Die Druckware trotzt den Silberscheiben – Skeptische Töne zum Auftakt der 49. Frankfurter Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Probleme an allen Fronten des Buchmarktes: Die Umsätze wachsen bei weitem nicht mehr so üppig wie vor Jahresfrist. Die Europäische Kommission droht die für kleinere Verlage lebenswichtige Buchpreisbindung aufzuheben und damit den Lesestoff so zu behandeln wie jede beliebige andere Ware. Zudem bereiten das Hin und Her um die Rechtschreibreform sowie die immer schmalbrüstigeren Ankaufsetats öffentlicher Bibiliotheken Kopfzerbrechen – und das „Gespenst der Globalisierung“ erhebt gleichfalls sein schauriges Haupt.

Skeptische, ja stellenweise furchtsame Töne bestimmten gestern die Pressekonferenz zum Auftakt der 49. Frankfurter Buchmesse. Selbst das Geschäft mit elektronischen Publikationen, seit 1993 in die weltgrößte Bücherschau integriert, entwickelt sich nur im Kriechgang. Hatten Experten Anfang der 90er Jahre für die Jetztzeit einen satten Marktanteil von rund 20 Prozent vorhergesagt, so sind es nun tatsachlich gerade mal zwei bis drei Prozent.

Auch solche ernüchternden Zahlen lassen sich – mit etwas rhetorischem Geschick –freilich rasch ins Positive wenden. Gerhard Kurtze, Vorsteher beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels, gestern in Frankfurt: „Das Buch hat sich als erstaunlich vital erwiesen“, sprich: Die gute alte Druckware hat dem Angriff der Silberscheiben (CD-Roms) und der virtuellen Text-Attacke aus dem Internet tapfer getrotzt.

Immerhin: Im deutschen Buchhandel ging’s zuletzt noch sanft aufwärts (1,7 Prozent Umsatzplus), aber die Konjunkturflaute wird nun (mit Verzögerung im Vergleich zu anderen Branchen) auch hier spürbar. Im Vorjahreszeitraum konnte man nämlich noch mit vier Prozent Steigerung prunken.

Appelle für den Erhalt der Preisbindung

In anderen Ländern sieht es sehr uneinheitlich aus: Die USA erleben beispielsweise einen Boom beim Bücherverkauf, in Frankreich und Italien weisen die Kurven hingegen nach unten. Der Buchmesse selbst geht’s unterdessen prima. Sie kann – fast schon Routine – abermals anschwellende Größe vermelden. Genau 9587 Aussteller sind diesmal in Frankfurt dabei – etwa 300 mehr als im letzten Jahr. Die stolze Steigerung hat man besonders osteuropäischen Verlagen zu verdanken. Dort scheint das zarte Pflänzchen des Buchgeschäfts allmählich wieder zu gedeihen. Daß die weltweit erzeugte, am Main präsentierte Titel-Produktion von rund 311 000 auf etwa 306 000 abgeschmolzen ist, läßt sich wohl verschmerzen.

Geradezu händeringend sind die Appelle an die EG-Kommission in Brüssel, die bewährte Buchpreisbindung doch um Himmels Willen beizubehalten. Andernfalls könnten wenige große Handelsketten mit knallhart kalkulierter -Billigware den ganzen Rahm abschöpfen, was wohl den Tod zahlreicher kleiner und mittlerer Verlage nach sich ziehen dürfte. Angesichts solcher Befürchtungen traf es sich gut, daß EG-Kommissionspräsident Jacques Santer gestern abend zur Messeeröffnung erschien. Man wird ihm einiges über den Segen der festgelegten Ladenpreise zugeflüstert haben.

Portugal ist der Schwerpunkt

Messedirektor Peter Weidhaas konnte auf erste Auswirkungen des diesjährigen Messeschwerpunkts Portugal verweisen: Insgesamt lägen in Deutschland nur 105 portugiesische Buchtitel übersetzt vor. Davon aber seien allein 40 in diesem Jahr herausgekommen, vermutlich aufgrund des Frankfurter Impulses. Mit rund 300 großen und kleinen Portugal-Veranstaltungen, die bis tief in die deutschen Regionen reichen, setzt man zudem auf Breitenwirkung. Hoffentlich kein Strohfeuer.

Weidhaas, der das Buch ein „Überlebensmittel“ und unabdingbar für „Zukunftsfähigkeit“ nannte, ermunterte dazu, nicht nur dem Hauptstrom der Messe zu folgen, sondern ruhig auch mal Unscheinbares und Kurioses aufzusuchen. Kein schlechter Vorschlag.

49. Frankfurter Buchmesse. Bis 20. Oktober (nur Samstag/Sonntag fürs breite Publikum, ansonsten für Fachbesucher). Tageskarte 10 DM, für Fachbesucher 25 DM.




Im „Faust“ wird mit der Maus geblättert – Wie sich Goethes Weltendrama auf einer CD-Rom liest

Von Bernd Berke

Heute legen wir ’ne heiße Scheibe auf: Goethes „Faust“. Dabei geht’s nicht etwa um eine neue Punkgruppe, die sich frech den klassischen Namen anmaßt, sondern um Johann Wolfgang höchstselbst. Dessen Weltendrama ist jetzt auf einer silbernen Datenplatte (CD-Rom) erschienen.

Entsprechendes Laufwerk vorausgesetzt, kann man entweder ein Suchprogramm oder den kompletten „Faust I“ mit allen Begleittexten und sonstigen Zutaten auf die Computer-Festplatte holen. Letzteres kostet freilich mit happigen 8 Megabyte fast so viel Speicherplatz wie das gesamte „Windows“-System (Version 3.1), also die kleinen Bildfenster zum Anklicken mit der Maus.

Und was hat man davon? Nun, bestimmt keine gemütliche Lektüre zum Kaminfeuer. Die Seiten erscheinen mit einer gelbgrau melierten „Tapete“ hinterlegt. Hübschhäßlich.

Man blättert mit dem Mauszeiger. Dieser verwandelt sich zwar nicht in eine Faust (haha), wohl aber in ein kleines Händchen, das auf vor- und rückwärts gespitzte Symbol-Dreiecke deutet. Mit der richtigen Hand in einem richtigen Buch geht’s schneller, vom sinnlichen Gefühl beim wirklichen Blättern ganz zu schweigen. Jedenfalls könnte einem angesichts der flimmrigen Texte schon dieses „Faust“-Zitat einfallen: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“

Wo der Hund begraben liegt

Aber die Computer-Ausgabe hat mehr zu bieten. Bestimmte Goethe-Sätze kann man z. B. so ansteuern, daß sich Fenster mit punktgenauen Erläuterungen öffnen. Früher hat man in den Fußnoten oder den Erläuterungen am Ende eines Bandes nachgesehen, nun gräbt man eben direkt unter der Text-Oberfläche. Sodann kann man sich, wenn einem der Sinn danach steht, müßige Späße erlauben: zum Beispiel nachsehen, in welcher Zeile zum ersten Mal Gretchen erwähnt wird und wo sie dann wieder auftaucht. Diese Statistik wollten wir immer schon mal aufstellen. Wir haben uns nur nicht getraut.

Außerdem merkt sich das System die zuletzt aufgeschlagene Seite und kniffelt – wie niedlich! – eine virtuelle Büroklammer an den Rand. Apropos Rand: Wo man ehedem vielleicht seine Anmerkungen hingekritzelt hat, kann man nun ein elektronisches Notizkärtchen aufrufen und seine Ergüsse darauf plazieren. Gepriesen sei der Fortschritt!

Noch’n Test: Wo kommt im „Faust“ das Wort „Hund“ vor? Suchfunktion starten – und man erfährt es. Stelle für Stelle. Erster Fundort: Seite 13 mit dem Zitat „Es möchte kein Hund so länger leben.“ Freilich interpretiert das Programm die Tiergattung doch recht eigenwillig und zeigt später ganz stolz „hund-ert“ oder sogar „gesc-h u n d-en“ vor. Liegt also auch da des Pudels Kern?

„Da steh‘ ich nun, ich armer Tor…“

All das hätte man notfalls ohne Computer bewältigt. Doch auf der (übrigens erstaunlich preiswerten) CD-Rom ertönen an einigen Stellen auch noch Schauspielerstimmen, die Textpassagen auf Abruf vorlesen. Und ein paar kleine Bildchen von alten Theaterzetteln, Goethes Handschrift usw. gibt’s obendrein.

So etwas nennt man heutzutage wohl mutimedial. Es könnte aber auch noch Leute geben, die ihr nüchternes Fazit aus dem „Faust“ beziehen: „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“

Goethe: „Faust I“. CD-Rom im Reclam-Verlag (14,90 DM). In derselben Reihe: Kafka „Die Verwandlung“, Storm „Der Schimmelreiter“, Lessing „Nathan der Weise“, Schiller „Wilhelm Tell“ u. a.




Lektüre der Zukunft kommt direkt aus der Steckdose – Buchmesse: Elektronische Technik immer bedeutender

Von Bernd Berke

Frankfurt. Es ist schon erstaunlich: Mögen andere Branchen auch klagen – der Buchhandel, so scheint’s, wächst und gedeiht. Und das, obwohl man doch allenthalben den Verfall der Lesekultur beschwört. Zur Eröffnung der 47. Frankfurter Buchmesse wurden gestern die neuesten Zahlen bekannt. Danach verzeichnete man bis zum Herbst ein Umsatzplus von zwei Prozent gegenüber 1994.

Signal für den Wohlstand: Auch die Messe selbst ist nochmals angeschwollen – auf 6497 Verlage an Einzelständen (plus 2392 kollektiv präsentierte) und auf 330 000 verschiedene Bücher (davon 93 000 Neuerscheinungen). Weltmeister in der Produktion neuer Titel sind übrigens die Briten vor Deutschland und den USA.

Gewiß: Ein Teil des Geldes wird mittlerweile mit elektronischen Medien (CD-Rom) verdient. Gerhard Kurtze, Vorsteher beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels, vermag aber nicht zu sagen, um welche Größenordnungen es dabei geht.

Der Computer gehört dazu

Immerhin: Rund neun Prozent der deutschen Haushalte verfügen bereits über Personalcomputer mit CD-Rom-Laufwerk, aber nur in Frankreich hat man schon exakte Statistiken zur Mediennutzung. Danach werden etwa 7,5 Prozent des Buchhandels-Umsatzes mit Multimedia-Produkten erzielt.

Doch kaum sind die silbernen Datenscheiben normaler Bestandteil der Buchmesse, da öffnet sich schon ein neues Einfallstor für die Computertechnik. Kurtze kündigte einen ersten Versuch der Verlage mit „Online“-Informationen an, der schon auf der Messe seine Premiere erlebt und Mitte 1996 zur breiteren Pilotphase ans Netz gehen soll. „German Publishing Infoline“ (GPL) heißt das Wortungetüm.

Volltexte von zu Hause aus abrufen

Dahinter verbirgt sich die Möglichkeit, per Computer von daheim oder irgendwo sonst zum Beispiel umfangreiche Buchkataloge abzurufen und elektronisch durchzublättern. Schon bald sollen sogenannte „Volltexte“ – also Inhalte ganzer Bände – durch die Leitung kommen. Solche Bücher aus der (Telefon)-Steckdose darf man dann natürlich nur gegen Nutzungsgebühr anzapfen.

Bei den herkömmlichen Büchern zwischen zwei Deckeln gibt es unterdessen ein Problem, das der Elektronik nicht droht: außerordentlich gestiegene Papierkosten, die – so bedauerten die Spitzenfunktionäre des Handels in Frankfurt – nicht mehr ohne weiteres auf die Preise aufgeschlagen werden könnten.

Bücher aus und über Österreich sind diesmal das Schwerpunktthema der Buchmesse. Erstmals wird damit ein deutschsprachiges Land besonders hervorgehoben. Doch die Autoren und Verlage aus der Alpenrepublik wollen zeigen, daß sie nicht als Sonder- und Spezialfall „deutscher“ Literaturen abgehandelt werden können, sondern einen höchst eigenständigen Beitrag zum Weltgeist leisten.

Warten auf die Preisvergabe

Festliche Krönung der Messe soll – wie in jedem Jahr – die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche sein. Doch um die Preisträgerin, die Orientalistin Annemarie Schimmel, gibt es bekanntlich heftige Debatten, die auch jetzt nicht verstummen wollen. Der Börsenverein verteidigte auch gestern die Entscheidung seiner Jury.

Die Preisvergabe stehe für die Hoffnung, einen vernünftigen Dialog mit dem Islam in Gang zu setzen und so dem Fundamentalismus gerade Einhalt zu gebieten, hieß es sinngemäß. Von wem der ursprüngliche Vorschlag kam, Frau Schimmel zu ehren, wurde nicht verraten. Gerhard Kurtze vom Börsenverein wollte nur zwei Gerüchte vom Tisch haben: Die Anregung sei weder von Bundeskanzler Kohl noch von Bundespräsident Herzog gekommen.

Frankfurter Buchmesse, 11. bis 16. Oktober für Fachbesucher (fürs allgemeine Publikum nur Samstag/Sonntag, 13. und 14. Okt.), jeweils 9 bis 18.30 Uhr. Tageskarte: 12 DM.

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KOMMENTAR

Wird die CD-Rom bald schon altmodisch sein?

Denken wir mal ein wenig voraus: Es ist gut möglich, daß wir bald nicht nur Bücher mit nostalgischen Gefühlen betrachten, sondern daß wir in naher Zukunft auch von der „guten alten CD-Rom“ reden.

Diese Datenplatten, die das Buch nicht ablösen, aber ergänzen sollen, wären nämlich dann schon wieder veraltet. wenn auf breiter Front eintritt, was gestern zum Start der Frankfurter Buchmesse als Testprojekt angekündigt wurde: Die Verlage wollen Texte. Bilder und Töne kompletter Bände per Telefonnetz („online“) zur Verfügung stellen.

Das hört sich verführerisch bequem an, hätte man doch die Möglichkeit, gegen Gebühr praktisch immer und überall auf solche Angebote zurückzugreifen. Sprich: Es gäbe keine Ladenschlußzeiten für Leser. Wäre das nicht sogar ein Zugewinn an Kultur?

Doch zugleich taucht auch ein Menetekel am Horizont auf: Während die Buchhändler sich auf die CD-Rom-Technik noch einstellen konnten, indem sie – mehr oder weniger widerstrebend – die Platten einfach mit in ihr Angebot aufnahmen, so könnten sie mit der neuen Variante ausgespielt werden. Denn das Buch, das „aus der Steckdose“ quillt, hätte eigentlich keinen Zwischenhandel mehr nötig. Der Verbraucher könnte direkt mit dem Verlag in Verbindung treten. Und dann müßte der heutige Buchhändler entweder aufgeben oder selbst zum Anbieter, zum Verleger werden.

Da droht also auf mittlere Sicht eine ganze Branche „wegzubrechen“. Die Frage ist, ob man diese Entwicklung ganz dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte.

Bernd Berke




„Die Welt ist doch eine Scheibe“ – Oder werden die Bücher bald aus der Steckdose kommen?

Von Bernd Berke

Frankfurt. „Die Welt ist doch eine Scheibe“. Dieser Spruch führt nicht zurück ins Mittelalter, als die Kugelgestalt der Erde noch unbekannt war. Er soll in eine goldene Medienzukunft weisen. Denn mit dem Reklame-Satz ist die Datenscheibe CD-Rom gemeint, die mehr denn je die Diskussion auf der Buchmesse beherrscht.

Es scheint, als sei die Messe-Premiere der elektronischen Lesemedien im letzten Jahr nur Vorgeplänkel gewesen, als dämmere den Verlagen erst jetzt die Tragweite der neuen Technik. Und schon preschen Leute vor, die behaupten, die CD-Rom sei nur ein Behelf. In einigen Jahren werde das „Buch“ direkt aus der Steckdose kommen – aus prall gefüllten Wissens-Banken via „Daten-Highway“.

Was ist auf den Silberlingen wirklich drauf?

Zukunftsmusik. Wer jetzt schon ein CD-Rom-Laufwerk sein eigen nennt, wird noch nicht immer helle Freude an den Platten haben. Bevor man ihn nicht kauft und verwendet, kann man einem „Silberling“ nicht ansehen, was wirklich drauf ist. So sind auch die Gründe für die enormen Preisunterschiede (ca. 30 DM bis 200 DM pro Scheibe mit einer Speicherkapazität von bis zu 600 Megabyte) zunächst nicht ersichtlich.

Erst beim Gebrauch kommt der Aha-Effekt: Wenn Verlage bis zu 2 Mio. DM pro CD-Rom investiert haben (nur noch im internationalen Verbund sinnvoll), ist der Nutzeffekt ungleich größer als bei unausgereiften Produkten: Nicht überall, wo „interaktiv“ draufsteht, ist’s auch drin.

Eins steht fest, man kann es beim Ausprobieren der Geräte an sich selbst und an anderen wahrnehmen – nicht die leicht verschleierten oder gar verklärten Blicke der Leser selbst von trivialeren Druckwerken, sondern fiebrig irrende Pupillen. Denn die elektronische Art des „Lesens“ züchtet Ungeduld. Allein die Apparatur diktiert das Tempo – und das ist bei komplizierten Anwendungen oft noch schleppend.

Vom Lexikon bis zur „Pussy-Parade“

Unterdessen herrscht in Messehalle 1 ein etwas anderes Getriebe als zwischen den Buchständen. Auf Anbieterseite überwiegen smarte Business-Typen. Interessenten sind vor allem Kids und Jugendliche, die ganz unbefangen die neuen Medien ausprobieren. In Frankfurt werden aber inzwischen auch die Vorteile der Druckmedien wieder zaghaft erwähnt – erster Katzenjammer nach der CD-Euphorie?

Jedenfalls schält sich die Erkenntnis heraus, daß man nicht einfach Gedrucktes auf Platte übertragen dürfe, sondern eigenständige Inhalte entwickeln müsse. Dazu hat sich die Verlagsgruppe Brockhaus/Meyer/Duden/Langenscheidt, wie in Frankfurt verkündet wurde, mit dem Software-Konzern Microsoft verbündet. Es ballt sich was zusammen. Und die Zukunftsschmiede mögen weder für die Buchpreisbindung garantieren noch für exklusiven Vertrieb über den Buchhandel. Die Branche steht vor einem Verdrängungswettbewerb.

Während Brockhaus und einige andere wirklich frappierende Lexikonprojekte hervorgebracht haben, ist das anderwärts mit Inhalten so eine Sache. Vieles tötet eher die Phantasie oder gehört in die Spielhalle. Und schon sieht man auch CD-Programme der schäbigen Art, z. B. eine Sammlung von computeranimierten Szenarien aus den Weltkriegen. Auch Beate Uhse hat die Hände nicht oder genauer: ganz entschieden in den Schoß gelegt. Ihre Sex-Fabrik ist mit einer Reihe von Scheiben vertreten, u. a. mit einer „Pussy-Parade“. Wenn das Gutenberg wüßte.

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Kommentar

Elektronik auf Frankfurter Messe auf dem Vormarsch

Das Buch im Computer

Etwa fünf bis 18 Prozent des Geschäfts mit dem Lesen, so gestern die Veranstalter der Frankfurter Buchmesse, könnten zur Jahrtausendwende mit elektronischer Ware abgewickelt werden. Die Spannbreite dieser Schätzung ist enorm. Schon deshalb läßt sie auf große Unsicherheit schließen. So richtig scheint man immer noch nicht zu wissen, auf was man sich da im Buchhandel eingelassen hat.

Doch die Geister, die man rief – man wird sie gewiß nicht mehr los. Der Buchmarkt ist ohne die Daten-Scheiben mit ihrem immensen Fassungsvermögen nicht mehr denkbar. Sie erobern auch jetzt schon auf der Messe immer mehr Raum und Aufmerksamkeit. Also muß man – wohl oder übel – mitmischen, will man den wirtschaftlichen Anschluß nicht verlieren.

Eher wie Beschwörung hört es sich an, wenn man darauf pocht, die „Inhalte“ würden gerade jetzt immer wichtiger. Buchverleger, so verkünden die Verbands-Funktionäre mit stolzgeschwellter Brust, hielten schließlich die Rechte an fast allem, was auf CD-Rom und anderen Datenträgern publiziert wird. Die stille und manchmal auch laut als Gewißheit verkaufte Hoffnung: Die Verleger würden diese „immer wichtigeren“ Inhalte schon nicht verkommen lassen.

Schon das kann man teilweise bezweifeln. Nicht jeder Verlag wird von edlen kulturellen Motiven geleitet. Zudem dürften sich schon bald große Elektronik- und Unterhaltungskonzerne lukrativer Datenrechte bemächtigen. Und denen ist es piepegal, was konsumiert wird. Hauptsache, es wird kräftig gekauft.

Bernd Berke, z. Zt. Frankfurt

(Kommentar erschienen 5. Oktober 1994)

 




Moderne Zeiten: Das Lesen wird zum Videospiel – Impressionen auf der Frankfurter Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Ein kleiner Blick ins Lexikon gefällig? Schauen Wir mal unter „V“ wie Vulkan nach. Da steht jede Menge. Welcher Berg wann Lava ausgespien hat usw. Aber das wollen wir jetzt auch vorgeführt bekommen.

Kein Problem. Wir rollen die kleine Computer-Maus so hin und her, daß ein Bildschirm-Pfeil auf das entsprechende Symbol zeigt, machen einmal kurz „Klick“ mit der Taste – und schon sehen wir den tätigen Ätna oder Vesuv. Natürlich unterlegt mit dem entsprechenden Katastrophen-Sound.

So sieht die elektronische Zukunft des Buches ungefähr aus, und sie hat schon begonnen. Demnächst auch bei Ihrem Buchhändler: Auf Disketten oder CDs (CD-Rom) gebannte, nach Belieben multimedial mixbare Informationen (Texte, Bilder, Töne) machen dasLesen zum Grenzfall zwischen Lektüre und Videospiel.

Auf der Frankfurter Buchmesse füllen die 170 Anbieter zwar noch keine komplette Halle, aber immerhin eine weitläufige Etage, die eher an die Computermesse CeBit erinnert. Hier tummeln sich viele Kinder und Jugendliche, die all die schönen neuen Sachen unbefangen ausprobieren.

Mitten im Gewühl liegt ein Forum, in dem Seminare für Buchhändler und Verlagsleute abgehalten werden. Just hier schickt sich eine Yuppie-Fraktion des Buchhandels an, den Kollegen das elektronische Spielzeug schmackhaft zu machen. Die smarten Dozenten reden schnittig von „nice to have“-Produkten (Sachen, die man ganz gern mal hätte), von „Infotainment“ und „Edutainment“ (unterhaltsame Information bzw. Lernen).

Keine Lust zum Buchstabieren

Süffisant werden Techniken des Kundenfangs erläutert: „Wo man die Abspielgeräte kauft, da kauft man auch die Software.“ Diesen Markt dürfe man keinesfalls an Kaufhäuser und Computerhändler verlieren. Man könne zur Einstimmung ja schon mal Software-Abende im Buchgeschäft veranstalten: „Die Kunden zahlen sogar Eintritt dafür.“

Der Buchhandel, so predigen die Zukunftsjünger, solle sich jedenfalls endlich damit abfinden, daß die meisten Leute keine rechte Lust mehr zum altbackenen Lesen haben. Der Kunde wolle spielen, er brauche Animation. Und sie führen auch gleich vor, was sie meinen – selbstverständlich mit einem Elektro-Buch zum Modethema Dinosaurier. „Jetzt laden wir uns einen Brontosaurus“, heißt so was im Computerdeutsch. Und sogleich sieht man das liebe Tierchen, kann man ausgewählte Details „anklicken“. Auch Trickfilme stecken im Programm. Man erlebt z. B., wie ein herzzerreißend brüllender Dino bei der Jagd erlegt wird. Action zählt.

Überhaupt muß man befürchten, daß die neue Technik teilweise beherzt mit trivialen Inhalten gefüttert wird. Sicher, da gibt es sehr nützliche Dinge wie alle möglichen Lexika und Wörterbücher, gefahrlose Chemie-Experimente auf dem Bildschirm, umfangreiche Fußball-Statistiken zum beliebigen Umsortieren, elektronische Kochbücher (in denen man das fertige Menü schon betrachten kann, Karten und Reiseführer in nie gekannter optischer Ausführlichkeit.

Vereinzelt findet man auch schöne Literatur: Shakespeares Gesamtwerk paßt auf eine einzige CD. Don Quixote kommt, Tod der lesenden Phantasie, mit Text und Animation daher. Dabei ist es doch wichtig, sich nur vorzustellen, wie er mit dem Windmühlenflügeln kämpft. Aber solche Reisen durch den eigenen Kopf werden einem hier nicht gestattet. Kulturpessimisten befürchten bereits, demnächst müsse man Goethes „Werther“ beim Selbstmord zugucken…

Etwas, mulmig wird einem schon bei den Kinder-Bildschirmbüchern. Mit sogenannten „interaktiven“ Ausgaben (CD-I) können die Kids gar eine Geschichte nach Gutdünken unterbrechen und nach Wunsch immer wieder anders ablaufen lassen. Haben da die Eltern mit ihren Gutenacht-Geschichten überhaupt noch eine Chance?