Alejandro Zambras Erzählband „Ferngespräch“ – chilenische Geschichten vom Scheitern

„Nachts arbeitete ich als Telefonist, einer der besten Jobs, die ich je hatte….. Das Gehalt war nicht berauschend, aber auch kein Hungerlohn, der Arbeitsplatz wenig einladend ….. doch fror ich nicht im Winter und schwitzte nicht im Sommer.“

So wie dieser Telefonist in der titelgebenden Kurzgeschichte „Ferngespräch“ sind die meisten Protagonisten in Alejandro Zambras Geschichtensammlung. Sie arrangieren sich. Irgendwie. Mit ihrem Beruf, der selten Berufung ist, mit ihren Lebensumständen, mit der Familie, mit der Liebe.

Kindheit und Jugend unter dem Diktator Pinochet

In 11 Geschichten erzählt der chilenische Autor von Kindheit und Jugend im seinem Land unter dem Diktator Pinochet. Er erzählt von ersten Lieben, halbherzigen politischen Engagements, von der Schwierigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören, einem Taxi-Überfall und einem Housesitter, der seine neue Aufgabe, die für ihn ein neuer Anfang hätte sein sollen, mit Grandezza vermasselt.

In der Originalfassung ist das Buch überschrieben mit „mi documentos“ und so darf man schlußfolgern, dass es Geschichten aus eigenem Erleben sind. Nicht alle autobiographisch, einige vermutlich auch aus dem engeren Umfeld adaptiert.

Alejandro Zambra ist ein über die Grenzen Chiles hinaus bekannter und verehrter Autor und Lyriker, der für seinen Debütroman „Bonsai“ den chilenischen Kritikerpreis entgegennehmen durfte. Das Thema dieses Romans ist das Aufwachsen in der Diktatur Pinochets – und genau mit diesem Thema eröffnet er auch seinen Geschichtenreigen. Die Erzählungen hängen nicht alle zusammen, aber im gesamten Zeitenbogen, der irgendwo zwischen Erinnerung und Gegenwart siedelt, ist „Ferngespräch“ doch schon fast wie ein Roman zu lesen. Der gemeinsame Nenner sind die Ängste seiner Generation.

Kein Ausweg aus der Vergangenheit

Zambras Charaktere sind alle von der Angst getrieben, im eigenen Land niemals wirklich glücklich werden zu können. Ihre Krux ist das Verharren in der Vergangenheit. Unterschwellig ist das ganze Buch durchzogen von einer leisen Kritik Zambras an seinen Landsleuten, die alle noch die Vergangenheit zu bewohnen scheinen und nicht wissen, wie sie sich von ihr lösen sollen, um in die Zukunft gehen zu können.

In ihrem Inneren sind Zambras Charaktere rebellisch und planen den Ausbruch aus ihren engen Leben, aber sie scheitern. Mit Anlauf. So kann man die Geschichten aus ihrem chilenischen Kontext lösen und sie auch als generell gültige Geschichten über das Scheitern lesen. Geschichten über Menschen, die an ihrer Vergangenheit scheitern, an ihrem eigenen Unvermögen und dem eigenen Anspruch.

Zurückhaltender Stil ohne überflüssige Worte

Bei lateinamerikanischer Literatur denkt man schnell an den überbordenden, ausschweifenden magischen Realismus des Gabriel Garcia Marquez und seiner mal mehr, mal weniger begabten Zeitgenossen. Zambra hingegen formuliert zunächst sehr vorsichtig. Er erzählt präzise, aber nicht detailversessen. Kein Wort ist zuviel, leiser Humor schimmert durch, immer begleitet von Melancholie. Seinen Charakteren begegnet er nicht durchgehend mit Zuneigung, aber immer mit Verständnis. Ganz selten kommt auch Wut zum Vorschein, aber immer Wut auf die Verhältnisse, nie auf die Menschen.

Nach fünf Geschichten ändert sich aber der Ton der Erzählungen. Nun nutzt er für zwei Geschichten abstrus schräge Themen eher experimentell, was leider verunglückt und überambitioniert wirkt. Im vierten und letzten Kapitel aber bedient er sich für die letzten vier Geschichten eines nahezu lyrischen Stils und ist damit authentischer und glaubhafter als in allen vorhergehenden Geschichten.

Nun wagt er sich an die ganz schweren Themen und beendet seine Anthologie mit einer Erzählung über einen Kindesmissbrauch, gewagt gekleidet in eine Gedächtnisübung. Doch dieses Experiment gelingt, selten hat man eine Geschichte über dieses verstörende Thema so berührend, so persönlich, so tief gelesen. Dieses Thema so lyrisch und leise zu erzählen, das ist hohe literarische Kunst und lässt die zwei, drei verunglückten Experimente vergessen.

Alejandro Zambra: „Ferngespräch“. Stories. Suhrkamp Verlag, 237 Seiten, €22,00.




Von der Kunst in der Fremde – Gine Selles Roman „Ausflug ins Exil“

CoverGine Selle ist bildende Künstlerin – eigentlich. Nun legt die Dortmunderin ihren ersten Roman vor. „Ausflug ins Exil“ handelt von Chile heute und Deutschland gestern, von starken Frauen und der Kunst, das Leben zu meistern.

Gine Selle: Schon ihr Schaffen als bildende Künstlerin ist ungewöhnlich vielfältig. In den vergangenen Jahren arbeitete die 49-Jährige mit Fotografie, Film und Audios. Sie malt und zeichnet, lithographiert und collagiert, knüpft und kopiert. Sie verschickt künstlerisch gestaltete Postkarten an Phantasie-Adressen und schaut, was mit ihnen passiert („Das Rückkehrer-Projekt“). Ebenso breit ist ihr Themenspektrum: Sie beschäftigte sich mit Kommunikation im Allgemeinen und Höhlenmalerei im Besonderen, mit Familienkonstellationen, mit dem Bayerischen Wald (ihrer zweiten Heimat) und, als ausgebildete Heilpraktikerin, mit Medizin-Themen. Das klingt wahllos, ist es jedoch nicht. Der rote Faden durch ihr Werk drängt sich nicht sofort auf, bleibt aber stets sichtbar. Es geht, immer wieder, um die oder das Fremde, um Verfremdung und das Vertrautwerden.

bücklinge-swKlDass diese Künstlerin nun einen Roman vorlegt, überrascht nur auf den ersten Blick: Schon mit ihren ersten literarischen Gehversuchen gewann sie vor einigen Jahren den ersten Preis in einem Kurzgeschichtenwettbewerb. Seitdem feilte sie an ihrem Stil, belegte Literaturkurse und ließ sehr langsam den ersten Roman wachsen. Nun ist er fertig – ein Episodenroman, pendelnd zwischen Deutschland und Chile, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erlebtem und Fiktion.

„Ausflug ins Exil“, so der Titel, basiert auf Gine Selles Erlebnissen und Erfahrungen bei einem Kunst-Aufenthalt in Chile. Es ist die teils unglaubliche, teils phantastische, mal traurige, mal schockierende Geschichte ihrer chilenischen Gastgeberin, die der Deutschen in langen Gesprächen ihr Leben und ihre Erfahrungen im deutschen Exil schilderte. Gine Selle verwebt diese Geschichten mit ihren eigenen Erlebnissen, mit ihrer Sicht auf das heutige Chile.

Illustrationen: Gine Selle

Illustrationen: Gine Selle

Olinda, so heißt die chilenische Gastgeberin, war als junge Frau vor Augusto Pinochets Militär-Diktatur geflohen und im Ruhrgebiet gestrandet. Dort fand sie ihr Zuhause in der linken Szene, agitierte gemeinsam mit deutschen Freunden und mit ihrer kleinen Familie, der dieses Engagement zwischen Politik und Party nicht immer gut bekam.

Die deutsche Künstlerin Karla kommt unter ungleich bequemeren Bedingungen in die chilenische Fremde: Sie wird für ein Mauer-Kunst-Projekt nach Chile eingeladen und verbringt mehrere Wochen in dem Land, das sie nie zuvor besucht hat. Sie saugt das Leben in dem Küstenort Vina del Mar bei Valparaiso begeistert in sich auf, beißt sich aber auch an den Stories ihrer Gastgeberin fest. Die bietet verlässlich neues Geschichten-Futter und impft Karla mit ihrem ganz speziellen Blick, dem Blick einer ehemaligen Exilantin auf die veränderte Heimat.

„Episodenroman“ nennt Gine Selle ihren Roman – und tatsächlich erzählt jedes der 31 Kapitel auf den 291 Seiten eine eigene kleine Geschichte. Und doch ist dieser Roman mehr als eine Ansammlung amüsant geschriebener Kurzgeschichten. Geschickt knüpft die Autorin Erzählstränge über mehrere Geschichten, baut Spannung auf und hält sie aufrecht. So wie Karla sich mehr und mehr fesseln lässt von Olindas Geschichten, lässt sich auch der Leser gerne und ganz ein auf die Lebenswege dieser beiden Frauen, die sich nur an einem winzigen Punkt für wenige, aber sehr fruchtbare Wochen kreuzen.

Ein Künstler-Roman ist dieses Buch in dreifacher Hinsicht: Erstens wurde es von einer Künstlerin geschrieben, zweitens handelt es von einer Künstlerin – und drittens enthält es Illustrationen. Das Buch ist bevölkert von charmanten kleinen Litographie-Lebenwesen, die auch auf grafischer Ebene von Fremdheit und Kommunikation, Phantasie und Parallelwelten erzählen.

Eine Vorstellung des Romans gibt es am Samstag, 12. September (18 Uhr) im Jazzclub „domicil“ in Dortmund, Hansastraße. An diesem Tag wird ebenfalls eine Ausstellung von Gine Selle in der domicil-Galerie eröffnet.

Gine Selle: „Ausflug ins Exil“. Episodenroman. Epubli Verlag 2015, 12,80 Euro. Zu beziehen unter gineselle.de oder bei epubli.de.