Chopin mit Handbremse: Eine Wiederbegegnung mit dem Pianisten Alexej Gorlatch

Alexej Gorlatch am Konzertflügel (Foto: Gregor Willmes/ C. Bechstein)

Sein vielleicht spektakulärster Wettbewerbserfolg lag gerade ein Jahr hinter ihm, als Alexej Gorlatch seinen Einstand beim Klavier-Festival Ruhr gab. Der 1988 in Kiew geborene und seit 1991 in Deutschland lebende Pianist hatte beim ARD-Wettbewerb in München nicht nur den Ersten Preis, sondern auch den Publikumspreis und mehrere Sonderpreise gewonnen. Beim Klavier-Festival standen am 9. Juni 2012 im Harenberg City Center Dortmund Balladen von Johannes Brahms, Préludes von Claude Debussy und Etüden von Frédéric Chopin auf seinem Programm.

Anfang dieses Monats fiel Gorlatch die Ehre zu, eine Klavierabend-Serie im Konzerthaus Berlin zu eröffnen. Obgleich die Reihe nicht neu war, handelte es sich bei diesem Abend doch um eine Premiere. Denn die kleine, aber feine Veranstaltungsreihe der traditionsreichen Klavierbaufirma C. Bechstein musste überraschend umziehen, nachdem im Verkaufszentrum im Stilwerk an der Kantstraße plötzlich kein Platz mehr für sie war. Indes könnte sich das neue Domizil am Gendarmenmarkt als Glücksfall erweisen. Mitten in der Stadt gelegen und ohnehin ein starker Magnet für Musikfreunde, dürfen die Bechstein-Abende mit jungen Meisterpianisten nun im Kleinen Saal des Hauses Strahlkraft entfalten.

Gorlatch, seit dem Wintersemester 2016/17 Professor für Klavier an der Hochschule für Musik und Tanz in Frankfurt a.M., hatte für diese Gelegenheit ein reines Chopin-Programm gewählt. Er eröffnete den Abend mit der Polonaise-Fantaisie op. 61, deren freie Form ihm einige Probleme zu bereiten schien. Obgleich Gorlatch seinen lyrisch-schönen Klang aufscheinen ließ, verzettelte er sich im Geflecht der Mittelstimmen und schien Mühe zu haben, die Komposition auf einen Zielpunkt hin zu spielen.

Zwei Blöcke von jeweils 4 Mazurkas (op. 67 und op. 68) kamen dem Künstler an diesem Abend mehr entgegen. Hier konnte er einen warmen Erzählton entfalten, seine Spiellust in eine kleinere, überschaubarere Form fließen lassen. Warum der wechselnde Charakter dieser tänzerischen Kleinodien an diesem Abend eher kontrastarm blieb, warum Gorlatch häufig unfrei und steif wirkte, kann nicht schlussendlich erklärt werden. Fühlte der Künstler sich durch die aufzeichnenden Mikrofone gehemmt? Auf seinen ersten CDs hatte der Pianist sich als vorzüglicher Chopin-Interpret empfohlen.

Alexej Gorlatch ist Professor für Klavier in Frankfurt a.M. (Foto: Monika Lawrenz)

Es dauerte bis zum berühmten Trauermarsch der Sonate Nr. 2 b-Moll, bis die Musikalität des einstigen Kämmerling-Schülers allmählich frei wurde. Mit dunkel brodelnden Bässen ging Gorlatch die Sonate an, löste sich nun auch allmählich von der bis dahin viel zu einheitlichen Dynamik. Der atemlose, quasi knochenlose Finalsatz jagte trefflich verwischt und verschwommen am Ohr vorbei. Wunderbar gefühlvoll gelang im Anschluss die Berceuse Des-Dur op. 57. Im sanften Wiegen-Rhythmus ließ der Pianist seine viel gerühmte Nuancierungskunst aufscheinen. Vor allem die Spieluhr-Lieblichkeit im Diskant ließ aufhorchen.

Das Scherzo Nr. 2 b-Moll glich im Anschluss mehr einem Brillier- als einem Nachtstück. Gorlatchs pianistisches Vermögen steht dabei außer Zweifel: Gewiss kann man dieses Stück auch von berühmteren Pianisten mit viel mehr falschen Tönen hören. Vielleicht war aber genau dies das Problem. Der Künstler schien kein Risiko eingehen zu wollen, zumindest nicht an diesem Abend in Berlin.

Wer sich in NRW ein Bild vom Spiel des Pianisten machen möchte, hat dazu übrigens bald Gelegenheit. Von Mitte Juni an wird der Künstler wieder in NRW gastieren: zum Beispiel im Teo Otto Theater in Remscheid (15. Juni 2017), im Theater und Konzerthaus von Solingen (16. Juni), im Theater Marl (17. Juni) und im Beethoven-Haus Bonn (1. August).

(Weitere Informationen auf der Website des Künstlers: http://alexej-gorlatch.com/aktuell/)




Nichts als Überraschungen: Das Scala-Orchester mit starkem Auftritt im Konzerthaus Dortmund

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Scala-Orchester. Foto: Petra Coddington

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Orchestra Filarmonica Della Scala. Foto: Petra Coddington

Impressionen eines Konzertes, die, so dahingewürfelt, seltsam klingen mögen. Doch gemach: Die Symbolkraft und Besonderheit der Beobachtungen wird sich alsbald erschließen. Also halten wir fest, dass Daniil Trifonov jetzt Vollbart trägt, dass die Zugabe dieses spannenden Nachmittages ein zeitgenössisches Stück ist – der Komponist sitzt im Saal – und dass Schumanns Musik teils wie von Fieber geschüttelt, teils ungewohnt introvertiert klingt.

Wir hätten das so nicht erwartet, bei diesem Gastspiel des Mailänder Orchestra Filarmonica Della Scala in Dortmunds Konzerthaus, am Pult der Chefdirigent, Riccardo Chailly. Andererseits gehört es ja zur Philosophie der Dortmunder Veranstalter, dem Publikum immer aufs Neue scheinbar Bekanntes im veränderten Klanggewand zu präsentieren. „Raus aus deinen Hörgewohnheiten“ ist das Motto. Nun, in diesem Konzert mit Schumanns „Manfred“-Ouvertüre, dem Klavierkonzert und seiner 2. Sinfonie ist das auf Eindrucksvollste gelungen. Nichts als Überraschungen, wohin sich Aug’ und Ohr auch wenden.

Beginnen wir mit dem Solisten. Der 25jährige Daniil Trifonov scheint aus seiner übervirtuosen Sturm-und-Drang-Phase schon herausgewachsen, technische Schwierigkeiten können ihm offenkundig kaum noch etwas anhaben, sein Spiel hat an Reife und Reflektion enorm gewonnen. Bei Schumann jedenfalls nimmt er sich extrem zurück. Versinkt in der Musik, artikuliert zartfühlend, wirkt wie ein scheuer Zeremonienmeister. Oder auch, die Assoziation sei ob des Bartes gestattet, wie ein Eremit, der ganz im Klang gefangen ist.

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

So einer will nicht auftrumpfen, nicht voller Überschwang durchs lebhafte Finale fegen. Stattdessen rhythmische Strenge, das Virtuose fest unter Kontrolle, auf dass der Satz ja nicht zu viel Gewicht bekomme. Schumanns Konzert atmet gewissermaßen romantische Clarté, hell im Klangbild und wie abgespeckt. Dies ist dem fulminanten Dirigat Chaillys zu danken: Nie wird das Klavier vom Mailänder Orchester zugekleistert, vielmehr hören wir eine dynamisch wunderbar ausbalancierte Musik.

Trifonov spielt Schumann im Geiste Chopins. Das mag nicht jedermanns Sache sein, wenn hier und da die gestelzte Dekadenz eines Salons durchschimmert, doch am Ende hat der Pianist das Publikum auf seiner Seite. Überraschung gelungen. Wie denn auch das Orchester staunen macht. Ein Klangkörper, der mit warmen Holzbläserfarben überzeugt, dessen Violinschmelz wohltönt, der überhaupt ungemein wach agiert auf Chaillys Dirigat. Der Chef der Mailänder ist ein Kapellmeister der alten Schule, ohne körperliche Verrenkungen und andere Marotten.

Und er ist, was nun die Aufführungspraxis angeht, ein Vollblutmusiker, der etwas wagt. Weil er, in Schumanns Ouvertüre und Sinfonie, nicht der Originalklangbewegung nachspürt, die ja längst in der Spätromantik angekommen ist, sondern vielmehr die Retuschen Gustav Mahlers verwendet. Und da geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um beherztes Eingreifen in die Originalpartituren. Da klingen plötzlich Blechbläser mit Dämpfer auf, die Schumann niemals verwendet hat, da tummeln sich allein 26 erste und zweite Geigen sowie neun Kontrabässe auf der Bühne. Eine großorchestrale Besetzung, als gelte es, bloß ordentlich Effekt zu machen.

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Doch Chailly ist kein fahrlässiger Maestro am Pult, der es mal richtig knallen lassen will. Er stellt zur Diskussion. Und wenn in der „Manfred“-Ouvertüre das Klangbild hell und aufreizend funkelt, der musikalische Verlauf wie im Rausch vorüberflitzt, jede Beruhigung mehr Schein als Sein ist, wenn es schroff und wild zugeht, dann fällt es schwer, „ja, aber…“ zu rufen. Immerhin sei angemerkt, dass die Holzbläser oftmals kaum zu hören sind. Erst am Ende, wenn die Spannung nach und nach verebbt, Schumann (mit Mahler) auf Reduktion setzt, entdecken wir den balsamischen Klang von Flöten, Oboen oder Klarinetten.

Ähnlich geht es in der Sinfonie zu. Deren Hauptmotiv wird anfangs zwar noch etwas unstrukturiert vorgetragen, doch alsbald liegt alles so offen wie fiebrig und dynamisch exaltiert vor Ohren. Als Höhepunkt darf der langsame Satz gelten, dessen tristaneskes Sehnsuchtsmotiv sich ins Hymnische weitet. Da ist der Weg zu Bruckner nicht mehr fern. Dann wieder Atemlosigkeit im auftrumpfenden Finale, kraftstrotzend und roh wie bei Beethoven, teils in grenzwertiger Lautstärke. Alles vom Mailänder Orchester souverän gemeistert, präzise und mit unbedingter Leidenschaft. Überraschung erneut gelungen.

Doch damit nicht genug. Das Orchestra Filarmonica Della Scala tritt zur Zugabe an. Rasch huschen noch ein paar Musiker herbei, darunter das Personal für kleine und große Trommel sowie Becken. Sollten die Italiener als Rausschmeißer noch einen Rossini in Petto haben, serviert aus dem Mutterland der Oper? Weit gefehlt. Angekündigt wird Carlo Boccadoros „Fast Motion“. Eine vierminütige Raserei mit scharfen harmonischen Reibungen, teuflisch komplexer Rhythmik und in zumeist eminenter Lautstärke. Maschinenmusik wie von futuristischer Hand, garniert indes mit allerlei Jazzidiomatik. Ein neues Stück, wie sich herausstellt, der Komponist sitzt gerührt im Publikum, von vielen italienischen Fans frenetisch bejubelt. Überraschung gelungen: Hier, im Konzerthaus Dortmund, erklingt das Stück – eine Zugabe (!) – tatsächlich als deutsche Erstaufführung. Respekt.

 

 




Ohrenöffner: Lise de la Salle bei der „Piano Lecture“ in der Essener Philharmonie

Was für eine Frage! Was wohl der Traum Chopins vom Klavier gewesen sei? Der Musikjournalist Christoph Vratz stellte sie zu Beginn der „Piano Lecture“ in der Essener Philharmonie. Und Lise de la Salle, die noch kein Vierteljahrhundert auf ihren zierlichen Schultern trägt, zog sich recht geschickt aus der Affäre: Statt musikphilosophische Allgemeinplätze zu bemühen, schwenkte sie um auf praktische Fragen des Chopin-Spiels. Gerade einmal, dass sie Chopins „Préludes“ als „revolutionary“ bezeichnete.

Zum Glück konzentrierte sich dieser erste Teil des Sonntagvormittags in der Philharmonie dann rasch auf die aussagekräftigen Beispiele aus der Reihe der 24 Chopin’schen „Préludes“, von denen fraglich ist, ob sie als „Zyklus“ gedacht waren – denn gespielt hat sie der Komponist selbst nie als solchen. Es ging um die Eröffnung in C-Dur, die Lise de la Salle als „informal“ bezeichnete: als steige der Interpret mit einer absichtslosen Improvisando ins Spiel ein. Es ging um die berüchtigte Mazurka Nummer sieben, die Bellinis berückende Simplizität mit den Problemen eines empfindungsreichen Belcanto verbindet. Und es ging um den verstörenden Abschluss, jenes d-Moll-Appassionato, über das André Gide im Programheft zitiert wird: unerbittliche Verzweiflung.

Die „Lectures“ sind für die erfreulich zahlreichen Zuhörer im zur Hälfte gefüllten Parkett des Alfried Krupp Saales ein doppelter Gewinn: Sie kommen durch die Erläuterungen dem Werk näher und sie erleben die Künstler nicht alleine als Interpreten am Instrument. Das kundige Gespräch öffnet die Ohren und lässt bewusster erleben, was sich in der Musik ereignet.

Im Falle der Chopin-Préludes ist das faszinierend vielfältig: die atmende Dynamik etwa, die Lise de la Salle der Eröffnung mitgibt; der Kontrast zwischen dem Einsatz der linken Hand im meditativen Lento (Nr. 2) und der Rechten im lebendigen G-Dur der Nr. 3. Das frappierende Konstrukt von Nummer vier, bei dem die „Melodie“ nicht zu sich selbst kommt, sondern fragile Brücken-Fragmente zwischen sich harmonisch entwickelnden Akkorden bildet. Oder der Rausch des Allegro molto in D-Dur (Nr. 5), bei dem der melodische Bogen in einem sprühenden Wasserfall virtuosen Spielwerks vergeht.

Die junge französische Pianistin zeigt kundiges Einfühlen in die Tiefen dieser Miniaturen; ein Faible für Chopin, das sie bereits mit ihrer Einspielung der vier Balladen (2010) demonstriert hat. Dennoch schien der Vormittag in der Philharmonie nicht von ihrem glücklichsten Stern beschienen zu sein: Die Figurationen im Bass des ersten Préludes blieben mulmig, im gis-Moll-Presto (Nr. 12) fehlte der Rechten die Kontur. Aber dafür gestaltete sie die Begleitung des ausgeprägt melodischen Basses im h-Moll-Lento (Nr. 6) mit größtmöglicher Sensibilität, fand sie im E-Dur-Largo (Nr. 9) zu erhabener Größe, kleidete das viel strapazierte Des-Dur-Prélude Nr. 15 in pathosfreie Schlichtheit. Und demonstrierte mit markantem Zugriff und famosem Gespür für die Linie, wo Chopin-Nachfolger wie Liszt und Debussy – von dem eine Zugabe erklang – anknüpften.

In der nächsten „Piano Lecture“ am Sonntag, 16. März, 11 Uhr, spricht Christian Zacharias über die Frage, warum Schubert eigentlich wie Schubert klingt, und spielt die Schubert-Sonate B-Dur (D 960).




Lebensweise Poesie: Maria João Pires beim Klavier-Festival Ruhr in Essen

Das passiert nun schon zum zweiten Mal beim erst ein paar Tage alten Klavier-Festival Ruhe 2013: Man hört ein Konzert für Klavier und Orchester, das nicht so ganz zu einem Entwurf zusammenwachsen will, und dann gibt der Solist eine Zugabe – und die Töne leuchten am Firmament der Musik wie die schönsten Sterne!

Igor Levit zeigte im Eröffnungskonzert sein ganzes Können – mehr noch, seine tiefste Musikalität – in seiner Zugabe, der „Hommage à Rameau“ von Claude Debussy. Und Maria João Pires, eine der „grandes dames“ der Klavierwelt, durchmaß in einem sanften Nocturne Chopins – jener Nummer Drei aus Opus Neun – alle Seelenräume des Polen, dessen f-Moll-Klavierkonzert sie sich vorher mit einem eher neben- als mit-musizierenden Kammerorchester Basel gewidmet hatte.

Seit 1995 war Maria João Pires nicht mehr beim Klavier-Festival zu Gast gewesen, hatte sich auf den Podien der Welt rar gemacht. Sie ist keine Karriere-Frau, bekannte in einem Interview, dass ihr der Sprung in die Welt-Elite der Klaviermusik eher zugefallen sei. Sie hatte kein Glück mit ihrem Projekt einer Schule für unbemittelte Kinder in Portugal. Und 2006 musste sie sich einer schwierigen Herzoperation unterziehen. Kein Leben, das sich zwischen dem Dolce einer umsorgten Künstler-Existenz oder dem Furioso einer Virtuosen-Laufbahn bewegt. Eher ein Leben, das einem beibringt, Grenzen anzuerkennen. Ein Leben, das weise macht.

Trevor Pinnock und Maria João Pires. Foto: Mark Wohlrab

Trevor Pinnock und Maria João Pires. Foto: Mark Wohlrab

Mag sein, dass es nur eine Projektion von Gedachtem auf Gehörtes ist: In Maria João Pires‘ Klavierspiel meint man, etwas von diesem Lebens-Wissen zu spüren. Hätte sie doch ein Solo-Recital gegeben! Aber die Auftritte allein mit dem Flügel, die mag sie nicht. An Chopin schätzt sie nicht den Virtuosen, sondern den Poeten: Die entschiedenen Eröffnungs-Akzente schon gibt sie nicht mit der Geste des narzisstischen Auftritts, sondern fast zu zurückhaltend, als wolle sie dem Orchester generös den Vortritt lassen. Im Bass setzt sie freilich deutliche Ausrufezeichen: Die parfümierte Verschleierung ist ihre Sache nicht; so will sie „Poesie“ nicht verstanden wissen.

Warum ihr dann aber die quasi improvisierten silbrigen Verzierungsketten nicht blühend, nicht atmend gelingen, sondern eher wie eingeschoben wirken, bleibt rätselhaft. War das Orchester unter Trevor Pinnock zu wenig bereit, auf ein feines Rubato einzugehen? Der aus der historisch informierten Aufführungspraxis bekannte Dirigent, der faszinierende Mozart- und Händel-Aufnahmen vorgelegt hat, liebt Konturen und deutlich zugespitzte Akzente. Doch zu einem glückenden Einvernehmen mit der Pianistin kam es hörbar nicht: Das Orchester verdeckte ihr feinsinniges Passagenspiel, die schwermütigen Farben etwa der Dialoge mit dem Fagott verbanden sich zu keinem Bild. Hinreißend zeichnete Maria João Pires im Larghetto mit einem delikat differenzierter Anschlagspalette die sanften, zarten Linien der Landschaft, die der Poet Chopin für sich entworfen hat.

Am Beginn des Konzerts in der Philharmonie Essen stand eine Hommage an Wagner, den das Klavier-Festival noch auf seine Weise würdigen wird: Das „Siegfried-Idyll“, in den Violinen anfangs etwas brockig, glättete sich zu einem sehr sanften, sehr milden Sonnenaufgang über Tribschen. Die Phrasierung hatte in ihren weiten, ruhigen Linien einen Hang zum Schläfrigen.

Mozarts letzte, seine C-Dur-Sinfonie, schloss das Konzert ab. Der Eindruck mangelnder Durcharbeitung drängte sich schon in den Eröffnungstakten auf: Die Akkordschläge sitzen so pointiert, wie wir es von Pinnock kennen. Doch der gebundene Piano-Nachsatz wirkt wie ein Nachklappern statt wie ein lebendig gesetzter Kontrast. Den vielfältig angelegten Gegenstimmen, rhythmischen Schärfungen und auf Holzbläser und Streicher verteilten thematischen Varianten stellt sich das Basler Kammerorchester nicht mit brillanter Formulierung, sondern in einem matten Nebeneinander, gewinnt auch den Modulationen keine Spannung ab.

Im „Andante cantabile“ betont Pinnock die metrischen Überraschungen und Forzato-Akzente, achtet aber zu wenig auf die – als Kontrast gedachte – sanglich atmende Phrasierung. Der dritte Satz gelingt am schönsten, weil das Orchester locker und frei artikuliert; im vierten geht in der komplexen Struktur so einiges daneben, so, als hätten sich Dirigent und Musiker nicht ausreichend verständigt.




Gefangen in der Furcht vor Beethoven – Pianist Yundi als Gast des Klavier-Festivals Ruhr

Der chinesische Pianist Yundi. Foto: Uli Weber/DG

Der chinesische Pianist Yundi. Foto: Uli Weber/DG

Wo Yundi, Pianist aus der chinesischen Flinkfingerschule, sich die Ehre des Auftritts gibt, sind die Fans aus fernöstlichen Landen nicht weit. Sie pilgern in Gruppenstärke zu seinen Konzerten, stehen Schlange für ein Autogramm, kaufen die CD’s des Künstlers auf. Wie jetzt in der Mülheimer Stadthalle.

Yundi als Popstar, als erster und einziger Chinese, der den Warschauer Chopin-Preis gewinnen konnte, als Deuter dreier so berühmter wie beliebter Klaviersonaten Ludwig van Beethovens. Eines Komponisten, dessen Name und Musik bei vielen Asiaten eine Mischung aus Begeisterung, Bewunderung, ja großer Ehrfurcht auslöst. Mehr Anreiz geht kaum.

Volles Haus also bei diesem Konzert des Klavier-Festivals Ruhr. Mit einem Pianisten, dessen Respekt vor dem Feuerkopf Beethoven, vor der so wütenden wie empfindsamen Musik, übermächtig sein muss. Warum sonst sollte der Chinese seinem virtuosen Können nicht recht trauen, sich in mancher Figuration unsicher verheddern, Sangliches allzu brav aufklingen lassen. Es scheint, als schlage des Pianisten Ehrfurcht bisweilen in Furcht um. Er spielt nicht frei, will dann mit Gewalt den Knoten zum Platzen bringen. Ja, Yundi hat es schwer mit Beethoven.

Nehmen wir nur die „Appassionata“: Da werden drohende Bassakkorde teils mit übertriebener Vehemenz ins Instrument gestanzt, werden Legato-Linien plötzlich porös, und virtuoses Losstürmen hat nahezu sportiven Charakter. Kein Wunder, dass Yundi gelegentlich aus der Kurve fliegt. Wie im schnellen Satz der „Mondscheinsonate“: Es erklingt ein Bravourstück, wirkmächtig zwar, aber kaum im Dienste von Beethovens heiligem Furor. Hier erlaubt sich der Solist zudem die große Geste, eine Art körperliches Triumphieren.

Yundi kann anders. Wenn er zur souveränen Kontrolle der Materie findet. Wenn er im „Grave“ der „Pathétique“-Sonate plötzlich durch weit atmende Generalpausen wunderbar Spannung erzeugt, oder ihm im berühmten Mondscheinsonatenthema ruhevolles Gleiten gelingt. So wie er in zwei Chopin-Nocturnes Melancholie zumindest durchschimmern lässt. Doch die Akkuratesse des Pianisten, auch hier Ausdruck von Unfreiheit, zerrt diese Nachtstücke allzu sehr aus ihrer Traumverlorenheit ans Licht.

Yundi, so scheint’s, steht sich selbst im Wege. Er ringt mit der Musik, verkrampft sich im Virtuosen. Ihn ehrt, dass er es vermeidet, mit  Manierismen und Marotten manches zu überspielen. Und doch ist sein Können von Tragik umrankt.

(Der Beitrag ist zuerst in der WAZ Mülheim erschienen.)