Aufbruch ins Reich der Freiheit: Schostakowitschs Zehnte Symphonie in Krefeld

Das musikalische Porträt einer Epoche – geht das? Ein Charakterbild in Tönen – ist das möglich? Wer Dmitri Schostakowitschs Zehnte Symphonie hört, wird dem zustimmen, auch wenn er das „Programm“ des Komponisten nicht kennt: Der erste Satz exponiert ein Motiv, das gewalttätig und verzerrt wirkt, führt es auf eine extrem geschärfte Art durch. Im vierten Satz will dieses Motiv noch einmal die musikalische Dominanz übernehmen, doch es wird verdrängt: Ein anderes setzt sich durch, das der Hörer im zweiten Satz kennengelernt hatte.

Schostakowitsch hat von diesem 1953 uraufgeführten Werk in seinen Memoiren behauptet, es gehe um die Stalin-Ära, ja um den Menschenschlächter selbst. Biografische Hinweise legen sich nahe, wenn das zweite Thema aus den Noten d-es-c-h, den Anfangsbuchstaben des Namens Dmitri Schostakowitsch gebildet wird. Doch man muss die Symphonie nicht als musikalische Genugtuung über den Tod des Diktators und das Überleben des Komponisten lesen: Schostakowitsch verbindet die formalen Ansprüche der klassischen Symphonie grandios mit einer modernen Ausdruckssprache, die damals wie heute in ihren Bann zieht.

Gemessen an ihrer Qualität stehen Schostakowitschs Symphonien immer noch zu selten auf den Spielplänen. Denn sie führen selbst internationale Spitzenorchester an ihre Grenzen. In Krefeld und Mönchengladbach wagten sich die Niederrheinischen Sinfoniker dran – und triumphierten auf ganzer Linie. Unter seinem Generalmusikdirektor Mihkel Kütson stellte sich das Orchester nicht nur den spieltechnischen Herausforderungen: Die Musiker trafen Atmosphäre und spezifischen Tonfall der aus dunklem e-Moll erkeimenden Symphonie, die sich dann tonal ein Reich der Freiheit erkämpft.

Der düstere Beginn im verschatteten Piano der tiefen Streicher ist ein Bild der Erstarrung. Die Musik kommt nicht von der Stelle. Die grelle Solo-Trompete bringt den unverwechselbaren Schostakowitsch-Ton ins Spiel – mit seinen dissonanten Blöcken, seinen hochgetriebenen Violinen und den harten Bläserkontrasten. Im Seidenweberhaus in Krefeld klingen solche Momenten öfter verschwommen: Sie überfordern die Akustik, nicht aber das Orchester.

Kütson lässt Piani färben, dass sie kriechend lauern wie eine Schlange, bereit zum Zupacken. Er zündet die Tuttischläge scharf und heiß wie die Flamme eines Schweißgeräts. Er hält in den Bläser-Eruptionen und den katastrophischen Zusammenbrüchen die unverstellte Gewalttätigkeit und den nackten Bruitismus der Musik fest, mit der sie in der Tat ein klingendes Dokument der Stalin-Ära wird. Man kann sich an den vier Sätzen nicht satthören: Die Sinfoniker überraschen stets aufs Neue mit ihrer reaktionsschnellen Präzision, dem Sog einer kraftvollen Phrasierung, aber auch der klanglichen Palette in den Soli – von skurril gellenden Einwürfen bis hin zur weichen Resignation kantabler Linien.

Für das viel gespielte Violinkonzert Jean Sibelius‘ haben die Sinfoniker mit Carolin Widmann eine Solistin gewonnen, die sich nicht mit den Zugpferden des Repertoires, sondern mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem Einsatz für zeitgenössische Musik einen Namen gemacht hat. Sie macht schon mit dem sanft vibrierenden, schlanken, leuchtend erfüllten Ton der Einleitung klar, dass sie den schmerzgebärenden Gestus des „romantischen“ Virtuosen nicht übernehmen will. Details wie die traumsicheren Akkordgriffe oder die perfekten Sprünge auf der G- und D-Saite, das plastische Herausarbeiten von Details, der auch in schwierigsten Momenten souverän geführte Bogen sprechen für eine Solistin, die technisch problemlos in der Spitzengruppe heutiger Geigerinnen mithält.

Was nachhaltig für Widmann einnimmt, ist die musikalische Durchdringung des Sibelius-Konzerts: Der bewusst gestaltete Ton ist in der Farbe oder dem Charakter des Vibratos nicht am Zauber des schönen Moments orientiert. Er steht im Dienst einer komplexen Entwicklung, die großräumig gedacht und über die eine oder andere Phrase hinaus konzipiert ist. Das weckt beim Zuhören Entdeckerfreude und Spannung; das viel gehörte Konzert wirkt frisch und unverbraucht. Widmann schenkt dem Zuhörer den Aha-Effekt des neu Entdeckens, nicht des wohligen Wiedererkennens. So trägt der feinherbe, schimmernde Klang des „Adagio di molto“ im zweiten Satz eine edle Kantilene, führen die energischen Non-Legati und die stets zielführend gebildeten Repetitionen des dritten zu Sinn und Tiefe. Die Abstimmung mit dem Orchester klingt vorzüglich, Kütson ist ein engagierter, zuhörender Partner.

Begonnen hatte das Konzert mit Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ – in der schroffen, unangepassten Urfassung ein Zeugnis für die visionären, von seiner Zeit nicht verstandenen klanglichen und formalen Entwürfe des Russen. Kütson hatte anscheinend ein wenig Respekt vor der eigenen Schneid: Er legte temperamentvolle Tempi und dynamische Entwicklungen vor, entschied sich im Zweifelsfall aber eher für den kultivierten Klang eines technisch versierten Sinfonieorchesters als für das Ausstellen sich aneinander reibender Dissonanzen und klanglicher Extreme, etwa in den sehr schön, aber nicht abgründig offen intonierenden tiefen Holzbläsern. Dazu begünstigt die Akustik des Krefelder Saales die Detailschärfe des Klangs nicht: Die krachenden Fortissimo-Exzesse gerieten so neblig wie ein Wintertag auf dem Brocken. Dennoch: Die Begegnung mit diesem Orchester – jenseits der Oper – gab einen überzeugenden Eindruck mit, der auf einige auch programmatisch ansprechende Konzerte der nächsten Saison 2014/15 viel Appetit macht.




Die Violine als Wundervogel: Carolin Widmann ist Residenzkünstlerin in Duisburg

Carolin Widmann (Foto: Marco Borggreve)

Ein musisch derart hochbegabtes Geschwisterpaar wie Jörg und Carolin Widmann hat es in Deutschland wahrscheinlich seit Felix und Fanny Mendelssohn nicht mehr gegeben.

Seit Bruder und Schwester in ihrem Münchner Kinderzimmer große Opern von Mozart und Puccini mit Stofftieren nachspielten, entwickelten sie sich zu leuchtenden Exponenten des modernen Musiklebens: Jörg zum überragenden Klarinettisten und vielfach ausgezeichneten Komponisten, dessen Werke in aller Welt gespielt werden, Carolin zur nicht minder gefragten Violin-Virtuosin, deren CD-Einspielungen mit Kritikerlob und Preisen nachgerade überschüttet wurden.

Was diese Geigerin so ungewöhnlich, ja einzigartig macht, ist in der aktuellen Konzertsaison in Duisburg zu erleben. Als Residenzkünstlerin der Duisburger Philharmoniker ist Carolin Widmann bis zum 9. Juni 2013 in insgesamt vier Konzerten zu erleben. Als Solistin und Kammermusikerin wird sie Zeitgenössisches gleichberechtigt neben Werke der Romantik und der gemäßigten Moderne stellen. Die 36-Jährige mit dem roten Haarschopf ist eine, die gerne Vorbehalte ausräumt, die das Publikum für moderne Klänge zurück erobern möchte. Sie will möglichst vielen Menschen näher bringen, was ihr von Kindheit an selbstverständlich ist.

Das mag nach einer Mission klingen. Aber Carolin Widmann wirkt weder lehrerhaft noch verbissen. Zum Auftakt ihrer „Residency“ begegnet uns im Lehmbruck Museum eine quirlige und lebensfrohe Künstlerin, die sich mit Verve und hellwachem Geist für die Musik unserer Zeit einsetzt. Vor einem interessierten Kreis spielt sie im Museumsfoyer „Solo allein“: Ein Programm mit hoch virtuosen Solo-Stücken, musikalisch gehaltvoll genug, um als Meisterwerke der Violinliteratur gelten zu dürfen. Vom ersten Ton an ist bei ihr klar, dass diese nicht isolierte Inseln im Meer der Musikgeschichte sind, sondern dass sie durch klare Traditionslinien verbunden sind, umflossen vom gleichen Strom der Zeit. Die Schauspielerin Isis Krüger ergänzte den Abend durch die Rezitation von Gedichten Else Lasker-Schülers.

Widmann beginnt mit Salvatore Sciarrinos „Capricci“ für Solo-Violine, die sich unter ihren Händen so frappant als Reaktion auf die Capricen von Paganini erweisen, dass sich ein freudiges Wiedererkennen in das Staunen mischt. Sie jagt Sciarrinos Klangsplitter aufeinander, witzig und gefährlich, blendend virtuos und doch mit größter Natürlichkeit. Ihre wertvolle Guadagnini-Geige verwandelt sich unter ihren Händen in einen Wundervogel, der tiriliert und flötet, zwitschert, keckert und flirrt. Selbst in Ausbrüchen, die das Nebengeräusch nicht scheuen, bleibt ihr Spiel sinnlich und vielfarbig.

Blitzsauber und technisch tadellos meistert die Geigerin dann die berühmte Sonate „Obsession“ von Eugène Ysaye, die Bach-Zitate mit dem mittelalterlichen „Dies irae“-Motiv der lateinischen Totenmesse verschränkt. Dabei geht es ihr nicht so sehr um die Demonstration geigerischer Opulenz. Widmann beweist ein untrügliches Gefühl für Atmosphäre, lässt die „Malinconia“ trüb dahin fließen, entzückt durch volltönende Akkorde und öffnet durch den Einbruch des dämonischen „Dies irae“-Motivs immer wieder Abgründe. „Les Furies“ hinterlassen bei ihr Eiseshauch und Schwefelgestank.

Umgeben von einem Halbkreis aus 8 Notenständern beschließt sie den Abend mit den selten im Konzertsaal aufgeführten „Anthèmes II“ von Pierre Boulez, die in der Fassung für Violine und Live-Elektronik erstmals 1997 in Donaueschingen erklangen. Beziehungsreich spielt der Werktitel mit alten englischen Psalmen- und Hymnenkompositionen, mit dem Begriff des Themas und dem Namen einer Blume, der Chrysantheme. Im Zusammenspiel mit der Live-Elektronik, für die ihr Detlef Heusinger, Thomas Hummel und Simon Spillner vom Experimentalstudio des SWR zur Seite stehen, betritt Widmann ein musikalisches Spiegelkabinett, in der die Elektronik ihren Klang vervielfacht. Die Geigerin spielt mit Echos, lässt die formal klar getrennten Abschnitte des Werks aufblühen. Ihr Violinton erreicht dabei eine biegsame Anmut, die dem Solokonzert von Felix Mendelssohn zur Ehre gereicht hätte.

Die Duisburger Philharmoniker und ihr Intendant Alfred Wendel haben mit Carolin Widmann eine wegweisende Künstlerin verpflichtet. Ihr zu lauschen, sei allen ans Herz gelegt: Wer diese Chance verpasst und weiter verständnislos den Kopf über die vermeintlich verkopfte Moderne schüttelt, ist fortan selbst Schuld.

(Weitere Termine mit Carolin Widmann: 14. und 15. November, 17. Mai und 9. Juni 2013. Informationen: www.duisburger-philharmoniker.de)