Rücksicht auf die Stimmen. Häufige Close-ups fordern die Präzision des Minenspiels heraus, lassen – etwa im Falle Eva Verena Müllers – detaillierte dentalmedizinische Studien zu. Eric Laporte bewältigt als Max den Wandel von der Strickweste zur Uniformjacke bewundernswert, kämpft in den Soloszenen mit der leichten Formung der Töne und einem breit schwingenden Vibrato.

Dorothea Maria Marx muss als Agathe profilarm bleiben und singt kühl brillant, Ania Vegry steht als Ännchen am Ende für einen Dreier mit Max bereitwillig zur Verfügung und zeigt lichte, herzige Töne. Tobias Schabel, mit roter Zwergen-, Jakobiner- oder Zipfelmütze, haust in einem Kabuff mit einem Bild Beate Zschäpes an der Wand, singt mit ausgezeichnet positioniertem, lockerem Bassbariton einen Kaspar, der szenisch beinah alle Konturen verloren hat. Byung Kweon Yun übt sich als Kilian in vulgärem Auftreten; Stefan Adam ist als Ottokar ein schmieriger General wie aus einem Südamerika-Krimi, Michael Dries ein glatter Kuno, Shavleg Armasi der harmlose Eremit mit schöner Stimme. Der Chor (Leitung: Dan Ratiu) schmettert mit martialischem Ton das Jägergegröle, dass es nur so schallt: Trefflich bedient!

Weitere Vorstellungen: 31. Januar, 13. Februar, 11., 16. und 19. März 2016. Info: http://www.staatstheater-hannover.de/oper/index.php?m=244&f=03_werkdetail&ID_Vorstellungsart=7&ID_Stueck=395




Gescheiterte „Werktreue“: Fiasko mit Carl Maria von Webers „Freischütz“ in Aachen

"Brav! Herrlich getroffen!" - Fur den Aachener "Freischütz", von Martin Philipp einem Inszenierungsversuch unterworfen, gilt das nicht. Szene aus der Eröffnung der Oper. Foto: Ludwig Koerfer

„Brav! Herrlich getroffen!“ – Fur den Aachener „Freischütz“, von Martin Philipp einem Inszenierungsversuch unterworfen, gilt das nicht. Szene aus der Eröffnung der Oper. Foto: Ludwig Koerfer

An Webers „Freischütz“ entzündet sich Inszenierungs-Fantasie gerne: Das liegt am Libretto Friedrich Kinds, seinen Elementen der Kolportage, der Schauergeschichte, des Sentimentalen und des Fantastischen.

Es liegt an dem störrisch die Religion bemühenden, für metaphysisch unbeleckte Regisseure von heute nicht nachvollziehbaren Ende. Und es liegt sicher auch an der Repertorielast, die Webers meistgespieltes Werk beschwert. Irgendetwas Neues muss ja jeder finden, der sich dem Stück widmet.

Insofern gehört eine gute Portion Mut dazu, die Geschichte von Freikugeln, Jägersbraut und Gespensterschlucht samt wundersamer Errettung so zu erzählen, wie sie auf dem Blatt steht. Martin Philipp hat es jetzt in Aachen versucht – und ist so gründlich gescheitert wie kein Regisseur in den letzten Jahren, abgesehen vielleicht von Dominique Horwitz mit seiner unsäglichen „Freischütz“-Verstümmelung in Erfurt.

Am wenigsten ist das szenische Fiasko noch Detlev Beaujeans Bühne zuzuschreiben: Ein Soffittenrahmen, halb in einer Art Flecktarn, halb in Spiegeln, auf denen sich später die vervielfachten bösen Augen Samiels öffnen. Der einzelne kahle Stamm auf der Bühne erweist sich als funktionsloses Dekor: Erst klebt eine Herz-Jesu-Statue daran, später trägt er eine Aufhängung für eine tote Rehgeiß.

Die Wolfsschlucht beschwört nicht so sehr das Unheimliche als die theatralischen Mittel einer gymnasialen Oberstufen-Theater-AG: Blitz, Dampf und Windmaschine, dazu ein paar Schatten für das „Wilde Heer“. Hilfloser hat man diese Schlüsselszene schon lange nicht mehr gesehen.

"Nur ein keckes Wagen ist's, was Glück erringt": das gilt auch für den "Freischütz". In Aachen war das Wagnis gering. Woong-jo Choi (Kaspar) und Chris Lysack (Max). Foto: Ludwig Koerfer

„Nur ein keckes Wagen ist’s, was Glück erringt“: das gilt auch für den „Freischütz“. In Aachen war das Wagnis gering. Woong-jo Choi (Kaspar) und Chris Lysack (Max). Foto: Ludwig Koerfer

Die Menschen, die in wahrhaft biederem Biedermeier der Kostüme Kristopher Kempfs den Schauplatz bevölkern, sind vom Geist von Regie weitgehend befreit. Auch wenn der Chor nach dem erfolgreichen Schuss des „Bauern“ (der sicher singende Stefan Hagendorn ist Kilian) sich im Takt wiegend entfernt, auch wenn er im Finale dem Übeltäter kollektiv den Rücken zukehrt: Mehr als eine gestaltlose Menschenansammlung macht Philipp nicht daraus.

Vielleicht hätte jemand dem Max von Chris Lysack erklären sollen, welcher Charakter sonst leichten Sinns durch Wälder und Auen zog und nun die verzweifelte Frage nach einem lebenden Gott stellt. Vielleicht hätte man dem Ännchen Jelena Rakić mitteilen sollen, dass sie mit ihrer hübschen, aber leicht eingeengten Soubrettenstimme gerade nicht im „Schwarzwaldmädel“ unterwegs ist.

"Jetzt ist wohl ihr Fenster offen, und sie horcht auf meinen Schritt...": Katharina Hagopian als Agathe. Foto: Ludwig Koerfer.

„Jetzt ist wohl ihr Fenster offen, und sie horcht auf meinen Schritt…“: Katharina Hagopian als Agathe. Foto: Ludwig Koerfer.

Und vielleicht wäre es auch bei Kaspar angebracht gewesen, darauf hinzuweisen, dass es in der „Schreckensschlucht“ nicht um die Zubereitung von zugegeben etwa seltsamen Zutaten für ein nächtliches Grillen im Wald geht. Obwohl Woong-jo Choi noch am glaubwürdigsten die dunkel-verschlagene Seite einer gespaltenen Persönlichkeit ausdrückt: Den Dialog mit dem – als Figur getilgten – Samiel führt er mit sich selbst. Choi überzeugt als Sänger mit einem satten, messerscharf geführten Bassbariton, dessen leise angesetzte Warnung an Max, zu schweigen, dunkel-unheimliche Autorität ausstrahlt.

"Die Schlucht ist verrufen, und um Mitternacht öffnen sich die Pforten der Hölle": In Aachen blieb der Schrecken zahm. Foto: Ludwig Koerfer

„Die Schlucht ist verrufen, und um Mitternacht öffnen sich die Pforten der Hölle“: In Aachen blieb der Schrecken zahm. Foto: Ludwig Koerfer

Das Ganze schließt, wie es eben schließen muss: mit einem Eremiten in schwarzer Kutte und fast noch schwärzerer, lyrisch, doch dennoch nachdrücklich geführten Stimme (Vasilis Tsanaktsidis).

Der Regieeinfall des Abends ist die Rehgeiß, die zum dünn besetzten Jägerchor erst ausgeblutet, dann ausgeweidet und zum banalen Ende dem Probejahr-Paar auf einem Tischchen präsentiert wird. Zum „männlich‘ Vergnügen“ saufen die Waidmänner das Rehblut: Hätten wir’s gewusst, dass Jäger ein ganz blutrünstiges Gelichter sind?

Mehr Freude bereitet es, auf Webers Musik zu hören: Justus Thorau, neuer Erster Kapellmeister in Aachen, scheut das langsame Tempo nicht, erfüllt es mit Spannung und Bedeutung – auch das im Gegensatz zu den zähen, immer wieder durchlöcherten Dialogen auf der Bühne. Er hat eher die große Linie im Auge als den Akzent en détail, lässt die Klänge weich und klangsatt modellieren. Die Agathe von Katharina Hagopian stützt er, ohne ihren Atem an Grenzen zu führen. So kann die Sängerin – die als Persönlichkeit von der Regie ebenso wenig belichtet wird wie die anderen – vor allem ihr lyrisches Zentrum vorteilhaft entfalten: Ihre Tongebung ist stetig und flexibel, nur am Ende reicht die Energie nicht mehr für eine zuverlässige Stützung der Höhe.

Manchmal sollte Thorau ein wenig gelassener mit den Sängern atmen: Dann würde die Phrasierung in „Durch die Wälder…“ flexibler und Woong-jo Choi müsste bei „Nichts kann dich retten vom tiefen Fall“ nicht hetzen. Diese Details ändern nichts an der ansprechenden Leistung, die Thorau dem Sinfonieorchester Aachen abgewinnt. Der Klang, vor allem bei den Holzbläsern, vertrüge eine behutsame Politur, aber auf der anderen Seite stehen – auch bei Oboe oder Klarinette – schöne Soli. Das Solo-Cello hört man in Aachen deutlich über dem Niveau vergleichbarer Orchester. Der Chor unter Andreas Klippert und Elena Pierini erfüllt mit kompaktem Klang seinen Part.

Die Aachener Aufführung ist ein Beispiel dafür, wie durch vermeintliche „Werktreue“ das „Werk“ an Banalität und Langeweile verraten wird. Es bleibt dabei: Ohne eine reflektierte Hermeneutik bleiben die Bilder von damals blass.

Weitere Aufführungen zwischen 7. März und 30. Juni.

Info: http://theateraachen.de/index.php?page=detail_event&id_event_date=12313347