Verdorrter Wald, zutiefst gespaltene Welt: Carl Maria von Webers „Freischütz“ am Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und - im Hintegrund - Gregor Dalal als Kaspar in Webers "Freischütz" am Theater in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Entwurzelter Baum, entwurzelte Existenzen: Mirko Roschkowski als Max und – im Hintergrund – Gregor Dalal als Kaspar in Webers „Freischütz“. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Rotgraue narb‘ge Wurzeln strecken nach uns die Riesenfaust: Ein gewaltiger Baum beherrscht die Bühne des Theaters Münster. Er ist entwurzelt, hat im Fallen eine Bresche in einer Mauer geschlagen und zerteilt die Einheit des Raumes. Neblige Dunkelheit, der Schatten eines stattlichen Sechzehnenders taucht auf. Lautlos röhrt der Hirsch zur Ouvertüre.

Die Bühne von Christophe Ouvrard für Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ nimmt von Anfang an für sich ein. Die unheimlich ragenden Wurzeln des Baumriesen, das harte Licht von oben und hinten, das die Konturen gespenstisch belebt, der unfassbar tiefe, in Nichts mündende Raum. Ouvrard arbeitet mit szenischen Mitteln, die zum Naturalismus taugen könnten, aber sofort assoziativ gebrochen, mit symbolischer und metaphorischer Brisanz geladen werden: Natürlich erinnert der Baum an den deutschen Wald, der in Webers „Freischütz“ eine so große Rolle spielen soll. Aber er ist – vielleicht von einem Sturm des „wilden Heeres“ – gefällt und tot. Nur einmal sprießen aus der Baumleiche ein paar frische Zweige, grüne Blätter: O lass‘ Hoffnung …

Dieser verdorrte Wald ist schon lange kein Hort naturschwärmerischer Romantik mehr. Er ist der Ort des Unheimlichen, das die frühere Einheit der Welt zerschlagen hat. Auf der Drehbühne wird das sichtbar: Der Stamm teilt sie in zwei Hälften. In der einen steht die Welt in der Wolfsschlucht-Szene im wahrsten Sinn des Wortes Kopf: Agathes Jagdschlösschen, selbst kein anheimelnder Ort, sondern eine zerstörte Stätte mit letzten Resten von Wohnlichkeit, hat sich gedreht, das Sofa hängt an der Decke, die Lampenschirme des Leuchters werden zu Töpfen. Aus ihnen nimmt Kaspar die Zutaten des zaubrischen Suds, aus dem die Freikugeln gegossen werden.

Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß

Ouvrard fängt in szenischer Symbolik wesentliche Begriffe der Romantik ein. Die Welt ist zutiefst gespalten. Die eine Seite, die des alltäglichen Lebens, ist beschädigt, gestört, von Kräften „höh’rer Macht“ beeinflusst, denen sich die armen Menschen mit Regeln und Ritualen oder – wie Ännchen mit seinem Kettenhund Nero – mit beschwichtigendem Humor zu entziehen suchen. Die sich der „anderen Seite“ bewusst sind, wie Kaspar, versuchen, diese unfassbaren Kräfte zu nutzen, für sich zu bändigen – aber wir wissen, das gelingt nicht: Die siebente Kugel gehört immer dem Bösen, der sie nach seinem Willen lenkt. Der Teufelspakt hat einen Bocksfuß.

Streng, alt, gespenstergleich: Die Brautjungfern im "Freischütz" in Münster. Foto: Oliver Berg/Theater Münster

Streng, alt, gespenstergleich: die Brautjungfern. (Foto: Oliver Berg/Theater Münster)

Wer den Baumstamm besteigt, mag von oben eine verbindenden Sicht der romantisch zwiespältigen Welt gewinnen. Agathe versucht es, aber es gelingt ihr nicht. Nur der Eremit, der von oben seine weisen Worte strömen lässt, ist eine integrierende Figur: Er und Samiel sind eins, das „Höh’re“ spricht aus ihm, gleich ob Gut oder Böse. In seinem schmutzigweißen Mantel, den kahlen Kopf noch vernarbt vom Teufelsgeweih Samiels, verkörpert er, was den Menschen als Antagonismus, aus der Perspektive einer jenseitigen Welt aber nur als unterschiedliche Aspekte einer Existenz erscheinen mag. Gut und Böse, nicht nur als moralische, sondern auch als prinzipielle Kategorien, heben sich auf – in diesem postmodernen Ansatz ist die Münsteraner Inszenierung von Webers Oper auf der Höhe der Zeit.

Die Regie von Carlos Wagner allerdings erreicht die konzeptuelle Dichte des Buhnenbilds nicht. Sicher: Er will uns klar machen, wie Max am Unerklärlichen scheitert, wie ihn in einer Gesellschaft klarer Vorgaben und eindeutiger Zusammenhänge die Logik des Handelns und seiner Folgen abhandenkommt, wie ihn des Zufalls Hand in die Verzweiflung, sogar zur Frage nach der Existenz Gottes führt.

Wenn der Chor langsam in seinem derben Tanz erstarrt, die Bewegungen fragmentiert wiederholt, dann bei „Durch die Wälder, durch die Auen …“ Paare bildet und langsam hinaustanzt, ist das ein Aufmerksamkeit weckender szenischer Vorgang – aber er wird nicht eingelöst, es resultiert nichts daraus. Wenn zu Beginn ein ausgeweideter Hirsch an den Baumwurzeln aufgehängt wird, denken wir sicher an das „männlich‘ Vergnügen“ der Jagd – aber wenn ein Landmetzger später Schinken und Braten vom Hirsch in die johlende Menge wirft, bringt das die Zuschauer nur zum Lachen.

Lustiges Schießen auf Bierdosen

Agathe ist als Figur spannend angelegt: Sie erscheint im fahlen Mondlicht wie eine Geisterbraut, als sei sie von Heinrich Marschners „Vampyr“ gebissen, aber sie erschöpft sich dann doch in der eher larmoyanten Rolle des schreckhaften „Bräutchens“. Ännchen gibt sich in Jagdhosen und Krawatte sehr männlich, veranstaltet ein lustiges Schießen auf Bierdosen, bleibt aber am Ende als unterhaltsame Opernsoubrette ohne dezidiertes Profil.

Max geriert sich als heillos verunsicherter Jägersjüngling, der in der Wolfsschlucht den Sudel aus Luchs- und Wiedehopfaugen saufen muss und die Freikugeln zuckend in eine Schüssel erbricht – aber die Konturen seines Charakters, sein Zugriff auf das „Andere“ bleiben verschwommen. Kaspar dagegen ist ein saft- und kraftvolles Mannsbild, und Gregor Dalal macht mit seinen darstellerischen Mitteln und seinem unmittelbar wirksamen Sprechen aus ihm eine lebensvolle Persönlichkeit. Carlos Wagners Regie traut dem Stück, aber sich selbst offenbar zu wenig zu: Das Ganze schließt zu offen.

Offene Wünsche auch auf der musikalischen Seite: Stefan Veselka schlägt mit dem Sinfonieorchester Münster ein gemessenes Tempo an, was der Entwicklung der melodischen Thematik und der Ausformung des Klangs zugutekommt. Die Hörner sind lobenswert, die Klarinette hat – mit einem eher hell-fragilen Ton – schöne solistische Momente. Im Lauf des Abends arbeitet Veselka immer wieder harmonische Tiefenstrukturen aus, bringt manche Holzbläserstimme zum Leuchten. Aber der Klang des Orchesters bleibt oft pauschal, der Aufbau innerer Spannung allzu diskret. Entschiedene Akzente, packender Zugriff könnten der Musik auf die Beine helfen.

Innige Agathe, leuchtend singender Max

Münster hat mit Mirko Roschkowski einen seine Partie anstandslos bewältigenden Max: Ohne Forcieren, ohne Gewalt lässt er seinen Tenor leuchten, steigert den Verzweiflungston in der Arie, bringt für die Wolfsschlucht den panischen Unterton in der Deklamation mit. Sara Rossi Daldoss ist eine sehr innig singende Agathe, bei der man manchmal Sorge um die Stütze und den klanglichen Kern der Stimme hat. Ihre zweite Arie nimmt sie weniger vom Legato her, bildet die Töne separiert, um sie mit verschiedenen Farben zu gestalten. Auch wenn so der große Bogen sehr fragil gespannt wird: Der Ausdruck überzeugt. Eva Bauchmüller als Ännchen gewinnt nach manch leichtgewichtigem Ton an Format, singt nach der Pause mit tadelloser Diktion und einem feinen, aber substanzreichem Klang.

Plamen Hidjov ist als Kuno von Statur und Stimme ein würdiger älterer Herr; Sebastian Campione spricht als Samiel die – ansonsten bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichenen – Dialoge ohne „teuflische“ Plattitüde. Als Eremit ist er weniger ein balsamisch strömender als ein schneidend präsenter Bass. Der Opernchor und Extrachor des Theaters Münster – Inna Batyuk hat ihn einstudiert – glänzt in der Eröffnung, fällt aber ausgerechnet im Jägerchor auseinander, weil die Sänger über die ganze Breite verteilt auf der Drehbühne marschieren müssen. Auch das ein Bild, das keinen Bedeutungs-Zusammenhang konstituiert – ebenso wie der finale Moment, als Kaspars Leiche in Brand gesetzt wird und als flackerndes Feuer auf dunkler Bühne die Oper abschließt.

Vorstellungen: 7. und 28. April, 3. und 30. Mai, 20. und 25. Juni, 1. und 13. Juli. Karten: (0251) 59 09-100. www.theater-muenster.com




Festspiel-Passagen IX: Lust am Neuen und Seltenen

Während Händel mittlerweile im Repertoire der Opernhäuser eine wichtige Rolle spielt, gibt es bei anderen Komponisten von Weltgeltung noch einiges zu entdecken. Unermüdliche Arbeit für Gioachino Rossinis breit gefächertes Opernschaffen leistet seit Jahren das Rossini Festival in Bad Wildbad. Intendant Jochen Schönleber legt besonderen Wert auf Sänger, die den zum Teil exorbitanten Ansprüchen Rossini’scher Partien entsprechen. In den vergangenen Jahren hat das Festival manchem jungen Belcantisten zum Durchbruch verholfen.

In Rossinis kurzer Farce „Adina ossia Il Califfo di Bagdad“ ließ vor allem eine Nebenrolle aufhorchen: Christopher Kaplan als Ali – Mitglied des Jungen Ensembles der Semperoper Dresden – verbindet darstellerische Präsenz mit einem wohlgeformten Tenor. Auch Rosita Fiocco würde man gerne wieder hören, auch wenn die Koloraturen noch etwas schwer im Ansatz gebildet sind. Antonio Petris‘ Regie bemühte sich ohne Erfolg, dem Werk eine interessante Seite abzugewinnen. Ausnahmsweise mal ein Rossini, der für die Bühne zu Recht vergessen werden kann.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

2013 wird solches wohl nicht der Fall sein: So wie in diesem Jahr Rossinis „Semiramide“ steht dann das monumentale Abschlusswerk von Rossinis Opernschaffen im Programm: „Guillaume Tell“, konzertant und so vollständig wie möglich. Ein geradezu vermessenes Vorhaben; eine Herausforderung, der man sich in den Staatsopern-Sphären von Berlin oder München bisher nicht zu stellen wagte.

Auf keinen Fall wieder in die Geschichte zurücksinken sollte die andere Rarität des Wildbader Festivals 2012: „I Briganti“ ist eine nach Schillers „Räubern“ entworfene Oper Saverio Mercadantes. Uraufgeführt 1836 in Paris, war sie ein von Rossini unterstützter Versuch, Paris für diesen damals in Italien weithin bekannten Kollegen zu gewinnen. Ein Projekt, das trotz exquisiter Sängerriege scheiterte: Mercadantes konservativer Ansatz, zu sehr dem italienischen „Melodramma“ verpflichtet, konnte sich gegen die moderne Oper Giacomo Meyerbeers nicht durchsetzen.

Wildbad versuchte, das Stück erstklassig zu besetzen. Unter der wenig geschmeidigen, metrisch oft schematischen Leitung von Antonino Fogliani boten die Virtuosi Brunenses aus Brünn kaum mehr als eine solide Unterstützung der Solisten. Der hoch gelobte Tenor Maxim Mironov war als Ermano den virtuosen Anforderungen seiner Partie gewachsen, aber die Stimme hat Stetigkeit und warmen Klang zu gewinnen. Petya Ivanova als Amelia agiert wie eine Diva der fünfziger Jahre; ihre Stimme verliert im Lauf des Abends den Kontakt zum Körper, wird hart, dünn und im Klang prekär.

Bruno Praticó, der alte Haudegen, zeigt, wie es geht: Als alter Graf Moor entfaltet er im Duett mit seinem Sohn Ermano wundersam die Aura des technisch zuverlässigen Singens mit schier endlosen Bögen und sprechendem Klang. Die Regie ließ die Akteure alleine, die sich mit allen Peinlichkeiten abgelebter Opern-Gepflogenheiten über Wasser hielten und ständig auf den Dirigenten starrten. Mercadantes Oper aber sollte wegen ihrer dramatischen Anlage und ihrer feurig-sensiblen Musik einen Weg zu weiteren Inszenierungen finden.

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Weiter im Süden, in der Ostschweiz, brachten die siebten St. Galler Festspiele Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ auf die weiträumige Freilichtbühne vor der Kulisse der barocken Stiftskirche. Carlos Wagner inszenierte die „Legende dramatique“ als Welttheater mit Méphistophéles als Zirkusdirektor. Das wirkte nicht willkürlich bunt, sondern entspricht dem Charakter der Stücks.

Stellenweise verwies die Inszenierung den Zuschauer auf farbige Zeit-Panoramen und epische Großbilder, wie sie in Romanen von Charles Koster (Ulenspiegel), Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame) oder Umberto Eco (Der Name der Rose) geschildert sind. Die Fantasie der Kostüme (Ariane Isabell Unfried) verhinderte peinliche Anklänge an Monumentalfilm-Ausstattungen; die Spielfläche (Rifail Ajdarpasic) mit ihren verschiedenen Ebenen und Plateaus ließ bewegungsreiches „Augenfutter“ zu. Dass er am Ende in einem Hamsterrad endet, lässt Méphistophéles ein wenig wie den betrogenen Teufel erscheinen: Sein Werk, Menschen – hier mit Hilfe von Marguerite als dienstbarem Geist – zum Bösen zu verführen, ist eine Sisyphusarbeit, die dank göttlicher Gnade und Barmherzigkeit zum vergeblichen Mühen verurteilt ist.

Berlioz‘ farbige und klanglich subtile Partitur eignet sich nicht für eine Freilicht-Produktion, bei der das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Bühne sitzt und mittels Lautsprecher verstärkt wird. Da mag sich Dirigent Sébastien Rouland noch so um die Finessen mühen: Der Klang bleibt oft grob und eindimensional. In den Opern der letzten Jahre, von Gaetano Donizettis Sintflut-Rarität „Il Diluvio universale“ über die frühen Verdi-Opern „Giovanna d’Arco“ und „I Lombardi alla prima crociata“ – heuer in Erfurt bei den Domstufen-Festspielen wieder aufgenommen – war das weniger problematisch, weil deren Partituren nicht so visionär klanglich gearbeitet sind wie die Musik des französischen Orchester-Revolutionärs. Mit Verdis selten gespielter Oper „Attila“ steht Sankt Gallen im Juni/Juli 2013 – im 200. Geburtsjahr Verdis – wieder auf der sicheren Seite (Premiere am 21. Juni 2013).

In Nürnberg rückten die Internationalen Gluck-Opern-Festspiele zum vierten Mal einen Komponisten ins Blickfeld, der hohe akademische Ehren genießt, im Bühnenalltag aber nicht allzu häufig präsent ist. Dass es nicht an stiller Einfalt und edler Größe liegen kann, zeigte das Staatstheater Nürnberg mit einer bestürzend konsequenten Aktualisierung von Glucks „Ezio“. Das finstere Machtspiel verlegte Andreas Baesler – in Nordrhein-Westfalen durch Regiearbeiten in Gelsenkirchen, Essen oder Münster kein Unbekannter – in die Überdrussgesellschaft einer außer Rand und Band geratenen Wohlstandszeit.

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Erpressung, sexuelle Gewalt, Mord gehören zum Verhaltensrepertoire. Ein derart geschärftes, in die Gegenwart geholtes antikes Drama lässt nicht kalt. Zumal der Schauplatz passt: Hermann Feuchter und Lilith-Marie Cremer bauten in der Theater-Tiefgarage hölzerne Verschläge, bei denen nicht klar war, ob die Darsteller oder die Zuschauer Gefangene oder Gaffer sind.

Die Darsteller agierten auf gefährliche Weise präsent, und die Musiker der Accademia Bizantina, der Neuen Nürnberger Ratsmusik und der Nürnberger Musikhochschule gaben unter Leitung von Nicola Valentini Glucks Musik trotz der akustischen Probleme Schlagkraft und Kontur. Eine tiefsinnige Choreografie des immer erfolgreicher agierenden Nürnberger Ballettchefs Goyo Montero zum ewigen Mythos des Don Juan und eine konzertante Aufführung der Oper „Das Goldene Vlies“ des gebürtigen Nürnbergers Johann Christoph Vogel (1756 bis 1788) rundeten die Festspiele zu einer kurzen, aber entdeckungsreichen Zeit. Peter Theiler, bis 2008 Intendant des Musiktheaters im Revier, hat bisher immer wieder Opern für die Bühne wiederentdeckt. So bleibt zu hoffen, dass er seine Linie 2014 – im 300. Geburtsjahr Glucks – mit ebenso viel Lust am Neuen und Ungewöhnlichen fortsetzen wird.




Mordgerät im Malz: Donizettis „Le Duc d’Albe“ in Antwerpen

Belgien ist das Land des Bieres, und so wirkt es naheliegend, dass in diesem Land auch Revolutionen mit der Kunst des Brauens zu tun haben.

Im zweiten Akt von Donizettis unvollendeter Oper „Le Duc d’Albe“ ist die Brauerei eines gewissen Daniel ein Hort des Widerstands gegen den spanischen Schlächter: Mordwerkzeuge unter Malz, Kämpfer kehren keimendes Korn weg. Der Lobpreis des Bieres könnte jedem Männergesangverein zur Ehre gereichen, aber er ist mehr als ein launiges Genrestück: Ähnlich wie der Gesang der Fischer in Daniel François Esprit Aubers großer Oper „La Muette de Portici“ enthält das Lied einen Code: Der unverdorbene Trank belgischer Vaterlandsliebe gegen den unbekömmlichen spanischen Wein der Willkür und der Gewalt.

Donizettis Oper von 1839, ein Versuch, in Zusammenarbeit mit dem Großmeister des Librettos, Eugène Scribe, an der „Opéra“ zu landen, wurde durch ein Veto der Primadonna Teresa Stolz, der späteren Geliebten Verdis, verhindert. Sie lehnte die Rolle der Hélène ab, die uns heute als eine der innovativen Frauengestalten Donizettis gegenübertritt: kein leidendes Opfer á la Lucia oder Linda, keine zwischen staatsfraulicher Pflicht und privatem Gefühl zerriebene Königin. Sondern eine Kämpferin für die nationale Sache, eine ideologisch unbeirrbare Fanatikerin, fest im Hass und in der Linie klar wie belgisches Bier. Der Liebesbeweis, den sie fordert, ist so grausam wie eindeutig: Der Spanier muss sterben.

Doch Henri, Hélènes Geliebter, kann die Hand nicht gegen den Herzog von Alba heben. Der junge Mann aus dem Kreis der Widerständler muss erfahren, dass er kein Geringerer als der Sohn des Herzogs ist. An ihm ist es nun, zwischen Vaterliebe und Vaterlandsliebe abzuwägen. Sein Flehen um den Verzicht auf Rache ist vergebens. Hélène, eine Vorläuferin Elektras, muss ihren Vater, den Grafen Egmont, rächen: Henri wirft sich in ihren tödlichen Streich, rettet dem Vater das Leben und stirbt.

„Le Duc d’Albe“ ist also in mehrfacher Hinsicht kein konventionelles „Sopran-liebt-Tenor“ Belcanto-Stück. Bemerkenswert in Scribes Charakterisierung der Personen ist auch die Wandlung des spanischen Herzogs. Als er in einer bewegenden Szene zu Beginn des dritten Akts erfährt, wer sein Sohn ist, beginnt die Vaterliebe den hartherzigen Anwalt der spanischen Sache zu bekehren: Im Finale der Oper tritt uns ein zutiefst tragischer Mensch entgegen, dessen humane Läuterung das Unglück, seinen Sohn sterben sehen zu müssen, nicht verhindert hat.

Donizetti hat diese beiden Schlüsselszenen nicht komponiert, sondern nur einige Skizzen hinterlassen. Offenbar war er sich bewusst, dass sie seine Charakterisierungskunst eminent herausfordern würden; ein Aufwand, den sich der viel beschäftigte Komponist angesichts des unklaren Schicksals der Oper wohl nicht zumuten wollte. Für die verspätete Uraufführung 1882 hat ein Schüler Donizettis, Matteo Salvi, die skizzierten Nummern orchestriert und die zwei letzten Akte zu einem zusammengefasst.

Für die Uraufführung der französischen Originalversion an der Vlaamse Opera Antwerpen hat der 1953 geborene Komponist Giorgio Battistelli die fehlenden Nummern komponiert: rücksichtsvoll gegen die belcantistische Anlage des Werks; hellhörig für Donizettis kennzeichnende Linien, Wendungen und Begleitfiguren, ohne den modernen Einsatz des Materials zu leugnen. Keine platte Nachahmung, sondern individuell geprägte musikalische Charakterisierung, demütig und respektvoll, aber entschieden eigen geprägt. Die finale Szene, die Klage und der Abschied des Alba, werden so zu einer bewegenden, musikalisch reichen Szene – ein zusätzliches Argument, für Donizettis Oper auf Repertoiretauglichkeit zu plädieren.

Die ergibt sich auch aus anderen Argumenten, etwa der ungewöhnlichen Charakterisierung der Figuren, fern der Klischees des „melodramma“. Donizetti zeigt sich wieder als sensibler Instrumentator, ein Erbe seines Lehrers Johann Simon Mayr. Mit dem Orchester der Vlaamse Opera unter Paolo Carignani klingt die Partitur allerdings oft pauschal. So sorgfältig Carignani dynamische Details modelliert, so forsch zieht er vor allem über den Streicherapparat hinweg, den man sich im Zusammenklang plastischer wünschen würde. Der große, Spannung erzeugende Bogen ist Carignanis Sache nicht – das war schon in seiner Zeit in Frankfurt immer wieder zu hören.

In der Inszenierung von Carlos Wagner, mehr noch im bedrückenden Bühnenbild von Alfons Flores herrschen die Chiffren des Krieges vor. Riesige marschierende Soldaten erinnern an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der sich gerade in Flandern ausgetobt hat. Das Licht von Fabrice Kebour verbannt die Personen oft in fahles Zwielicht oder in tückisch grelle Strahlen. Die schwarz uniformierten Spanier agieren auf einer Brücke hoch über den beherrschten Flamen, die zum triumphalen Auftritt der Sieger ihre Toten beklagen. Aus dem staubigen Dunst der Mälzerei im zweiten Akt formiert sich der Widerstand des zu schmutzigen Lemuren verurteilten Volkes. Alba erinnert in seiner vom Licht akzentuierten Einsamkeit an Verdis Philipp II. – eine Statur, die ihm auch seine ausdrucksstarke Musik verleiht. Hélène trägt unter ihrem weißen Frauengewand die braune Montur einer Soldatin; das Kostüm A.F. Vandevorsts ist ebenso eine psychologische Chiffre wie die Entblößung im Duett Alba – Henri.

Die aufs Äußerste gespannten Linien in diesem Zwiegesang gehören zu den Höhepunkten der Partitur. Donizetti zeigt sich im dritten Akt auf der Höhe seiner musikalischen Charakterisierungskunst. George Petean und Ismael Jordi folgen dem fiebrigen Zug der Musik mit flammender Dramatik in der Stimme. Der rumänische Bariton füllt die intensiven Gesangslinien mit einer reichen, stets abgesichert gestützten, manchmal jedoch zu ruppig eingesetzten Stimme, die dann eher dem Verismo als einem stilistisch reflektierten Belcanto zuneigt. Ismael Jordi ist einer der erfolgreichen jüngeren Tenöre mit hoher Tessitura und intimem Wissen um Tonbildung und Legato. Er neigt nie zum „Krähen“, sondern kann den Ton stets abrunden; dass er in manchen Übergängen die sichere Formung der Stimme auf dem Atem vernachlässigt, muss nicht sein.

Rachel Harnisch als Hélène d’Egmont macht mit gleichmäßig geführter, schöner Stimme deutlich, warum Teresa Stolz mit der Partie nicht einverstanden gewesen sein könnte: Die Emotionen dieser Figur äußern sich eher in Stolz, Schmerz und Rachdurst als in den Kantilenen einer liebenden Frau. Die Stimme von Igor Bakan als Braumeister und Rebell Daniel bleibt beengt timbriert und unfrei in der Emission; das Gegenteil dazu repräsentiert Vladimir Baykov mit einem gewaltigen, aber kruden Bassbariton. Man hört, dass sich eine neue Generation von Sängern mit dem Genre des Belcanto intensiv befasst; dennoch sind die Beherrschtheit des Singens und der stilistische Schliff, wie ihn etwa Alfredo Kraus oder Juan Diego Flóres perfektionieren, noch nicht ihr Bier.

„Le Duc d’Albe“ passt nicht nur zum lokalhistorischen Erbe Flanderns; es ist eine Oper, der man eine baldige Erstaufführung in Deutschland wünschen würde. Die Chancen stehen freilich nicht gut: Sparzwang lässt die Opernhäuser zu den alten Schlachtschiffen des Repertoires greifen und vielerorts werden die tragischen Dramen Donizettis immer noch nur dann erwogen, wenn man einer Primadonna einen Gefallen tun will wie etwa Edita Gruberova in München. Verdient haben die Werke das nicht, denn Donizetti bietet beileibe kein saures Bier an, sondern den reinen Quell faszinierender Musikalität.

Aufführungen in Antwerpen: 9., 11., 15., 18. Mai um 19.30 Uhr; 13. Mai um 15 Uhr.

Aufführungen in Gent: 25., 29., 31. Mai, 2. Juni um 19.30 Uhr; 27. Mai um 15 Uhr.

Info: www.vlaamseopera.be

Tel.: (00 32 70) 22 02 02