„Vergnügen und Verlust“ – Ruhrfestspiele präsentieren Programm 2024

Stefanie Reinsperger in der Titelrolle von Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Nun ist es da, das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele. „Vergnügen und Verlust“ ist es überschrieben, und in diesem Titel, so Intendant Olaf Kröck, spiegele sich das weltpolitische Übel unserer Zeit ebenso wie die Notwendigkeit, es mit den Mitteln des Spiels, des Schauspiels, des Theaters samt all seinen Facetten mithin anzugehen.

Die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky wird die Eröffnungsrede halten, „in ihren Texten“, wir zitieren den Pressetext, „hat sie sich der Erkundung und Überwindung der Fremde als existentielle, menschliche Erfahrung verschrieben.“

Akrobatisch, atemberaubend

Vielfalt der Menschen und Ethnien, der Stilmittel und des künstlerischen Ausdrucks prägen das Programm vor allem in den Bereichen, die mit wenig oder ganz ohne Sprache auskommen – Tanz, Musik, Zirkus. Vor allem Zirkus ist im diesjährigen Programm prominent positioniert. Mit Zirkus, im Booklet als „Neuer Zirkus“ tituliert, wird das Festival am 3. Mai, einem Freitag, starten. „The Pulse“ heißt das akrobatische, äußerst personalintensive Stück von „Gravity & Other Myths“, in dem 24 sportliche Menschenleiber nach dem Prinzip der Pyramide gleichsam lebendige Bühnengebilde formen, die, kaum daß sie entstanden sind, sich schon wieder auflösen und zu Neuem sich vereinen. Für den Soundtrack sorgt bei diesen artistischen Darbietungen der (langer Titel!) „Frauenkonzertchor der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund e.V.“. Sprachkenntnisse sind für das Verständnis des Ganzen, wie das Programmheft ausdrücklich vermerkt, nicht erforderlich.

Wolfram Koch als König Lear (Foto: Armin Smailovic/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Pommestüte

Wenn es sich nicht um eine Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen handelte, hätte man gewiß Probleme, den Dänen Sören Aagaard kategorisch zu verorten, der auch schon mal als überdimensionierte Pommestüte durch Berliner Freibäder tobte. „Performance“, „Aktion“ usw. würde ebenso passen wie „Kunst“. Essen und Kunst sind sein Thema. Jedenfalls verfestigt sich bei der Lektüre des Programms der Eindruck, daß hier, bei den überwiegend kleinen, eher spracharmen und meistens auch lustigen Produktionen ein Maß an Originalität zu finden ist, das anderen Programmelementen eher abgeht. So weit man das vergleichen kann.

Bewährte Produktionen

Beim Schauspiel gibt es fraglos noch Luft nach oben. Die prominentesten Produktionen in der Abteilung Schauspiel laufen bereits seit längerer Zeit an anderen Häusern – „Der Theatermacher“ von Thomas Bernhard mit der Dortmunder „Tatort“-Kommissarin Stefanie Reinsperger in der Titelrolle beim Berliner Ensemble, „König Lear“ mit Wolfram Koch im Hamburger Thalia-Theater, nicht ganz wahllos herausgepickt. Recklinghäuser Premieren wären besser; aber natürlich ist es von Vorteil, hoch gelobte Produktionen wie diese nun zu Hause sehen zu können – falls man Karten kriegt.

Late Night Hamlet: Ein Solo für Charly Hübner. (Foto: Peter Hartwig/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Eine Uraufführung, immerhin

Immerhin ist nicht alles nur eingekaufte Spielplanware. Zusammen mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg haben die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eine Eigenproduktion auf die Schiene gestellt, die am 24. Mai in Recklinghausen ihre Uraufführung erleben wird: „Late Night Hamlet“, ein Solo mit Charly Hübner in der Regie von Kieran Joel. Wir erleben Hamlet als einen Geworfenen in der Jetztzeit, gefordert, überfordert, wie es sich für tragische Figuren gehört. Doch wird auch ein „kurzweiliges Vergnügen“ versprochen, gerade so, wie es das diesjährige Festivalmotto postuliert. Na, schau’n mer mal. Mit Charly Hübner in der Titelrolle müßte es eigentlich klappen.

Gesellschaftskritisch

Der Theaterarbeit von Kollektiven sind in etwa wohl Stücke wie „Hier spricht die Polizei“ („werkgruppe 2“ und Schauspiel Hannover) oder „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ („KULA Compagnie in Kooperation mit den Ruhrfestspielen und „dasvinzenz“ München) zuzuordnen, Arbeiten mit dezidiert gesellschaftskritischem Bezug. Bei KULA arbeiten Künstler aus Israel, Afghanistan, Iran, Rußland, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen, was eigentlich nichts Besonderes sein sollte und heutzutage leider schon ein brisantes Politikum ist.

Viele alte Bekannte

Bekannte Namen gibt es wie immer bei den Lesungen: Corinna Harfouch, Devid Striesow, Katharina Thalbach, Lars Eidinger, Peter Lohmeyer und viele mehr. Literaturkritiker Denis Scheck wird mit der Autorin Terézia Mora und dem Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah plaudern, Angela Winkler wird in der Musikabteilung zusammen mit dem „delian:quartett“ Shakespeare musikalisch-literarisch begegnen. Vier Tage lang gibt es zudem ein „Festival im Festival“: „Resonanzen – Schwarzes Interntionales Literaturfestival“. Die Eröffnungsrede hält Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo.

Der DGB will diskutieren

Die Neue Phlharmonie Westfalen bringt Mahlers Siebte zu Gehör, Konzerte, unter anderem von „SLIXS“ und „Flautando Köln“, gibt es auch in der Christuskiche, im Festspielzelt und in der Sparkasse Vest. Last but not least macht der DGB Programm. „Europa mit uns – Partei ergreifen!“ und „Reden mit…“ heißen die Veranstaltungen in der Abteilung Dialog, die noch einmal deutlich machen, daß die Ruhrfestspiele sich eben durchaus als politisches Festival begreifen. Zum Publikums-Talk haben sich unter anderem Charly Hübner, „werkgruppe 2“ und das künstlerische Team von „DIBBUK“ angemeldet.

Die Spielzeitübersicht im Programmbuch fehlt

Wer mehr wissen will, muß das Programmheft lesen oder sich im Netz schlaumachen. A propos Programm: Da hat es Olaf Kröck und seinem Team, wohl auch aus Kostengründen, wie leise angedeutet wurde, gefallen, die traditionsreiche Spielzeitübersicht von den hinteren Seiten des Programmheftes zu verbannen. Nun finden sich die Termine in tabellarischer Form auf einem separaten Leporello, „Der Festspielkalender 2024“ geheißen, den man zwar nicht mißlungen nennen kann, dem aber die Übersichtlichkeit des guten alten Überblicks gänzlich abgeht.

Gut, es gibt Schlimmeres. Freuen wir uns auf die Ruhrfestspiele 2024, im Festspielhaus und andernorts und glücklicherweise ohne Maske.




Spannend wie ein Krimi: „Schuld und Sühne“ im Hamburger Schauspielhaus

Foto: Klaus Lefebvre

Foto: Klaus Lefebvre

Passionierte Leser kennen das Gefühl: Wenn einen ein Buch fesselt, wandert man darin herum wie in einem Haus, betritt neue Räume, trifft verschiedene Leute und hört ihre Stimmen. Im eigenen Kopf entfaltet sich die fremde Welt, die der Autor erdacht hat.

Ganz ähnlich inszeniert Karin Henkel Fjodor M. Dostojewskis großen Roman „Schuld und Sühne“ für das Hamburger Schauspielhaus. Auf die Drehbühne ist eine Art Bretterbude gezimmert, in deren Räumen sich das ärmliche Leben des Studenten Raskolnikow in einem Millieu aus Hungerleidern, Säufern, Huren und Proletariern abspielt. Seine Kammer ist karg, die gestreifte Matraze liegt auf einem kümmerlichen Drahtgestell.

In den anderen Zimmern sieht es auch nicht besser aus: Der lange Tisch ist überladen mit Schnapsflaschen, Jesus schaut mit blauen Augen von der Wand herab und ewige Lichtlein leuchten ihm. Männer in Kaftan und Pelzmützen schrummeln Livemusik.

Raskolinkow, ein dünner nervöser Hänfling mit strähnigem Haar, erinnert inmitten seiner verkramten Bude an Jonathan Meese. Denn er hält sich für ebenso genial wie ein Künstler und leitet aus diesem Umstand das Recht ab, „minderwertige“ Mitmenschen in Person der halsabschneiderischen Pfandleiherin Aljona Iwanowna ins Jenseits zu befördern.

Soweit die Theorie – in der Praxis ist er seiner eigenen Bluttat mit dem Beil von Anfang an nicht gewachsen und nun schauen wir ihm vier Stunden beim Kampf mit seinem Gewissen zu: Das ist, bis auf ein paar überflüssige Dehnungen, aber keineswegs langweilig, sondern mit ganz eigenem Rhythmus, beinahe musikalisch in Szene gesetzt.

Denn Raskolnikows inneres Ringen ist auf mehere Schauspieler verteilt (Jan-Peter Kampwirth, Lina Beckmann, Angelika Richter), die jeweils die widerstreitenden Stimmen in seinem Kopf verkörpern. Und in dem Untersuchungsrichter Porfiri Petrowitsch (Charly Hübner) hat der schuldige Student einen bühnenpräsenten Gegenspieler: So wird die Literaturinszenierung zu einem spannenden Krimi, obwohl man den Mörder die ganze Zeit kennt.

Foto: Klaus Lefebvre

Foto: Klaus Lefebvre

Was man aber nicht weiß: Wird Raskolnikow sich verraten? Schon bei seiner ersten Begegnung mit der Polizei fällt das nervöse Hemd sofort in Ohnmacht, im Laufe der Inszenierung wird er immer wieder von der Fallsucht, eine Anspielung an Dostojewskis Epilepsie, heimgesucht. Hilflos versucht er, ein paar gute Taten zu begehen, um sich von der Schuld reinzuwaschen. Einer verarmten Familie bezahlt er die Beerdigung des verunfallten Säufer-Vaters, seine Schwester möchte er aus den Klauen eines sadistischen Hausherrn retten.

Doch all das fruchtet so recht nichts: Das Muttersöhnchen zeigt immer mehr Nerven und die Dämonen in seinem Kopf setzen ihm unablässig zu. Jesus an der Wand werden schon die Augen schwarz übermalt, weil auch er das Elend nicht mehr ansehen kann: Nicht das soziale der Armen in St. Petersburg und nicht das seelische des Delinquenten, den seine Gewissensqualen zu einem letzten „Fall“ bringen.

Das Ende ist kurz und schmerzlos: Der Kommisssar sagt ihm die Tat auf den Kopf zu, Raskolinkow gesteht. Aus ist es mit dem Möchtegern-Revolutionär, dessen Visionen von einer besseren Welt sich gegen ihn selbst gewendet haben. Es war Mord.

Karten und Termine:
www.schauspielhaus.de