Wie es im Revier gewesen ist – Fotografien von Helmut Orwat

Taubenzüchter im Sonntagsanzug, Castrop-Rauxel, 1967. (Foto: Helmut Orwat)

Helmut Orwat war stets nah dran. Nah am Alltag und den Menschen im Ruhrgebiet, speziell in und um Castrop-Rauxel. Seit 1960 arbeitete er als freier Fotograf für diverse Zeitungen und Zeitschriften, von 1984 bis 2000 war er bei den Ruhrnachrichten festangestellt. Rund 150 ausgewählte Fotografien sind im LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg zu sehen.

Der Ausstellungstitel „Täglich Bilder fürs Revier“ lässt etwas von der Eile ahnen, mit der Orwat meist zu Werke ging. Aktuelle Geschehnisse mussten eben sofort festgehalten werden, und zwar unter härteren Bedingungen als heute, wo digitale Kamera- und Nachbearbeitungs-Technik die Sache doch deutlich erleichtert. Dennoch (oder gerade deshalb, weil eben noch viel mehr echte Handarbeit darin steckt) haben seine Bilder die Jahrzehnte überdauert und legen nun gültiges Zeugnis ab vom Ruhrgebiet, wie es einmal gewesen ist. Manche Besucher werden sich wehmütig erinnern.

Kernkraftwerk in Hamm-Uentrop, 1980. (Foto: Helmut Orwat)

Die besten Fotos haben gleichsam eine „Seele“, man merkt ihnen die Freude des Herstellens an. Ganz klar: Solche kontraststarken Ansichten müssen schwarzweiß sein, jede Kolorierung täte ihnen Gewalt an. Vorbilder Orwats waren Fotografie-Größen wie Chargesheimer und Otto Steinert, die sich gleichfalls im Revier umgetan hatten.

Die Auswahl ist in Kapitel gegliedert, zum Beispiel: Industrie und Landschaft, Kanal und Schifffahrt, Beruf und Arbeit, Stadt und Verkehr, Familie und Freizeit. Die Aufnahmen vergegenwärtigen inzwischen verblasste, typische Merkmale des Ruhrgebiets und seiner Menschen, zunächst vor allem im Umkreis des Bergbaus – nicht nur in den Zechen selbst, sondern etwa auch am Straßenrand, wenn haufenweise Kohle geliefert wurde und nun in den Keller geschaufelt werden sollte. Auch sieht man prominente Besucher der Castroper Zeche Erin mit kohleschwarzen Gesichtern als kalkuliertes Signal für „Volksnähe“: den früheren Bundespräsidenten Walter Scheel (1975) oder den damaligen CSU-Chef Franz Josef Strauß (1980).

Feuerlöschübung mit Ordensschwestern des St. Rochus-Hospitals, Castrop-Rauxel, 1972. (Foto: Orwat)

Vor allem aber hat Orwat die „ganz normalen“ Bewohner des Reviers in den Blick genommen. Die Camper am Dortmund-Ems-Kanal, den Taubenzüchter, die Frau von der Trinkhalle, den Klüngelskerl, Frauen in der Bochumer Opel-Montage, die Jury des Kleingartenwettbewerbs – und immer wieder spielende Kinder, ein Motiv-Genre, für das Helmut Orwat einen besonderen Blick hatte. Bemerkenswert auch die Fotos von einer Modenschau bei Hertie in Castrop oder vom Castroper Pferderennen und seinem Publikum. Da zeigt sich überdeutlich: Das einstige Revier war beileibe weder Paris noch Ascot, doch auch hier konnte man die karge Freizeit genießen, wenngleich längst nicht so edel stilisiert. Dafür aber ohne Dünkel.

Montagestraße Opel Kadett, Opel Werk I, Bochum, 1963. (Foto: Helmut Orwat)

Orwat, 1938 als Bergmannssohn in Castrop-Rauxel geboren, erfasste imposante, zuweilen auch beängstigende Industrielandschaften, zeichnete dann aber auch den Niedergang der alten Industrien nach. Die Folgen werden fassbar, wenn Arbeiter gegen Schließungen demonstrieren und Orwat ihre letztlich vergebliche Entschlossenheit zu zeigen vermag. Als schon etliche Zechen dicht waren, bekam er Götz George vor die Linse: 1981 als „Schimanski“ beim Dreh zum Duisburger „Tatort“. Es war ein bedeutsamer zeitlicher Schnittpunkt: Die Industrie war im Schwinden begriffen, eine Figur wie Schimanski trug jetzt zur Legendenbildung bei.

Das nahende Ende des früheren Reviers zeigt sich bereits in Aufnahmen wie jener des sterilen City-Centers Herne (1975) mit seiner ganz und gar nicht mehr regionaltypischen Anmutung. Das war keine wirkliche Alternative zum schmutzigen Hinterhof der alten Zeiten. Überhaupt dokumentierte Orwat einige brutale „Bausünden“ im Ruhrgebiet. Noch betrüblicher: Sein Beruf brachte es mit sich, auch Unglücke ablichten zu müssen. Das Auto, das aus dem Kanal geborgen werden musste, den explodierten Tanklaster, den Trauerzug nach einem Grubenunglück.

Helmut Ornat: Selbstporträt mit Leica-Kamera im Jahr 1965.

Leute wie Helmut Orwat gibt es nicht mehr. Tageszeitungen leisten sich kaum noch ambitionierte Fotografie. Statt dessen zücken häufig die Texter ihre Handys. Mit entsprechend dürftigen Ergebnissen.

„Täglich Bilder fürs Revier“. Pressefotografien von Helmut Orwat 1960-1992. Waltrop, LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg (Hafengebäude). Noch bis 4. Februar 2024. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Begleitender Bildband mit 150 Aufnahmen im Tecklenborg Verlag, 200 Seiten, 19,80 Euro.

Das LWL-Medienzentrum für Westfalen hat das fotografische Lebenswerk von Helmut Ornat übernommen. Eine Auswahl von über 3000 Motiven wurde digitalisiert und kann online recherchiert werden unter:

www.orwat-fotosammlung.lwl.org

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel erschienen: 

www.westfalenspiegel.de




Kaum Licht im Dickicht der Verschwörungstheorien – „Dunkle Mächte“ von Sineb El Masrar im Westfälischen Landestheater

„Dunkle Mächte“ – Szene mit (v.l.) Oliver Möller, Bashar Al Murabea, Sima Laux und Talisa Lara Schmid (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Wir werden alle von Bill Gates manipuliert, Corona ist nur eine Erfindung zur vollständigen Kontrolle der Menschheit, die „Umvolkung“ ist im vollen Gange – so oder so ähnlich lauten einige aktuelle Verschwörungsmythen, dazu noch hässlich rassistisch grundiert und als vermeintliches Rebellentum etikettiert. Hat es immer schon gegeben, könnte man sagen, in Zeiten Kalten Krieges wurden wir von den Kommunisten unterwandert und desinformiert, später schickte der Neoliberalismus seine Sachwalter vorbei.

Bei scheinreligiösen Organisationen wie beispielsweise Scientology kann man ja wirklich ins Grübeln kommen. Doch so schlimm wie heute war es früher doch nicht, oder? Das Westfälische Landestheater (WLT) jedenfalls hat sich nun des nicht mehr ganz taufrischen Themas Verschwörungstheorien angenommen und das Stück „Dunkle Mächte“ von Sineb El Masrar auf die Bühne gestellt.

Szene mit (v.l.) Sima Laux und Talisa Lara Schmid (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Kreuzbraves Vierpersonenstück

Doch wird es uns die Augen öffnen? Wer auf Enthüllung und Erklärung setzte, gar dunklen Mächten leibhaftig zu begegnen hoffte, wird enttäuscht. Ein zunächst einmal kreuzbraves Vierpersonenstück nimmt auf der Bühne (Ausstattung: Anja Müller) seinen Lauf, naturalistisch gespielt, fast ein wenig boulevardesk.

Zwei Schwestern lernen wir kennen, Musliminnen mit und ohne Kopftuch, Influencerin die eine (Sima Laux), Schneiderin die andere (Talisa Lara Schmid); ein junger Mann (Oliver Möller) – Biodeutscher, reicher Industrieerbe – betritt die Schneiderei, um bestellte Hemden seines verstorbenen Vaters abzuholen, schließlich tritt auch sein muslimischer Diener (Bashar Al Murabea) auf, das Personal ist komplett.

Oliver Möller und Talisa Lara Schmid (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Schwer zu folgen

Der freundliche Kammerton hat nur kurzen Bestand. Bald schon beleidigt man einander nach Kräften, besteht auf seinen Vorurteilen, formuliert bizarre Weltkonzepte aus Kapitalismus und Antisemitismus, usw.

Doch auch nach längerem Zuschauen wird nicht ganz klar, wer für welche Hass- und Verschwörungsbotschaften zuständig ist. Immer monströser und verschwurbelter wird das ganze, und die Bemühungen der eigentlich vernünftigen Schwester Schneiderin um Erdung des erhitzten Personals misslingen. Strukturen sind in dieser Auseinandersetzung schwer auszumachen, was natürlich auch am Fehlen einer rationalen Diskussionsebene liegt. Anzuerkennen ist aber fraglos die Leistung des Ensembles, in endlos langen Sätzen einschlägige Behauptungen zum Vortrag zu bringen. Der Unterhaltungswert dieser Vorträge indes ist, zurückhaltend ausgedrückt, gering.

Die eigene Situation

Die Auseinandersetzung mit dem Internet, mit rassistischen „sozialen Netzwerken“, „Echokammern“ und ähnlichem hätte gern ausführlicher ausfallen können, auch Wechselbeziehungen zwischen verpeilter Weltsicht und eigener Lebenssituation wären von Interesse gewesen. Gewiss, einiges erfahren wir schon. Die ältere Schwester – Schneiderin, kein Kopftuch – wurde von den Eltern inniglich geliebt und durfte immer bei ihnen bleiben, die jüngere Schwester – Influencerin, Medizinstudentin, Kopftuch – wurde zu den Großeltern gegeben und fühlt sich ungeliebt. Religion spielt eine Rolle, doch ob und in welchem Ausmaß biographische Details die Weltsicht prägen, steht dahin, und es wird nicht ganz klar, ob das an der Textvorlage oder vielleicht doch eher an der etwas unentschlossenen Art der Inszenierung (Christian Scholze) liegt.

Kasperle und Hakawati haben rote Hüte auf

Kein Happy End, keine Handlungsanweisungen an das Publikum; statt dessen beginnt und endet das Stück mit dem Auftritt zweier Gestalten mit roten Kopfbedeckungen. Es sind, wie der Programmzettel verrät, Kasperle und Hakawati, zwei volkstümliche, eigentlich fröhliche Figuren aus zwei verschiedenen Kulturkreisen, die sich (hier) gar nicht unähnlich zu sein scheinen und dem ganzen mit bedauerndem Humor zusehen. In der Tat: Gegen seelische Verhärtungen hilft oft Humor. Etwas mehr davon hätte man sich auch in der Inszenierung gewünscht.

  • Termine:
  • 14.01.2022 19.00h, Velbert, Theater Schloss Hardenberg
  • 14.01.2022 11.00h, Velbert Theater Schloss Hardenberg
  • 24.11.2022 20.00h, Nordhorn Konzert- und Theatersaal



Lange Schatten der Vergangenheit – Das Westfälische Landestheater verhandelt Ferdinand von Schirachs „Fall Collini“

Junger Idealist und alter Hase: Tobias Schwieger (links) als Pflichtverteidiger Caspar Leinen, Burghard Braun (rechts) als abgebrühter Nebenkläger Mattinger. Im Hintergrund schmachtet Collini (Guido Thurk) in seiner Zelle. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Warum hat Collini den Industriellen Hans Meyer erschossen? Dass er es tat, steht außer Frage, doch Collini schweigt. Caspar Leinen, ein ehrgeiziger, junger Anwalt, wird vom Gericht zum Pflichtverteidiger ernannt. „Der Fall Collini“ ist seine erste Mordsache. Ferdinand von Schirachs gleichnamiger Roman lieferte die Vorlage für das Theaterstück, das nun am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel seine Uraufführung erlebte.

Sonderlich originell ist Schirachs Einstieg in die Geschichte sicherlich nicht, viele Krimis, amerikanische zumal, kommen ähnlich daher. Doch geht es dem Autor, der von Beruf Strafverteidiger ist und erst im fortgeschrittenen Alter zum überaus erfolgreichen Literaten wurde, ja nicht nur um Unterhaltung. Nein, von Schirach will auch politisch aufklären. Und deshalb erfährt das Publikum dank fleißiger Recherchen von Rechtsanwalts Leinen im Staatsarchiv bald, dass Collini zum Mörder wurde, weil Hans Meyer seinen Vater 1943, in Italien, als Geisel hinrichten ließ. Eine Klage, die Collini 1968 gegen Meyer erhob, wurde wegen Verjährung abgewiesen. Grundlage dieser Entscheidung war ein Gesetz aus dem selben Jahr, das die Verjährung der Taten der „Helfer“ von Nazi-Mördern regelte. 1968 lebten noch viele von ihnen. So weit, so skandalös.

Gang der Handlung ist nicht völlig überzeugend

Warum aber wartete Collini noch Jahrzehnte, bis er seinen Mord beging? Nun, er wartete, bis ein geliebter Verwandter gestorben war, der Mord, Verhandlung, Haft nicht miterleben sollte. Ein wirklich überzeugender Abschluss ist das eigentlich nicht, immerhin aber sind die juristischen Abhandlungen von Schirachs, die im Roman breiten Raum einnehmen, von Interesse.

Collini schweigt, der Anwalt wartet; Szene mit Tobias Schwieger (links) und Guido Thurk. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Intensive Form

Was nun macht das WLT aus diesem Roman? Auf eine Stunde 45 Minuten ohne Pause hat diese Inszenierung (Karin Eppler) den Stoff eingedampft, was dieser erstaunlich gut überstanden hat.

Nüchtern betrachtet rankt sich die Geschichte um zwei umfangreiche historische Rückblenden: Da ist zum einen die Erinnerung des kleinen Fabrizio Collini an den Überfall deutscher Soldaten auf sein Dorf und die Vergewaltigung seiner Schwester, späterhin an den Bericht über die Erschießung seines Vaters, zum anderen jene an das Gesetz von 1968, das die Taten von Nazi-Befehlsempfängern für verjährt erklärte.

Wenn all dies auf der Bühne zur Sprache kommt, hätte man Vorträge in großer Erregtheit erwarten können, Emotion, Betroffenheit, Fassungslosigkeit. Den ungeheuerlichen Ereignissen, um die es hier geht, wäre das allemal angemessen. Gerade deshalb jedoch erweist sich die sachliche, emotionsarme Darstellung in dieser Inszenierung als die richtige. Gewalttaten und Kriegsverbrechen, so wie sie sich hier darstellen, brauchen keine dramatische Überhöhung, um verstanden zu werden. Im Gegenteil. Die kleine Form gebiert das Grauen.

Der rote Faden verheddert sich

Leider verheddert sich der rote Faden im weiteren Gang der Handlung ein wenig. Wo juristische Sachlichkeit zwingend wäre – es geht immerhin um einen Mord –, findet die Inszenierung Gefallen an der Vorstellung, Collinis Schuld an dem zu messen, was die Nazis ihm und seiner Familie antaten. Das ist ein bisschen leichtfertig, auch wenn die Vorgeschichte bei der Frage nach der Schwere der Schuld gewiss eine Rolle spielt. Collinis Selbstmord setzt dieser thematischen Irritation ein abruptes Ende.

Bemerkenswertes Sound-Design

Das Mobiliar – Stühle, Tische – ist sparsam, dominiert wird die Bühne von einer Art Guckkasten, eine Gefängniszelle wohl, in der Collini sich befindet. Von einer Wanderbühne wie dem WLT sollte mehr Ausstattung auch nicht erwartet werden. Die Oberbekleidung der Damen und Herren (Garderobe: Regine Breitinger) ist weitgehend unspektakulär. Lediglich die Ausstaffierung des Polizisten („Kommissar Balzer“, gespielt von Mario Thomanek) mit Springerstiefeln und altertümlicher Lederjacke, auf der Polizei steht, ist etwas unpassend. Erwähnt werden muss noch das Sound-Design (Ton: Lukas Rohrmoser) das unaufdringlich den Gang der Handlung akzentuiert.

Erfahrene Kräfte

Burghard Braun lässt als Rechtsanwalt Mattinger einmal mehr den in sich ruhenden, unaufgeregt aufspielenden Bühnenprofi erkennen, gleiches lässt sich über Andreas Kunz in der Rolle des Oberstaatsanwalts Reimers sagen; auch Vesna Buljevic als Richterin weiß ihre Rolle mit Ruhe und Konzentration anzulegen, ohne deshalb beliebig zu werden.

Leinen (Tobias Schwieger, links) erläutert Johanna Meyer (Franziska Ferrari) seine Beweggründe. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Zu viel des Guten

Tobias Schwieger jedoch, der hier die Hauptrolle spielt, möchte man nachdrücklich mehr Zurückhaltung empfehlen. Er überspielt den jungen Anwalt, besonders anfangs, so sehr, dass man sich im Kindertheater wähnt (nichts gegen das Kindertheater). Wenn Pathologe Wagenstett (Mike Kühne) detailverliebt die Schussverletzungen Hans Meyers beschreibt, übergibt Caspar Leinen sich mehrere Male kunstvoll, fast schon slapstickhaft. Eine Lachnummer, die allerdings auch den Verdacht nährt, dass dieses aufgekratzte Spiel ein – reichlich unangemessener – Regieeinfall sein könnte.

Auch Franziska Ferrari als empörtem Mitglied des Meyer-Clans wäre Mäßigung anzuraten. Wenn sie allerdings die leicht zwanghafte Frau Dr. Schwan vom Bundesarchiv gibt, die dem Gericht im munteren Expertenton erläutert, wann beispielsweise die Erschießung von Geiseln nach dem Völkerrecht (auch heute noch) erlaubt ist und wann man vielleicht von einem Gesetzesverstoß reden könnte, dann weiß sie wohl zu überzeugen.

Wohltuende Aufgeräumtheit

„Der Fall Collini“ im Westfälischen Landestheater beeindruckt vor allem durch seine dokumentarischen Valeurs, erinnert in seinem Hang zur Belehrung durchaus auch an Fernsehspiele der 60er-Jahre. Die Aufgeräumtheit dieser Inszenierung ist wohltuend, und das Ensemble liefert eine alles in allem überzeugende Arbeit ab. Das Publikum in der voll besetzten Europa-Halle spendete begeisterten Beifall.

  • Weitere Termine:
  • 24.10.2021    Nettetal Haus Seerose
  • 29.10.2021    Marl Theater
  • 30.10.2021   Castrop-Rauxel Studio
  • 2.11.2021    Brilon Kolpinghaus
  • 3.11.2021    Gladbeck Stadthalle
  • 20.11.2021    Sulingen Stadttheater im Gymnasium
  • 3.11.2021    Herne Kulturzentrum
  • 2.12.2021    Rheda-Wiedenbrück Aula des Ratsgymnasiums
  • 12.12.2021    Gifhorn Stadthalle
  • 13.01.2022    Solingen Theater und Konzerthaus
  • 18.03.2022    Bad Oeynhausen Theater im Park
  • 12.05.2022    Bottrop Josef-Albers-Gymnasium

WLT-Kasse: 02305 / 97 80 20.

tickets@westfaelisches-landestheater.de




Unsterbliche Sissi – im Westfälischen Landestheater erinnert ein neues Stück an das tragische Leben von Romy Schneider

Zweimal Romy, ausgelassen: Franziska Ferrari (links) und Vesna Buljevic (Bild: Volker Beushausen/WLT)

Auf der Bühne kommt Romy Schneiders Nachlass unter den Hammer. Möbel, Tücher, Gläser, Kleidungsstücke werden aufgerufen, Aschenbecher, Kerzenleuchter, Pumps, ein Schaukelpferd – alles in chronologischer Reihenfolge.

Offenbar sind die Dinge gefragt, Zuschläge erfolgen auf hohe Gebote. Dies mag man – auch – als Anspielung auf die ungebrochene Attraktivität verstehen, die die tragische Biografie der Romy Schneider für das heutige Publikum immer noch hat und die das Westfälische Landestheater (WLT) veranlasste, ein Stück über sie ins Programm zu heben.

Eine zwielichtige Gestalt: Burghard Braun als Hans-Herbert „Daddy“ Blatzheim (Bild: Volker Beushausen/WLT)

Corona hat den Start verhagelt

Vor zwei Jahren widmete sich der Film „Drei Tage in Quiberon“ der Schauspielerin, derzeit bereiten sich (nicht nur) die bunten Blätter auf den 65. Geburtstag des grandiosen Filmklassikers vor. Und das WLT zeigt seine Produktion „Ich bin eine Schauspielerin, mehr nicht“ von Karin Eppler (auch Regie) – jedenfalls ab und zu. Die verspätete Premiere fand im September im Theater Marl statt, weil Corona sie im Frühjahr in Castrop-Rauxel verhindert hatte. Mitte November wird sie nun in Boppard (15.11.) und Mettmann zu sehen sein (17.11.), Castrop-Rauxel muss sich bis März 2021 gedulden.  Und das alles noch unter Pandemie-Vorbehalt.  Falls jedoch gespielt wird, gibt es die Romy gleich zweifach.

Rollen reichlich: Die Sonnenbrille macht Mario Thomanek zu Alain Delon. (Bild: Volker Beushausen/WLT)

Zweifache Romy

Die eine Romy Schneider ist jung, emotional, glücklich, traurig, ehrgeizig, ängstlich, lebenshungrig und vieles mehr, die andere abgeklärt und verständnisvoll. Beide verfolgen die Versteigerung, erinnern sich und führen einen Dialog, in dem die ältere Romy oft versucht, die jüngere zu besänftigen, ihren Gefühlsexplosionen rationalen Halt zu geben. Doch das gelingt nur bedingt.

Markige Männer

Drittes Element des Stücks schließlich sind Spielhandlungen, kleine Szenen, in denen die Menschen vorkommen, die für Romy in bestimmten Zeitabschnitten lebenswichtig waren. Mit Ausnahme der übermächtigen Mutter Magda Schneider sind es eigentlich nur Männer, beginnend mit Vater Wolf Albach-Retty und Stiefvater Hans-Herbert „Daddy“ Blatzheim, denen Alain Delon, Harry Meyen, der Verbrecher Burkhard Driest und viele andere folgen. Auch der Fotograf Robert Lebeck, der Romy kurz vor ihrem Tod noch für den „Stern“ fotografierte, findet Erwähnung. Und in dieser überaus soliden Stückkonstruktion, linear erzählt, spult sich nun die tragische Biografie der früh Verstorbenen vor uns ab.

Perfekter Gegenentwurf

Zumal ein älteres Publikum wird hier kaum Neues erfahren. Doch hat es durchaus seinen Reiz, sich diese Künstlerbiografie wieder einmal zu vergegenwärtigen. In Deutschland, im deutschen Kino zumal, war Romy Schneider geradezu der perfekte Gegenentwurf zu so beunruhigenden Jugendmoden wie Rock’n’Roll oder renitenten Filmhelden wie Marlon Brando. Perfekt bediente der Sissy-Mythos die Heile-Welt-Sehnsüchte einer kriegsgeschundenen Generation. Auch heute noch, wenn das Fernsehen wieder mal einen alten Sissy-Film zeigt, kommt man nicht umhin, zuzugeben, dass diese unter professionellen Gesichtspunkten extrem gut gemacht sind. Und dass die blutjunge Romy Schneider ein auratischer Star war.

Romy Schneider, verletzlich (Franziska Ferrari). (Bild: Volker Beushausen/WLT)

Seelische Qualen

Gelebt hat sie eben so, wie Prominente im Showgeschäft häufig leben, immer auf der Überholspur. Das wäre für sich genommen ja noch nicht tragisch gewesen; aber Romy Schneiders zornige Abkehr vom deutschen Sissy-Zuckerguss, ihre Karriere in Frankreich, ihre unbotmäßigen Männerbeziehungen, ihre seelischen Qualen und der Unfalltod ihres Sohnes David ergeben in der Summe eine respekteinflößende Lebensgeschichte. Auch heute noch.

Das missbrauchte Kind

Leider beschränkt sich Karin Epplers Stück auf ein biederes Nacherzählen, das sich psychologischer Ausdeutungen weitestgehend enthält. Auch ist kein Ehrgeiz spürbar, etwas Anderes als quasi Aktenkundiges anzubieten. Dabei wäre es sicherlich kein Fehler gewesen, zum Beispiel nach Gemeinsamkeiten in Biographien von Künstlerinnen wie Marilyn Monroe, Judy Garland oder eben Romy Schneider zu suchen, die von skrupellosen Eltern und Erziehern zu Showstars gemacht wurden, ohne dem seelisch gewachsen zu sein. So aber bleibt dies ein erstaunlich blutleeres Theater, mit viel Erregung und wenig Dramatisierung.

Spuckschutz und Handschuhe

Doch bereitet es Freude, dem Personal bei der Arbeit zuzuschauen, die häufig übrigens, kein Zuckerschlecken, mit Spuckschutzmaske und Handschuhen erledigt werden muss. Franziska Ferrari gibt die Romy mit großem, fast schon athletisch zu nennenden und dabei stets leichtfüßig-elegantem Körpereinsatz, Vesna Buljevic bildet als ältere Romy – „Frau Schneider“ laut Besetzungszettel – einen gelassenen Gegenpol, und zusammen sind sie eine durchaus gelungene Spielpaarung. Lediglich zum Ende hin hat die Ältere keinen rechten Platz mehr in der Inszenierung, wenn Romy die Dinge mehr und mehr entgleiten, Suchtprobleme beherrschend werden und man schließlich nicht genau weiß, woran sie eigentlich gestorben ist.

Klänge von damals

Svenja Marija Topler gibt – im zeittypischen Weiße-Punkte-Kleid – die dominante Magda Schneider, und ebenso wie Burghard Braun, Mario Thomanek und Tobias Schwieger tritt sie in etlichen weiteren Rollen auf. Sechs Darstellerinnen und Darsteller haben über 30 Rollen zu bewältigen, das klingt schwierig und gelingt mit bildstarken Requisiten doch recht gut. Die Sonnenbrille markiert den Alain Delon, die Lederjacke den Burkhard Driest, und so fort. Einen guten Eindruck hinterlässt schließlich auch eine sorgfältig eingepasste Tonspur, die immer wieder einmal mit kurzen, prägnanten Musikeinspielern Zeitkolorit entstehen lässt (Ton: Benjamin Hasenclever).

In Marl spendete das Publikum  reichen Applaus. Wenn es trotzdem verhalten klang, ist das der luftigen Corona-Sitzordnung anzulasten.

Aufführungstermine der Produktion „Ich bin eine Schauspielerin, mehr nicht. Romy Schneider – Das Leben einer Ikone“:

  • 15.11.2020 19.00 Boppard Stadthalle
  • 17.11.2020 19.00 Mettmann Neandertalhalle
  • 4.3.2021 20.00 Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 10.3.2021 20.00 Rheda-Wiedenbrück Stadthalle
  • 20.3.2021 20.00 Castrop-Rauxel Studio
  • 9.5.2021 19.30 Witten Saalbau
  • 19.5.2021 19.30 Hameln-Theater
  • 19.6.2021 20.00 Bocholt Innenhof

 

 




Er war eine Stimme der Sprachlosen – zum Tod des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding, der am vergangenen Freitag mit 90 Jahren gestorben ist. Bei diesem Beitrag handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text, der hier erstmals zu Redings 90. Geburtstag erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (dann in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trug, sah er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Dabei dürfen spätere Erzählbände nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?“,, „Allein in Babylon“, „Papierschiffe gegen den Strom“, „Reservate des Hungers“ und „Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich, prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, das sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.




Ultimativer Frohsinn auf der Bühne – das Westfälische Landestheater gibt die Komödie „Taxi Taxi“

Szene mit Barbara Smith (Franziska Ferrari), Polizeiinspektor Porterhouse (Burghard Braun) und dem verunglückten John Smith (Mario Thomanek, von links) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Szene mit (von links) Barbara Smith (Franziska Ferrari), Polizeiinspektor Porterhouse (Burghard Braun) und dem verunglückten John Smith (Mario Thomanek). (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Falls es stimmt, dass es im Theater um so lustiger zugeht, je ernster die Lage „draußen“ ist, leben wir in schlimmen Zeiten. Jedenfalls, wenn der Blick auf die neueste Produktion des Westfälischen Landestheaters fällt. Mit Ray Cooneys krawalliger Boulevardkomödie „Taxi Taxi – Doppelt leben hält besser“ setzt das Theater einen ultimativen Maßstab in Sachen Bühnenheiterkeit. Und dabei kann eigentlich niemand behaupten, er habe Geschichten wie die des Londoner Taxifahrers John Smith noch nie gehört.

John Smith – den Mario Thomanek, das kann getrost schon hier gesagt werden, mit sportlichem Körpereinsatz ganz hinreißend gibt – lebt mit zwei Frauen in zwei Ehen in zwei Londoner Stadtteilen. Natürlich dürfen die Gattinnen nichts voneinander wissen. Mit exaktem Timing und penibel geführtem Terminkalender hat das bislang funktioniert.

Die ganze filigrane Zeitarchitektur aber bricht zusammen, als John, eine heldische Tat ja eigentlich, einen Streit schlichten will, verletzt wird, ins Krankenhaus kommt – und beide treu sorgenden Gattinnen ihn bei der Polizei als vermisst melden. Zwei Inspektoren begeben sich auf die Suche nach dem Verschollenen, doch obwohl dieser bald wieder auftaucht, nimmt das Desaster nun unaufhaltsam seinen Lauf.

Mrs. Smith (Franziska Ferrari, links) und Bobby Franklyn (Emil Schwarz), der nette schwule Nachbar von oben (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Tür auf, Tür zu

Aus dem Motiv finaler Destabilisierung vermeintlich ganz alltäglicher Verhältnisse hat der Londoner Boulevard-Autor Ray Cooney (Jahrgang 1932) wiederholt dramatischen Honig gesaugt. „Außer Kontrolle“ heißt folgerichtig sein wohl erfolgreichstes Stück, das ebenso wie hier nun „Taxi Taxi“ nicht mehr und nicht weniger ist als eine fetzige, etwas schwarze Tür-auf-Tür-zu-Komödie.

Irre Tapete

Das Stück lebt von der Gleichzeitigkeit des Unerhörten, was Regisseur Markus Kopf hervorhebt, indem er alles in einem einzigen großen Raum mit irrwitzig gelb und grün bepunkteter 70er-Jahre-Tapete (Ausstattung: Manfred Kaderk) spielen lässt. Zwei Wohnungen in einer – das verwirrt im ersten Augenblick, doch die Irritation verfliegt schnell, macht Platz für intensives, atemloses, komödiantisches Theaterspiel.

Man brüllt

Ein „unkaputtbares“ Theaterstück ist „Taxi Taxi“ (Uraufführung 1983) trotz gut funktionierender Handlungsmechanik allerdings nicht. Mit zweieinviertel Stunden (eine Pause) ist es in Castrop-Rauxel schon recht lang geraten, und die Inszenierung hätte durchaus auch scheitern können. Der Spannungsbogen, den Markus Kopf setzt, schwingt sich früh in große Höhen und entschwindet bald danach in die Unsichtbarkeit. Dann werden viele Sätze in ermüdender Gleichförmigkeit herausgebrüllt, humorvolle Pointen der Vorlage hingegen sterben gleich platzenden Seifenblasen einen stillen Tod. Mary Smith (Svenja Marija Topler), der grausen Wahrheit ansichtig, schreit in den letzten Stückminuten nur noch unartikuliert, was zwar beeindruckt, aber von geringer Aussagekraft ist.

Gespräch mit der anderen Gattin, von links: Mary Smith (Svenja Marija Topler), Kumpel Stanley Gardener (Mike Kühne) und John Smith (Mario Thomanek) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Wunderbares Ensemble

Wenn „Taxi Taxi“ am Westfälischen Landestheater trotzdem ein großer Erfolg ist, wenn es gar zu einem frenetisch bejubelten Ereignis wird, liegt dies zum einen an dem bis zum Ende durchgehaltenen hohen Tempo der Inszenierung, zum anderen jedoch, wichtiger noch, an der hervorragenden Darstellerriege.

Geradezu liebevoll, wenn man so sagen darf, entsprechen sie sämtlich ihren Rollenklischees, Franziska Ferrari als langbeinige Verheißung im kleinen Roten ebenso wie Svenja Marija Topler im Wohlfühl-Sweatshirt. Guido Thurk gibt den biederen Streifenpolizisten Troughton mit einer entwaffnenden Mischung aus Güte und terrierhafter Beharrlichkeit, Burghard Braun, schon physiognomisch eine der stärksten Bühnenerscheinungen hier, ist mit Tweed und Schlips prototypisch der scheinbar grundkorrekte Inspektor Porterhouse.

Mike Kühne, etwas fülliger, weckt das Mitgefühl des Publikums, wenn er als Johns Kumpel Stanley Gardener von einer Extremsituation in die nächste taumelt, Emil Schwarz schließlich, nicht füllig, zelebriert die Tuntigkeit des Nachbarn Bobby Franklyn mit angenehmer Zurückhaltung, kurzum: das eigentliche Theatererlebnis sind bei „Taxi Taxi“ einmal mehr die Schauspieler. Und die Schauspielerinnen, selbstverständlich.

Szene mit (von links) Stanley Gardener (Mike Kühne), John Smith (Mario Thomanek), Mary Smith (Svenja Marija Topler) und Polizeiinspektor Troughton (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Süße Versuchung

Etwas Mahnendes zum Schluß: Mit Produktionen wie dieser ist das Westfälische Landestheater natürlich auf dem Niveau jener privaten Wanderbühnen angekommen, die mit anspruchsloser Unterhaltung ihr Geld verdienen, mit leichten, manchmal auch derben Produktionen, in deren Mittelpunkt häufig ein ehemaliger Film- oder Fernsehstar agiert.

Leichte Unterhaltung ist keineswegs tabu, auch nicht die schenkelklopfende. Doch muß das WLT, ein Landesinstitut immerhin, bei der Spielplangestaltung auch zukünftig qualitative Distanz wahren und dem klassischen resp. „ernsten“ Repertoire Raum geben. Daß sie das in Castrop-Rauxel können, haben sie mit Goethes „Faust“ oder der Bühnenadaption des Houellebecq-Romans „Unterwerfung“ {beide Male führte Gert Becker Regie) und vielen weiteren Produktionen längst bewiesen.

  • Termine:
  • 2., 3., 4., 6.5. Castrop-Rauxel
  • 22.9. Hameln
  • 28.10. Marl
  • 16.11. Solingen
  • 4.12. Bocholt
  • 12.12. Lünen
  • 13.12. Hamm



„Unterwerfung“ – Gert Becker setzt Houellebecqs Roman am Westfälischen Landestheater in Szene

Unterwerfung unter die Religion verheißt vollkommenes Glück; Szene aus dem Stück. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Wahlen im Frankreich des Jahres 2022. Der rechtsextreme Front National ist wieder die mit Abstand stärkste politische Kraft geworden, die Machtübernahme droht. Um sie zu verhindern, schließen sich Sozialisten und Muslim-Bruderschaft unter Führung des charismatischen Mohammed Ben Abbes zusammen und bilden eine Regierung. Frankreich wird islamische Republik. Und dann? In seinem Roman „Unterwerfung“ spinnt Michel Houellebecq, einer der bekanntesten und, wie man vielleicht sagen könnte, eigenwilligsten zeitgenössischen Schriftsteller Frankreichs, den Handlungsstrang weiter.

Buch erschien am Tag des Terrors

„Unterwerfung“ wurde schnell als skandalös gebrandmarkt, hat sich irrsinnig gut verkauft und diente mehrfach schon als Vorlage für Theaterstücke. Schlagartige Bekanntheit erlangte das Buch „Unterwerfung“ im Jahr 2015 allerdings auch dadurch, dass es zufällig am selben Tag auf den Markt kam, an dem die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris von Islamisten überfallen und 12 Menschen, fast die ganze Redaktion, ermordet wurden. Jetzt gibt es auch eine Bühnenfassung im Westfälischen Landestheaters in Castrop-Rauxel zu sehen.

Den Titelhelden und Ich-Erzähler François gibt es vierfach (von links): Franziska Ferrari, Burghard Braun, Maximilian von Ulardt und Mario Thomanek (Foto: Volker Beushausen/WLT)

François ist nicht glücklich

Literaturwissenschaftler François ist Hauptperson und Ich-Erzähler in „Unterwerfung“. Nach bürgerlichen Maßstäben ist er erfolgreich, hat es zum Professor einer Elite-Universität gebracht und es überdies geschafft, alle seine Lehrveranstaltungen auf einen einzigen Tag in der Woche zu legen. Jedes Jahr beginnt er ein neues Verhältnis mit einer Studentin, das jedes Mal zuverlässig mit den Sommerferien endet. Zufrieden stimmt ihn dies alles nicht, Überdruss und Einsamkeit bedrücken ihn. Und sicherlich liegt man nicht falsch, wenn man in diesem François nicht nur die wirklichkeitsnahe Karikatur eines französischen Intellektuellen, sondern auch ein Alter Ego des Autors Houellebecq zu erkennen glaubt, der mit vorgeblicher Unlust an den politischen Verhältnissen beobachtende Distanz wahrt.

Gar nicht so abwegig

Es ist unerhört! In einem „Gottesstaat“ Frankreich, mit Scharia und Polygamie, fühlt François sich deutlich wohler, zumal seine Bezüge gesichert sind und er als Wissenschaftler unerwartete Anerkennung erfährt. Und wer bei dieser Geschichte, deren Gang hier ja nur angedeutet werden kann, „Skandal“ schreit, ist unterschwellig vielleicht auch alarmiert von der Vorstellung, dass all diese klugen, kühlen Houellebecq-Gedanken so abwegig gar nicht sind.

François leidet auf dem Sofa vierfach unter  Fußproblemen (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Im Westfälischen Landestheater, in der Inszenierung von Gert Becker, gibt es François gleich vierfach, gespielt von Maximilian von Ulardt, Mario Thomanek, Burghard Braun und Franziska Ferrari. Alle sind sie Ich-Erzähler, und Becker hat den Monolog sinnhaft so unter ihnen verteilt, dass häufig der Eindruck von Dialogen entsteht. Wenn es um das Thema Frauen geht, um die Geringschätzung, die François ihnen entgegenbringt, kommt naheliegenderweise oft die Schauspielerin zum Zuge; die Männer indes verkörpern nicht unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale. Jeder ist François, wenn er einen Schlips trägt.

Verführbare Eliten

Um den Islam, das wird schnell deutlich, geht es in diesem Stück erst in zweiter Linie. Schon deshalb ist der Vorwurf der Islamophobie, gegen Houellebecq hier und da erhoben, nicht sehr sinnvoll. Die Geschichte zielt eher auf Eliten, die allzu schnell bereit sind, westliche Werte, Aufklärung, Liberalität, Freiheit, was auch immer, für persönliche Vorteile zu opfern. Und möglicherweise empfinden auch Intellektuelle Glücksgefühle bei der völligen Unterwerfung unter die Religion, zumal dann, wenn sie mit erheblichen Wohltaten verbunden ist. Der Titel legt den Schluss nahe. Das Stück ist verstörend, zurückhaltend ausgedrückt.

Verstörend und unterhaltsam

Mario Thomanek ist immer François, die anderen drei Darsteller schlüpfen hin und wieder auch in andere Rollen. So ist Burghard Braun auch mal ein launiger Geheimdienstler, und als ebenso klarsichtiger wie zynischer Verführer Rediger zeigt er fast schon diabolische Intensität. Maximilian von Ulardts Figuren wiederum – er spielt den stets bestens informierten Kollegen Lempereur und die Universitätspräsidentin Marie-Françoise – geraten in ihren pantomimischen Passagen etwas zu klamaukig und passen eher ins Kindertheater als zu diesem nicht ganz jugendfreien Abend. Franziska Ferrari schließlich gefällt insbesondere als Aurélie, als (noch nicht so ganz) abgelegte Einjahresfreundin, deren abendlicher Besuch das sexuelle Elend des Protagoisten einmal mehr offenbart.

Einzige Kulisse ist bei alledem ein überdimensionales Sofa, auf dem alle vier Akteure Platz finden. Hier spielt man sitzend, liegend, stehend, auch davor einige Male, mit großem körperlichen Einsatz über die fast zwei Stunden Spielzeit hinweg. Die karge Bühne bietet dem Auge naturgemäß nicht viel, aber der Konzentration auf Houellebecqs unerhörtes Phantasiegebäude tut sie gut. Und sie hat ihren nicht kleinen Anteil daran, dass Gert Becker mit seiner „Unterwerfung“ ein überzeugendes, verstörendes, durchaus aber auch unterhaltsames Stück Theater gelungen ist. Herzlicher, anhaltender Applaus.

  • Weitere Termine:
  • 23.2. Castrop-Rauxel, Stadthalle
  • 2.3. Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
  • 10.3. Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
  • 19.3. Minden, Stadttheater
  • 20.3. Warendorf, Theater
  • 15.4. Brilon, Kolpinghaus
  • 23.5. Wolfenbüttel, Lessingtheater

Infos:
http://westfaelisches-landestheater.de/repertoire/++/produktion_id/1494/




Ein Stoff von ungebrochener Aktualität – Ibsens „Nora“ im Westfälischen Landestheater

Nora (Pia Seiferth) (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Von Noras Puppenheim ist nicht viel übrig geblieben. Lediglich eine Spielfläche aus Eichenparkett in Fischgrätmuster, hüfthoch errichtet, füllt den Bühnenraum, erinnert entfernt an einen Boxring. Selbst dieser Rest ist für die Handelnden kein sicherer Ort. Im Verlauf des Abends werden zackenförmige Stücke aus dem Boden verschwinden, sich Abgründe auftun. Das Westfälische Landestheater (WLT) zeigt Henrik Ibsens skandalöses Erfolgsstück „Nora“ energiegeladen, laut, sportiv – und kommt dem Kern der Sache auf diese Weise erstaunlich nahe.

Jung und energisch

Im Laufe ihres langen Bühnenlebens hat „Nora“ etliche mehr oder weniger behutsame Um- und Neudeutungen erfahren. Gleichwohl ist die Frau den meisten Theatergängern als selbstverleugnendes, stets verzeihendes Gefühlswesen geläufig, der Liebe gänzlich hingegeben. Erst am Ende der Geschichte geht ihr auf, dass ihre grenzenlose Liebe kein Geschäft auf Gegenseitigkeit ist, dass sie, die Bilder sind wohlfeil, die Puppe im nämlichen Puppenhaus ist.

Die spontane Entscheidung der Bankiersgattin aus betuchtem bürgerlichen Milieu, nach abgrundtiefer Enttäuschung Mann und Kinder zu verlassen, war nicht nur im Jahr der Uraufführung, 1879, eine Ungeheuerlichkeit, sondern ist es für viele Menschen bis in unsere Tage, allen gesellschaftlichen Fortschritten zum Trotz.

Szene mit Nora (Pia Seiferth, rechts) und Frau Linde (Vesna Buljevic) (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Von einem liebenden, passiven Puppenhauspüppchen hat die Nora in Markus Kopfs WLT-Inszenierung nichts. Pia Seiferth gibt sie als energische Immer-gut-drauf-Erscheinung, als Mitglied gleichsam der Generation Smartphone (natürlich ohne Smartphone), das sich sein Leben an der Seite seines Mannes Helmer (Maximilian von Ulardt) so und genau so ausgesucht hat. So aktiv passt sie eigentlich nicht so recht zu ihrem Gatten mit seinen steten, latent aggressiven Sprüchen und Unterwerfungsgesten. Aber wo die Liebe hinfällt ist es dann eben, wie es ist.

Erpressung

Auch zwischen diesen beiden Charakteren könnte es ja noch geschehen, „das Wunderbare“ (O-Ton Nora), diese grenzenlose Bestätigung ihrer Liebe. Die Bestätigung, dass sie wichtiger ist als jede gesellschaftliche Konvention, wichtiger auch als Helmers neuer gut dotierter Job, der vielleicht gefährdet wäre, wüsste man um den Betrug seiner Gattin. Sie hatte, um es kurz zu erwähnen, die Unterschrift ihres sterbenden Vaters auf einem Schuldschein gefälscht, um sich Geld leihen zu können. Das Geld brauchte sie, um sich und ihrem Mann einen langen, lebenserhaltenden Italienaufenthalt zu ermöglichen. Und nun wird sie erpresst, und fast kommt alles raus.

Nora (Pia Seiferth) am Boden. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Konflikt ist relativ zeitlos, egal ob Nora schließlich mit dem berühmten Türenschlagen abgeht oder nicht. In Castrop-Rauxel entfällt das Türenschlagen sowieso, mangels Tür. Hier entschied sich der Regisseur, auch lange noch, nachdem das Licht erloschen ist, den verlassenen Helmer auf der Bühne jammern zu lassen.

Tourneetheater

Sparsame Ausstattungen – diese stammt von Manfred Kaderk – sind sozusagen eine Spezialität des Westfälischen Landestheaters und dem Tourneebetrieb geschuldet. An allen vier Seiten der „Boxring-Bühne“ finden deshalb die Auftritte und Abgänge statt, meistens unspektakulär und zweckmäßig. Der Konzentration auf das Geschehen tut dieser uneitle Inszenierungsstil gut. Weil er überdies Zeit spart, trägt er sicherlich auch dazu bei, das Stück in gerade einmal zwei Stunden (plus eine Pause) mit großer Konzentration und Vollständigkeit auf die Bühne des Studios stellen zu können.

Nora (Pia Seiferth, links) und Doktor Rank (Bülent Özdil), der sich auf der Neujahrsparty amüsiert hat und nicht mehr lange leben wird. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Auf charakterliche Ambivalenzen lässt sich diese Inszenierung nur begrenzt ein. Bülent Özdil gibt den lebenslustigen, gleichwohl, wie sich erweisen wird, todgeweihten Doktor Rank vorwiegend laut und lustig. Vesna Buljevic – etwas verhärmt, etwas vorgealtert – ist auf überzeugende Art die mittellose, arbeitsuchende Witwe Linde, eine Art mahnender Gegenentwurf zum freiheitsuchenden, unvernünftigen, skandalösen finalen Frauenbild Noras. Guido Thurk schließlich raunt sich als verzweifelt-verschlagener Rechtsanwalt Krogstad durch das Geschehen, und sie alle tragen mit streckenweise bewunderungswürdigem Körpereinsatz zum Gelingen dieser Inszenierung bei.

Das Publikum applaudierte beigeistert.

  • Termine:
  • 12.2., 25.2., 26.2., 28.2. Castrop-Rauxel, Studio
  • 1.3. Radevormwald, Bürgerhaus
  • 7.4. Versmold, Aula der Hauptschule
  • 2.10. Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 29.11. Castrop-Rauxel, Studio
  • www.westfaelisches-landestheater.de
  • Ticket Hotline Tel. 02305 9780 – 20



Geheimnis des Dampfers: „Passagier 23“ im Westfälischen Landestheater

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Unter Druck: Kriminalist Martin Schwartz  (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Martin Schwartz ist ein tragischer Held. Frau und Kind hat er auf einer Kreuzfahrt verloren und voll der Seelenpein beschlossen, nie wieder ein Kreuzfahrtschiff zu betreten. Vor allem nicht die „Sultan of the Seas“, denn auf ihr spielte sich das schreckliche Geschehen ab, dessen genauer Hergang indes im Dunklen liegt. Doch dann erreicht den verbitterten Polizeipsychologen ein Hilferuf, dem er sich nicht verweigern kann. Und bald schon spürt er auf tiefen Decks und in dunklen Winkeln dem bösen Geheimnis des Dampfers nach. Denn weitere Kinder und Mütter sind verschwunden. Mehr oder weniger jedenfalls.

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Detektiv Martin Schwartz mit Teddybär und neugierige Rentnerin mit Rollator (Vesna Buljevic) bringen die Handlung voran. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

„Passagier 23“ heißt das Krimistück, das das Westfälische Landestheater nun in sparsam-stimmiger Kulisse (Anna Kirschstein) und in der Regie von Lothar Maninger zur Aufführung bringt. Vorlage ist der Kriminalroman „Passagier 23“ von Sebastian Fitzek, aus dem Christian Scholze die Bühnenfassung machte.

Ihren Titel verdanken Buch und Stück dem denkwürdigen Umstand, dass in der weltweiten Kreuzschifffahrt jährlich 23 Menschen mehr oder minder spurlos verschwinden. „Passagier 23“, verrät uns das Stück, ist deshalb ein stehender Begriff für die Schiffsbesatzungen geworden, der stets auch Stress und Ärger bedeutet. Außerdem kostet es viel Geld, einen Dampfer für Stunden anzuhalten und den Passagier zu suchen, der möglicherweise über Bord gegangen ist.

Skrupellose Reedereien

Noch größer aber wird der Ärger, wenn so ein verlorengegangener Passagier plötzlich wieder auftaucht. Da weiß man nicht, wie lange die Polizei das Schiff im nächsten Hafen festhalten wird, und der Papierkram ist lästig. Am besten lässt man so einen Widergänger wieder verschwinden. Die Story von „Passagier 23“, die natürlich, wie sich das für einen Krimi gehört, vieles lange im Dunklen oder Halbdunklen belässt, lenkt des Publikums Vermutungen zunächst in diese Richtung: Lassen skrupellose Kreuzfahrtreedereien und ihre Kapitäne Passagiere verschwinden, um sich Ärger vom Hals zu halten?

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Szene mit Kapitän Bonhoeffer, den Bülent Özdil gibt (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Schlüsselbegriffe wie Schiff, Schiffbrüchige, Meer und so weiter hatten in der Ankündigung des Westfälischen Landestheaters natürlich sofort auch an Bootsflüchtlinge, Migration „Massengrab Mittelmeer“ und so weiter denken lassen. Doch erstaunlicherweise kommt das alles hier nicht vor. „Passagier 23“ ist tatsächlich ein von vorn bis hinten durcherzählter Kriminalstoff, mit Tätern, Opfern, Geretteten und Überlebenden. Man kann sich ganz entspannt zurücklehnen und auf gute Unterhaltung hoffen.

Racheengel

Ein bisschen Problemstoff wurde allerdings schon verwoben, und die Lösung der Geschichte ist schließlich auf dem großen Themenfeld „sexueller Missbrauch“ zu finden. Doch sind hier ausnahmsweise nicht vergewaltigende Männer die Bösen, sondern…

Die Geschichte, die man uns hier erzählt, hat jedenfalls reiches Trash-Potential und bittet geradezu um ein wenig parodistische Überhöhung.

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Verdammt, ein Elektroschocker! Detektiv Schwartz muß in seinem Beruf schwer leiden. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Doch nichts davon in Castrop-Rauxel, in einer knapp zweistündigen Produktion samt Pause. Das dramatische Konzept, wenn man es so nennen will, ist einem Kinofilm nachempfunden. Besondere inszenatorische Möglichkeiten des Theaters, das ja immerhin eine Live-Veranstaltung ist, werden praktisch nicht genutzt.

Trotz intensiven Gebrauchs von Notebooks und Mobiltelefonen wirkt das ganze wie ein Relikt aus Opas Krimi-Boulevard, einem „Whodunnit“ Agatha Christies nicht gänzlich unähnlich und ganz kräftig aus der Zeit gefallen.

Von vorne bis hinten spannend

Wer andererseits konzentriertes, kammerspielhaftes Theater mag, das vor allem von den Dialogen lebt, kommt hier durchaus auf seine Kosten. Der Gang der Handlung gliedert sich schlüssig in viele kleine Szenen, die durch kurze Dunkelphasen voneinander getrennt werden, was der filmischen Erzählweise mit wechselnden Spielorten recht nahe kommt.

Wohltuend ist zudem der Verzicht auf Videoeinsatz sowie eine sparsame, effektive Lichtersetzung. Durchaus bemerkenswert schließlich die wenigen, aber treffsicheren Kunstgriffe, mit denen durch wechselnde Hintergrundprojektionen und sparsame Requisiten unterschiedliche Handlungsorte (Schiffsinneres, Kapitänskajüte, Reling usw.) entstehen. Und im wesentlichsten Punkt funktioniert Sebastian Fitzeks „Passagier 23“ ganz tadellos: Die Geschichte ist von vorne bis hinten spannend, man langweilt sich keine Minute.

Als unerschrockene Amateurdetektivin mit rotem Rollator hinterlässt Vesna Buljevic einen starken Eindruck. Mayke Dähn und Pia Seiferth als Mutter und Tochter Lamar sind Fleisch gewordenes Zerwürfnis. Neben den Gästen Mike Kühne und Franziska Ferrari sorgen Bülent Özdil, Samira Hempel und Maximilian von Ulardt aus dem WLT-Ensemble für einen alles in allem doch sehr erfrischenden Theaterabend. Das Publikum in der Stadthalle applaudierte frenetisch.

  • Termine 2016:
  • 24.10. Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium
  •  3.11. Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
  •  4.11. Witten, Saalbau
  •  8.11. Heinsberg, Stadthalle
  • 12.11. Hamm, Kurhaus
  • 16.11. Solingen, Theater
  • 24.11. Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
  • 20.12. Castrop-Rauxel, Studio
  • www.westfaelisches-landestheater.de



Auf der Suche nach den lustigen Momenten – „Faust“ am Westfälischen Landestheater

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Ein leidender Faust, ein lauernder Mephisto: Bülent Özdil (links) und Guido Thurk bei den Proben (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Bunt, wie Andy Warhol es einst malte, beherrscht ein riesiges Portrait das Bühnenbild: Johann Wolfgang von Goethe, Schöpfer des „Faust“, deutsche Dichterikone. Auch die Figuren des Stücks, bunt gekleidet in farbenfroher Kulisse, haben optisch ihre Individualität verloren und somit einen gewissen Ikonencharakter angenommen. Und im Spiegel sieht Gretchen späterhin statt ihres Gesichts eine Warhol-Marilyn, Inbegriff der Pop-Ikone.

Wir sollen, ahnt man früh, bar allen Beiwerks so etwas wie die Essenz des Stoffs erleben. Knappe zwei Stunden braucht Gert Becker (Regie) für seine „Faust“-Inszenierung am Westfälischen Landestheater. Das ist knapp bemessen, da darf nicht gebummelt werden. Positiver Effekt für das Publikum, das sei schon hier verraten: Langweilig wird diese Inszenierung zu keiner Minute.

Spruchweisheiten

In Castrop-Rauxel redet das faustische Personal noch getreulich in des Dichters Versen, nur hier und da wird mal ein aktuelles Halbsätzchen eingestreut. Doch da der Text passagenweise rigoros zusammengestrichen wurde, klingt das häufig wie die plumpe Reihung abgenutzter Spruchweisheiten. Goethe wurde halt gern zitiert. Einige Szenen fehlen ganz, etwa die in Auerbachs Keller. Doch Becker, ist zu lesen, wollte sich ganz auf Teufelspakt und Gretchen-Tragödie fokussieren und „die komischen Momente“ auf die Bühne bringen, die er im Stück in reicher Zahl erkennt. Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen, das dem Stoff möglicherweise nicht ganz gerecht wird.

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Proben, Ensembleszene (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Zum Teil aber schon: Mephisto, stets auf der Suche nach waidwunder Seelen-Beute, verführt den unglücklichen Intellektuellen Faust nach Strich und Faden, und es ist ein großes Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Guido Thurk, im roten Anzug, brilliert in der Rolle des Teuflischen, verwirrt mit Schmeicheleien und entwaffnender Ehrlichkeit, ist heimliche Hauptfigur dieses Theaterabends, auch wenn er der Versuchung widersteht, die ebenfalls untadelig aufspielenden Bülent Özdil (Faust) und Samira Hempel (Gretchen) „an die Wand zu spielen“. Der Mephisto ist eben eine sehr dankbare Rolle, wie es seit Gustaf Gründgens viele weitere Schauspielkünstler gezeigt haben.

Gretchens Schicksal ist nicht komisch

Etwas problematischer, um auf die „komischen Momente des Stücks“ zurückzukommen, ist sicher das Schicksal Gretchens. Faust verführt sie, schwängert sie, lässt sie dann sitzen und bestätigt so, Mephisto hin oder her, das Motto „Männer sind Schweine“. Dass Gretchen, deren ehrliche Schlichtheit Faust zunächst betörte und die er gern „mein Kind“ nannte, in der Folge zur verzweifelten Kindsmörderin wird, ist nachvollziehbar und beim besten Willen kein komischer Moment. Auch wenn man, was Becker hier offenbar versucht, den „Faust“ als so etwas wie eine Abfolge von Ereignis-Ikonen liest, wird dieser tragische Handlungsstrang nicht lustiger. Doch mag das Publikum dies diskutieren; die klare Erzählstruktur der Inszenierung lädt dazu ein.

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Vom Teufel geritten – Faust (Bülent Özdil) und Mephisto (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Elke Königs schnörkellose Bühne, deren gedämpfter Apricot-Farbton die bunten Kostüme der Mitwirkenden sehr schön hervortreten lässt, ist erkennbar eine für das Tourneetheater, schnell auf Lastwagen verpackt und schnell aufgebaut. Die häufigen Auf- und Abtritte der Personen erfolgen durch zwei große, elektrisch angetriebene Schiebetüren in der Kulissenhinterwand, und wie dort mit geringstem Aufwand, mit farbigem Licht und etwas Nebel im besten Sinne Stimmung geschaffen wird, beeindruckt; vielleicht allerdings hätte es dem Fluss des Spiels zumal nach der Pause gutgetan, die Zahl der Personenwechsel etwas zu reduzieren.

Großartiges Komödiantentum

An den wohl heitersten Teilen dieses Abends hat Vesna Buljevic in der Rolle der Marte ihren nicht geringen Anteil; wie sie, die rüstige Witwe, sich Mephisto an den Hals wirft, dass diesem Angst und bange wird, um im nächsten Moment recht tugendsam die Augen zu senken, das ist großartiges Komödiantentum. Doch auch die anderen gefallen: Thomas Zimmer, Pia Seifert, Thomas Tiberius Meikl und Felix Sommer liefern eine homogene Ensembleleistung ab, mit der sich das Westfälische Landestheater allemal sehen lassen kann.

Reicher, begeisterter Schlussapplaus.

www.westfaelisches-landestheater.de

Weitere Termine:

  • 12.05.2016 19.00h Meinerzhagen Stadthalle
  • 25.10.2016 19.30h Hamm Kurhaus
  • 28.10.2016 11.00h Hattingen Gebläsehalle des Industriemuseums
  • 15.11.2016 20.00h Ratingen Stadttheater
  • 17.11.2016 19.30h Lüdenscheid Kulturhaus
  • 22.11.2016 9.00h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 22.11.2016 13.30h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 25.11.2016 20.00h Wetzlar Stadthalle
  • 13.12.2016 19.00h Iserlohn Parktheater
  • 15.12.2016 19.30h Rheine Stadthalle
  • 26.01.2017 20.00h Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 08.02.2017 19.30h Solingen Theater und Konzerthaus
  • 22.05.2017 10.00h Castrop-Rauxel Studio
  • 22.05.2017 14.00h Castrop-Rauxel Studio



Kindermorde als Gruselshow – WLT bringt den Filmklassiker „M“ von Fritz Lang auf die Bühne

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M (Heiko Grosche) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Vor wenigen Tagen lief er noch mal im Fernsehen: „M – eine Stadt sucht einen Mörder“, der Kinoklassiker von Fritz Lang aus dem Jahr 1931. Sein Thema ist von ungebrochener Aktualität. Immer wieder muss man in der Zeitung von Männern lesen, die Kinder sexuell missbrauchen und ermorden, in 80 Jahren hat sich da offenbar kaum etwas geändert.

Lange auch, bevor Fritz Lang mit „M“ seinen ersten Tonfilm drehte, gab es schon die schaurigen Geschichten von den unsichtbaren Kindermördern. Die Bühnenfassung des Westfälischen Landestheaters, die jetzt in der Stadthalle Castrop-Rauxel ihre Uraufführung erlebte, verweist mit einem an die schwarzen Wände geschmierten „Kinderlied“ darauf: „Warte, warte nur ein Weilchen…“ (Ausstattung: Manfred Kaderk).

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Der Conférencier (Thomas Zimmer) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Hamann war ein Vorbild für M

Doch anders, als dort notiert, geht es in dem gruseligen Liedchen nicht allgemein um den „schwarzen Mann“, sondern um Fritz Hamann, den Hannoveraner Serienmörder von 24 Knaben und jungen Männern, der dafür zum Tode verurteilt und 1925 hingerichtet wurde. Das gruselige Thema fasziniert die Massen, und in Castrop singen sie es auf der Bühne, ausgelassen, gar zur Polonaise.

Der Film bleibt erkennbar

Die Polonaise aber ist eher ein Ausreißer; für den größten Teil des Abends folgt die Inszenierung brav der filmischen Vorlage, bis in manche altertümelnden Formulierungen hinein. Hier wie dort ist man beispielsweise noch „auf eine Zeitung abonniert“, was so ja kein Mensch mehr sagen würde.

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Der blinde Luftballonverkäufer und der Mörder (Guido Thurk und Heiko Grosche) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Szene um Szene wird abgearbeitet, was Fritz Lang damals auf die Leinwand brachte: Die Geschichte eines Störers, den die Polizei ebenso unschädlich machen will wie die vorzüglich organisierte Verbrecherschaft der Hauptstadt, deren kriminelle Aktivitäten unter der hektischen Fahndungsarbeit der Polizei leiden. Die Kriminellen fangen den Mörder, stellen ihn vor ein Tribunal, und erst in letzter Sekunde verhindert die Polizei einen Lynchmord; dem Gesetz ist Genüge getan, doch auf beunruhigende Weise ging es im Ganoven-Prozess um „wertes“ und „unwertes“ Leben eines Täters, postuliert der Film eine gewisse Gleichrangigkeit von Ganoven und Staatsgewalt, die beide mit mehr oder weniger Legitimation ihr Ding machen. Die Nazis nahmen, wie man weiß, solche gesellschaftlichen Unmutsäußerungen der Weimarer Republik dankbar auf und machten sie zu Bestandteilen ihrer Ideologie.

Kinderbälle auf der Bühne

Meistens freut man sich ja, wenn Stücke und Vorlagen im Theater erkennbar bleiben; hier jedoch hätte in der Regiearbeit (Markus Kopf) gern ein bisschen mehr Gewichtung sein können, etwas mehr energische Inszenierung. Szene für Szene treibt die Geschichte ihrem Ende zu, und was der Film etwa in furiosen Gegenschnitten erzählt, reduziert sich auf der Bühne zu laut vorgetragener Erregtheit.

Dabei fängt die Bühnenfassung vielversprechend an, wenn zunächst nur einige rote und blaue Kinderbälle aus der düsteren, verwinkelten, vollgekritzelten Kulisse rollen, wenn Menschen eilig durch das Bild huschen und offenbar nicht erkannt werden wollen und auch noch, wenn Passanten von einer hysterischen Menschenmasse gestellt und der Kinderschändung bezichtigt werden.

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M (Heiko Grosche) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Der Conférencier weckt Erwartungen

Auch die Einführung eines öligen „Conférenciers“, den der Film nicht vorsieht und dem Thomas Zimmer mit viel Einsatz Kontur verleiht, erscheint zunächst sinnhaft, übernimmt er doch Teile der filmischen Erzählung wie etwa einige Telefonmonologe, die auf der Bühne sicherlich äußerst steif wirken würden.

Die große Kindermördershow denn also? Warum nicht, wenn es das Thema trifft. Vielleicht hätte man zudem einen ehemaligen Bundeskanzler auftreten lassen sollen, der etwas von „Wegsperren, und zwar für immer“ knurrt.

Doch leider bleibt diese Inszenierung nicht nur gänzlich ironiefrei, sondern sie glaubt erkennbar auch nicht an die eigene Idee von der peppig moderierten Bühnenunterhaltung. Die Auftritte des Conférenciers, die zu Beginn spielbestimmend sind, reduzieren sich bald schon stark und machen dem schlichten Nachspiel Platz. Es fällt schwer, darin ein Konzept oder eine Regieidee zu erkennen.

Überzeugendes Ensemble

Der munter aufspielenden Darstellerriege ist zu danken, dass dieser Theaterabend trotzdem eher in angenehmer Erinnerung bleibt. Samira Hempel macht vor allem als berufspolitisch engagierte Hure (wieder einmal) eine gute Figur, Burghard Braun, wenngleich seinem filmischen Vorbild Gustaf Gründgens nicht eben aus dem Gesicht geschnitten, ist ein überzeugender „Schränker“. Pia Seiferth und Vesna Buljevic wissen in verschiedenen Frauenrollen (Frau Beckmann, Wirtin u.a.) ebenso für sich einzunehmen wie Guido Thurk als Bettler und Bülent Özdil als Kommissar Lohmann. Heiko Grosche schließlich ist der Mörder, die Idealbesetzung geradezu für den netten Nachbarn von nebenan, dem niemand so etwas zutrauen würde.

Herzlicher Applaus.

  • Weitere Aufführungstermine:
  • 14.12.2015  20.00h   Versmold Aula der Hauptschule
  • 17.01.2016  18.00h   Hameln Theater
  • 26.02.2016  20.00h   Dormagen Gymnasium
  • 02.03.2016  19.30h   Radevormwald Bürgerhaus
  • 11.03.2016  19.30h   Witten Saalbau
  • 13.03.2016  19.00h   Herford Stadttheater
  • 14.03.2016  19.30h   Bottrop Josef-Albers-Gymnasium
  • 14.04.2016  19.30h   Rheine Stadthalle
  • 26.04.2016  20.00h   Heinsberg Stadthalle-Begegnungsstätte
  • 04.05.2016  19.30h   Bad Oeynhausen Theater im Park
  • www.westfaelisches-landestheater.de

 




Konzentrierter Alptraum – „Der Prozess“ nach Franz Kafka im Westfälischen Landestheater

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Bülent Özdil in der Rolle des Franz K. (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Keine Requisiten, keine Farben. Die Einrichtung ist pure Konzentration, nichts soll ablenken von der unglaublichen Geschichte, die hier erzählt wird. Das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel zeigt Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ in einer geradezu analytischen Bühnenfassung von Christian Scholze (auch Regie), die durchaus überzeugend geraten ist.

Häufig birgt es Probleme, dicke Romane zu Bühnenstücken von wenigen Stunden Länge einzudampfen. Offenbar eignet sich Kafkas „Prozess“ jedoch gut dafür, folgt er doch einem linearen und deshalb recht schlüssig umsetzbaren Erzählstrang. Wie in einem Alptraum taumelt Josef K. durch absurde Szenen, in denen er Mal um Mal nicht verstehen kann, was alle anderen sicher zu wissen scheinen: Daß ihm ein Prozeß bevorsteht, daß er seine Unschuld beweisen muß.

Szenen des Abstiegs

Den Abstieg, wie hier, in einer Abfolge kleiner, begrenzter Szenen zu zeigen, ist naheliegend. Anders als K., der trotz wachsender Verunsicherung doch lange überzeugt ist, daß alles sich noch klären wird, sind die anderen Figuren recht burlesk gezeichnet: die Gerichtsdiener Franz und Willem (Felix Sommer und Thomas Tiberius Meikl), die Aufseherin (Samira Hempel), die Vermieterin Frau Grubach (Vesna Buljevic) und die Frau des Gerichtsdieners (Pia Seiferth).

Spätere Figuren wie der Advokat (Thomas Zimmer) und der Kunstmaler Titorelli (Guido Thurk) spielen differenzierter auf, was ebenfalls sinnvoll ist, da die Absurdität des Geschehens sich ja nicht auflöst, sondern immer monströser und somit auch immer erklärungsbedürftiger wird. Natürlich ohne daß sich irgend etwas klärte.

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Der Termin beim Anwalt bringt auch nichts; Szene mit (v.l.) Bülent Özdil, Thomas Tiberius Meikl, Thomas Zimmer und Pia Seiferth. (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Als Bühnenbild (Ausstattung: Anja Müller) dienen einige hochformatige Leinwände, die technisch in ihrer Größe verändert werden können und als Projektionsflächen dienen. Auf ihnen tauchen zwischen den Szenen einige Male Personen auf und berichten nachrichtlich von Fortgang der Handlung. Und weil das alles in Castrop-Rauxel so nüchtern und ohne inszenatorische Kinkerlitzchen vorgespielt wird, öffnet sich gleichsam ein gedanklicher Freiraum, in dem sich entlang der Handlung trefflich über Herrn K. und sein eigentümliches Schicksal nachdenken läßt. Das hat das Publikum natürlich auch früher schon getan, es hat den Fall Franz K. als eine Art moralische Reflexion gewertet oder auch als die Geschichte einer mißlungenen Emanzipation.

Den „Prozess“ gleichsam naturalistisch als Drama eines Menschen zu verstehen, dem sein gutes Recht vorenthalten wird, greift sicherlich zu kurz. Christian Scholzes Umsetzung legt in ihrer Schnörkellosigkeit eine psychologische Sicht nahe, die Franz K.s Nöte als einen dissoziativen Prozess deutet, in dem Situation und Wahrnehmung nicht mehr zusammenpassen wollen, in des Wortes wörtlicher Bedeutung „ver-rückt“ worden sind. Die Anfang des 20. Jahrhunderts noch aufregend neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse Sigmund Freuds waren Kafka nicht unbekannt, als er dieses Buch schrieb.

Intensiver Darsteller

Bülent Özdil gibt den Franz K., und ihm verdankt diese Inszenierung ihr Gelingen zu einem großen Teil. Wie er zwischen dem forschen Fordern eines Dreißigjährigen und der wachsenden Verzweiflung des schuldlos Beschuldigten zu jedem Zeitpunkt die richtige Balance hält, wie er, ohne zu überspielen, mit anrührender persönlicher Intensität K.s Niedergang gibt, wie er in seinem Spiel den Spannungsbogen bis zum Zusammenbruch nahtlos hält, das ist großartige, fast ein wenig unerwartete Schauspielkunst.

Viel freundlicher Applaus. Allerdings blieben beim Premierenabend im Studio einige Plätze leer.

 




Hitler als Liebling der Medien: „Er ist wieder da“ im Westfälischen Landestheater

Der Gedanke ist zugegebenermaßen ziemlich absurd, aber als Phantasiespiel nicht ohne Reiz: Wie wäre es, wenn Hitler wieder auftauchte? Wenn er nach 70jährigem Dornröschenschlaf in einer deutschen Gegenwart erwachte, in der es türkische Zeitungen und Comedians gibt und niemand Respekt vor dem Führer hat? Der Autor Timur Vermes hat dieses Spiel vor einigen Jahren in seinem Romanerstling „Er ist wieder da“ gewagt. Jetzt hat das Westfälische Landestheater in der Regie von Gert Becker daraus ein vorwiegend vergnügliches Bühnenstück gemacht und in Castrop-Rauxel uraufgeführt.

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In Pose: Guido Thurk als Hitler 1 (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Zeitungshändler, bei dem dieser merkwürdige Bärtchenträger in seiner abgeranzten, nach Benzin stinkenden braunen Uniform auftaucht, hält ihn für einen Comedian, für einen genialen Hitler-Imitator, der nie aus der Rolle fällt. Er vermittelt ihn an die Agentur „Flashlight“, und eine steile Karriere nimmt ihren Lauf. Jede Woche ist Hitler im Fernsehen zu sehen, seine Klickzahlen im Netz sind atemberaubend, „Youtube-Hitler – Fans feiern seine Hetze“ titelt die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben. Bald schon erhält er (Achtung! Satire!) den Grimme-Preis, seit Loriot war kein Humorist so beliebt wie Adolf Hitler.

Und es bleibt nicht bei den im sattsam bekannten martialischen „Führer“-Duktus gehaltenen Reden. Wenn Hitler das NPD-Büro in Köpenick aufsucht und den Vorsitzenden wegen unvölkischer Gesinnung und einem indiskutablen Bekenntnis zur Demokratie vor laufender Kamera zusammenstaucht, feiert das Volk der Medienkonsumenten dies als Protestaktion gegen Rechts; und als er schließlich von Neonazis beschimpft und zusammengeschlagen wird, fliegen ihm endgültig die Herzen der Menschen zu. Es wird Zeit, das gut zweistündige Stück mit seinen monströsen Hitler-Phantasien zu beenden, was nun dankenswerterweise auch recht abrupt geschieht.

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Hitler 1 (Guido Thurk, links) und Hitler 2 (Burghard Braun). (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Doch das mulmige Gefühl, das sich trotz der zahlreichen eingebauten Lacher schleichend einstellte, will nach der letzten Szene nicht recht weichen. Vieles von dem, was Timur Vermes erzählt, könnte sich tatsächlich so abspielen in der Mechanik unserer stets gebannt auf Quote und Umsatz starrenden Medienwelt. Oder spielt es sich, die Frage steht im Raum, nicht auch so schon ab? Gibt es nicht längst schon diese Stars in Comedy und Talkshows, die reden dürfen, wie immer sie wollen, so lange sie nur Quote bringen, von Mario Barth bis Harald Schmidt?

Gewiss, das Grauen über den millionenfachen rassistischen Mord der Nazis und ihres „Führers“ findet in der Inszenierung seinen Platz, was auch zwingend sein muss. Gleichwohl hat Vermes’ Hitler, der darauf besteht, wirklich Hitler zu heißen und Hitler so gut nachmachen kann, dass man glaubt, er wäre Hitler, mit der historischen Person wenig zu tun. Er wird gezeichnet als komische Figur, als Sonderling mit Realitätsverlust, von dem keine politische Gefahr ausgeht. Es sei denn, skrupellose Rampensäue übernähmen die Macht. So wie vor mehr als 80 Jahren? Es zählt fraglos zu den Qualitäten dieser wüsten Geschichte, dass sie ihr Publikum wiederholt und scheinbar spielerisch auf die zentralen Fragen stößt, die die Nazi-Zeit uns hinterlassen hat: Wie konnte es dazu kommen und wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?

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Ein respektloser Zeitungshändler (Bülent Özdil, links), zwei Hitler. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Die Inszenierung leugnet nicht, dass sie vom Buch abstammt, und besetzt den Hitler doppelt. Guido Thurk ist Hitler 1, der die braune Uniform trägt und in den Szenen mitspielt. Burghard Braun hingegen trägt zivil, ist Hitler 2 und spricht verbindende Texte zwischen den Szenen, irritierenderweise in der Vergangenheitsform. Von welchem historischen Punkt aus blickt er zurück, könnte man sich fragen. Thurk grimassiert und rollt die Augen, Braun pflegt die beherrschte Pose, beides kennt man vom historischen Vorbild. Und beide Schauspieler sind famose „Führer“-Darsteller. In zahlreichen weiteren Rollen sind Julia Gutjahr, Samira Hempel, Vesna Buljevic, Thomas Tiberius Meikl, Bülent Özdil und Thomas Zimmer zu sehen, die einige Male stärker überspielen, als für dieses Stück nötig wäre.

Elke König schließlich schuf das Bühnenbild, eine erkennbar aus Holz gefertigte Betonlandschaft mit Türen, Rampe und Tisch. Nur in einer Nische erfährt es ab und an Veränderungen, die zu den Szenen passen. Mal taucht hier eine der vielen „Spiegel“-Titelseiten mit Hitler-Titelgeschichte auf, mal der Tramp Charlie Chaplin, der die Albernheit des „Führer“-Gehabes zu dessen Lebzeiten schon unübertrefflich entlarvte und für Menschlichkeit warb. Die konzentrierte Ausstattung ruft ins Bewusstsein, dass dieses Theater oft auf Reisen geht und dafür kompakte Kulissen braucht. Die nächsten Stationen dieser Produktion sind Rheine, Bocholt und Hamm.

Viel herzlicher Applaus für Darsteller und Inszenierung.

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Termine: 5.2.2015, 19.30h Rheine, Stadthalle
6.2.2015, 20.00h Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
13.2.2015, 19.30h Hamm, Kurhaus
14.2.2015, 19.30h Witten, Saalbau
18.2.2015, 20.00h, Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
14.3.2015, 19.30h Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
14.4.2015, 19.30h Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium.

Ticket-Hotline 02305 / 9780 20

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Kartellamt setzt Grenze: Lensing darf Funke-Lokalteile nicht vollends übernehmen

Sieh an, es gibt Neuigkeiten aus der Presselandschaft im Großraum Dortmund: Das Bundeskartellamt hat offenbar die vollständige Übernahme von 7 Lokalausgaben der Funke-Gruppe (vormals WAZ-Gruppe) durch den Dortmunder Lensing-Verlag („Ruhrnachrichten“) verhindern wollen. Deshalb hat Lensing den entsprechenden Antrag zurückgezogen, wie mehrere Mediendienste übereinstimmend berichten.

Weitere Konsequenzen aus dem Veto der Kartellwächter sind noch unklar. Angeblich gibt es bei Funke einen Plan B für die besagten Ausgaben. Das Konzept dürfte nach Lage der Dinge allerdings mehr juristische und betriebswirtschaftliche als publizistische Elemente enthalten.

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Konkret geht es um die Ausgaben der WAZ und der Westfälischen Rundschau (WR, seit Februar 2013 ohne eigene Redaktion) in Dortmund, Castrop-Rauxel und Lünen (jeweils WAZ und WR) sowie Schwerte (WR).

Die Ruhrnachrichten, die schon seit Anfang 2013 die lokalen Inhalte für diese Ausgaben liefern, wollten die volle verlegerische Verantwortung mitsamt den Titelrechten übernehmen. Begründung: Diese Ausgaben seien Sanierungsfälle. In diesem Falle wären die Schwellen vor einer Fusion niedriger gewesen.

Doch das Kartellamt verneint den Sanierungsbedarf. Die Zeitungstitel der Funke-Gruppe seien mit rund 80 Lokalausgaben insgesamt profitabel, eine Insolvenz drohe somit auch für die sieben Lokalteile im Dortmunder Raum nicht.

Anfang 2013 hatte die Funke-Gruppe die komplette Redaktion der Westfälischen Rundschau (120 Redaktionsstellen, zahlreiche freie Mitarbeiter) geschlossen. Seither ist die Rundschau eine Art Geisterzeitung, deren Mantelteil vom Essener WAZ-Desk kommt und deren Lokalteile von diversen Ex-Konkurrenten (im Raum Dortmund: Ruhrnachrichten) geliefert werden.

Auch nach der Intervention des Kartellamts sieht es freilich so aus, als dürften die Ruhrnachrichten weiterhin die besagten Funke-Lokalausgaben mit ihren Inhalten füllen. Die Meinungsvielfalt in dieser Region bleibt arg begrenzt, sofern sie sich in Zeitungen widerspiegelt. Doch dem möglichen Monopol wurde eine letzte Grenze gesetzt.

Also müssen wir wohl nicht unsere Phantasie bemühen: Die Entlassung der WR-Redaktion wird sicherlich nicht rückgängig gemacht. Und auch sonst ist das Presse-Paradies in weiter Ferne.

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(mit nachrichtlichem Material von newsroom.de, meedia.de und kress.de)

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„Den Menschen nicht absacken lassen“ – Dortmunder Autor Josef Reding wird 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

Dortmund. Er gilt als durchaus gesprächig, auch in eigener Sache. Doch literarisch äußert er sich sehr knapp und unprätentiös. Ohne Umschweife und fast schmucklos steuern Josef Redings Kurzgeschichten und Gedichte auf die Realität zu. Er möchte rasch wirken, da halten gedrechselte Feinheiten nur auf.

Reding, 1929 in Castrop-Rauxel als Sohn eines Filmvorführers geboren und seit 1965 in Dortmund lebend, wird heute 75 Jahre alt. Weit über 30 Bücher gibt es von ihm, übersetzt in 16 Sprachen und vielfach preisgekrönt. Den kurzen Formen blieb er durchweg treu.

Ein Gedicht über Dortmund beginnt so: „Meine Stadt ist oft schmutzig; / aber mein kleiner Bruder / ist es auch / und ich mag ihn. / Meine Stadt ist oft laut; / aber meine große Schwester / ist es auch / und ich mag sie.“

Einfache Sätze, klare Botschaft. Kein Wunder, dass solche lehrhaften „Gebrauchstexte“ Eingang in Schulbücher gefunden haben. Reding begreift Kinder als hoffnungsvolle Zielgruppe. Sie könnten die Welt noch ändern.

Früh die heiklen sozialen Themen aufgespürt

Sein erstes Buch („Silberspeer und roter Reiher“) erschien 1952, bevor Reding sein Abi machte. Zwei Jahre lang arbeitete er ganz handfest als Betonwerker, dann erst begann er ein Studium. Sehr zeitig erkannte Reding soziale Themen, die erst später breit debattiert wurden. So griff er etwa 1954 in „Trommlerbub Ricardo“ den Kolonialismus und die Ausrottung mexikanischer Indianer auf. Seine dokumentarische Textmontage „Friedland. Chronik einer Heimkehr“ (1956) schildert die Leiden der Heimatvertriebenen. Andere stießen erst jüngst auf dieses lange politisch verminte Themenfeld.

In Harlem und New Orleans engagierte sich Reding für die Bürgerrechtsbewegung des Martin Luther King (Buch: „Nennt mich nicht Nigger“). Drei Jahre lang lebte und half er in den Lepragebieten Asiens, Afrikas, Lateinamerikas. Reding stellt sich stets auf die Seite der Schwachen.

Seine Leitsterne sind Mitmenschlichkeit und notfalls gewaltloser Widerstand. Davon zeugen auch Tagebücher wie „Reservate des Hungers“ (1964) und „Menschen im Müll“ (1983). Redings Engagement ist christlich motiviert, Ethik geht im Zweifelsfalle vor Ästhetik. „Ich bitte im Grunde darum“, schrieb er einmal, „den Menschen nicht absacken zu lassen, ihn nicht aufzugeben.“ Doch in der Literaturgeschichte sind leider die gütigen, wohlmeinenden Menschen nur selten die Avantgarde gewesen.




In finsteren Zeiten – „Jugend ohne Gott“ nach Ödön von Horváth am WLT in Castrop-Rauxel

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Gewiß doch: Die Weißen seien den Schwarzen wohl überlegen. Freilich: „Auch die Neger sind Menschen“, schränkt der Geschichtslehrer verschämt ein. Genug. Das reicht. Schon beschweren sich die Eltern der Schüler über die „Humanitätsduselei“, schon fordern die Pennäler eine andere Lehrkraft von deutschnationalem Schrot und Korn.

Wahrlich, sie lebten in finsteren Zeiten: 1937 schrieb Ödön von Horváth den Roman „Jugend ohne Gott“, eine wie mit dem Seziermesser vollführte Freilegung alltäglicher Verhaltensweisen im Totalitarismus. Die illusionslos knappe und klare Prosa eignet sich wegen der vielen Dialoge bestens für eine Bühnenumsetzung.

Metallische Töne im Studio des Westfälischen Landestheaters (WLT): Sechs frei hängende, plattgewalzte Stahl-Rechtecke beherrschen die karge Bühne. Schlagen oder treten die Schauspieler vor diese Bleche, so hört man jenes bedrohlich flatternde Geräusch, das aus einer menschenleeren Welt zu kommen scheint.

Und tatsächlich: Sind es denn noch wirkliche Menschen, die einander hier bespitzeln und denunzieren? Oder sind es nicht schon seelenlos starrende Wesen in einem geist- und gottfernen „Zeitalter der Fische“ wie Horváth es nennt?

Im Wehrerziehungslager müssen die Jugendlichen vor dem Feldwebel (Britta Kohlhaas) zackig exerzieren. Sie tun es bereitwillig. Im Marschtritt üben sie asiatische Kampftechniken. Dazu wummert Techno-Musik. Zudem wird der gängige, erotisch nicht gerade attraktive Mädchentypus der Zeit „Venus mit Rucksack“ genannt. Aha, aha: Kraftsport, Techno und Rucksack. Da hört man Zeitgeist trapsen, geradewegs in unsere Gegenwart hinein. Ob’s auch stimmig ist?

Schüler „Z“ (Peter Stemler) hat sich einen Rest von Eigensinn bewahrt, er schreibt im Lager heimlich Tagebuch und liebt nächtens ein streunendes Mädchen. Der Lehrer (Frank Schikore) bricht das Tagebuch-Kästchen auf, „Z“ aber verdächtigt den Mitschüler „N“ (Jens-Peter Fiedler), der bald darauf tot aufgefunden wird, erschlagen mit einem Stein. Wer war’s?

Vor Gericht tun sich Abgründe auf: Schüler „T“ (Karsten Leyer), der mit dem kalten Fisch-Blick, wollte alles mal selbst sehen, Geburt und Tod. Nur um zu wissen, wie es ist. Ansonsten unberührt, fühllos.

Einfach und klar wie die Vorlage ist Marc Wernlis redliche Inszenierung geraten, er hat die Szenenfolge in kurze scharfe Auf- und Abblenden gegliedert. Allerdings wird man das Gefühl nicht los, er habe zu früh Bescheid gewußt und den Stoff gar nicht so genau erkundet.

Im insgesamt passablen Spiel des jungen Ensembles fehlen gelegentlich feinere Nuancen. Die Brüllerei klingt immer gleich. Sie haben’s aber auch nicht leicht. Oft binnen Sekunden müssen sie ihre Rollen wechseln und beispielsweise plötzlich den eigenen Vater spielen. Das schlaucht.

Nächste Termine: 5. März, 10.30 Uhr (Castrop-Rauxel), 1 1. März, 10.30 Uhr (Olpe, Stadthalle). Infos und Karten unter 02305/1617.




Gar hübsch schnurrt die Mechanik ab – Molières „Der eingebildet(e) Kranke“ am Westfälischen Landestheater

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Neue Stufe der Gesundheitsreform: Einfach nicht mehr zu den Ärzten gehen, sondern auf die Selbstheilungskräfte der Natur vertrauen. Behandlungen und Medikamente richten sowieso nur Schaden an.

Nein, nein, das ist kein neuer Sparvorschlag voll Minister Seehofer, sondern so legt es uns bereits der Dramatiker Jean Baptiste Molière (1622-1673) nahe. Sein Stück „Der eingebildet(e) Kranke“ hatte jetzt zum Saisonauftakt am Westfälisehen Landestheater (WLT) Premiere.

Man spielt die moderne Übersetzung von Tankred Dorst, und die setzt mit den Verbesserungen just schon beim Titel an: „Le malade imaginaire“ heißt nun auf Deutsch nicht mehr „Der eingebildete Kranke“, sondern „Der eingebildet Kranke“. Kein Arroganter also, der krank ist, sondern ein Mensch, der sich lediglich einbildet, krank zu sein.

Genug der Spitzfindigkeiten. Unverwüstlich ist das Drama jenes allzeit jammerndenArgan (Hubert Schedlbauer), der seine Tochter partout mit dem lachhaft steifen Nachwuchsmediziner Thomas Diafoirus (Guido Thurk) verheiraten will, nur damit Papa stets über einen Leibmedikus für seine tausend Zipperlein verfügt. Am Ende bringt das schlaue Dienstmädchen Toinette (Vesna Buljevic) alles ins rechte Liebeslot.

Die erprobte Ansammlung „dankbarer“ Rollen läßt sich selbst mit gebremsten Kräften halbwegs unterhaltsam auf die Bühne bringen. Hypochonder, Geizhälse und scheinheilige Erbschleicherinnen wird s halt immer geben.

In Castrop-Rauxel ist die winzige, fast puppenhafte Szenerie mit goldenem Rahmen eingefaßt wie ein kostbares, schier unantastbares Gemälde. Und tatsächlich: So recht beherzt traut man sich – unter der Regie von Lothar Maninger – nicht an diesen Klassiker der Typenkomödie heran. Es sieht so aus, als habe man uns jegliche Überraschung ersparen wollen. Und so schnurrt das Ganze sehr brav mit der hübschen Mechanik einer Spieluhr ab. Gerafftes Röckchen hier, gravitätisches Staksen da. Die zwischenmenschlichen Beziehungen als höchst berechenbares Räderwerk.

Auf Tiefenschärfe wird nahezu ganz verzichtet, man hat den Figuren lediglich ein paar Attribute beigegeben, mit denen sie sich in wohlfeilen Slapstick flüchten können. Der Notar wankt als Balancekünstler mit meterhohem Bücherturm herein, der als Gesangslehrer verkleidete Liebhaber Cléante (Ulrich Mayer) trägt eine Note auf dem Jackett und darf immer mal wieder einen Opernarien-Kiekser von sich geben. Argan selbst tapert – Söckchen aus, Söckchen an – deppenhaft zwischen medizinischen Fußbädern, Fläschchen, Bettpfannen und Klistieren herum. Der Komik entbehrt all das nicht, doch es ist nur der halbe Spaß. Und ein kurzer: Nach eindreiviertel Stunden (Pause eingerechnet) ist’s vorüber. Keine abendfüllende Sache, weder zeitlich noch sonst.

Termine: 14. September (Castrop-Rauxel), 25. Sept. (Mülheim), 21. Okt. (Hamm). Karten: 02305/1617.




Auch das Theater braucht einen Libero – Gespräch mit dem WLT-Intendanten Harald F. Petermichl

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Das Westfälische Landestheater (WLT) behält seinen Sitz auf absehbare Zeit in Castrop-Rauxel. Von einem Umzug nach Iserlohn ist derzeit nicht mehr die Rede. Das – und einiges mehr – erfuhr die WR im Gespräch mit dem WLT-lntendanten Harald F. Petermichl (40).

Der gebürtige Bayer und bekennende Fußballfan arbeitet seit 1991 am WLT. Er ist nach dem Weggang seines Ko-Direktors Norbert Kronisch (der Intendant in Osnabrück wurde) alleiniger Leiter der Bühne. Petermichl steckt mitten in den Vorbereitungen zur Saison, die am 6. September mit „Der eingebildete Kranke“ beginnt.

Was ändert sich beim WLT, nachdem Sie Solo-Intendant geworden sind?

Harald F. Petermichl: Ich würde meine ganze bisherige, Arbeit in Frage stellen, wenn ich sagen würde: „Ab jetzt machen wir alles ganz anders.“ Wir haben offenbar eine recht gute Mischung gefunden – zunehmend auch für jüngere Zuschauer. Wir sind beim WLT ein eingespieltes Team – wie eine Fußballmannschaft.

Und Sie sind der Mittelstürmer?

Petermichl: Eigentlich sollte ich Libero sein. Immer da stehen, wo’s brennt.

Apropos brennen. Wie steht s mit den Finanzen?

Petermichl: Die Zuschüsse sind seit 1994 nicht mehr erhöht worden. Vom Land gibt es 4.2 Millionen Maik, vom Landschaftsverband um die 800.000, von der Stadt Castrop-Rauxel 325.000 und von den 16 Mitgliedsstädten unseres Trägervereins insgesamt rund 90.000 Mark. Die bekommen dann auch Rabatt, wenn sie unsere Stücke buchen.

Wie wirkt sich das Einfrieren der Subventionen aus?

Petermichl: Die Preise steigen, und wir müssen rundum sparen. Aber jetzt sind wirklich alle Reserven aufgebraucht. Schon ein Prozent Tariferhöhung bedeutet: Wir haben 50.000 Mark im Jahr weniger. Um so betrüblicher, daß manche Kommunen gleichfalls sparen und ihre Gastspiel-Buchungen reduzieren. Manche buchen nur noch unsere Revue. Da bekommen die Zuschauer ein ganz falsches Bild von unserer Arbeit. Als ob wir ein Revuetheater wären!

Eine Versuchung, nur noch gängige Stücke anzubieten?

Petermichl: Es ist halt eine Mischkalkulation. Zwei bis drei Stucke müssen sich gut verkaufen, dann kann man sich auch ein paar riskantere leisten, zum Beispiel diesmal George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Wenn man nur noch auf die Kasse schielt, geht auch der Spaß flöten.

Sie gastieren häufig in Südwestfalen. Was ist denn eigentlich aus dem Plan worden, daß Ihre Bühne dort einen neuen Standort bekommt und ins Parktheater Iserlohn umzieht?

Petermichl: Im Moment liegt das auf Eis. Es wird seit fast zwei Jahren zwar irrsinnig viel drüber gesprochen, doch es gab immer nur unverbindliche Absichtserklärungen. Es liegt bis heute kein konkretes Angebot aus Iserlohn vor, dem man entnehmen kann: Wenn wir da hingehen würden, dann hätten wir die und die Vorteile. Außerdem herrscht bei uns keine große Begeisterung über einen eventuellen Umzug. Die Schauspieler sind es ja gewohnt, alle zwei bis drei Jahre woanders hinzuziehen. Doch die Leute aus Technik und Verwaltung fühlen sich an Castrop-Rauxel gebunden; Es ist ja auch ein guter Standort für uns, das Verhältnis zur Stadtverwaltung ist bestens. Wir bespielen Orte im ganzen Land, und da liegen wir hier ziemlich zentral.

Was steht auf dem neuen Spielplan?

Petermichl: Zwei markante Beispiele: Als klassisches Stück haben wir Schillers ..Kabale und Liebe“ im Programm, als musikalische Produktion die „Urlaubsrevue“, eine unterhaltsame Geschichte des Reisens von der Kutsche bis zum Flugzeug, garniert mit vielen populären Liedern.

Sie selbst proben zur Zeit Michael Endes „Jim Knopf“. Ist Kindertheater bei Ihnen Chefsache?

Petermichl: Nun, das hat auch mit meiner Biographie zu tun. Ich komme vom Kinder- und Jugendtheater her, und ich halte es einfach für eine wichtige Sparte. Es ist die einzige Theaterform, mit der man noch alle sozialen Schichten erreicht. Wenn der Intendant das Kinderstück macht, ist das auch ein Zeichen.




Gemeinsam stärker: Vier NRW-Landestheater bündeln ihre Kräfte

Von Bernd Berke

Im Westen. Weiterhin getrennt spielen, aber ab sofort mit einer Stimme für sich werben wollen die vier Landestheater in NRW. Sie leisten sich ein gemeinsames PR-Büro in Düsseldorf. Entsteht da ein Theater-Kartell?

Das Bühnen-Quartett (Castrop-Rauxel, Neuss, Detmold und Dinslaken) ist vor allem zuständig für Gastspiele auf dem „flachen Land“, also für die kulturelle Versorgung von insgesamt rund 150 kleineren Orten ohne eigene Ensembles. So manche Gemeinde in Südwestfalen etwa greift gern auf Angebote des Westfälischen Landestheaters (WLT, Castrop-Rauxel) zurück.

Doch neuerdings „wird der Markt enger“, wie WLT-Intendant Herbert Hauck und Vertreter der anderen Landesbühnen gestern in Dortmund zugaben. Burkhard Mauer vom Landestheater Neuss deutete an, daß einige Kommunen im Zuge von Sparzwängen mit dem Kommerz flirten. Sie wollen nur noch Tourneetheater verpflichten, jene lieblos um ein bis zwei TV-bekannte Stars gruppierten Wandertruppen, die mit oft seichten Produktion vermeintlich hohe Platzausnutzung garantieren.

Spielpläne aus dem „Musterkoffer“

Die Landesbühnen bieten hingegen auch sperrige Stücke an. Dies wollen sie nun mit vereinten Kräften und offensiv als Erfüllung ihres Kulturauftrags vertreten. Im gemeinsamen Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Verkauf (Tel. 0211/7118345), gelegen in Sichtweite des Kultusministeriums, von dem alle Landesbühnen Zuschüsse erhalten, nimmt die frühere Dramaturgin Claudia Scherb (31) Platz. Doch es ist kein Sitzjob. Sie soll viel unterwegs sein und mit den Kulturamtsleitern der Städte verhandeln – bis hin zur Vertragsreife. Sie wird eine Art „Musterkoffer“ mit sich führen, aus dem sie Angebote der vier Landesbühnen zu veritablen Spielplänen zusammenstellen kann. So sollen selbst kleine Orte ein tragfähiges Theater-Konzept verfolgen können, indem sie (beispielsweise) eine ganze Brecht-Reihe aus dem Baukasten einkaufen.

Das alles verlangt penible Termin-Koordination zwischen den vier beteiligten Bühnen. Und es läuft wohl auch auf eine Art „Gebietsabsprache“ hinaus, so daß man einander nicht unnötig wehtut. Die einzelnen Spielpläne werden ja sowieso schon längst im Vorfeld miteinander abgeglichen, damit nicht auf einmal alle dasselbe Stück proben. Also doch ein Abwehr-Karteil gegen das Kommerztheater? Wenn man so will, ja. Aber was wäre dagegen einzuwenden? Freilich: Das Büro bekommt nur einen Jahresetat von 150 000 DM. Ob sich damit Bäume ausreißen lassen?




WLT-Finanzen auf des Messers Schneide – Leitung des Landestheaters im Rundschau-Gespräch

Dortmund/Castrop-RauxeI. (bke) Am 3. März wird sich die Spreu vom Weizen sondern: Dann steht auf Messers Schneide, wie viele von 22 Städten bereit sind, ein kulturpolitisches Bekenntnis zum Westfälischen Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel abzulegen und wie viele womöglich als Mitglieder aus dem Trägerverein des Theaters ausscheiden.

Wird es „Fahnenflüchtige“ geben, droht gar eine Vereins-Auflösung? Brisanter Stoff für ein Gespräch, zu dem WLT-Intendant Herbert Hauck, sein Verwaltungschef Norbert Kronisch sowie Olaf Reifegerste, Pressesprecher und Spielplan-Disponent des Theaters, ins Dortmunder Rundschauhaus kamen.

Letzlich geht es nicht nur um Bekenntnisse, sondern um Geld: Seit langem ist der Jahresbeitrag pro Gemeinde auf läppische 300 Mark eingefroren. Für diesen „Tischtennis-Beitrag“ (Reifegerste) genießen die Kommunen weitreichende Stimmrechte in Existenzfragen des WLT. Künftig sollen die Städte zusammen im Jahr 45 000 DM Beiträge zahlen, etwa nach einem Verteilerschlüssel auf Basis der Einwohnerzahlen. Anfang Febmar hatten die Gemeinde-Vertreter sich nicht geeinigt. Seitdem hängt das WLT, das ja landauf landab gastiert, finanziell „in der Luft“. Nächsten Freitag soll ein zweiter Anlauf den Durchbruch bringen.

Da die Kommunen, so Herbert Hauck, nicht mehr gar so ärmlich dastehen wie vordem, geht das WLT selbstbewußt in die „Zerreißprobe“ und fordert von jeder Stadt – zusätzlich zum Beitrag – eine ein- bzw. erstmalige Umlage von 7 Pfg. pro Einwohner, was insgesamt 105 000 DM ergäbe.

Nun warten alle gespannt auf Signale der Städte. Die Theaterleute sowieso (Hauck: „Jetzt müssen wir das durchfechten“), aber auch das NRW-Kultusministerium, das mehrfach seine Zuschüsse erhöhte, nun aber die Kommunen im Zugzwang sieht – und der zuständige Regierungspräsident in Münster, der den neuen WLT-Etat (5,5 Mio. DM) nicht absegnen mag, bevor die Gemeinden Geld drauflegen.

Ungeachtet relativ hoher Einnahmen durch Kartenverkauf beklagt das WLT Defizite. Neue Tarifabschlüsse erzwingen jetzt nochmals Einsparungen von 70 000 DM. Dies alles, so die Theaterleute zur WR, bedeute keinesfalls, daß man künftig einen Boulevard-Spielplan anbiete. Herbert Hauck gelobt: „Brecht-Pflege und regionalbezogene Stücke bleiben Schwerpunkte.“

Trotz aller Unbill plant man beim WLT zwei neue Projekte; Eines soll sich ostwärts bewegen, ein anderes auf Flüssen und Kanälen…

Plan Nummer ems: Man verhandelt mit einem DDR-Theater. Herbert Hauck verriet, daß es sich um die Bühne in Döbeln/Sachsen handelt. Mit diesem Theater will das WLT u. a. einen Stücke-Zyklus über die deutsche Nachkriegsgeschichte herausbringen. Hauck: „Die Landkarte für eie DDR-Tournee haben wir auch schon im Kopf.“

Plan zwei, die Einrichtung eines mobilen „Theater-Schiffes“ gemeinsam mit den Städtischen Bühnen Oberhausen, geht – nach erfolgtem Antrag – zwischen Kultus- und Städtebauministerium des Landes seinen bürokratischen Gang. Dabei drängt die Zeit: Schon kommen konkrete Terminanfragen aus den Schulen – und ein bereits ausgesuchtes Schwimm-Objekt ist nicht mehr zu haben. Ein Lastkahn, rund 60 Meter lang und 8 Meter breit, soll – zum Bühnenschiff umgebaut – besonders Jugendlichen die „Schwellenangst“ vorm Theater nehmen. Hauck, Kronisch und Reifegerste haben sich bereits Kenntnisse angeeignet, die eines Reeders oder Kapitäns würdig wären. Freilich merkten sie auch, daß vom Land gefördcrte Kooperationen (hier mit Oberhausen) rechtlich kein leichtes Fahrwasser sind.

Über eines sind die WLT-Leute voll des Lobes: Das „Klima“ in Castrop-Rauxel habe sich enorm verbessert. Kein Wunder: Bestimmte Industrieansiedlungen sind auch auf die Präsenz des WLT zurückzuführen: Kultur lockt Wirtschaft an. Von einem WLT-Umzug nach Hamm, vor Zeiten noch erwogen, ist jetzt keine Rede mehr.




Johannes Rau beim SPD-Kulturkongreß: „Theatersterben findet in NRW nicht statt“

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. „Ein Theatersterben findet nicht statt“, dieses Trauerspiel sei endgültig „vom Spielplan abgesetzt“; die Landesregierung werde die kulturelle Vielfalt in NRW sichern und ausbauen. Das betonte Ministerpräsident Johannes Rau am Samstag in seiner Eröffnungsrede zum SPD-Kulturkongreß in der Europahalle zu Castrop-Rauxel. Kultur sei auch bei knappen Kassen nicht überflüssig, sondern notwendig, ja sogar „not-wendend“ (Rau), indem sie – als „humaner Stachel gegen Sachzwänge“ – Gegenwelten entwerfe.

Ein „Zukunftsgespräch“ über NRW-Kultur führten vor schätzungsweise 500 Zuhörern dann Experten und Macher am runden Tisch. Erst vor Wochenfrist hatte die CDU in Mülheim eine Debatte zur Revierkultur veranstaltet (WR berichtete). Die Teilnehmerzahl beim SPD-Zukunftsgespräch war rund zehnmal größer. Deutlich wurde – im Unterschied zur CDU – eine entschiedene Skepsis gegenüber privaten Kultur-Sponsoren; außerdem wurden beim SPD-Treffen größere Vorbehalte gegenüber Kommerz-Produktionen wie dem Bochumer Musical „Starlight Express“ geäußert. Beiden Parteien gemeinsam: Kulturpolitik ist, obgleich intensiver als zuvor diskutiert, noch keine dringliche „Chefsache“. CDU-Landesvorsitzender Norbert Blüm hatte der Mülheimer Runde lediglich ein kurzes Grußwort übermittelt, Johannes Rau kam jetzt immerhin selbst nach Castrop-Rauxel, verließ die Halle aber kurz nach seiner Rede, was den Kölner Literaturprofessor Karl-Otto Conrady zu der „Dallas“-Frage veranlaßte: „Wo ist J. R.?“

Eberhard Kloke: Nicht viel mehr als die „Lustige Witwe“

Es wurde kein durchweg rosiges Bild der NRW-Kultur gezeichnet. Willi Thomczyk vom Herner „Theater Kohlenpott“ sah die „Freie Szene“ vom Land als bloßen kulturellen „Lückenbüßer“ behandelt, es drohe da „ein Ausverkauf wie bei Kohle und Stahl“, die Finanzen hätten eindeutig Schlagseite zur „Hochkultur“. Gegen zuviel Repräsentationskultur wandte sich auch Bertram Müller vom Düsseldorfer Kulturzentrum „Die Werkstatt“: „Von den Subventionen für die Düsseldorfer Oper könnte man 40 Kultur-Werkstätten für jedermann betreiben“. Anlaß genug für die Mahnung Roberto Ciullis („Theater an der Rühr“, Mülheim), „Hoch“- und „Basiskultur“ nicht gegeneinander aus- zuspielen. Bochums Generalmusikdirektor Eberhard Kloke, vor einer Woche schon der CDU zu Diensten, hob erneut zu seiner Rundumkritik an NRW-Spielplänen an. Tenor: Landauf, landab werde derzeit nicht viel mehr als die „Lustige Witwe“ gespielt.

Das „Gießkannenprinzip“ bei der Mittelvergabe kritisierte Rainer Glen Buschmann (Musikschule Dortmund) : Man solle lieber wechselnde Schwerpunkte setzen und Besonderheiten fördern. Literaturprofessor Conrady schrieb der SPD Versäumnisse ins Stammbuch: Die Partei sei „seit 10 bis 15 Jahren nicht mehr Stimmführer“ in Sachen Kultur, weil ihr vielfach der „Mut zur Utopie“ gefehlt habe.

Ein anderes Defizit machte Eugen Gerritz, kulturpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, aus: Die Zeitungslandschaft in NRW biete kein Forum für tiefgreifende Kulturdebatten. Die Gesichter hellten sich etwas auf, als NRW-Kultusminister Hans Schwier ankündigte, man sei „auf dem besten Wege«, eine (u.a. aus Lotto und „Spiel 77″ finanzierte) neue Kulturstiftung auf die Beine zu stellen.